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Gesundheitskompetenz – eine Übersicht Konzept und Maßnahmen Regula Rička

Gesundheitskompetenz – eine Übersicht

Konzept und Maßnahmen

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Regula Rička

Aufgrund der steigenden Lebenserwartung werden gesunde Lebensjahre im Alter immer wichtiger. In dieser Übersichtsarbeit wird das Konzept der Gesundheitskompetenz und ihre Messung vorgestellt. Weiter werden Ansätze zur Förderung der Gesundheitskompetenz aufgezeigt und Vergleiche von Ansätzen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz gemacht.

Lebens- und Gesundheitserwartung in ausgewählten europäischen Ländern

In den letzten Jahrzehnten ist die Lebenserwartung in Europa stetig gestiegen. 2017 lag die durchschnittliche Lebenserwartung für Frauen und Männer in den EU-Ländern bei 81 Jahren (Urmersbach, 2019). In Ländern mit politisch stabilen Verhältnissen, hoher sozialer Sicherheit und einem funktionierenden Gesundheitssystem stieg die Lebenserwartung in den letzten Jahrzehnten vor allem aufgrund der gesunkenen Säuglingssterblichkeit und einem gut ausgebauten Gesundheitssystem. Aber, allein die Lebenserwartung sagt wenig über den Gesundheitszustand der Bevölkerung aus. Aus diesem Grund sind die statistisch berechneten gesunden Lebensjahre ein wichtiger Indikator, um die Gesundheit der Bevölkerung eines Landes zu beschreiben. Diese sogenannte Gesundheitserwartung, die auch als behinderungsfreie bzw. gesunde Lebensjahre bezeichnet werden. Diese berechnen sich aus Mortalitäts- und Mortalitätsdaten. Die nachfolgende Tabelle illustriert, welches Entwicklungspotenzial zur Förderung von gesunden Lebensjahren in Deutschland, Österreich und der Schweiz im Vergleich mit Schweden brach liegt. Bei der Gesundheitserwartung belegt Schweden den 1. Rang: Schwedinnen erwarten 73,3 Jahre und Schweden 73,0 Jahre gesunde Lebensjahre ab Geburt. Das europäische Mittel der Gesundheitserwartung ab Geburt liegt bei Frauen bei 64 Jahren und bei Männern bei 63,5 Jahren (Eurostat, 2019).

Dieses im Laufe eines Lebens erarbeitete gesundheitliche Kapital kann im Alter zu guter Gesundheit, weniger chronischen Krankheiten und besserer Lebensqualität führen. Akteure der ö entlichen Gesundheit (PublicHealth) sehen in der Förderung der Gesundheitskompetenz einen wichtigen Schlüssel dazu.

Relevante gesellschaftliche Entwicklungen

Je gesünder die Bevölkerung ist, umso leistungsfähiger ist sie auch. Gesundheit ist zu einem wesentlichen Aspekt des Alltags sowohl von Einzelpersonen als auch von gesellschaftlichen Gruppen und der ganzen Bevölkerung geworden. Gesunde und leistungsfähige Erwerbstätige tragen zum wirtschaftlichen Erfolg eines Landes in wesentlichem Maße bei. Insbesondere Maßnahmen der Gesundheitsförderung und Prävention können dazu beitragen, dass die Risiken für nichtübertragbare Krankheiten abnehmen und die Gesundheitserwartung gesteigert wird.

Mit dem Bestreben, bei guter Gesundheit zu sein, entwickelt sich Gesundheit zu einem Konsumgut in einem stetig wachsenden Markt (Rička et al., 2007). Neue Produkte oder Maßnahmen, um die Gesundheit zu erhalten oder zu verbessern und um Krankheiten zu verhindern (z. B. Lifestyle-Medikamente, Schönheitschirurgie), erweitern die Palette der herkömmlichen Angebote der Medizin.

Eine bedeutsame Entwicklung des 21. Jahrhunderts sind in diesem Zusammenhang die neuen Kommunikationstechnologien, die zu anderen Verhaltensmustern führen und neue Kompetenzen der Informationsverarbeitung erfordern. Der Umgang mit diesen neuen Kommunikationstechnologien wird im Bereich Gesundheit sowohl für die gesunde und die kranke Bevölkerung als auch für die Fachpersonen zu einer zentralen Herausforderung. Diese Technologien erlauben die eigene gesundheitliche Planung und die tägliche Vermessung des eigenen Körpers. Begleitete, unbegleitete, kostenp ichtige und kostenlose Applikationen stehen im Internet zu Themen wie Ernährung, Bewegung, Entspannung und Medizin zur Verfügung. Vor dem Kontakt mit einer Ärztin oder einem Arzt ziehen heute viele Menschen verschiedene Quellen heran. So kommt es, dass Gesundheitsthemen zu den am meisten gesuchten Themen im Internet zählen. Das mag ein Hin-

Tabelle 1. Rangliste der Gesundheitserwartung bei Geburt

Rangliste ausgewählter Länder Schweden (1. Rang)

Deutschland (7. Rang)

Schweiz (26. Rang)

Österreich (28. Rang) Frauen

73,3 Jahre

67,3 Jahre

57,7 Jahre

57,1 Jahre Rangliste ausgewählter Länder Schweden (1. Rang)

Deutschland (9. Rang)

Schweiz (19. Rang)

Österreich (27. Rang)

Quelle: ec.europa.eu/eurostat, 2016, Daten Island, Norwegen und Schweiz, 2015

Männer

73,0 Jahre

65,3 Jahre

61,0 Jahre

57,0 Jahre

weis dafür sein, dass gesundheitlichen Themen generell mehr Aufmerksamkeit eingeräumt werden.

Mit der Digitalisierung im Gesundheitswesen erho t sich die Gesundheitspolitik, dass die Patientinnen und Patienten zu informierten, mündigen, autonomen und kompetenten Partnern der Fachpersonen werden. Ein Beispiel dafür sind die elektronischen Patientendossiers. Basierend auf Wissen und Informationen Entscheidungen tre en zu können, stellt eine Herausforderung für alle dar: Für Konsumentinnen, Konsumenten, Patientinnen und Patienten, aber auch für Fachpersonen sowohl in der Versorgung als auch im Gesundheitssystem insgesamt.

Zurzeit ist die Qualität des Inhalts von gesundheitsbezogenen Web-Angeboten häu g zweifelhaft und für Benutzerinnen und Benutzer nicht überprü ar. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen wird „Gesundheitskompetenz“ (engl. Health Literacy) immer wichtiger.

Entwicklung des Konzepts der Gesundheitskompetenz

Das Konzept Gesundheitskompetenz hat ihre Wurzeln in der Bildungsforschung und in der Erwachsenbildung in Hinblick auf die Lese- und Schreibfähigkeit aus den frühen 1970er Jahre (Nutbeam, 2008). Bezogen auf Gesundheit bedeutet dies, sich Zugang zu Informationen und Wissen über Gesundheit und Krankheit zu verscha en, diese Informationen zu nden, zu verstehen, zu beurteilen, sie anzuwenden, und im Alltag angemessene Entscheidungen für die Gesundheit zu tre en.

Das Konzept wurde zuerst in der klinischen Versorgung im Gesundheitswesen aufgegri en, aber auch in der öffentlichen Gesundheit (Public Health) gewinnt Gesundheitskompetenz immer mehr an Bedeutung. Eine ausgeprägte Gesundheitskompetenz stellt ein individuelles gesundheitliches Kapital dar. Eine geringe Gesundheitskompetenz kann jedoch ein gesundheitliches Risiko darstellen. Die Zusammenhänge zwischen Lese- und Entscheidungsfähigkeiten und dem Gesundheitszustand sind heute gut anerkannt und besser verstanden.

Don Nutbeam zählt zu einem der ersten Forschenden über Gesundheitskompetenz. Für ihn beinhaltet Gesundheitskompetenz eine gesundheitsrelevante Lebensweise, Angebote zur Früherkennung von Krankheiten nutzen, Zugang haben und nützen können von Dienstleistungen im Gesundheitswesen sowie Behandlungsempfehlungen im Falle einer Krankheit umsetzen (Nutbeam, 2008). Dazu unterscheidet Nutbeam drei Ebenen: • Funktionale Gesundheitskompetenz: Ausreichende Grundkompetenzen für das Lesen und Schreiben in Hinblick auf die Gestaltung der eigenen Gesundheit sowie bei der Betreuung der Familie und nahestehenden Personen. Dazu braucht es Wissen, Motivation und

Handlungskompetenz. • Kommunikative, interaktive Gesundheitskompetenz: Grundlegende kognitive und soziale Kompetenzen, die erlauben aktiv am Alltag teilzunehmen, Informationen zu sammeln und in Interaktionen mit anderen Personen zu interpretieren sowie vorhandene Informationen unter veränderten Bedingungen anzuwenden. Das heisst, sich im Gesundheitssystem zurecht nden und gegenüber den Fachpersonen im Gesundheits- und Sozialwesen als kompetente Partnerin bzw. kompetenter Partner auftreten zu können. • Kritische Gesundheitskompetenz: Fortgeschrittene kognitive und soziale Kompetenzen, die für eine kritische

Analyse von Informationen eingesetzt werden können, um eine größere Kontrolle zu erhalten. Das beinhaltet die Fähigkeit zu entwickeln, Entscheide beim Konsumverhalten unter gesundheitlichen Aspekten zu tre en.

Die drei Ebenen der Gesundheitskompetenz führen zu einem höheren Maß an Selbstbestimmung beim Einzelnen. Wobei Gesundheitskompetenz durch lebenslanges Lern- und Sozialisierungsprozesse entstehen. Dabei prägen soziokulturelle Lebensbedingungen die Chancen auf die Entwicklung der Gesundheitskompetenz (Sommerhalder & Abel, 2007). Je besser die Bildung und das Einkommen, desto ausgeprägter ist eine hohe Gesundheitskompetenz.

Selbstbestimmung und Chancengleichheit sind zentrale Anliegen der Ottawa-Charta für Gesundheitsförderung 1986 (Kickbusch et al., 2016). Dafür braucht es Rahmenbedingungen. Vor diesem Hintergrund hat die WHO die Gesundheitskompetenz in einen breiteren Kontext gestellt. Dazu zählt der Settingansatz. Das heisst, Personen müssen in ihren Lebensräumen mit Gesundheitsbildung erreicht werden. Das sind Familien, Schulen, Arbeitsplätze und Gemeinschaften (z. B. Stadtquartiere, Dörfer). Deshalb emp ehlt die WHO den Mitgliedstaaten, die Förderung der Gesundheitskompetenz als gesamtgesellschaftliche Aufgabe zu ernennen. Dafür braucht es gesundheits-

politisches Handeln. Die Politik soll sich für aktuellere Gesundheitsrechte einsetzen und Gesundheits- und Patientenorganisationen fördern, damit die Mitbestimmung aus der Betro enenperspektive ermöglicht wird. Zugunsten der Gesundheit der Bevölkerung müssen sich die Verantwortlichen in anderen Politikbereichen für die Anliegen der Gesundheit einbringen.

Abgrenzung zu verwandten Begriffen

Gesundheitskompetenz kann auch als Komponente von Prozessen des Empowerments im Gesundheitsbereich gesehen werden. Nach Rappaport (1987) führt Empowerment Menschen, Organisationen und Gemeinschaften dazu, die Kontrolle über ihre eigenen Angelegenheiten zu gewinnen. Dieser Prozess liegt in der Interaktion zwischen verschiedenen Ebenen. Fachpersonen im Gesundheits- und Sozialwesen können Ressourcen und Kompetenzen fördern sowie Bedingungen scha en, die sowohl ein höheres Empowerment und eine höhere Gesundheitskompetenz ermöglichen.

Laut Sommerhalder und Abel (2007) stellt die Patientenkompetenz eine aufgabenspezi sche Form der Gesundheitskompetenz dar. Patientenkompetenz bezieht sich auf die Kompetenz einer Person in der Rolle als Patientin bzw. Patient, sinnvoll mit den Angeboten der Gesundheitsversorgung umzugehen.

Gesundheitskompetenz ist messbar

Um die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung weiterzuentwickeln, muss sie gemessen werden können. Eine ausgeprägte Gesundheitskompetenz drückt sich aus, wenn gesundheitsrelevante Entscheidungen im Alltag getro en werden und gesundheitsrelevant gehandelt wird. In messbaren Grössen heisst dies: Gesundheitsförderlich körperlich aktiv sein, sich gesund ernähren, Genussmittel risikoarm genießen (z. B. alkoholische Getränke), ausreichend schlafen und achtsam mit Stressfaktoren umgehen sowie Angebote von Gesundheitsdienstleistungen angemessen nutzen. In messbaren Größen heisst dies weiter: Mehr Prävention, weniger Notfallbehandlung und Umsetzung von gesundheitlichen Vorsorge- und Behandlungsempfehlungen im Falle von Krankheit.

Derzeit gibt es mehrere Verfahren, um Gesundheitskompetenz zu messen. Ein international zusammengesetztes Konsortium hat dazu einen Fragenbogen entwickelt. Darin werden 12 Dimensionen von gesundheitlichen Fähigkeiten zur Krankheitsprävention und zum Zugang zu gesundheitlichen Informationen im Falle von Krankheit erfragt. Gemessen wird dabei die Fähigkeit des Verstehens, der Beurteilung und des Anwendens in jeder Dimension (Kickbusch et al., 2016). Sowohl aus Deutschland als auch aus Österreich und aus der Schweiz liegen Studien vor, die au auend auf dem European Health Literacy Survey (HLS-EU) die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung und einzelner Bevölkerungsgruppen untersuchen.

Es zeigt sich dabei, dass die Bevölkerung in den drei Ländern Schwierigkeiten im Umgang mit gesundheitsrelevanten Informationen hat und Handlungsbedarf auf verschiedenen Ebenen besteht. Zur Fortsetzung von regelmäßigen ländervergleichenden Studien wurde unter dem Dach der Europäischen Gesundheitsinformationsinitiative der WHO das Aktionsnetzwerk zur Messung der Gesundheitskompetenz eingerichtet (Kickbusch et al., 2016). Erhebungen zur Gesundheitskompetenz der Bevölkerung und einzelner Bevölkerungsgruppen ist zentrale Voraussetzung für eine evidenzbasierte Politik und Praxis zur Förderung der Gesundheitskompetenz.

Förderung der Gesundheitskompetenz als gesamtgesellschaftliche Aufgabe

Auf der Basis der Begri sde nition ist die eigen- und mitverantwortliche Gesundheitskompetenz fast allgegenwärtig: Im privaten Umfeld, in der Schule, am Arbeitsplatz, in der Markt- und Konsumwelt sowie in der Politik. Zur Förderung dieser gesamtgesellschaftlichen Aufgabe bildeten sich in den letzten Jahren im deutschsprachigen Raum auf strategische Grundlagen, Umsetzungsmaßnahmen und Netzwerke zur Förderung der Gesundheitskompetenz. Nachfolgend wird am Bespiel der Schweiz aufgezeigt, welche Bestrebungen auf verschiedenen Ebenen laufen.

Ebene Bund

Die Stärkung der Gesundheitskompetenz und der Eigenverantwortung der Bevölkerung ist Bestandteil der gesundheitspolitischen Strategie „Gesundheit 2020“ des Bundesrats in der Schweiz. Mit dieser Strategie sollen Patientinnen und Patienten sowie Krankenversicherte gefördert werden, sich e zienter im Gesundheitssystem bewegen und Krankheiten besser vorbeugen zu können. Im Falle von Krankheit sollen sie mit der Inanspruchnahme von medizinischen Leistungen sorgsamer umgehen können. Weiter ist die Förderung der Gesundheitskompetenz in verschiedenen nationalen Gesundheitsstrategien als Querschnittsthema mitberücksichtigt. So wird beispielsweise in der Strategie zur Prävention nichtübertragbarer Krankheiten (NCD-Strategie 2017 – 2024) des Selbstmanagements von Menschen mit chronischen Krankheiten gefördert. Die Förderung der Gesundheitskompetenz der Patientinnen und Patienten ist auch ein Ziel der gemeinsamen Strategie eHealth Schweiz 2018 – 2022 von Bund und Kantonen. Im Rahmen der Umsetzung der schweizerischen Integra tionspolitik gibt es zudem ein Informationsportal im Internet, aus dem leicht verständliche

Gesundheitsinforma tionen in zahlreichen Sprachen verfügbar sind und weit über die Landesprachen der Schweiz hinaus gehen (Schweizerisches Rotes Kreuz, 2019). Damit soll der Zugang zu Gesundheitsinformationen für vulnerable Gruppen erleichtert werden. Als Beispiel einer Kampagne zur Fehlversorgung von Medikamenten hat der Bund im Rahmen der Strategie Antibiotikaresistenzen eine ö entliche Kampagne zur korrekten Verwendung von Antibiotika lanciert (Birrer-Heimo, 2019).

Regionale Ebene

In der Schweiz sind in erster Linie die Kantone für die Umsetzung konkreter Maßnahmen und Angebote für die Gesundheit der Bevölkerung zuständig. Der Kanton Zürich hat im Jahr 2018 das Programm „Gesundheitskompetenz Zürich“ lanciert, das mit Praxisprojekten und Kampagnen einen Beitrag zur Stärkung der Gesundheitskompetenz der Zürcher Bevölkerung und der Gesundheitsversorger leisten will. Der Titel lautet: Gut informiert entscheiden (Gesundheitskompetenz Zürich, 2019).

Private Initiativen

Die Fachorganisation Public Health Schweiz, die Stiftung Gesundheitsförderung Schweiz, die Careum Stiftung, die Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte (FMH) sowie eine Firma aus der Pharmazie hat im Jahr 2010 die Allianz Gesundheitskompetenz gegründet. Sie organisiert Tagungen, unterstützt Projekte, zeichnet Projekte mit einem Preis aus und verö entlicht Publikationen zum Thema Gesundheitskompetenz (Allianz Gesundheitskompetenz Schweiz, 2019). Damit strebt die Allianz eine deutlich verbesserte Gesundheitskompetenz der Schweizer Bevölkerung an. Wichtig ist dabei, dass die Bevölkerung gestärkt wird, im Alltag Entscheide zu tre en, die ihre Gesundheitskompetenz fördern und das selbstbestimmte Leben mit gesundheitlichen Einschränkungen oder mit einer Krankheit leben zu können. Aus diesen Gründen ist es ein Anliegen der Allianz, wichtige politische oder gesetzliche Rahmenbedingungen für die Verbesserung der Gesundheitskompetenz anzuregen, um das Thema gesundheits- und gesellschaftspolitisch breiter zu verankern.

Auch in Deutschland und Österreich sind ähnliche Bestrebungen entsprechend der Organisation des Gesundheitssystems in Gange.

Aktivitäten in Deutschland und in Österreich

In Deutschland und Österreich haben die Bundesministerien für Gesundheit die Gesundheitskompetenz als eines ihrer Gesundheitsziele de niert.

In Deutschland haben die Robert Bosch Stiftung, die Universität Bielefeld und die Hertie School of Gouvernance im Jahr 2018 gemeinsam einen „Nationalen Aktionsplan Gesundheitskompetenz“ verö entlicht (Schae er et al., 2018). Ein breit abgestützter Kreis von Expertinnen und Experten hat ihn erarbeitet. Er nimmt den Handlungsbedarf in den alltäglichen Lebenswelten, im Gesundheitssystem, beim Leben mit chronischen Erkrankungen und in der Forschung in den Blick. In insgesamt 15 aufeinander abgestimmten Empfehlungen wird aufgezeigt, wie die Gesundheitskompetenz in Deutschland gestärkt werden kann. Der Aktionsplan steht unter der Schirmherrschaft des Bundesgesundheitsministeriums. Im Jahr 2019 wurde weiter das Deutsche Netzwerk für Gesundheitskompetenz (DNGK) gegründet. Diese interdisziplinär zusammengesetzte Fachgesellschaft bestätigt sich mit der Theorie und der Praxis der Gesundheitskompetenz. Das Netzwerk dient dem fachlichen Austausch der an Gesundheitskompetenz Interessierten. Es betreibt eine web basierte Informations- und Kommunikationsplattform. Daneben beschäftigt es sich an der Entwicklung und Vermittlung von Aus-, Weiter- und Fortbildungscurricula und -modellen sowie der Abstimmung laufender Gesundheitskompetenz-bezogener Forschung, Ausbildung und Praxis. Neben der Durchführung von Evaluations- und Forschungsprojekten arbeitet es an der Weiterentwicklung von Theorie und Methoden. Auch werden ethische Fragen der Gesundheitskompetenz bearbeitet. Webbasiert stellt dieser Verein nützliche Informationen zum Begri und Gesundheits- und Patienteninformation bereit. Zudem bietet es eine E-Bibliothek an.

Die Österreichische Plattform „Gesundheitskompetenz“ (ÖPGK) koordiniert, unterstützt und entwickelt die Umsetzung des bundesstaatlichen Gesundheitsziels „Gesundheitskompetenz“ bereits seit längerer Zeit. Die reichhaltigen Informationen dieser Webseite richten sich an Mitgliedsorganisationen der ÖKPK und an alle im Bericht „Gesundheitskompetenz“ tätigen Akteurinnen und Akteure aus Praxis und Forschung sowie an weiter interessierte Personen und Organisationen.

Eigenverantwortung ermöglichen

Im heutigen (gesundheits-)politischen Diskurs wird häu g „Eigenverantwortung“ gefordert. In den 1970er-Jahren setzte eine Entwicklung ein, die vom informierten zum mündigen, autonomen und kompetenten Patienten führte. Entscheidungen, basierend auf Informationen, sind eine Herausforderung für alle: für Konsumentinnen und Konsumenten oder Patientinnen und Patienten, aber auch für Fachpersonen im Gesundheitsbereich (Anbieter) und das Gesundheitssystem im Ganzen; alle Beteiligten sollten ihre Rolle überdenken. Kommunikationsfähigkeit von Fachleuten (Expertinnen und Experten) und die Lesbarkeit der Systeme (Rahmenbedingungen) spielen eine große Rolle, wenn Gesundheitskompetenz ein etabliertes Prinzip bei der Förderung von gesundheitsrelevanten Entscheiden im Alltag und im Krankheitsfall werden soll.

Die Übernahme von Verantwortung sollte immer an bestimmte Rahmenbedingungen geknüpft sein. In diesem

Sinne braucht es doppelgleisige Interventionsstrategien, die sowohl die persönlichen Fähigkeiten verbessern und zugleich die Komplexität der Kommunikation verringern. Auch das Vertrauen der Nutzerinnen und Nutzer in das Gesundheitswesen sollte erhöht werden – etwa durch die Verbesserung der Patientensicherheit und die Qualität von Gesundheitseinrichtungen.

Von besonderer Bedeutung ist die Frage, wie Gesundheitsfachpersonen mit benachteiligten Kundinnen und Kunden sowie Patientinnen und Patienten umgehen können und ob sie diese Herausforderung mit Interesse anpacken. Die P ege könnte rasch auf diese gesundheitspolitische Perspektive eingehen. Die Ressourcenorientierung ist ein wirksamer Ansatz zur Stärkung der Selbstverantwortung. In der P ege hat die Ressourcenorientierung eine lange Tradition. Bereits Florence Nightingale konzipierte die P ege mangels Kenntnisse über Infektionskrankheiten in der Unterstützung der selbstheilenden Kräfte und in der Verbesserung der hygienischen Verhältnisse in der Umgebung (Nightingale, 1859). Viele namhafte P egeexpertinnen konzipierten die P ege (P egetheorien) als Unterstützung des Selbstmanage ments und in der Krankheitsbewältigung im Alltag oder setzten den Schwerpunkt auf die Beziehung zwischen „Pa tient und P ege“ (Fawcett, 1996).

Diese p egetheoretischen Grundlagen sind günstige Voraussetzungen, um in praxisorientierten Projekten die Gesundheitskompetenz in ganz unterschiedlichen P egesituationen zu fördern und so zu entwickeln, dass sie zu einer neuen Qualität im Gesundheitswesen beitragen. Die meisten P egenden arbeiten in Spitälern und die Aus- und Weiterbildungen richten sich hauptsächlich nach den institutionellen Bedürfnissen der dort behandelten Patientengruppen. Die unau örliche Entwicklung und die informierten Versicherten verlangen nach neuen Kompetenzen. Mit den immer kürzer werdenden Spitalaufenthalten wird eine gute Beratung bei der Vorbereitung und der Nachsorge zum entscheidenden Erfolgsfaktor für das Ergebnis. Es wird sich eine neue p egerische Expertise herauskristallisieren müssen.

Neben den Angeboten für Grundausbildungen wird sich die P ege für die Entwicklung von folgenden Kompetenzen interessieren müssen: • Klinische Kompetenz kombiniert mit Beratungskompetenz und vertiefter Kenntnis von Lebensstilen und dem Zusammenhang zwischen Lebensstil und

Gesundheitsverhalten; • Klinische Kompetenz kombiniert mit didaktischer und pädagogischer Kompetenz zur Au ereitung und Vermittlung von Wissen für verschiedene Adressaten; • Klinische Kompetenz kombiniert mit betriebswirtschaftlichem Wissen, psychologischer Kompetenz und ethischer Kompetenz, um die Entscheidungsprozesse zu leiten.

Neben den Kompetenzen braucht die P ege dafür aber auch einen gesellschaftlichen Auftrag und in Folge ein verändertes Finanzierungssystem sowie eine veränderte politische Steuerung.

Die P ege kann sich auch interprofessionell und gesundheitspolitisch für die Förderung der Gesundheitskompetenz stark machen: Angefangen bei jeder einzelne Person – unabhängig ihres Alters-, in Institutionen, die in Belangen der Gesundheit verständlich informieren und ihre Dienstleistungen leicht zugänglich machen wollen, sowie bei Akteuren der Gesundheits- und Bildungspolitik, die Mittel zur Förderung der Gesundheitskompetenz bereitstellen können.

Literatur

Allianz Gesundheitskompetenz Schweiz (2019). http://www.allianz -gesundheitskompetenz.ch/logicio/pmws/indexDOM.php? client_id=allianz&page_id=home&lang_iso639=de Birrer-Heimo, P. (2019). Interpellation: Gesundheitskompetenz steigern. Verfügbar unter https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/ suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20193311 Deutsches Netzwerk Gesundheitskompetenz e. V. (DNGK) (2019). https://dngk.de/ Eurostat (2019). EU-Gesundheitserwartung. https://ec.europa.eu/ eurostat/statistics-explained/index.php?title=Glossary:

Healthy_life_years_(HLY)/de Fawcett, J. (1996). Pflegemodelle im Überblick. Bern: Hans Huber

Verlag. Gesundheitskompetenz Zürich (2019). Gut informiert entscheiden. http://gesundheitskompetenz-zh.ch/gut-informiert-entscheiden Kickbusch, I., Pelikan, J., Haslbeck, J., Apfel, F. & Tsouros A. D. (Hrsg.) (2016). Gesundheitskompetenz – die Fakten. Deutsche

Fassung von Health Literacy, WHO Regionalbüro Europa (2013):

The Solid Facts. Zürich: Kompetenzzentrum. Nightingale, F. (1859). Notes on Nursing. London: Harrison. Nutbeam, D. (2008). The evolving concept of health literacy. Social

Science & Medicine, 67 (12), 2072 – 2078. Österreichische Plattform „Gesundheitskompetenz“ (ÖPGK) (2019). https://oepgk.at/ Rappaport, J. (1987). Terms of Empowerment exemplar of Prevention. Toward a theory for Community Psychology. American

Journal of Community Psychology, 15 (2), 121 – 148. Rička, R., Stutz Steiger T. & König, J. (2007). Gesundheitskompetenz der Bevölkerung stärken. Krankenpflege, 10, 14 – 16. Schaeffer, D., Hurrelmann, K., Bauer, U. & Kolpatzik, K. (Hrsg.) (2018). Nationaler Aktionsplan Gesundheitskompetenz. Die Gesundheitskompetenz in Deutschland stärken. Berlin: KomPart. Schweizerisches Rotes Kreuz (2019). Migesplus – Portal für gesundheitliche Chancengleichheit. https://www.migesplus.ch Sommerhalder, K. & Abel T., (2007). Gesundheitskompetenz: eine konzeptuelle Einordnung. Im Auftrag des Bundesamts für Gesundheit. Bern: Universität Bern. Urmersbach, B. (2019) Statista. Europäische Union: Lebenserwartung bei der Geburt in den Mitgliedsstaaten im Jahr 2017. Verfügbar unter https://de.statista.com/statistik/daten/studie/ 954/umfrage/lebenserwartung-bei-geburt-in-ausgewaehlten -laendern-der-europaeischen-region/

Regula Rička, PhD, MPH

Gesundheits- und Pflegewissenschaftlerin, unterrichtet zu verschiedenen Themen der öffentlichen Gesundheit, in diesem Bereich wissenschaftlich tätig. Bern

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