Quartier bildet

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Themenheft von Hochparterre, April 2019

Quartier bildet

Wie beeinflusst die Entwicklung von Stadt, Agglomeration und Quartier die Schule – und umgekehrt ? Zusammenhänge, Ansichten und Appelle.

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16 Sprachen sprechen die Kinder der zweiten Klasse im Schulhaus Sihlfeld.

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Editorial

Inhalt

4 Die richtige Ausgangslage Wie sozialräumliche Entwicklungen, Bildungseinrichtungen, erfolg reiches Lernen und Integration zusammenspielen.

12 Integrationsbau im Quartier Nach der Umleitung des Transitverkehrs hat sich die Zusammensetzung des Zürcher Quartiers Hard gewandelt. Das wirkt sich auch auf die Durchmischung der Schulklassen aus.

18 Neun Positionen Planerinnen, Forscher, Politiker und Soziologinnen nehmen Stellung zu sozialer Durchmischung.

2 4 «  Es verträgt Heterogenität » Die Gemeinde Zuchwil investiert in Bildung und Integration – nicht nur Geld, sondern auch Zeit und Ideen.

3 0 So funktioniert es Zwölf Appelle an Schule, Bauwirtschaft und Stadtplanung.

In Dialog treten

Das vorliegende Heft untersucht nicht die perfekte Quar­ tierentwicklung. Es macht auch keine Vorschläge, wie ideale Schulhäuser zu planen und zu bauen sind. Viel­ mehr ergründet es, warum sozial durchmischte Quartiere gleichwertige Bildungschancen fördern. Wir befragen Ak­ teure und Expertinnen, fassen Handlungsmöglichkeiten zusammen und fordern Schule, Wohnbauträger und Stadt­ ent­wick­lung auf, miteinander in einen Dialog zu treten. Zustande gekommen ist dieses Heft durch solch ei­ nen disziplinenübergreifenden Austausch: Claudia Neu­ gebauer, Dozentin für Deutsch als Zweitsprache, und Steff ­Fischer, Immobilienentwickler, sind seit dreissig Jahren ein Paar. So unterschiedlich ihr beruflicher Alltag ist – über die Jahre und in vielen Gesprächen ist das Verständ­ nis für die andere Disziplin gewachsen. Wichtig war dabei auch der langjährige Diskurs mit Markus Truniger, Pionier der interkulturellen Bildung, und mit der Soziologin Bar­ bara Emmenegger. Immer wieder ging es um die Frage, wie die Entwicklung von Quartieren Bildungseinrichtungen beeinflusst – und umgekehrt. Die so entstandene interdis­ ziplinäre Projektgruppe hat die Fragestellung geschärft. Die gesellschaftliche Verantwortung der Immobilienbran­ che liegt Steff Fischer am Herzen. Deshalb hat seine Fir­ ma Fischer, die seit mehr als zwanzig Jahren zukunfts­ weisende Projekte entwickelt, die Quartiere beleben, mit einem finanziellen Beitrag die Recherchen und damit die­ ses Heft ermöglicht – ergänzt durch Beiträge von weiteren Partnerinnen und Partnern. Das Heft ‹ Quartier bildet › liefert Denkanstösse. Eine Reportage aus dem Stadtzürcher Hardquartier zeigt, was in Schulen passiert, wenn der Mix der Bewohnerinnen und Bewohner sich verändert. Das ländliche Pendant ist die Gemeinde Zuchwil nahe Solothurn, die in den letzten Jah­ ren erfolgreich in Integration und Bildung investiert hat. Dass die Bildungschancen zwischen Quartieren immer noch stark ungleich sind, veranschaulichen eindrücklich die Statistiken der Stadt Zürich ab Seite 6. Die Fotografin Anne Morgenstern hat sowohl im Quartier Hard als auch in Zuchwil Szenen des gemeinsamen Lebens und Lernens eingefangen. Ihre Bilder zeigen pointiert, um wen es bei diesem Thema zuallererst geht: die Kinder.  Lilia Glanzmann

Impressum Verlag Hochparterre AG  Adressen  Ausstellungsstrasse 25, CH-8005 Zürich, Telefon +41 44 444 28 88, www.hochparterre.ch, verlag @ hochparterre.ch, redaktion @ hochparterre.ch Verleger und Chefredaktor  Köbi Gantenbein  Verlagsleiterin  Susanne von Arx  Redaktion  Lilia Glanzmann  Konzept  Lilia Glanzmann, Barbara Emmenegger, Steff Fischer, Claudia Neugebauer, Markus Truniger  Fotografie  Anne Morgenstern, www.annemorgenstern.com  Art Direction  Antje Reineck  Layout  Juliane Wollensack  Produktion  Linda Malzacher  Korrektorat  Lorena Nipkow, Dominik Süess  Lithografie  Team media, Gurtnellen  Druck  Stämpfli AG, Bern Herausgeber Hochparterre  Bestellen  shop.hochparterre.ch, Fr. 15.—, € 12.—

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Die richtige Ausgangslage Warum sozial durchmischte Quartiere das Zusammenleben für alle aufwerten und gleichwertige Bildungschancen fördern. Eine Auslegeordnung entlang von sechs Stationen. Text: Lilia Glanzmann

Gute Architektur garantiert noch kein angenehmes Quar­ tierleben, genauso wenig wie gute Bildung einem Kind der­ einst eine erfolgreiche berufliche Zukunft sichert. Doch gut gebaute, sozial durchmischte Wohnquartiere sind at­ traktiv und können Lehrerinnen und Lehrern helfen, ihre Arbeit noch besser zu machen. Umgekehrt steigern Schu­ len mit gutem Unterricht die Attraktivität des Wohnum­ felds. Wie aber spielen sozialräumliche Entwicklungen, Bildungseinrichtungen, erfolgreiches Lernen und In­te­ gra­tion zusammen ? Sechs Stationen entlang von Bildung, Stadtentwicklung, Immobilienwirtschaft, Integration, Po­ litik und Forschung beleuchten diese Frage. Die Kinder herausfordern Erster Halt an der Pädagogischen Hochschule Zürich. Am Zentrum für Schule und Entwicklung arbeitet Claudia Neugebauer. Die einstige Primarlehrerin ist heute Dozen­ tin für Deutsch als Zweitsprache und leitet Unterrichtsund Schulentwicklungsprojekte in Gemeinden und Stadt­ teilen mit hohem Anteil an mehrsprachig aufwachsenden Kindern. Über ihre eigene Schulzeit in den Siebzigerjah­ ren in Zürich-Wiedikon sagt sie: « Etwa die Hälfte meiner Gspändli stammte aus Familien, die in die Schweiz einge­ wandert waren. » Vielsprachige Klassen mit einer ethnisch und sozial durchmischten Schülerschaft waren später als Lehrerin ihr bevorzugtes Arbeitsumfeld. Im Unterricht stellte sie schnell fest, wie entscheidend der Mix einer Schulklasse für das Lernen der Kinder ist. Zwar gilt als empirisch gut abgesichert, dass die indi­ viduellen kognitiven Fähigkeiten sowie der familiäre und soziale Hintergrund das Lernen prägen. Darauf habe die Lehrperson keinen Einfluss, sagt die Forschung. « Wesent­ lich ist deshalb die Frage, wie der Unterricht zu gestalten ist, um möglichst vielen Kindern gute Lernerfolge zu er­ möglichen », sagt Claudia Neugebauer. Die Zusammen­

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setzung einer Schulklasse spielt dabei eine bedeutende Rolle. « Wenn es in einer Klasse Kinder gibt, die zu Hause erleben, wie diskutiert wird, oder dass Lesen eine Berei­ cherung sein kann, wirkt sich das auf die Klasse als Lern­ gemeinschaft aus. » Kinder, die wenige solche Erfahrungen mitbringen, können durch ihre Peers davon erfahren. Das setzt allerdings voraus, dass die Lehrpersonen entspre­ chende Lerngelegenheiten anbieten. Denn die aktuelle Forschung zeigt, dass die Lernerwartungen sinken, wenn der Anteil an Kindern aus sozial benachteiligten Famili­ en ein bestimmtes Mass überschreitet: « L ehrpersonen erwarten von Kindern aus sozial benachteiligten Familien unbewusst weniger Lernerfolg und stellen ihnen deshalb weniger anspruchsvolle Aufgaben. » Claudia Neugebauer spricht von einem herausfordernden Angebot für alle Kin­ der, das für erfolgreiches Lernen nötig sei. Für ihre Arbeit sind positive Beispiele, die für andere Schulen richtungs­ weisend sein können, bedeutsam. Deshalb untersucht sie derzeit im Rahmen eines Forschungsprojekts mit der Pä­ dagogischen Hochschule Thurgau, wie Lehrpersonen ihr Handeln bewusst wahrnehmen, reflektieren und verändern können. « Es geht dabei um die Mikroebene des sprachli­ chen Handelns, die einem selbst oft gar nicht bewusst ist », erklärt sie. Die Ergebnisse will das Forschungsteam für die Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen aufbereiten. QUIMS – Qualität in multikulturellen Schulen Im Kanton Zürich gibt es für Schulen mit überdurch­ schnittlich vielen Kindern aus sozial benachteiligten und fremdsprachigen Familien das Schulentwicklungs- und Un­ terstützungsprogramm QUIMS – das für « Qualität in mul­ tikulturellen Schulen » steht. Das Programm konzentriert sich auf die drei Handlungsfelder Förderung der Sprache, Schulerfolg und soziale Integration. QUIMS-Schulen wer­ den mit verschiedenen Massnahmen bei der Realisierung dieser Anliegen fachlich und finanziell unterstützt. Das soll sicherstellen, dass alle Schülerinnen und Schüler ein gutes Leistungsniveau erreichen und gleichwertige Bil­ dungschancen haben. →

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Abbildung 1: Übertritte von der öffentlichen Primarschule in Sekundarschultypen nach Schulkreisen der Stadt Zürich Typische Bildungswege je nach Schulkreis: Wechselt in Schwamendingen knapp die Hälfte aller Sechstklässler an die anforderungstiefere Sek B ( dunkle Einfärbung im Nordosten ), sind es im Schulkreis Zürichberg weniger als zehn Prozent ( helle Fläche ) – dafür schaffen dort fast vierzig Prozent den Übertritt ins Gymnasium. Die Ungleichheiten zwischen den Schulkreisen sind über die letzten 16 Jahre hoch geblieben. Wie eine aktuelle Studie zu den Mietpreisunterschieden unmittelbar an den Zürcher Schulkreisgrenzen belegt, berücksichtigen bessersituierte Eltern diese Unterschiede bei ihrer Wohnortwahl. Quelle: Bildungsstatistik des Kantons Zürich, Darstellung von Dlabac und Amrhein

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Anteile Übertritte Sekundarstufe 1 nach Schultyp 2000 Schulkreise   % Gymnasium  % Sekundarschule A  % Sekundarschule B   % Übrige  % Übertritte Sekundarschule B   ≤ 10  > 10     ≤ 20  > 20 ≤ 30  > 30 ≤ 40  > 40 ≤ 50

Anteile Übertritte Sekundarstufe 1 nach Schultyp 2016 Schulkreise   % Gymnasium  % Sekundarschule A  % Sekundarschule B   % Übrige  % Übertritte Sekundarschule B   ≤ 10  > 10     ≤ 20  > 20 ≤ 30  > 30 ≤ 40  > 40 ≤ 50

Schulkreise A Zürichberg B Limmattal C Uto D Letzi E Waidberg F Glattal G Schwamendingen

→ QUIMS startete vor zwanzig Jahren als Pilotprojekt in zwei Stadtzürcher Schulhäusern mit mehr als vierzig Pro­ zent Kindern mit Migrationshintergrund. Die ermutigen­ den Resultate führten dazu, dass der QUIMS-Ansatz vom Zürcher Kantonsrat unterstützt und 2005 im Volksschul­ gesetz des Kantons verankert wurde. Heute leistet der Kanton Zürich jährlich eine finanzielle Unterstützung von durchschnittlich 40 000 Franken pro QUIMS-Schule. Rund 130 Schulen in der Stadt Zürich, in Winterthur und in den Agglomerationsgemeinden sind beteiligt. Einer der Arbeitsschwerpunkte von Claudia Neuge­ bauer ist guter Sprachunterricht in QUIMS-Schulen. In Kooperation mit dem Zentrum Lesen der Pädagogischen Hochschule Nordwestschweiz führt sie seit mehreren Jahren Schulentwicklungsprojekte zu wirksamem Sprach­ unter­richt durch. Sie beobachtet, dass die angebotenen Massnahmen in sozial stärker durchmischten Quartieren rascher greifen als dort, wo die Schülerinnen und Schüler überwiegend aus sozial benachteiligten Familien stam­ men. Als gutes Beispiel nennt sie das Sihlfeldschulhaus im Zürcher Hardquartier siehe Seite 12. Wo einst vor allem sozial wenig privilegierte Familien lebten, zeigt sich ­heute – nachdem das Quartier verkehrsberuhigt wurde –, wie sich die Nachbarschaft verändert. Das ist auch im Angebot des Wohnungsmarkts begründet. Die zunehmende Gentrifi­ zierung könnte aber wiederum zu einer sozialen Entmi­ schung führen – diesmal mit umgekehrten Vorzeichen. Ein interdisziplinärer Diskurs zwischen Immobilien­wirtschaft und Bildungsinstitutionen wäre essenziell, fehlt aber bis­ her. Ein entscheidender Fortschritt könnte sein, die Be­ dürfnisse der Schulen einzubeziehen, wenn ein Quartier entwickelt oder Siedlungen saniert werden. Die Frage ist, wer sich hier in der Verantwortung sieht. Weitsichtige Stadtentwicklung Nächster Halt im Kreis 4 bei Barbara Emmenegger. Sie arbeitet als selbstständige Soziologin in Zürich und als Dozentin am Institut für soziokulturelle Entwicklung der Hochschule Luzern. Sie beschäftigt sich mit Fragen des Zusammenspiels von sozialen und räumlichen Ent­ wicklungen und dabei insbesondere mit partizipativen Prozessen in Gemeinde-, Stadt- und Siedlungsentwick­ lungen. Barbara Emmenegger ist in Horw aufgewachsen, einem Luzerner Vorort. « Heute sprechen wir von Segrega­ tion beim Wohnen. Doch Städte und grössere Gemeinden waren schon immer segregiert. Eine gewisse Segregation macht Stadt eben aus », sagt die Soziologin. Damals, An­ fang der Siebzigerjahre, sei auch Horw klar segregiert gewesen. Es gab ein Oberdorf mit Ein- und Zweifamilien­ häusern und ein unteres Dorf mit grossen Mehrfamilien­ häusern entlang der Kan­tons­stras­se und des Bachs, der immer wieder über die Ufer trat, und natürlich die Villen mit Seeanstoss oder Seeblick, an denen sie sonntags stau­ nend vorbeispazierte. Ende der Neunzigerjahre arbeitete Barbara Emmen­ egger als Projektleiterin bei der Fachstelle für Stadtent­ wicklung der Stadt Zürich. Sie beschäftigte sich auch mit den Quartieren um die Weststrasse, wo sich der Transit­ verkehr durch die Stadt wälzte: « Es gab wenig öffentliche Räume, und wir versuchten, die Infrastruktur aufzuwerten und Freiräume zu schaffen für die Menschen, die dort lebten. » Natürlich hätten sie da und dort etwas bewirkt, insbesondere auch in der interdepartementalen Zusam­ menarbeit mit der Gemeinwesenarbeit, Grün Stadt Zürich, den Schulen oder dem Tiefbauamt. « Gemeinsam mit den Quartierbewohnerinnen und -bewohnern konnten Treff­ punkte wie der Popcorn-Treff auf der Fritschiwiese, Spiel­ plätze in der Hardau oder Begegnungsmöglichkeiten →

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% über 30-Jährige mit obligatorischer Schulbildung als höchstem Abschluss 1990  ≤ 10  > 10 ≤ 20  > 20 ≤ 30  > 30 ≤ 40  > 40 ≤ 50  > 50 ohne statistische Zonen Grünaustrasse und Dolder

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5 Abbildung 2: Anteil Erwachsener über 30, die höchstens über obligatorische Schulbildung verfügen, nach statistischen Zonen und Stadtkreisen der Stadt Zürich

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Abbildung 3: Anteil Ausländerinnen und Ausländer nach statistischen Zonen und Stadtkreisen der Stadt Zürich In den dunkel markierten Schulkreisen in Abbildung 1 wohnen die meisten Menschen mit niedrigem formalen Bildungsabschluss ( 2 ) und ausländischer Nationalität ( 3 ). Früher zog sich ein Stadtgebiet mit sozioökonomisch und sprachlichkulturell erschwerenden Voraussetzungen für die Bildung vom Hauptbahnhof bis zur Stadtgrenze im Westen. Heute gibt es in Zürich nur noch vereinzelt Quartiere mit einem hohen Anteil an Personen mit tiefem sozialen Status: Hard, Grünau und Schwamendingen ( Abbildung 2, rechts ). Gründe dafür sind die soziodemografischen Entwicklungen, zugewanderte hoch qualifizierte Arbeitskräfte sowie Aufwertungs- und Verdrängungsprozesse. Quelle: Dlabac und Bruderer auf Grundlage von Volkszählungs- und Strukturerhebungsdaten

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% Ausländerinnen und Ausländer 2010   ≤ 10  > 10     ≤ 20  > 20 ≤ 30  > 30 ≤ 40  > 40 ≤ 50  > 50 ohne statistische Zonen Dolder und ETH Hönggerberg

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% Ausländerinnen und Ausländer 1990   ≤ 10  > 10 ≤ 20  > 20 ≤ 30  > 30 ≤ 40  > 40 ≤ 50  > 50 ohne statistische Zonen Grünaustrasse, Dolder und ETH Hönggerberg

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% über 30-Jährige mit obligatorischer Schulbildung als höchstem Abschluss 2010 ≤ 10  > 10 ≤ 20  > 20 ≤ 30  > 30 ≤ 40  > 40 ≤ 50  > 50 ohne statistische Zone Dolder

Stadtkreise Zürich mit Quartieren 1 C ity, Lindenhof, Rathaus, Hochschulen 2 Enge, Wollishofen, Leimbach 3 Sihlfeld, Alt-Wiedikon, Friesenberg 4 L angstrasse, Werd, Hard 5 Escher Wyss, Gewerbeschule 6 Unterstrass, Ober­strass 7 F luntern, Hottingen, Hirslanden, Witikon 8 Weinegg, Mühlebach, Seefeld 9 Altstetten, Albisrieden 10 Wipkingen, Höngg 11 O erlikon, Seebach, Affoltern 12 Schwamendingen, Saatlen, Hirzenbach

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Miete 4-ZimmerWohnung 1990 Marktwert in Fr.   ≤ 1000  > 1000 ≤ 1100  > 1100      ≤ 1300  > 1300

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Miete 4-ZimmerWohnung 2011 – 2015 Marktwert in Fr.   ≤ 1700  > 1800 ≤ 1900  > 1900 ≤ 2000  > 2000  ≤ 2100  > 2100   ≤ 2200  > 2700

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Abbildung 4: Mietkosten nach Stadtkreisen der Stadt Zürich Die Mietkosten sind seit 1990 in der ganzen Stadt stark gestiegen, ebenso die Differenzen zwischen Mietkosten im privaten und im gemeinnützigen Wohnungsbau. Die durchschnittlichen Mietkosten unterscheiden sich je nach Stadtkreis stark, was zu einer räumlichen Kon­zen­tra­ti­on von Bevölkerungsgruppen mit sozial unterschiedlichem Status in den Quartieren und damit auch in den Schulen führt. Sollen die Schul­ wege kurz bleiben, haben die Schulen das kaum selbst in der Hand – kurze Wege hängen mit der lokalen Verfügbarkeit von günstigem Wohnraum zusammen, wie dies in den Kreisen 4 und 12 der Fall ist. Diese soziale Entmischung läuft dem Grundsatz der Volksschule entgegen, Kinder nach sozialer und sprachlicher Herkunft sowie nach Leistungsfähigkeit möglichst durchmischt in Schulen einzuteilen. Quelle: Dlabac und Amrhein auf Grundlage von Volkszählungs- und Strukturerhebungsdaten

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Preisdifferenz Privat vermieteter Wohnraum Gemeinnütziger Wohnraum

→ für niederschwelligen Austausch in den Quartieren aufgebaut werden. » So richtig verändert habe sich die Lage im Sihlfeld- und im Hardquartier aber erst, als der grosse Hebel angesetzt wurde: die Eröffnung der Westtan­ gente mit den flankierenden Massnahmen in diesen vom Verkehr stark belasteten Quartieren. Die Sihlfeld- und die Weststrasse wurden zu Quartierstrassen abklassiert, und die Lebensqualität verbesserte sich sofort und gewaltig – ein Mehrwert für die dortigen Immobilien. Gleichzeitig profitierte Zürich von einem wirtschaftlichen Aufschwung. « Noch in den Neunzigerjahren geplagt von der Abwande­ rung von Arbeitsplätzen und gut betuchten Bewohnerin­ nen und Bewohnern, boomt nun beides in Zürich – wiede­ rum mit Auswirkungen auf die Immobilien- und damit die Mietpreise », sagt die Soziologin. Umsichtige Wohnbaupolitik Wie lassen sich Quartiere aufwerten, ohne die Bevöl­ kerung mit tieferen Einkommen zu verdrängen ? « Städte und Gemeinden müssen sich für preisgünstigen und auch für gemeinnützigen Wohnungsbau einsetzen », sagt Bar­ bara Emmenegger. Das erfordere viel Weitsicht. In den Quartieren Hard und Sihlfeld etwa hätte die Stadt sich ent­ lang der einstigen Transitachse frühzeitig Immobilien si­ chern müssen, als sie noch günstig waren. Auch politische Initiativen wie diejenige für ‹ Mehr bezahlbare Wohnungen › findet sie essenziell. « Wobei die Stadt Zürich mit einem Viertel gemeinnützigen von rund 220 000 Wohnungen schon relativ gut mit dabei ist. » Als wichtige Akteure für ein gut funktionierendes, vernetztes und unterstützendes Quartierleben sieht Emmenegger neben der Schule auch die Arbeit der soziokulturellen Animation oder der Ge­ meinwesenarbeit, die als Vermittlerinnen zwischen den Instanzen agieren und wo nötig Partei ergreifen können. Und was hält die Soziologin von ‹ Busing ›-Konzepten ? Bereits seit den Sechzigerjahren setzten etwa Städte der USA auf das System, Schülerinnen und Schüler aus sozio­ ökonomisch schwächeren Quartieren in bessergestellte Bezirke zu transportieren. « Diese Idee hat sich dort nicht durchgesetzt und hatte auch hierzulande glücklicherwei­ se keine ernsthafte Chance. » Die Lösung für sozial durch­ mischte Schulklassen sieht Emmenegger keinesfalls in der Umteilung von Kindern, sondern in der Wohnbaupolitik: « Gibt es in einem Quartier für alle sozialen Schich­ ten attraktive Wohnungen, kann eine zu starke soziale ­Entmischung verhindert werden. » Auch mit günstigem Wohnraum Geld verdienen Doch welche Rolle spielt in diesem Gefüge die private Immobilienwirtschaft ? Die Nachfrage nach preisgünsti­ gem Wohnraum steigt und rückt dieses Segment auch in den Fokus von Investoren. So gründete die Pensimo, eine Immobilienfirma von Pensionskassen, 2010 die Anlage­ stiftung Adimora, um institutionellen Anlegern eine Betei­ ligung in diesem Segment zu ermöglichen. Schulnähe und Attraktivität der Schulen in einem Quartier wiederum interessieren die Immobilienentwick­ lerinnen und Investoren insofern, als das in Inseraten die Vermarktung befördert. Zur Frage, wie sich die Arbeit der Immobilienbranche auf Quartierentwicklung, sozioöko­ nomische Durchmischung und damit auf die Schulen aus­ wirke, wollen sich die meisten der grossen privaten Wohn­ bauträger nicht äussern. « Nicht unser Thema », « politisch aufgeladen », « zu viele Hypothesen », heisst es auf Anfrage. Ein Immobilienentwickler, der für alternative Pionier­ projekte steht, ist Steff Fischer. Der Zürcher wurde vor 61 Jahren als Sohn eines Sattlers im Zürcher Oberland ge­ boren. « Mit Durchmischung kam ich zum ersten Mal als

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Primarschüler in Fällanden in Kontakt. Damals wurden dort die ersten Wohnblöcke gebaut, wir Kinder von Bauern, vom Schmied oder vom Sattler waren in der Überzahl. Die Zugezogenen – alles Schweizer – waren für uns ‹ Auslän­ der ›, mit denen wir nicht spielten. » Nach zwei Jahren hätte sich das ausgewachsen. Quartierentwicklung und Schule zu vernetzen, war für Steff Fischer lange Zeit weitgehend kein Thema, ein Austausch mit Schulen oder Kitas gibt es in seinem beruf­ lichen Alltag selten. « Ein untergeordnetes Thema », sagt er. « Irgendwann im Lauf eines Projekts fragt der Investor vielleicht, ob das Schulangebot in der Nähe abgedeckt sei. » Er könne es nicht mit Zahlen belegen, aber Fischer ist überzeugt, dass ein lebendig durchmischtes Quartier – inklusive einer durchdachten Erdgeschossnutzung – sich langfristig positiv auf die Einnahmen auswirkt: « Eben­ falls bezüglich Leerstand – wenn auch lange Zeit niemand mehr glaubte, dass es irgendwann wieder Leerstand geben würde. » Ein durchmischtes Wohnangebot zu entwickeln und die Bildungsinstitutionen früh einzubinden, verursa­ che zwar höhere Planungskosten. « Wichtig ist aber eine nachhaltige Rendite. » Lösungsansätze für eine vernetzte Bildungslandschaft und ein Wohnungsangebot, das alle sozialen Schichten einschliesst ? Eine Methode wendet Steff Fischer in vielen seiner Projekte an: statt teurer Renovationen das Nötigste machen, die Mieten tief halten und die Mieter unterein­ ander netzwerken lassen. « Vor allem aber sollten sich alle Akteure dem Thema der sozialen Durchmischung ver­ pflichtet fühlen und darüber Debatten führen. » Behördli­ che Regulierungen oder Anreizsysteme sieht er nicht als Lösung, er zählt auf Eigenverantwortung: « Es braucht ein Umdenken, auch seitens der Besitzer, ob privat oder öf­ fentlich. » Wer mit einem Grundstück Geld verdiene, sollte sich seiner gesellschaftlichen und sozialen Verantwor­ tung bewusst sein und mit seiner Immobilie versuchen, städtebauliche Antworten darauf zu finden.

Abbildung 5: Gemeinnütziger Wohnraum nach Quartieren der Stadt Zürich Geringer sind die Unterschiede der Mietkosten bei den günstigeren gemeinnützigen Wohnungen. Mit rund 25 Pro­zent ist deren Anteil in der Stadt Zürich im Verhältnis zu anderen Städten relativ hoch und soll dort gemäss einer Volksabstimmung bis 2050 auf ein Drittel erhöht werden. Die städtischen Wohnungen spielen dabei eine kleinere Rolle, die Stadt selbst dominiert lediglich im ohnehin preisgünstigen Quartier Hard. Ansonsten setzt die Stadt weitgehend auf private Baugenossenschaften: Dank Kostenmiete und Vergaberichtlinien schaffen diese günstigen Wohnraum in allen Quartieren und tragen so zu einer gewissen Durchmischung bei. Genossenschaft bedeutet aber nicht, dass umfassend nach sozialem Status und Nationalität durchmischt wird, wie das Beispiel Friesenberg ( dunkle Fläche südwestlich ) zeigt: Dort wohnen überdurchschnittlich viele Menschen schweizerischer Nationalität. Quelle: Dlabac und Amrhein auf Grundlage von Statistik Stadt Zürich

Integration und Zusammenarbeit « The battleground is for education as much as for housing », konstatierte der britische Geografieprofessor Chris Hamnett bezüglich Gentrifizierungsprozessen. So­ zial entmischte Quartiere stünden für eine entsolidarisier­ te Zweiklassengesellschaft, ohne Platz für Gerechtigkeit, Toleranz und Verantwortung. Ein düsteres Bild, dem eine zuversichtliche Position entgegenzusetzen sich lohnt. Kurt Zubler arbeitet seit zwanzig Jahren für die In­ tegrationsförderung des Kantons und der Stadt Schaff­ hausen. Die Kooperation von Quartierentwicklung und Wohnbauträgern sieht er als Schlüssel für erfolgreiche Integration und ausgeglichene Bildungschancen. Ein frü­ hes und erfolgreiches Projekt der Stadt Schaffhausen war die Aufwertung des Quartiers Birch am Stadtrand: « G e­ meinsam mit dem Bundesamt für Wohnungswesen gelang es, dem wachsenden Leerwohnungsbestand und den Se­ gregationserscheinungen entgegenzuwirken », sagt Kurt ­Zubler. Essenziell für den Erfolg sei die Zusammenarbeit mit der gemeinnützigen Wohnbaugesellschaft Logis S ­ uisse gewesen, die im Quartier mehrere Liegenschaften besitzt und der städtischen Quartierarbeit etwa eine Wohnung als Quartierbüro zur Verfügung stellte siehe Seite 20. Der schulische Erfolg eines einzelnen Kindes korre­ liert laut dem Integrationsdelegierten weniger mit dem Migrationshintergrund als viel mehr mit den finanziellen Mitteln und dem Bildungsstand der Familie. « Für die Ent­ wicklung und das zu entfaltende Potenzial eines Kindes sind die ersten vier Lebensjahre entscheidend, die früh­ kindliche Zeit also », sagt Kurt Zubler. Neben einem →

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% gemeinnütziger Wohnraum 1991  ≤ 14  > 14 ≤ 26   > 26 ≤ 38   > 38 ≤ 50   > 50 ≤ 62  > 62 ≤ 73 Zusammensetzung Baugenossenschaften Stadt Zürich

% gemeinnütziger Wohnraum 2011  ≤ 14  > 14 ≤ 26   > 26 ≤ 38   > 38 ≤ 50   > 50 ≤ 62  > 62 ≤ 73 Zusammensetzung Baugenossenschaften Stadt Zürich

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→ funktionierenden Quartierleben sei es wichtig, sozial benachteiligte Familien in aufsuchender Arbeit früh ken­ nenzulernen und zu beraten. Und was er bedeutsam fin­ det: « Oft geht vergessen, dass alle Eltern nur das Beste für ihr Kind möchten – auch die, denen nur wenige Mittel zur Verfügung stehen. » Geht es um Aufwertung, rät er zu Mass und Umsicht: « Die Balance zu finden, ist wesentlich. » « Jedes Kind ist anders » Fünfte und nächste Station: die Bildungspolitik. Die Zürcher Regierungsrätin Silvia Steiner präsidiert auch die Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdi­ rektoren. Sie erlebte das Verhältnis von sozialer Durch­ mischung und Bildung, als sie nach der sechsten Klasse ins Gymnasium kam: « Ich bin in Zürich-Oerlikon aufge­ wachsen. In diesem Quartier haben es nicht viele Kinder ins Gymi geschafft. Aus anderen Quartieren dagegen kamen ganz viele Kinder – da habe ich zum ersten Mal erfahren, dass es einen Zusammenhang geben muss zwi­ schen Bildungserfolg und sozialer Zusammensetzung der Schulen. » Umso entscheidender also, die Entwicklung der Schulen und die der Gemeinde zu synchronisieren: «Diese beiden Entwicklungen zusammenzubringen, ist heraus­ fordernd », meint Bildungsdirektorin Steiner. Werde ein neues Wohnquartier geplant, sei es meist schwierig vor­ herzusehen, wie viele Plätze in den Schulen nötig würden. Nun sind für die Volksschule aber die Gemeinden zustän­ dig, neue Schulhäuser zu planen und zu bauen. Bei den Gymnasien und den Berufsfachschulen, für die der Kan­ ton zuständig ist, stellen sich andere Herausforderungen: Hier spielen auch Faktoren wie Verkehrsströme eine Rolle. Von Chancengleichheit in der Bildung könne man so nicht sprechen, meint Silvia Steiner, treffender findet sie den Begriff Chancengerechtigkeit: « Jedes Kind ist anders und bringt andere Voraussetzungen mit. Die Schule muss dafür sorgen, dass jedes Kind das Beste daraus machen kann. » Die Chancengerechtigkeit könne in einem sozial durchmischten Quartier unter Umständen besser sein als in einem, in dem nur Kinder mit einem ähnlichen sozialen Hintergrund zur Schule gehen. Um in belasteten Gebieten bessere Bildungschancen zu schaffen, wird die Ressour­ cenzuteilung heute etwa an einen Sozial­index gekoppelt: « S ozial stärker belastete Gemeinden oder Quartiere be­ kommen prozentual mehr Lehrpersonenstellen zugespro­ chen », sagt die Bildungsdirektorin. Zudem gebe es im Kan­ ton Zürich die Unterstützung durch das Programm QUIMS. Ihre Rolle sieht sie darin, in den Schulen die nötigen Rah­ menbedingungen zu schaffen, damit die Lehrerinnen und Lehrer gute Arbeitskonditionen vorfinden.

se gering. Die Zuweisung an die öffentlichen Volksschu­ len erfolgt durch die lokale Schulbehörde, es gibt keine freie Schulwahl der Eltern. « Allerdings lässt sich in eini­ gen Quartieren und Gemeinden eine Wohnsegregation beobachten, die zu Klassenzusammensetzungen führt, die sich – trotz Kompensationsmassnahmen – negativ auf die individuellen Schulleistungen auswirken. » Dabei gelten die ersten Schuljahre als besonders entscheidend. « D e facto ist die eigene Schulwahl gut informierten und vermögenden Eltern vorbehalten, die ihre Kinder auf eine Privatschule schicken oder sich einen Wohnort mit sozi­ al weniger belasteten öffentlichen Schulen leisten kön­ nen », sagt Oliver Dlabac. Er ist überzeugt: Unterschiedli­ che kulturelle und materielle Ressourcen gefährden die generationenübergreifenden Auf­stiegs­chancen sowie den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Deshalb unter­ sucht er mit zwei Projekten, wie sich die Ausgangslage verbessern lässt. Sein international angelegtes Projekt ‹ Die demokratischen Grundlagen der gerechten Stadt › wird vom Schweizerischen Nationalfonds gefördert. Da­ rin untersuchen Dlabac und sein Team stadtplanerische Massnahmen, um Segregation zu vermeiden. Sie wollen identifizieren, was die ‹ gerechte Stadt › ausmacht und wie sich gleiche Möglichkeiten zur individuellen Entfaltung für alle schaffen lassen. Resultate sind 2020 zu erwarten. Ein Algorithmus für mehr Égalité ? Dlabacs zweites Projekt, das er bereits dieses Jahr abschliesst, ist eine Pilotstudie mit dem Titel ‹ S oziale Durchmischung in städtischen Schulen – eine politische Aufgabe ? ›. Mit dieser Arbeit nimmt der Politikwissen­ schaftler neue Entwicklungen in der internationalen Forschung zur zunehmenden schulischen Segregation in städtischen Kontexten auf. Konkret untersucht er, inwie­ weit die institutionalisierten Strukturen und Praktiken der Schulzuweisung die Wirkungen der Wohnsegregation im Schulbereich entweder verstärken oder aber diesen er­ folgreich entgegenwirken. Das Projekt soll Modelle iden­ tifizieren, wie – trotz weiterer Wohnsegregation – eine möglichst hohe soziale und ethnische Durchmischung an Schulen erreicht werden kann. Das Ziel: ein Algorithmus, der Einzugsgebiete und Schulkreise optimiert. « Natürlich ist ein solches digitales Werkzeug nicht die Lösung aller Probleme, es kann aber als ergänzendes Korrektiv funk­ tionieren. » Die Pilotstudie startet in der Stadt Zürich und soll auf vier weitere grosse Schweizer Städte ausgeweitet werden, um Vergleiche zu ermöglichen und eine nationale Debatte anzustossen. In der Schweiz ist der Grundsatz einer egalitären öffentlichen Volksschule in der Bevölkerung breit abge­ stützt. Durch die ungleiche Verteilung des Wohlstands, unterschiedliche Wohnkosten und individuelle Entschei­ dungen zum Wohnort resultieren allerdings Schulen mit sehr unterschiedlicher sozialer und ethnischer Zusam­ mensetzung – womit die Bildungs- und Aufstiegschancen der Kinder nicht nur vom sozialen Hintergrund ihrer El­ tern, sondern auch von der besuchten Schule abhängen. Nun plant die Stadt Zürich, auf das Jahr 2025 flächende­ ckend die Tagesschule einzuführen. Damit verbunden ist die Absicht, durch die gemeinsam verbrachte Mittagszeit, lernanregende Freizeitangebote und die abgeschafften Hausaufgaben die Chancengerechtigkeit zu fördern. Das ist ein weiterer Ansatz auf einem komplexen Weg. Wichti­ ge Voraussetzung ist aber auch hier die gelungene soziale Durchmischung von Quartieren und Schulen. Die Grafiken,

Forschung zu einer gerechten Stadt Sechste und letzte Station: die Forschung. Oliver Dla­ bac ist Politikwissenschaftler am Zentrum für Demokratie Aarau. « Die sozialräumliche Segregation ist in der Schweiz deutlich geringer als etwa in den Vereinigten Staaten oder in Frankreich – sie spielt aber auch hierzulande eine Rolle, wie Studien zur Verteilung sozialer und ethnischer Bevöl­ kerungsgruppen zeigen », sagt er. Er ist in Zürich-Altstet­ ten aufgewachsen, einem Quartier mit hohem Migrations­ anteil. Aus seiner Klasse war er einer der wenigen, die ans Gymnasium wechselten. Seines Interesses für Mathema­ tik wegen kam er ans Gymnasium Rämi­bühl: « Plötzlich hatte ich Schulkollegen, die an der Goldküste wohnten, das war ein Kulturschock », meint er rückblickend. PISA-Studien zeigen regelmässig, dass der individu­ elle Bildungserfolg in der Schweiz überdurchschnittlich die diesen Artikel illustrieren, zeigen am Beispiel der Stadt Zürich – der stark an die soziale Herkunft gekoppelt ist. Zwar ist der grössten Schulgemeinde der Schweiz –, wie Mietpreise, Lernerfolg und Anteil an privaten Schulen mit vier Prozent vergleichswei­ Integration zusammenspielen.

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Integrationsbau im Quartier Der umgeleitete Transitverkehr hat das Zürcher Quartier Hard aufgewertet. Die Zusammensetzung der Bevölkerung wandelt sich – das ist auch in den Schulen spürbar. Text: Gabriela Neuhaus

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« Es gab Jahrgänge, bei denen am Ende des Schuljahrs praktisch die ganze Klasse ausgewechselt war. » Eine weitere Herausforderung für die Schulen: Kaum ein Kind im Hardquartier sprach zu Hause deutsch. Das geflügelte Auf dem Pausenplatz frühmorgendliches Treiben: Buben Wort vom ‹ halben Schweizerkind › pro Schulklasse machrennen einem Ball hinterher, zwei Mädchen erklettern te damals die Runde. Heute ist die Gegend ein beliebtes die Rutschbahn, ein paar Kinder spielen ‹ Fangis ›, andere Wohnquartier, das auch einheimische Familien anzieht – warten mit ihren grossen Schulrucksäcken geduldig vor nicht zuletzt dank seiner Vielfalt und seines multikultudem Portal des altehrwürdigen Sihlfeld-Schulhauses. Die rellen Zusammenlebens. Dabei spielen die Kinder und Uhr zeigt kurz nach acht. Aus allen Himmelsrichtungen Jugendlichen eine wichtige Rolle: Für sie sei es völlig norströmen immer mehr Schülerinnen und Schüler herbei. mal, dass ihre Kameraden andere kulturelle Hintergründe Fröhlich plaudernd, in Gruppen und allein. Sogar Kinder- hätten, andere Sprachen sprächen, sagt Hanspeter Oester. gartenkinder sind ohne Eltern unterwegs. Ihr Schulweg ist Viele Kontakte im Quartier liefen deshalb über die Jüngskurz und ungefährlich. Das war nicht immer so. Bis 2009 ten. Allerdings sei für ihn wichtig, dass es in der Nachbardonnerte der Transitverkehr aus dem Limmat- und dem schaft und in der Schule auch Eltern gebe, mit denen er Glattal Richtung Zentralschweiz und Bündnerland durch sich auf Deutsch austauschen könne und die ein ähnlidas Quartier. Lärm, Abgase und Dreck zerstörten die Le- ches kollektives Erinnern hätten wie er. bensqualität in den ehemaligen Arbeitersiedlungen. Die Gegend galt als unattraktiv, die Liegenschaften waren verWeniger übersetzen, mehr Vertrauen aufbauen nachlässigt und heruntergewirtschaftet. Dafür gab es viel Im Klassenzimmer von Gabriela Bai, die im Schulgünstigen Wohnraum, wo Menschen unterkamen, die sich haus Sihlfeld eine zweite Klasse unterrichtet, hängt eine kein anderes Dach über dem Kopf leisten konnten. Liste, auf der von Albanisch über Russisch bis Twi, der Während Jahren hatte das Hardquartier den höchsten Amtssprache von Ghana, 16 Sprachen aufgeführt sind. Ausländeranteil in der Stadt Zürich. Viele waren Erstzuzü- Tatsächlich haben alle 16 Kinder eine unterschiedliche ger und mit den hiesigen Gewohnheiten und der Sprache Herkunft. Keine Besonderheit, findet Gabriela Bai, die noch wenig vertraut – dafür brachten sie ihre Kulturen mit. seit fünf Jahren hier tätig ist. Sie hat schon vorher an soDiese Atmosphäre begeisterte Hanspeter Oester, der da- genannten QUIMS-Schulen, Schulen mit ausgeprägter mals ins Quartier zog: « Ich kannte den Kreis 4 vorher nicht multikultureller Zusammensetzung, gearbeitet. Den Mix und war überrascht vom rauen, urbanen Charme und den in ihrer Klasse empfindet sie als Chance und als Herausvielen kleinen, exotischen Läden. » Der Architekt lebt mitt- forderung. Die Volksschule sei eine einmalige Integratilerweile seit zwölf Jahren im Kreis 4. Seine drei Buben im onsfabrik, sagt die passionierte Lehrerin: « Weil wir in der Alter von vier bis sieben Jahren gehen hier in die Kita, in Schweiz nur wenige Privatschulen haben, gilt bei uns das den Kindergarten und in die erste Klasse, der Vater enga- Prinzip: Wer hier wohnt, geht hier zur Schule. Das ist eine giert sich im Elternrat. Das entspricht einem neuen Trend. ­Riesenchance, weil die Kinder aus dem Quartier sich so gezwungenermassen kennenlernen. » Das ‹ halbe Schweizerkind › Es ist Freitagnachmittag. Acht Zweitklässler sitzen Unlängst noch zogen Familien mit schulpflichtigen im Halbkreis und korrigieren enthusiastisch die Fehler, Kindern weg, wenn sie es sich leisten konnten. Das führte die Gabriela Bai in den Text an der Tafel geschmuggelt jahrelang zu enormen Fluktuationen und bescherte den hat. Mehrmals wöchentlich findet der Unterricht in HalbSchulen viel Unruhe. Maja Beutler, die seit mehr als dreissig klassen statt. So kann die Lehrerin gezielt auf die sehr Jahren im Quartier einen Kindergarten leitet, erinnert sich: unterschiedlichen Bedürfnisse der Kinder eingehen. →

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Der Pausenplatz des Schulhauses Sihlfeld im ZĂźrcher Hardquartier.

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Rund um den Brunnen am Bullingerplatz begegnen sich Frauen, Männer und Kinder jeden Alters und unterschiedlichster Herkunft.

→ Die Hürden auf dem Weg zum Erfolg sind für Schülerinnen und Schüler aus sozial benachteiligten Familien oft höher – diesem Umstand tragen die Lehrerinnen und Lehrer im Sihlfeld besonders Rechnung. In ihrer aktuellen Klasse hat Gabriela Bai sechs Kinder mit Deutsch als Erstsprache und Eltern mit einem höheren Bildungshintergrund. « Das ist für mich völlig neu », sagt sie. Die stärkere Durchmischung der Klasse tue dem Unterricht gut: « Plötzlich habe ich mehr Kinder, die ziehen – das ist angenehm und hilft allen ! » Auch der Kontakt mit den Eltern verändere sich: « Fremdsprachige Eltern, die in prekären Jobs arbeiten und ihre Kinder oft sich selbst überlassen müssen, sind einfach dankbar und froh, dass wir uns um sie kümmern. Schweizer oder deutsche Eltern hingegen wollen eher mitreden und mitgestalten. Auch das ist neu für mich », erzählt Gabriela Bai. Maja Beutler erlebt die Situation im Kindergarten ähnlich. Die Kommunikation mit den Eltern sei bereichernd, vielfältiger – und auch unkomplizierter, weil sie weniger Übersetzende beiziehen müsse. Allerdings gibt sie zu bedenken: « Wir müssen vermehrt darauf achten, auch das Vertrauen kulturfremder Eltern zu gewinnen und deren Kinder mitzunehmen. » Die veränderte Zusammensetzung der Klassen von Gabriela Bai und Maja Beutler widerspiegelt sich in der Sozialstatistik der Stadt Zürich: Während der Anteil an Bewohnerinnen und Bewohnern mit einem hohen sozialen Status im Hardquartier im Jahr 2001 bei weniger als 30 Prozent lag, betrug er 2015 35 Prozent. Gleichzeitig fiel

der Anteil der Bevölkerung mit einem tiefen sozialen Status von mehr als 55 Prozent auf unter 40 Prozent siehe Grafik Seite 7. Das ist eine direkte Folge der Aufwertung, die seit der Eröffnung der Zürcher Nord- und Westumfahrung erfolgt ist: Heute trifft man sich am einstigen Verkehrsknotenpunkt Bullingerplatz im lauschigen Café du Bonheur, im Sommer planschen die Kinder hier im grossen Badebrunnen. Der Platz hat sich zum Zentrum eines lebenswerten Stadtquartiers entwickelt. Aus günstig wird gehoben Die Allgemeine Baugenossenschaft Zürich ( ABZ ) hat ihre elf Mehrfamilienhäuser umfassende Siedlung Sihlfeld 2012 total saniert und die veralteten Strukturen den heutigen Bedürfnissen angepasst. Dabei wurde ein Teil der vormals kleinen 3-Zimmer-Wohnungen zu Familienwohnungen zusammengelegt. « Jetzt herrscht in der Siedlung und im ganzen Quartier eine völlig andere Stimmung », sagt Erika Gedeon begeistert, die nach der Sanierung wieder in der gleichen Genossenschaftswohnung lebt wie zuvor. Die freischaffende Künstlerin wohnt schon sehr lange ohne Kinder in der Siedlung und ist eine engagierte ABZ-Genossenschafterin. « Vorher gab es hier kaum Kinder – jetzt sind es so viele, dass sie miteinander Regeln finden mussten für die Benutzung des Hofs ! » Die Veränderung ist in der Tat eindrücklich: Während 2009 gerade mal zehn Kinder im Alter von sechs bis zwölf Jahren in der ABZ-Siedlung lebten, zogen nach der Sanierung viele →

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Im Entwicklungsgebiet Hard stehen in den nächsten Jahren Sanierungen sowie Ersatzneubauten zweier grosser Genossenschaftssiedlungen an. Hier der bereits sanierte Erismannhof.

→ junge Familien ein: 2017 zählte man 44 Kinder im Primarschulalter. « Heute ist die ABZ-Siedlung Sihlfeld unter den Genossenschaftern sehr beliebt, auch für Familienwohnungen », sagt Faust Lehni, Leiter Mitglieder und Wohnen bei der ABZ. Auch in der städtischen Wohnsiedlung Bullingerhof verzeichnete man in den letzten Jahren einen leichten Anstieg bei der Anzahl Kinder. Die 224 Wohnungen umfassende Siedlung soll 2020 einer Gesamtsanierung unterzogen werden, die einen Anstieg der heute günstigen Mieten zur Folge haben wird. Es gibt Spielraum Im Hardquartier stehen in den kommenden Jahren weitere Sanierungen von privaten und institutionellen Wohnbauträgern sowie Ersatzneubauten von zwei gros­sen Genossenschaftssiedlungen an. Damit wird sich das Quartier weiter verändern: Das Segment der äusserst günstigen Wohnungen wird immer kleiner, dafür wird aufgewertet, vergrössert und verdichtet. Insbesondere in den Neuüberbauungen ist zusätzlicher Wohnraum zu moderaten bis gehobenen Preisen vorgesehen. Während eine 4-ZimmerWohnung von 74 Quadratmetern in der ABZ-Siedlung Kanzleistrasse heute knapp 1000 Franken kostet, bezahlen Mieter im Ersatzneubau für eine 4½-Zimmer-Wohnung von 97 Quadratmetern monatlich rund 1500 Franken. Zum Vergleich mit privaten Wohnbauträgern: Das ­Portal ‹ Comparis › beziffert die Marktmiete einer 4½-ZimmerWohnung an der Kanzlei­strasse mit 3160 Franken. Auch

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im städtischen Bullingerhof steigen die Mieten mit der Sanierung. Dort dürfte der Nettomietzins für eine 3-Zimmer-Wohnung mit rund 60 Quadratmetern von heute 560 auf knapp 900 Franken ansteigen. Diese Entwicklung wird auch die Schulen beeinflussen. « Für mich ist entscheidend, dass der gesamte soziale Fächer erhalten bleibt. Problematisch wäre es, wenn die Kinder des Mittelstands verdrängt würden », sagt Maja Beutler. Gabriela Bai plädiert für grosse Sorgfalt bei Bautätigkeiten in den Quartieren: « Ich wünsche mir, dass die Stadt durchmischt bleibt, weil es für Kinder wichtig ist, mit verschiedenen Menschen und Kulturen aufzuwachsen. » Die Voraussetzungen für eine solche Entwicklung des Hardquartiers sind gut: Die wichtigsten Bauträger im Quartier sind Genossenschaften und die Stadt. Letztere verfolge bei Wohnungsvergaben das Ziel einer sozialen Durchmischung pro Haus und Siedlung, sagt Kuno Gurtner von der städtischen Liegenschaftenverwaltung. Auch die ABZ verspricht den Mix als höchstes Ziel. Von einer Verdrängung der unteren Bevölkerungsschichten könne keine Rede sein, sagt Faust Lehni. Nicht zuletzt, weil es im Quartier auch zukünftig ein Angebot an Sozial- und Notwohnungen geben wird. Allerdings sei die Bewohnerstruktur nur bedingt steuerbar. « Die Tatsache, dass wir im Sihlfeld viele Familien mit kleinen Kindern haben, war zum Zeitpunkt der Wiedervermietung nicht in dieser Deutlichkeit absehbar, ist aber umso erfreulicher. » Was Wohnbauträger dagegen tatsächlich beeinflussen können, ist der Mietpreis.

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« D er richtige Mix ist Fiktion » Für eine Feldforschung hat Christoph Maeder zwei Jahre lang den Kindergarten in der ehemaligen Arbeitersiedlung Erismannhof begleitet. Dieser liegt im Innenhof der unter Denkmalschutz stehenden Siedlung und gehört zur Sihl­feld-Schulanlage. Er ist Professor für Bildungssoziologie an der Pädagogischen Hochschule Zürich und Mitglied des Forschungszentrums Kinder, Kindheiten, Schulen, das die Schule als Erfahrungsraum untersucht. Im Erismannhof wächst die Zahl der Kinder aus deutschsprachigen und bildungsnahen Familien. Was wäre die ideale Zusammensetzung aus Sicht der Schule ? Christoph Maeder:  Den richtigen Mix einer Bevölkerung gibt es nicht, das ist Fiktion. Von Vorteil ist, dass wir in der Schweiz keine Ghettos haben, keine segregierten Wohngebiete wie etwa in den französischen Banlieues. So gesehen ist eine sozioökonomische Durchmischung der Quartiere per se eine wichtige Integrationskraft, die sich auch in der Schule positiv auswirkt. Im Hardquartier haben sich die Lebensverhältnisse infolge der Verkehrsberuhigung deutlich verbessert, deshalb drängen nun auch neue Menschen ins Quartier. Zurzeit entsteht hier eine eigene urbane Struktur – durchmischt, interessant, multikulturell. Die Schule leistet in diesem Kontext einen wichtigen Beitrag, indem sie verschiedene kulturelle Hintergründe miteinander in Verbindung bringt. Wäre es sinnvoll, diese Entwicklung durch eine proaktive Vermietungspolitik, die sich an einer Optimierung der sozialen Durchmischung orientiert, zu steuern ? Das wäre abenteuerlich. Die Frage ist: Aus welcher Position oder Perspektive wollen Sie das steuern ? Wessen Interessen werden vertreten und durchgesetzt ? Wir leben in einer Gesellschaft, die sich als sozial durchlässig und mobil definiert. Die Menschen bewegen sich entlang ihrer Lebensläufe und Berufskarrieren sozial und räumlich. Wie wird die soziale Differenzierung im Kindergarten und im Quartier sichtbar ? Die einen Kinder tragen Kleider von H & M, während die typischen Neuzuzüger eher in Läden wie Transa einkaufen. Die junge Akademikerfamilie lebt in einer ganz anderen Welt als etwa tamilische Einwanderer. Sozioökonomisch derart unterschiedliche Schichten vermischen sich im Quartier nur punktuell. Im Kindergartenalltag spielt das aber keine entscheidende Rolle: Ich war überrascht und beeindruckt, welche enormen Integrationsleistungen im Hinblick auf die Lebensführung dort vollbracht werden. Da gibt es dann Formen der Berührung – auch unter den Eltern –, die sich positiv auswirken.

Der städtische Kindergarten Erismannhof stammt aus dem Jahr 1928.

Spielen im Kindergarten Erismannhof.

Im Spiel lernen die Kinder voneinander.

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Neun Positionen Wie erreichen wir soziale Durchmischung, wer hat welches Interesse daran, wer gewinnt und wer verliert – Planerinnen, Forscher, Politiker und Soziologinnen geben Antwort. Text: Lilia Glanzmann

« Schule allein schafft keine Chancengleichheit » « Diversität prägt die moderne Gesellschaft und die Schule. In Schulen bereichert sie aber nicht nur, sie bedeutet auch ungleiche Bildungschancen. Das ist insbesondere in städtischen Schulen mit hohen Anteilen an Kindern aus sozial weniger privilegierten und eingewanderten Familien zu beobachten. In der Zürcher Volksschule gibt es verschiedene Massnahmen, um solche Schulen zu unterstützen: Das Programm QUIMS ( Qualität in multikulturellen Schulen ) garantiert zusätzliche Ressourcen für Projekte der Sprachförderung und der Zusammenarbeit mit den Eltern. Indem die Lehrpersonenstellen sozial indexiert zugeteilt werden, erreicht man etwas kleinere Klassen. Wenn nötig, erhalten fremdsprachige Kinder ergänzenden Unterricht in Deutsch als Zweitsprache. Um Schule und Ausbildung gut auf die heterogenen Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler auszurichten, sind engagierte Schulleitungen und Lehrpersonen sowie deren fachliche Entwicklung und Weiterbildung entscheidend. Dank ihrer guten Arbeit und den unterstützenden Massnahmen funktionieren Zürcher Schulen auch in schwierigeren sozialen Verhältnissen gut – und es gibt keine ‹ scheiternden › Schulen wie etwa in Berlin oder den Pariser Banlieues. Das Ziel der Chancengleichheit ist aber noch lange nicht erreicht, wie die Statistik zeigt: Zwar konnte die Quote der Jugendlichen, die von einer QUIMS-Primarschule in die Sekundarschule A wechselten, von 2008 bis 2016 deutlich gesteigert werden. Auch sind klar mehr direkte Übergänge aus QUIMSSekundarschulen in eine Berufslehre sichtbar. Sehr niedrig sind aber weiterhin die Übertritte ins Gymnasium. Die Bildungschancen weiter verbessern kann die Schule nicht allein. Ein struktureller Ansatz sind Quartierentwicklung, aber auch Vermietungspolitik: Es braucht kinderfreundliche Quartiere genauso wie sozial durchmischte Wohnsituationen. Und auch die Schule muss sich öffnen. Für funktionierende und vernetzte Bildungslandschaften braucht es den Dialog zwischen Schulen, Quartier und Wohnbauträgern. Alle Seiten gewinnen dabei: Sozial durchmischte und lebendige Quartiere erleichtern den Schulen ihre Bildungsarbeit ; gut arbeitende Schulen sind ein wichtiger Pluspunkt für ein Quartier. Die inklusive Volksschule, für Kinder aus allen sozialen Milieus und auch für solche mit unterschiedlichen Handicaps, gilt es weiterhin intensiv zu pflegen – mit mehr Ressourcen und mehr Austausch, vor allem aber mit viel Fachwissen und guten Ideen. »  Markus Truniger ( 66 ) ist in einfachen Verhältnissen in einer Winterthurer

« Ein ausgewogenes Wohnangebot ist nötig » « Bildung und Quartierentwicklung sind wichtige Themen. Spielen sie zusammen, wird es essenziell: Wie Bildungsinstitutionen und die Entwicklung von Teilgebieten zusammenhängen, gibt immer wieder Anlass zu Diskussionen. Für das Bundesamt für Wohnungswesen ist das Thema besonders relevant, weil Wohnentscheide oftmals auf Überlegungen zu Nachbarschaften und Einschulung basieren – und so wesentliche Treiber bezüglich Bevölkerungsmix eines Quartiers sind. Ziehen Anwohner weg oder meiden Familien gewisse Quartiere, weil sie eine ungünstige Schulsituation befürchten, tragen sie entscheidend zur sozialen Entmischung bei. Umso wichtiger ist es, dieses Thema auf einer generellen Ebene, angereichert durch konkrete Anschauungsbeispiele, zu behandeln. Interessanterweise ist soziale Durchmischung in hochpreisigen Quartieren nie ein Thema, abgewertet wird nicht. Umso herausfordernder ist die Aufgabe, wenn es darum geht, Quartiere aufzuwerten. Meistens führt das zu höheren Wohnpreisen. Wer früher schon dort lebte, die neuen Mieten aber nicht bezahlen kann, verliert. Eine Möglichkeit, bei Aufwertungen die Situation aller zu verbessern, sind sanfte Sanierungen und Erneuerungsprozesse. Damit lässt sich am meisten erreichen. Ein anderer Ansatz wäre, bei Gebietsentwicklungen eine ausgewogene Angebotsmischung zu verlangen, was Preis, Grösse und Typologie der Wohnungen angeht. Die Schweiz mit ihren kleinteiligen Siedlungsstrukturen bietet gute Voraussetzungen dafür. Oft lohnt sich zur Inspiration ein Blick über die Landesgrenze. Gute Beispiele für Quartierentwicklung aus dem Ausland lassen sich aufgrund der unterschiedlichen Rahmenbedingungen zwar nur bedingt übertragen. Von den Erfahrungen anderer Länder profitieren können wir hingegen in einzelnen Bereichen wie Empowerment, partizipativen Prozessen oder Quartiermanagement. Eine Plattform für den Erfahrungsaustausch über Gemeindeund Kantonsgrenzen hinweg könnte die Arbeit der Gemeinden unterstützen und dabei helfen, dass keine Fehler wiederholt werden. Und schliesslich scheint mir ein bezüglich Preissegment zu einförmiges Wohnungsangebot auch aus Sicht der Investoren langfristig wenig attraktiv. »

Genossenschaftssiedlung aufgewachsen. Er gilt als Pionier der interkul-

Doris Sfar ( 61 ) leitet den Bereich Grundlagen und Information des Bun-

turellen Bildung. Bis zu seiner Pensionierung vor einem Jahr leitete er die

desamts für Wohnungswesen. Mit sozialer Durchmischung und Bildung

Fachstelle für interkulturelle Pädagogik in der Bildungsdirektion des Kan-

beschäftigte sie sich erstmals bei der Einschulung ihrer älteren Tochter,

tons Zürich und das Programm QUIMS. 2016 erhielt Truniger für seine

als andere Eltern sich besorgt über die vielen ausländisch klingenden

Arbeit den Bildungspreis der Pädagogischen Hochschule Zürich.

Namen der Kinder in der Klasse äusserten.

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« Stadtentwicklung muss auch hinsichtlich Bildung umfassend gedacht sein » Warum ist soziale Durchmischung für die Bildung relevant ? Fremdsprachige Kinder zu fördern und zu integrieren gelingt beispielsweise, wenn sie mit heimatsprachlichen Kindern spielen und die Welt entdecken können. Die wissenschaftlichen Daten sind eindeutig: Für den Schulerfolg sind nebst den kognitiven vor allem die sozioemotionalen Kompetenzen entscheidend. Damit alle Kinder ihr Potenzial entfalten können, brauchen sie eine vielfältige frühzeitige Förderung. Ich spreche hier nicht von Frühchinesisch, sondern von der Gelegenheit, sich auf verschiedenen Ebenen zu entwickeln – motorisch, musisch, sprachlich. Hierfür setzen wir auf das, was wir Bildungslandschaften nennen: Netzwerke, in denen sich alle Personen und Institutionen, die ein Kind erziehen, betreuen oder unterrichten, zusammenschliessen. Wie beeinflusst die Entwicklung von Städten, Agglomerationen und Quartieren diese Bildungslandschaften ? Stadtentwicklung muss auch hinsichtlich Bildung umfassend gedacht sein, die Kinder im Blick. Denn städtebauliche Entscheide beeinflussen markant, wie Kinder in ihrer Umgebung agieren können, zu welchen Angeboten sie Zugang haben und vor allem, ob sie ihren Raum unabhängig entdecken können. Biel-Bözingen etwa arbeitet derzeit aktiv an einer Verbesserung: Das Quartier wird von einer Kantonsstrasse zweigeteilt. Die Spielplätze auf der einen Seite der Strasse sind für die Kinder, die auf der anderen Seite wohnen, nur mithilfe von Erwachsenen erreichbar. Hier braucht es städtebauliche Lösungen. Und umgekehrt ? Funktionierende Bildungslandschaften bedeuten einen Standortvorteil. Nehmen wir das Beispiel St. Johann in ­Basel: Eine dort wohnhafte Architektin erzählte mir, dass sie mit ihrer Familie aus dem Quartier habe wegziehen wollen, als die Kinder ins schulpflichtige Alter kamen. Weil die Bildungslandschaft das Angebot verbesserte, blieb sie. Oder Emmen, wo ein Stadtplanungsbüro das Quartier Meier­höfli analysierte: Es identifizierte die Bildungslandschaft als Herz des Quartiers, das ihm ein Gesicht gibt. Wie schaffen Sie ein funktionierendes Netzwerk ? Vielerorts gibt es neben den Kindergärten und Schulen ein grosses Angebot für Kinder und Jugendliche. Der Zugang ist aber oft schwierig, weil die Akteure zu wenig voneinander wissen. In einer Bildungslandschaft analysieren wir das bestehende Angebot, bringen die Akteure zusammen und schliessen Lücken im System. Wie beurteilen Sie die Verantwortung der Wohnbauträger in Bezug auf Bildungschancen ? Deren Verantwortung ist riesig. Wer etwa die Kontroverse in den Städten verfolgt, in denen Gentrifizierung ein grosses Thema ist, stellt fest, dass die Frage der sozialen Durchmischung vor allem durch das bereitgestellte Wohnangebot gesteuert werden kann.  Rita Schweizer ( 37 ) leitet das

« Immobilienentwickler sollen ihr gesellschaftliches Bewusstsein schärfen »

Programm Bildungslandschaften der Jacobs Foundation. Mit mangelnder

« Zahlbarer Wohnraum ist unser Kerngeschäft. Dabei geht es Logis Suisse auch darum, Wert zu erhalten: Der gute Ruf einer Siedlung ist schnell ruiniert. Ihn wieder aufzubauen, dauert Jahre. Zudem gilt es, als Grundeigentümerin der Gesellschaft etwas zurückzugeben und langfristig zu kalkulieren. Viele meiner Berufskollegen sagen, das rechne sich nicht. Ein Beispiel, das zeigt, dass Quartierarbeit, sanfte Renovation, belebte Aussenräume und moderate Mieten sich auch ökonomisch lohnen, ist das Quartier Birch in Schaffhausen. In den Neunzigerjahren übernahmen wir dort mehrere Liegenschaften mit 158 Wohnungen. Rund neunzig Prozent der Bewohnerinnen und Bewohner hatten einen Migrationshintergrund, das Image des Quartiers im Mühletal war schlecht: geografisch von der restlichen Stadt isoliert, grosse Mehrfamilienhäuser ohne oder mit bescheidenen gemeinschaftlichen Infrastrukturen. Weil die Industrie aus dem Tal abwanderte, geriet die Siedlung in eine soziale und bauliche Abwärtsspirale: sehr hohe Leerstände, wenig Anreiz für mehr Gebäudeunterhalt oder zeitgemässe Wohnungsangebote. Das Pilotprojekt ‹ Quartierarbeit Birch › startete 2002 im Auftrag des Bundesamts für Wohnungswesen ( BWO ). Wir stellten eine Erdgeschosswohnung als Quartiertreffpunkt zur Verfügung, das BWO übernahm für drei Jahre ein Drittel der Projektfinanzierung, und die Stadt schuf eine Teilzeitstelle für professionelle Quartierarbeit mit regelmässigen Angeboten für Kinder und Jugendliche, niederschwelligen Sprachkursen für Erwachsene und einem selbstständig verwalteten Quartiertreff. Die Kooperation regelten wir pragmatisch mit bestätigenden Briefen. Wir gestalteten die Aussenräume hochwertig und begegnungsfördernd und investierten werterhaltend in eine umfassende Fassadensanierung. Langsam, aber stetig verbesserte sich das Image. Heute liegt der Leerwohnungsbestand, der damals zeitweise mehr als zehn Prozent betrug, nahezu bei null. Ebenfalls erfreulich: Die, die einst dort aufwuchsen, kommen heute mit ihren Familien als Mieter zurück. Das Beispiel Birch zeigt, dass solche Projekte Zeit und Geld kosten, sich aber langfristig auszahlen. Im Quartier gab es noch weitere private Besitzer, die sich nicht beteiligten. Hier wird es komplex: Werden Liegenschaften als reine Anlageobjekte betrachtet oder sind es Quartiere mit viel Stockwerkeigentum, wird es schwierig, etwas gemeinsam zu bewirken. Ich spreche immer wieder mit Investorinnen, um sie zum Mitmachen zu bewegen: Gut darauf reagieren Krankenversicherer oder andere sozial denkende Träger. Gesellschaftliche Verantwortung muss in der Immobilienbranche Fuss fassen. Ökologische Nachhaltigkeit ist bereits ein Thema, soziale muss es noch werden. »

Durchmischung kam sie erstmals nach ihrem Studium in Kontakt, als sie

Daniel Senn ( 46 ) ist Portfoliomanager für Logis Suisse in Baden. Er selbst

als mobile Jugendarbeiterin in belasteten Quartieren arbeitete.

ist im Limmattal in einem diversen Umfeld aufgewachsen.

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« Niederschwellige Elternarbeit ist gefragt » « Früher waren Lehrer Personen, zu denen auch die Eltern aufsahen. Heute wünschen Eltern sich einen Dialog auf Augenhöhe. Damit dieser wirkt, ist es nötig, die Zusammenhänge und Strukturen der Schule zu kennen. Das kann auch helfen, Vorurteile abzubauen. Die Zusammenarbeit ist eine Art Sensorium für die Anliegen der Eltern, aber auch für diejenigen der Schülerinnen. Eine Chance ist auch die vorschulische Förderung und Elternarbeit, die schon vor dem Schul­eintritt der Kinder einsetzt, etwa die Projekte ‹ Zeppelin › oder ‹ Spielgruppe plus ›. Solche Dialoge fangen Defizite bildungsferner Milieus frühzeitig auf und gleichen sie aus. Gerade in diesem Umfeld ist auch niederschwellige Elternarbeit gefragt: Zu viele Sitzungen schrecken ab, und es braucht auch ungezwungene Formate. Ebenfalls wichtig: Für Eltern, die Schicht arbeiten oder mit mehreren Jobs jonglieren müssen, funktionieren Treffen am Wochenende oft besser als Abendtermine. Wie der Klassenmix ändert auch die Gruppe der Eltern jährlich. Umso entscheidender ist es, den Bedarf regelmässig abzuklären und so eine gute Mischung von formeller und informeller Zusammenarbeit zu ermöglichen. Denn das geht oft vergessen: Auch Eltern mit wenig finanziellen und zeitlichen Ressourcen wollen nur das Beste für ihre Kinder. »  Gabriela Kohler-Steinhauser ( 52 ) vertritt als Präsidentin der Kantonalen Elternmitwirkungs-Organisation die Anliegen der Eltern im Kanton Zürich. Sie ist in Winterthur aufgewachsen und wusste als Schulkind, wo die bessergestellten Kinder und wo die Arbeiterkinder wohnten.

« Die Schule im Quartier gewinnt als Begegnungsort an Bedeutung » « Zürich wird dichter, vielfältiger, digitaler. Bevölkerungswachstum und zunehmende Verdichtung bewirken, dass jedes Jahr mehr Schüler die Volksschule besuchen. Das ist nur aufzufangen, indem auch innerhalb der Schule verdichtet wird. Es braucht pädagogische, infrastrukturelle und betriebliche Konzepte, die ineinandergreifen und diese Entwicklung tragen können. Die Schule im Quartier gewinnt als Begegnungsort an Bedeutung, weil freie Flächen immer rarer werden. Neue Schulbauten und ihre Aussenräume sind daher auf Mehrfachnutzungen angewiesen. Natürlich gibt es grosse Unterschiede zwischen den Quartieren. Im Schulkreis Zürichberg wohnen nur schon aufgrund der höheren Wohnkosten andere Menschen als in Schwamendingen. Das kann die Schule nicht ungeschehen machen. Es gibt Modelle, in denen die Kinder für den Schulbesuch von einem Quartier in ein anderes transferiert werden, um soziale Durchmischung zu erreichen. Das ist kein nachhaltiger Ansatz. Weil soziale Durchmischung aber ein wichtiges Thema ist, führen wir in der ganzen Stadt Tagesschulen ein und verfolgen mit dem Projekt ‹ Lebensraum Schule › – einem der strategischen Schwerpunkte der Stadt Zürich – das Ziel, über die Kernzeiten der Tagesschule hinaus zahlbare Angebote in verschiedenen Settings zu entwickeln. Dabei soll das informelle Lernen, das gemeinsame Erleben und Lernen von Kindern aus unterschiedlichen sozialen Milieus, an Bedeutung gewinnen. Künftig werden zudem Kooperationen von Schulen mit anderen Institutionen des Quartiers wie Vereinen, Gemeinschaftszentren oder auch Altersheimen zunehmen. »  Fi­lip­po Leutenegger ( 66 ) ist als Vorsteher des Schuldepartements der Stadt Zürich für die grösste ­Schulgemeinde

« Auch in bessergestellten Quartieren günstigen Wohnraum schaffen » Wie steht es hierzulande um chancengleiche Bildung ? Kinder starten mit unterschiedlichen Bildungschancen ins formelle Bildungssystem – das hängt von den zeitlichen und finanziellen Ressourcen oder der Sprachkompetenz der Eltern ab. Oftmals wachsen Kinder mit einem sozioökonomisch schwachen Hintergrund in Siedlungen mit günstigen Wohnungen auf. Diese sind meist unvorteilhaft punkto Spiel- und Begegnungsqualität: viel befahrene Strassen und Aussenraum, der nicht zum Spiel auffordert oder es gar verunmöglicht. Für eine ganzheitliche kindliche Entwicklung und somit das informelle Lernen ist das freie Spiel zentral. Gerade Kinder sind – nebst Seniorinnen und Senioren – auf ihr unmittelbares Wohn­umfeld als Alltagsraum angewiesen. Sie sind soziokulturelle Animatorin und haben das MAS ‹ Gemeinde-, Stadt- und Regionalentwicklung › an der Hochschule Luzern absolviert – wie spielen die beiden Disziplinen zusammen ? Quartier-, Stadt- und Regionalentwicklung müssen sozialräumliche und soziokulturelle Aspekte einbeziehen, um nachhaltige Entwicklungsprozesse zu lancieren. Dazu gehört, soziale Durchmischung zu fördern. Passiert das nicht, entstehen Quartiere, die immer mehr homogene Schulen für sozioökonomisch starke, bildungsnahe Schülerinnen und Schüler bieten. Oder aber umgekehrt Schulen für sozioökonomisch schwache, bildungsferne Kinder. Der Dialog und das Lernen voneinander geht folglich mehr und mehr verloren. Für wen arbeiten Sie und die Fachstelle Spielraum ? Unsere Hauptansprechpartnerinnen sind Schulen, die uns kontaktieren, um deren Areale mit Spiel- und Begegnungsräumen für das Quartier aufzuwerten. Immer öfter kommen auch Wohnbauträger auf uns zu. Sie wollen die Aussenräume ihrer Siedlungen kindergerecht, spiel- und generationenfreundlich gestalten. Wie erreichen wir mit baulichen Massnahmen mehr Chancengleichheit ? Quartierentwicklung muss interdisziplinär angegangen werden: Es geht darum, für Menschen zu entwerfen. Dabei ist die Fachperspektive der Planerinnen genauso relevant wie das lokale und spezifische Wissen seitens der Quartierarbeiter oder der Lehrerin. Natürlich lassen sich belastete Quartiere aufwerten – genauso wichtig wäre es aber, in bessergestellten Quartieren günstigen Wohnraum zu schaffen.  Anne Wegmüller ( 36 ) leitet die Fachstelle Spielraum in Bern und beschäftigt sich mit kindergerechten Spielräumen und Partizipation. Als Primarschülerin ging sie ihren Schulweg auch mit Freundinnen,

der Schweiz zuständig. Er kam beim Schuleintritt seiner Kinder erstmals

die in sozioökonomisch schlechtgestellten Familien aufwuchsen, von der

mit sozialer Durchmischung in Kontakt.

anderen Seite kamen die Kinder aus den Villenquartieren zum Schulhaus.

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« Es braucht ein gemeinsames Commitment »

« Sanftes Sanieren ist ein Weg » « Die Bedürfnisse der jetzigen und künftigen Bewohnerinnen und Bewohner frühzeitig aufzunehmen, wenn wir ein Gebiet entwickeln, ist ein ambitionierter Vorsatz. So hinkt beispielsweise die Schulraumplanung unseren Projekten oftmals hinterher. In Luzern Süd, wo wir bald die Siedlung Mattenhof mit 129 Mietwohnungen fertigstellen, haben wir früh im Prozess eine Zahl genannt, die auf den Wohnungsgrössen basiert. Diese ist aber hypothetisch – wir wissen ja nicht, wer in die Wohnungen einziehen wird. Obwohl der Dialog zwischen Gemeinde und Entwickler gerade in diesem Projekt gut war, könnte er noch verbessert werden. Grenzabstände, Mobilitätskonzept und Ökologie sind ein Thema – über die Bewohnerinnen und Bewohner spricht man dagegen selten. Allenfalls werden diese später mit partizipativen Prozessen abgeholt. Die Frage nach der sozialen Durchmischung finde ich wesentlich. Nicht nur im Hinblick auf Bildung, sondern auch bezüglich Lebensqualität. Monotonie dient niemandem. Jung und Alt treffen aufeinander und beleben eine Siedlung. Um ein Quartier sozial zu durchmischen, braucht es diverse Angebote. Stockwerkeigentum, Genossenschaften, Mietwohnungen – und vor allem auch unterschiedliche Preissegmente. Natürlich gibt es auch im Mattenhof verschiedene Ausbaustandards und damit ebensolche Preisschilder. Aber es ist ein Neubau, und dann sind die Mieten per se höher. Echte soziale Durchmischung erreiche ich als Entwicklerin nur, wenn ich Angebote realisieren kann, die sich unterscheiden. Und in Bezug auf tiefe Preissegmente gelingt mir das nur, wenn ich mit bestehenden Liegenschaften arbeiten kann. Dann ist sanftes Renovieren ein Weg. Eine entscheidende Frage ist auch, was wir als Quartier verstehen. Meine Aufgabe als Entwicklerin ist es, Erträge zu generieren. Themen wie Ökologie und Nullemission sind mehrheitsfähig, sie sind messbar, auch in der Rendite – was aber soziale Durchmischung einem Quartier und dem Ertrag bringt, ist schwierig nachweisbar, vor allem kurzfristig. Ein spannendes Modell bezüglich durchmischter Nutzung, allerdings für das Erdgeschoss, habe ich in der Wiener Seestadt Aspern kennengelernt: Bauträger vermieten die Flächen gemeinsam, alle erhalten einen Durchschnittsmietpreis. Das garantiert durchmischte Mieter. Vielleicht wäre ein solches Konzept auch auf Mietwohnungen übertragbar. »  Claudia Siegle ( 38 ) arbeitet

Wie wird das Potenzial von Schulen für die Quartierentwicklung bisher genutzt ? Schulen haben einen zentralen Stellenwert bei der Aufwertung von Quartieren und bei Integrationsfragen, insbesondere für benachteiligte junge Menschen. Diesen einzuräumen gelingt jedoch nur, wenn Schulen sich zum Quartier hin öffnen und mit anderen Akteuren im Sinne eines Netzwerks oder einer Bildungslandschaft agieren. In konkreten Quartierentwicklungsprojekten funktioniert das selten reibungslos: Lehrer sind oft zu beschäftigt mit den Herausforderungen einer zeitgemässen Schule und ihrem Unterricht. Selbst niederschwellige Austauschformen wie die Nutzung des Schulgeländes für Freizeitaktivitäten sind aufgrund rigider baulicher, gestalterischer oder nutzungstechnischer Regeln beinahe unmöglich. Diese Hindernisse kulminieren darin, dass die Grenze zwischen Schule und Quartier- respektive Kinder- und Jugendarbeit im Alltag unüberwindbar scheint. Unter dem Titel « Quartier macht Schule » haben Sie die ambivalente Rolle von Schulen in städtischen Quartieren aus der Perspektive der Kinder untersucht. Ihre Erkenntnisse ? Man muss die räumlich-funktionale Trennung der Lebens­ orte von Kindern hinterfragen: Die Idee, dass sich hier Schule, da Familie und dort Freizeit abspielt, dass morgens der Unterricht stattfindet und nachmittags gespielt wird, dass Schule Lernen und Freizeit Spass bedeutet, trifft in dieser Eindeutigkeit heute nicht mehr zu. Was bedeutet das für Quartierarbeit und -entwicklung ? Es stellt sich sowohl für die Schule als auch für die Jugendarbeit die Frage, wie sich über die Schule hinaus Orte und Möglichkeiten für Bildungserfahrungen schaffen lassen. Dabei sollen Räume, die die Schülerinnen und Schüler sich ausserhalb ihres Quartiers erschlossen haben, nicht untergraben werden. Für Quartierentwicklungsprozesse stellt sich vielmehr die Frage, welche Potenziale für Kinder in ihrem Quartier liegen, welche ausserhalb und wie beide gleichermassen gefördert werden können, auch durch allfällige Verbindungen und Wege. Dabei ist nicht entscheidend, wie viele Quadratmeter zur Verfügung stehen. Viel wichtiger ist es herauszufinden, was es braucht, damit die Kinder sich die Welt autonom erschliessen können. Warum ist Bildung für solche Entwicklungsprozesse relevant ? Es geht ums Zusammenleben – Menschen sollen nicht neben-, sondern miteinander leben. In der Bildung zeigt sich das besonders prägnant: Es darf nicht sein, dass bestimmte Gruppen von Anfang an abgehängt werden. Alle sollen eine gleichwertige Chance haben. Nur so kann es gelingen, einer Spaltung der Gesellschaft entgegenzuwirken. Wie gelingt der Austausch der Disziplinen ? Es braucht alle Involvierten: Schule, Jugendarbeit, aber auch Städtebauer und Wohnbauträger. Diese interdisziplinäre Kooperation ist aber kein Selbstläufer, sie muss moderiert sein. Vor allem aber braucht es eine klare Fragestellung: Worüber diskutieren wir und was wollen wir erreichen ? Oft bleiben die Disziplinen trotz Austausch unter sich. Sie nutzen den Dialog, um die eigene Perspektive zu schärfen. Was es aber braucht, ist ein gemeinsames Commitment – damit aus solchen Treffen mehr wird als einfach eine weitere Sitzung von vielen. Professor ­Christian

als Entwicklerin bei der Immobiliengesellschaft Mobimo. Um die gesell-

Reutlinger ( 48 ) leitet das Institut für Soziale Arbeit und Räume der Hoch-

schaftliche Dimension ihrer Arbeit zu stärken, absolvierte sie unter an-

schule für Angewandte Wissenschaften in St. Gallen. Sein Studium in

derem das CAS ‹ Bedürfnisgerechtes Planen und Bauen › und das MAS

Sozialgeografie brachte ihn erstmals mit den Themen soziale Durch-

‹ Gemeinde-, Stadt- und Regionalentwicklung › an der Hochschule Luzern.

mischung und Stadtentwicklung in Kontakt.

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« Es verträgt Heterogenität » Dass der Strukturwandel dem einst blühenden Industriedorf Zuchwil nicht das Genick gebrochen hat, hat damit zu tun, dass die Gemeinde in Bildung und Integration investiert hat. Text: Samuel Schlaefli

Ein Orient Grill und ein Mongolian Barbecue, ein grosser Coop, gegenüber eine Zahnarztpraxis, ein Kiosk, eine Drogerie, ein Pub – Zuchwils Zentrum bietet auf den ersten Blick ein wenig erbauliches Bild. Auf der anderen Seite des Kreisels das Gemeindezentrum in einem ausgedienten Schulhaus, das in den Siebzigerjahren erweitert wurde. Kurz vor Mittag sind auf der Stras­se vor allem Schweizer Hausfrauen und Rentnerinnen unterwegs. Nach ihrem Leben in der Gemeinde gefragt sagen sie, es fehle an nichts, Einkaufsmöglichkeiten gebe es genügend, Solothurn sei mit Auto und Bus nur wenige Minuten entfernt. Auch die Schulen seien gut, und dann sei da ja noch der direkte Zugang zur Aare, von dem sie im Sommer ausgiebig profitierten. Aber: « Chlei vüu Usländer » habe es. Ein Problem sei das zwar nicht, es sei halt einfach anders – anders als in ländlichen Gemeinden. Der vierte rote Gemeindepräsident Tatsächlich ist ‹ Zuchu › die Exotin unter den Solothurner Gemeinden. Von den 9000 Einwohnerinnen und Einwohnern haben 44 Prozent keinen Schweizer Pass ; in den Schulen sind es sogar 70 Prozent. 47 Schulklassen zählt Zuchwil, und in lediglich einer sind Schweizer Kinder in der Mehrheit. Migration hat in der Gemeinde Geschichte. 1920 eröffnete die Firma Scintilla hier die erste Fabrik, um Magnetzünder und Automobilzubehör herzustellen. Arbeiter und Arbeiterinnen – auch ausländische – zogen zu. Die Firma wuchs, bis sogar eine Zughaltestelle nach ihr benannt wurde. In den besten Jahren bezahlte Scintilla rund zehn Millionen Franken Steuern, ein Glücksfall für die Gemeinde. Ende der Vierzigerjahre kam Sulzer, baute für ihre Textilmaschinensparte ein altes Fabrikgelände aus und beschäftigte dort bis zu 2000 Mitarbeiter. Doch als die Globalisierung in den Neunzigerjahren richtig Schwung aufnahm und die Firmen die Produktion ins günstigere Ausland verlagerten, begannen die Entlassungswellen. Hunderte verloren ihre Jobs. Ein schmerzhafter Strukturwandel begann, die Steuereinnahmen schrumpften, es fehlten Arbeitsplätze, und angezogen von den günstigen Boden- und Mietpreisen stieg der Anteil an Ausländern weiter an. Bis heute gibt es in Zuchwil 3-Zimmer-Wohnungen für 900 Franken im Monat. Im früheren Schulhaus, das heute die Gemeindeverwaltung ist, arbeitet Stefan Hug, Mitte sechzig und Gemeindepräsident. Er ist keiner, der das Rampenlicht sucht, dafür einer, der zuhören kann und auch mal nachfragt. Hug kam 1975 als Lehrer nach Zuchwil, war später Schulleiter im Unterfeld, einem von vier Schulhäusern in

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der Gemeinde. 2013 wurde der Sozialdemokrat zum Dorf­ ober­haupt gewählt, « der vierte rote Gemeindepräsident in Folge », kommentiert er nicht ohne Stolz. Was meint Hug zu der kleinen, nicht repräsentativen Einwohnerumfrage ? Natürlich sei der hohe Ausländeranteil ein Thema, sagt er. Aber ein Ausländerproblem ? « Nein, unsere Gemeinde verträgt diese Heterogenität. » Er mag nicht jammern über den Strukturwandel und die Zumutungen der global organisierten Welt. Im Gegenteil: « D erzeit läuft es sehr gut », sagt er, darum bemüht, es nicht prahlerisch klingen zu lassen. Soeben sei der Nutzungsplan für das ehemalige Sulzer-Areal vom Solothurner Regierungsrat verabschiedet worden. Tausend neue Einwohner sollen dort in einigen Jahren in einer Mischnutzung aus Wohnen, Arbeiten und Freizeit in unmittelbarer Nähe zur Aare leben. Ausserdem plane Scintilla, die heute zur Bosch-Gruppe gehört, ein neues Bürogebäude. Die Verwaltung bleibt in Zuchwil, das sei « ein wichtiges Standortbekenntnis ». Hugs politische Haltung zeigt sich am Anti-Selbstbestimmungsinitiative-Pin, den er am Revers seines Jacketts trägt, genauso wie an der Gemeinde selbst. Für seine Bemühungen punkto Nachhaltigkeit wurde Zuchwil mit dem Label ‹ Energiestadt Gold › ausgezeichnet. Vergütungen für Autofahrten im Dorf wurden ab-, dafür Elektrovelos und Ladestationen angeschafft. Die Spitex ist heute in die Gemeindearbeit integriert, und die Löhne der Mitarbeiterinnen sind denjenigen des Gemeindepersonals angeglichen. Doch vor allem: Hug und seine zehn Kollegen und Kolleginnen im von der SP dominierten Gemeinderat investieren in Freizeit, Bildung und Integration – nicht nur Geld, sondern auch Zeit und Ideen. Hug will mir anhand eines ‹ Leuchtturmprojekts › zeigen, was es mit einer Integration auf sich hat, die « nicht nur mit Heterogenität umgehen, sondern auch das Positive daraus ziehen will ». ‹ One-Stop-Shop › für Tagesbetreuung Nur wenige hundert Meter vom Gemeindehaus entfernt liegt das Oberstufenschulhaus Zelgli. Rund um dessen Sportplatz ist eine Art Campus für das Gemeindeleben entstanden. Die Gemeindebibliothek ist hier, gegenüber dient ein ausrangierter Frachtcontainer als Jugendtreff. Hinzu kommen Grünflächen und zwei Spielplätze. Mädchen bummeln über den Platz, ein Junge nutzt den Sandkasten für waghalsige Manöver mit dem Trottinett. « Im Sommer ist hier richtig viel los », sagt Hug erfreut. « Für viele Zuchwiler ist dieses Areal zu einem Ort der Identität geworden, zu einem Raum der Begegnung und Integration. » Das Herz des kleinen Campus ist das Zentrum Kinder und Jugend Zuchwil ( KiJuZu ) gleich neben der Bibliothek. Untergebracht ist es in einem Neubau mit Flachdach und feingliedriger Holzfassade. Die Türen stehen offen, drin sitzen Kinder an niedrigen Tischen und basteln oder →

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Zuchwil: 1920 erรถffnete die Firma Bildlegende randabfallende Bilder, Scintilla hier die erste Fabrik. nur im Themenheft

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Das 1926 erbaute Schulhaus Pisoni mit dem Erweiterungsbau aus dem Jahr 1996.

→ lösen Puzzles. Luftballons hängen von der Decke, Kinderfotos und Papierskelette schmücken die Wände. Hier ist eine Art ‹ One-Stop-Shop › für die Betreuung von Kindern von drei Monaten bis 16 Jahren entstanden. Das ­KiJuZu ist Kinderhort und -garten, Spielgruppe, Mittagstisch, Aufgabenbetreuung, Mütter- und Väterberatung in einem. Es bietet auch Raum für Elternabende, Kinderfeste und die Willkommensgespräche für Neuzugezogene im Rahmen des Vereins ‹ Zusammen in Zuchwil ›. Im KiJuZu kann man sich über den Weg laufen, ins Gespräch kommen, Berührungsängste abbauen. Der Kanton zeichnete das Projekt 2015 mit dem Sozialpreis aus. Seither kommen Gemeindevertreter aus der ganzen Schweiz zu Besuch siehe Seite 29 und lassen sich für die Modernisierung der eigenen Kinderbetreuung inspirieren. Wie ein zweites Zuhause Verena Vrankic kommt aus Bosnien und Herzegowina und lebt seit neun Jahren in Zuchwil. Die alleinerziehende Mutter fühlt sich in der Gemeinde gut integriert – auch dank dem KiJuZu. Drei Tage pro Woche bringt sie ihre beiden Buben dorthin, um im Kantonsspital als Raumpflegerin zu arbeiten. Sie schwärmt: « Das KiJuZu ist viel mehr als eine Krippe. Es herrscht eine familiäre Stimmung, und die Menschen, die dort arbeiten, sind Teil unseres Lebens geworden. » Auch Vanessa Dreger findet lobende Worte: « Das KiJuZu ist ein Geschenk – ich wüsste nicht, wie ich meinen Alltag sonst organisieren sollte. » Sie ist vor 13 Jah-

ren von Deutschland nach Zuchwil gezogen, arbeitet achtzig Prozent als Projektleiterin und pendelt dafür nach Bern. Ihr Mann ist Kanadier. Eltern oder Schwiegereltern, die bei der Kinderbetreuung mithelfen könnten, hat die Familie hierzulande keine. Deshalb bringt Vanessa Dreger ihre drei Töchter drei Tage pro Woche um 6.40 Uhr ins KiJuZu. Dort essen sie Frühstück und putzen die Zähne. Danach geht die Jüngste in die Kita im Obergeschoss, die Mittlere in den Kindergarten im Erdgeschoss, und die Älteste wird mit dem Sammeltaxi zum Schulhaus gebracht, wo sie am Nachmittag wieder abgeholt wird, um im KiJuZu betreut ihre Hausaufgaben zu erledigen. Um 18 Uhr holt die Mutter ihre Töchter wieder ab. Aus sechs Betreuungsmodulen können die Eltern genau diejenigen auswählen, die dem eigenen Tagesablauf am besten entsprechen, inklusive Mahlzeiten. Das ist praktisch. Integration über das KiJuZu erlebt Dreger dagegen nur bedingt: Viele Eltern aus dem Ausland sprächen nur wenig Deutsch, ein Austausch sei oft schwierig. Berührungspunkte gebe es nur wenige, und bei den Schweizern Anschluss zu finden sei auch nach mehr als zehn Jahren noch schwierig. Im KiJuZu betreuen heute 33 Angestellte 258 Kinder. Wegen der hohen Nachfrage und der langen Warteliste wird derzeit über eine Erweiterung diskutiert. Für den Betrieb leistet die Gemeinde einen Sockelbeitrag von jährlich 430 000 Franken. Den Rest finanzieren die Beiträge der Eltern, wobei diese einkommensabhängig sind. Die Tagesbetreuung frisst praktisch den gesamten Lohn →

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Das Zentrum Kinder und Jugend Zuchwil ( KiJuZu ) ist das Herz des kleinen Campus.

→ von Vanessa Dreger, und auch bei Verena Vrankic strapazieren die Kosten das Familienbudget. « Mehr zu arbeiten kann ich mir schlicht nicht leisten », sagt sie. Die SVP – mit zwei Sitzen im Gemeinderat vertreten – habe mehrmals versucht, gegen das finanzielle Engagement der Gemeinde zu mobilisieren, erzählt Gemeindepräsident Hug. Bislang ohne Erfolg. « Angebote wie dieses ziehen neue Bewohnerinnen und Bewohner an », ist er überzeugt. Und: « Die Zuchwiler sind bereit, für ein solches Angebot vier bis acht Steuerprozent mehr zu bezahlen. » Frühes Miteinander gegen späteren Kulturschock Zurück im Gemeindehaus treffe ich Stephan Hug, Schuldirektor von Zuchwil und Namensvetter des Gemeindepräsidenten. Er lädt ins ‹ Aquarium ›, einen Glaskubus inmitten des offenen Dachstocks. « Die über hundert Lehrerinnen und Lehrer in Zuchwil tragen die Idee der In­te­ gra­tion mit ; sie sind dieser gegenüber positiv eingestellt », beginnt er und ergänzt: « Wer bei uns unterrichtet, muss sehr viel Empathie aufbringen können. » Hug ist selbst Secondo, seine Mutter stammt aus Italien, er ist zweisprachig aufgewachsen. Mittlerweile habe mehr als die Hälfte der Schulleitung einen ähnlich diversen Hintergrund. Das helfe, sich in die Situation der Kinder zu versetzen. Hug kommt schnell auf das KiJuZu zu sprechen, das auch die Schulen in Zuchwil verändert habe. Weil heute, obwohl fakultativ, siebzig bis achtzig Prozent der Kinder bereits mit zweieinhalb Jahren den Vorkindergarten be-

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suchten, könnten die meisten im Kindergarten schon ein wenig Deutsch. Früher seien es lediglich vierzig Prozent gewesen. « Das bedeutet eine grosse Entlastung für den Kindergarten und den Schulunterricht. » Hinzu komme, dass Kinder aus der Schweiz und aus dem Ausland sich früh aneinander gewöhnen würden. Ein Kulturschock im Kindergarten oder in der Schule bleibe aus. In den ‹ Checks › des Bildungsraums Nordwestschweiz – standardisierten Prüfungen für die Kantone Solothurn, Aargau, Basel-Landschaft und Basel-Stadt – lägen die Zuchwiler Schülerinnen und Schüler im Fach Deutsch heute nur noch leicht unter dem Durchschnitt, erzählt Hug. Die Ergebnisse seien über die Jahre besser geworden, und die Abweichung vom Durchschnitt wachse sich in den höheren Klassen zunehmend aus. « Die Zahlen und die Elternbefragungen zeigen, dass wir auf dem richtigen Weg sind. » Am Ende unseres Gesprächs erzählt er beiläufig von einem geplanten Ausflug der Schulleitungskonferenz nach Kosovo und Mazedonien. Man wolle sich mit dem dortigen Kontext vertraut machen und Kontakte knüpfen, « schliesslich kommt fast ein Viertel unserer Schülerinnen und Schüler aus dieser Gegend ». Auf meinem Weg zurück nach Solothurn treffe ich Nils an der Bushaltestelle. Der 13-Jährige findet, Zuchwil sei eine coole Gemeinde. Man kenne fast jeden, treffe sich im Jugendtreff oder auf dem Pumptrack für Mountainbikes. « Hier wird es nie langweilig », meint er. Viele Ausländer ? Für ihn kein Thema, er ist mit ihnen aufgewachsen.

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« Bildung hat heute viele Orte » Matthias Maier ist der stellvertretende Leiter des Fachbereichs Kinder- und Jugendhilfe beim Amt für Jugend und Berufsberatung des Kantons Zürich. Er plädiert für ein Denken in Bildungslandschaften und für eine bessere Koordination von bestehenden Angeboten. Herr Maier, Sie haben das Kinder- und Jugendzentrum KiJuZu in Zuchwil besucht. Überzeugt Sie das Projekt ? Matthias Maier: Ja, das KiJuZu ist erfolgreich, weil sich Politik, Akteure aus dem Bildungswesen sowie Bürgerinnen und Bürger zusammengeschlossen haben, um etwas in der Gemeinde zu bewirken. Gemeinsam haben sie ein Konzept erarbeitet, um Angebote wie Spielgruppen, Krippe, Kindergarten, Mittagstisch, Mütter- und Väterberatung besser zu koordinieren. Das sehen wir in der Zusammenarbeit mit Partnern oft: Es geht nicht darum, neue Angebote zu schaffen – vielmehr müssen die bestehenden besser aufeinander abgestimmt werden. Dadurch steigt die Qualität des Bildungswesens. Was beabsichtigt diese Koordination ? Heute ist oft von Bildungslandschaften die Rede, denn Bildung hat viele Orte. Sie findet nicht mehr nur in der Schule statt. Schulische und ausserschulische Akteure arbeiten eng zusammen – Sport- und Musikvereine, Bibliotheken, Spielgruppen, Jugendverbände, die Eltern und natürlich die Kinder selbst. Welche städteplanerischen Konsequenzen hat die Integration von Bildungsangeboten ? Beispielsweise können bei der Planung von neuen Überbauungen Räume im Erdgeschoss durch Nutzungen in den oberen Stockwerken subventioniert werden, um Angebote zu schaffen, die zur Lebendigkeit eines Quartiers beitragen, etwa ein Familienzentrum oder eine Spielgruppe. Gerade für das Zusammenleben verschiedener Kulturen sind solche Räume wichtig. Ein gelungenes Beispiel ? Im Zürcher Hunziker-Areal arbeitet eine eigens dafür angestellte soziokulturelle Animatorin, die bewusst solche Angebote zum Zusammenkommen schafft. Oder die Gemeinde Dübendorf, die kürzlich beschlossen hat, jährlich 220 0 00 Franken zu investieren, um die Bildungslandschaft der Gemeinde zu stärken. So werden etwa Brückenpersonen mit Migrationserfahrung dafür honoriert mitzuhelfen, die Berührungsängste von Eltern und Kindern vor Schulen und Institutionen der Gemeinde abzubauen. Was hindert andere Gemeinden daran, mehr in ihre Bildungslandschaft zu investieren ? Oft heisst es, das Geld dafür fehle. Doch in Bezug auf das Gemeindebudget sind es oft nur kleine Beträge, die für eine bessere Bildungslandschaft nötig sind. Anders als im Strassenbau, wo Schäden sofort sichtbar sind, dauert das im Bildungsnetzwerk länger: Man erkennt Lücken oder fehlende Investitionen oft erst, wenn ein Kind durch die Maschen fällt und dann hohe Kosten verursacht.

Spiel- und Begegnungsräume werten Quartiere auf.

Begegnungsorte verbinden auch Generationen.

Fussball bildet: Lernen findet nicht nur im Schulzimmer statt.

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So funktioniert es Wer sozial durchmischte Quartiere fördern und Verdrängungs- und Segregationsprozesse bremsen will, findet hier zwölf Appelle – adressiert an Schule, Bauwirtschaft und Stadtentwicklung. Text: Lilia Glanzmann

Die Schule

Die Bauwirtschaft

Schulen profitieren von einer durchmischten Bevölkerung – und tragen selbst entscheidend zur Attraktivität eines Quartiers bei.

Immobilien entwickeln heisst immer auch ein Quartier entwickeln. Das gilt für alle Wohnbauträger – ob privat, kommunal, institutionell oder gemeinnützig.

Schulleitung und Lehrpersonen

Wohnbauträger

●  Eine gute Schule ist attraktiv: Schulleitung und Lehr-

●  Ausgewogener Mix: Bei Neubauten sind die Wohnbau-

personen gestalten den Unterricht und das Zusammenleben in der Schule entsprechend der Diversität der Schülerinnen und Schüler. Sie sorgen damit für ein gutes Leistungsniveau sowie für gleichwertige Chancen in den Bildungslaufbahnen. Die Schule gegenüber dem Quartier öffnen: Schulleitung und Lehrpersonen arbeiten mit den Eltern zusammen und gewähren ihnen Mitsprache. Sie bauen die Tagesbetreuung aus, vernetzen sich mit Spielgruppen, Kitas, Bibliotheken, Quartierzentren, der Jugendarbeit, Sportvereinen und kulturellen Institutionen – auf der Sekundarstufe schliesslich auch mit der Wirtschaft, um gute Anschlüsse in die Berufsbildung zu schaffen. Eine aktive Rolle spielen: Vertreterinnen der Schulen nehmen an partizipativen Prozessen der Stadt- und Quartierentwicklung teil. Sie werden selbst aktiv, um die Interessen der Schule und der Kinder einzubringen – was wiederum offene Ohren bei der Stadtentwicklung braucht.

träger verantwortlich für einen angemessenen Mix aus verschiedenen Wohnungen und Preissegmenten, um einkommensschwächere Mieterinnen und Mieter nicht zu verdrängen. Bei bestehenden Bauten lassen sich preisgünstige Mieten durch sanftes Sanieren erhalten. Die Schule im Blick: Bei grösseren Bauvorhaben ist stets auch die Schule mitzudenken – als Ort, an dem Menschen unterschiedlichster Herkunft zusammenkommen und lernen. Sozial nachhaltig bauen: Nach dem starken Fokus auf ökologische Nachhaltigkeit müssen Wohnbauträger nun auch die soziale Nachhaltigkeit berücksichtigen: Wer baut, muss sich seiner sozialen Verantwortung bewusst sein. Verantwortung übernehmen: Fragen sozialer Nachhaltigkeit gehören in den Lehrplan von Fachschulen, Fachhochschulen und Universitäten, die Immobilienentwickler und Raumplanerinnen aus- und weiterbilden. Wohnbauträger haben die Aufgabe, die vermittelten prospektiven Ansätze zu realisieren.

Kantonale und kommunale Schulbehörden

●  Rahmenbedingungen schaffen: Die Bildungspolitik in-

vestiert in den Ausbau der Bildung. Sie versorgt Schulen in sozial benachteiligten Quartieren mit zusätzlichen fachlichen und finanziellen Ressourcen, um dort die Bildungschancen zu erhöhen, beispielsweise über den Zugang zu Gymnasien und Berufsmittelschulen. Pädagogische Hochschulen unterstützen die Schulen dabei fachlich.

Die Planung Politische und operative Stadt- und Quartierplanerinnen sowie die Verantwortlichen der Wohnbauförderung verfügen über verschiedene Möglichkeiten, soziale Durchmischung zu fördern. Stadt- und Quartierentwicklung

Elternrat Engagierte Eltern: Sie bringen die Interessen der Familien und Quartierbewohnerinnen ein und nehmen, wenn nötig, auch politischen Einfluss auf die Entwicklung der Schule und des Quartiers.

●  Begegnungen ermöglichen: Die Stadtplanung schafft

kinderfreundliche Quartiere, verkehrsberuhigte Strassen und attraktive öffentliche Räume, die Kontakte erlauben und das Zusammenleben fördern. Kooperationen mit Bauherrschaften: Es gilt, mit den Wohnbauträgern und den Investorinnen Gestaltungspläne auszuhandeln, die auch soziale Vielfalt und soziale Nachhaltigkeit zum Thema haben – und zwar sowohl in räumlich privilegierten wie auch in benachteiligten Quartieren. Vielfältiges Zusammenleben fördern: Bund, Kantone Zueinanderfinden und Gemeinden fördern den gemeinnützigen, genossenNebst diesen zwölf Appellen braucht es für eine positi- schaftlichen und kommunalen Wohnungsbau – mit der ve Dynamik den Dialog aller Verantwortlichen: Schulen, Auflage, dass dort soziale Durchmischung und soziale Wohnbauträger und Stadtplanung entwickeln im gegensei- Nachhaltigkeit verwirklicht werden. tigen Austausch Siedlungen und Quartiere für eine Vielfalt an Bewohnerinnen und Bewohnern mit unterschiedlichen Bedürfnissen. In partizipativen Prozessen lassen sie die Stimmen aus dem Quartier mitsprechen – auch die der Kinder, Migranten und Ärmeren. Um Strategien anregender Bildungslandschaften weiterzuentwickeln, gilt es, Sozialund Bildungswissenschaften in den Dialog einzubeziehen.

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Vielfalt hat viele Facetten â€“ fotografiert in einer Zuchwiler Siedlung.

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Quartier bildet

Was Bildung angeht, unterscheiden sich die Chancen hierzulande je nach Wohnort markant: Wie die Bevölkerung in Quartieren und Gemeinden zusammengesetzt ist, beeinflusst den Klassenmix und damit den Lernerfolg der Kinder. Wer sozial durchmischte Quartiere fördern und Verdrängungs- und Segregationsprozesse bremsen will, findet in diesem Heft konkrete Vorschläge für Bauwirtschaft, Schule und Stadtentwicklung.

Fischer AG Immobilienmanagement

Lehre Weiterbildung Forschung

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Hochparterre X / 18 —  Titel Artikel


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