Urbane Drehscheibe

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Themenheft von Hochparterre, August 2019

Urbane Drehscheibe

Wie der neue Bahnhof St. Gallen Stadt- und Verkehrsraum, historisch und zeitgenössisch, vorne und hinten, unten und oben miteinander verknüpft.

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Inhalt

4 Schwerpunkt verschoben Ein Glaskubus, ein weiter Platz und eine neue Dachlandschaft prägen den umgestalteten Bahnhofplatz St. Gallen.

8 Pläne Zwei Grundrisse zeigen, wie Ober- und Unterwelt verknüpft sind. Editorial

10 Mit Sorgfalt und Präzision Ein neuer Eingang, eine Passage und zwei Unterführungen erschliessen Bahn und Stadt.

13 Verkehr, Architektur und Budget Ein Gespräch über den besten Weg zum gut gestalteten Stadtraum.

16 Stadtraum fassen und vernetzen Die fünf rangierten Projekte des Wettbewerbs für die Neugestaltung des Bahnhofplatzes.

18 Platz geben im Engpass Die epische Planungsgeschichte des Bahnhofplatzes und welche Rolle die Piazze delle Erbe in Verona dabei spielte.

22 Verwandtschaften im ganzen Land Sechs Schweizer Bahnhöfe im Vergleich mit dem Bahnhof St. Gallen.

Skulpturale Erfahrung abbilden Die Fotografin Katalin Deér hat den Bahnhof und seine Funktion im Alltag mit analoger und digitaler Kamera in Hunderten von Bildern festgehalten. Während Züge und Pendlerströme an ihr vorbeiglitten, ist Deér vor allem stillgestanden und hat über Monate die neuen Räume und Plätze sowie deren Nutzung beobachtet. Wie verhalten sich Menschen im offenen, wie im geschlossenen Raum und in den Passagen, wie laufen sie über den neuen Kornhausplatz ? Die zu einer grosszügigen essayistischen Bildstrecke verdichtete Auswahl betont die künstlerische He­rangehensweise der Fotografin.

Stadtraum vernetzen

2009 hat St. Gallen einen Wettbewerb für die Neugestaltung seines Bahnhofplatzes ausgeschrieben. Im Lauf der Planung ist daraus ein tiefgreifender Um- und Ausbau des Bahnhofs geworden – St. Gallen hat nicht nur einen neuen Platz und Bushof bekommen, sondern vor allem einen Stadtraumvernetzer. Neue Zugänge und alte Passagen sowie der Ausbau der beiden Personenunterführungen verbinden neue und alte Stadt- und Grünräume – vor und hinter den Gleisen. Der visuelle und architektonische Schwerpunkt ist der Glaskubus, der Orientierung bietet und dem Bahnhof Tag und Nacht eine eindeutige Adresse verleiht. Das vorliegende Themenheft dokumentiert die Entwicklungs- und Planungsgeschichte und was daraus geworden ist. Das Resultat in St. Gallen basiert auf Kompromissen zwischen verkehrstechnischen Sachzwängen, architektonischen Absichten und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen – ausgehandelt von der Planergemeinschaft Akari in enger Zusammenarbeit mit den SBB, dem Hochbau- und dem Tiefbauamt der Stadt St. Gallen, Verkehrsplanern und Denkmalpflege. Wie diese Aushandlungsprozesse verliefen und wie sich die Beteiligten organisiert haben, geht aus dem Gespräch hervor. Die Sanierung der historischen Schalterhalle sowie der Um- und Ausbau der beiden Unterführungen dokumentiert der Artikel ‹ Mit Sorgfalt und Präzision ›. Welche Rolle der Platz und der neue Glaskubus in der Stadt einnehmen, beschreibt der Text ‹ S chwerpunkt verschoben ›. Wie es dazu kam, dass die Piazza delle Erbe in Verona als stadträumliches Vorbild für St. Gallen diente, rollt der Artikel ‹ Platz geben im Engpass › auf. Dass St. Gallen mit dem Um- und Ausbau der urbanen Drehscheibe Bahnhof nicht allein steht, zeigt der Text ‹ Verwandtschaften im ganzen Land ›. Und der Rückblick auf den Wettbewerb macht deutlich, dass nicht die Gestaltung des Stadtraums, sondern der neue Hauptzugang zu den Zügen die planerische Knacknuss war.  Roderick Hönig

Impressum Verlag Hochparterre AG  Adressen  Ausstellungsstrasse 25, CH-8005 Zürich, Telefon +41 44 444 28 88, www.hochparterre.ch, verlag@hochparterre.ch, redaktion@hochparterre.ch Verleger  Köbi Gantenbein  Geschäftsleitung  Lilia Glanzmann, Werner Huber, Agnes Schmid  Verlagsleiterin  Susanne von Arx  Konzept und Redaktion  Roderick Hönig  Fotografie  Katalin Deér, www.katalindeer.ch  Art Direction  Antje Reineck  Layout  Jenny Jey Heinicke  Produktion  Linda Malzacher  Korrektorat  Dominik Süess, Elisabeth Sele  Lithografie  Team media, Gurtnellen  Druck  Stämpfli AG, Bern Herausgeber  Hochparterre in Zusammenarbeit mit der Planergemeinschaft Akari, der Stadt St. Gallen und den SBB. Bestellen  shop.hochparterre.ch, Fr. 15.—, € 12.—

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Ober- und Unterwelt, vorne und hinten sowie Stadt und Bahnhof wurden in St. Gallen neu verknüpft.

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Der gläserne Kubus verbindet Platz und Bahnhof. Er ist der neue Mittel- und Schwerpunkt der Verkehrsdrehscheibe.

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Die binäre Uhr 2015 schrieb die Stadt St. Gallen den Kunst-und-Bau-Wettbewerb für « künstlerische Vorschläge als Ergänzung des architektonischen Gestaltungskonzepts » aus. Es gewann der Medienkünstler Norbert Möslang mit dem Vorschlag, die geplante analoge Uhr auf der Südfas­sade des Glaskubus durch eine binäre Zeit­anzeige zu ersetzen. Sie ist sowohl im Innen- wie auch im Aussenraum wahrnehmbar. Die Idee einer spielerischen ‹ Erfindung › der Zeitanzeige für diesen

spezifischen Ort überzeugte die Jury. Um die Uhr lesen zu können, braucht es etwas Übung. Das Muster besteht aus fünf Kreisen, sechs Kreuzen und sechs Vierecken, die wechselnd aufleuchten und so die Zeit anzeigen. Doch die Vorstellung der Zeit als kreisrundes Geschehen, auf dem ein Zeiger vorrückt, stellt die Uhr erfolgreich auch für diejenigen infrage, die sie nicht lesen können. Binär codiert, wird die Zeit zur blinkenden Addition von Stunden, Minuten und Sekunden und zum Entwederoder von Licht und Nicht-Licht.

Schwerpunkt verschoben Der Glaskubus definiert die neue Mitte des Bahnhofs und schliesst die Fassadenlücke zum Kornhausplatz. Er ist auch Passagierdrehscheibe, Raumverstärker, Zeichensender und Laterne. Text: Roderick Hönig

Aarau hat eine Wolke, Winterthur einen Pilz, Bern eine Welle und St. Gallen eine Laterne. Die Rede ist von den Dachskulpturen, die in den letzten Jahren rund um und über Schweizer Bahnhöfe und ihre Plätze gewachsen sind. So verschieden ihre Ausformulierungen auch sind, der Treiber ist immer derselbe: die Zunahme des öffentlichen Verkehrs. Immer mehr Pendlerinnen fahren mit Bus oder Postauto zum Zug. So sparen sie sich den Parkplatz und entkommen – versunken in ihr Handy – dem Pendlerstau. Gerade in St. Gallen sind die Regionalbusse ein wichtiges Mobilitätsrückgrat, das die Bewohner des hügeligen Umlands mit der Stadt verbindet. Mit dem Aus- und Umbau des Bahnhofs und der Neugestaltung des Bahnhof- und des Kornhausplatzes ist die Stadt für die neuen Bedürfnisse gerüstet: Eine grosszügigere Unterführung, Doppelstockbusse und das Durchflusssystem siehe Seite 13 sind die verkehrstechnischen Antworten auf die Zunahme des Pendlerverkehrs. Die architektonischen Antworten sind ein gläserner Kubus, ein weiter Platz, ein renoviertes Aufnahmegebäude und eine neue Dachlandschaft. Weil ein Bahnhof und sein Platz immer auch eine städtische Visitenkarte sind, hat die Stadt 2009 einen Wettbewerb für die ‹ Aufwertung und Neugestaltung des Bahnhofplatzes › ausgeschrieben. Im Nachhinein ist allen klar, dass die Konzentration der Aufgabenstellung auf den Platz zu kurz gegriffen war. Die Ausweitung des Projekts

auf das Bahnhofsgebäude und die Unterführungen zeigt die Lernkurve der Beteiligten. Denn Platz und Bahnhof, aber eben auch Perrons, Shopping, Vorder- und Rückseite bilden ein Ganzes und müssen miteinander verwoben werden – nur so kann der Bahnhof seine Rolle als verbindendes städtisches Element ausspielen. Gewonnen hat denn auch der Vorschlag der Planergemeinschaft Akari, der weit über die Neugestaltung des Bahnhof- und des Kornhausplatzes hinausging und Stadträume vor, in und hinter dem Bahnhof miteinander vernetzt. Oberirdisch etwa durch einen neuen Zugang, der aus dem hohen Glaskubus direkt in die historische Halle führt und so einen prächtigen Weg durch das lange Haus an das westliche Ende des Bahnhofs ermöglicht. Urbaner Stimmenfänger Mittel- und Schwerpunkt des Entwurfs ist ein starkes visuelles Zeichen: der tags wie nachts leuchtende Glaskubus zwischen Aufnahmegebäude und Rathaus. Die grosszügige Halle, die täglich 80 000 Passantinnen und Passanten queren, ist zwar auch ein Dach, das vor der Witterung schützt, aber viel mehr noch ist sie städtebaulicher Lückenfüller, Tageslichtgefäss und nächtliche Laterne. Und wer genau hinhört, kann sie auch als urbanen Stimmenfänger wahrnehmen, in dem « Laute der unterschiedlichsten Formung sich zu einem Brei verbinden, der Blasen →

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Vertikalschnitt Dachrand.

Vertikalschnitt Verglasung.

Horizontalschnitt Verglasung.

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→ treibt, steigt, als würde er hochgekocht werden von geheimem Feuer, bald an der Decke anschwappt, Wellen wirft, die zu Winden werden, die man Sprechwinde nennt », wie der im Toggenburg aufgewachsene Schriftsteller Peter Weber das Phänomen des Resonanzkörpers Bahnhofshalle in seinem Buch ‹ Bahnhofsprosa › so schön beschreibt. Die 22 Meter breite, 26 Meter lange und 14 Meter hohe Halle über dem Abgang der Personenunterführung steht auf einer mächtigen Stahlkonstruktion. Ihre Hauptstützen sind eingezogen, was den Eindruck einer über der Treppenanlage schwebenden Glashaube verstärkt. Auf den vier eingespannten Stützen liegt eine auskragende, kassettenartige Decke ; an ihr hängen die schmalen Fassadenschwerter, an die wiederum die quadratischen transluzenten Glasschuppen montiert sind. Die beschichteten Gläser sorgen dafür, dass die Halle nachts zu einem voluminösen Lichtkörper wird, durch dessen Hülle die Kon­struk­tion und die blau leuchtende Uhr – ein Kunstund-Bau-Projekt des Künstlers Norbert Möslang siehe ‹ Die binäre Uhr ›, Seite 5 – leicht durchschimmern. Sie machen den Kubus auch zu einem Bildschirm im Stadtmassstab, vor allem für den gegenüberliegenden Kornhausplatz. Zum Glück stellen die lieblos aufgehängte elektronische Busfahrplananzeige an der Innenseite sowie die Zwischendächer, die für trockene Übergänge zum historischen Bahnhofsgebäude und zur Arkade des Rathauses sorgen, die Leichtigkeit und Durchlässigkeit des Projekts nicht infrage. Diese Elemente und Anschlüsse folgen mehr dem Prinzip der Bedürfnisse der Reisenden als dem der Ästhetik. Verkehrsfreie Insel Der neue visuelle und räumliche Orientierungspunkt ist auch ein sorgfältig platzierter städtebaulicher Ersatzbaustein. Wo früher ein in die Jahre gekommenes Tonnendach stand, stellt heute der selbstbewusste Kubus eine neue Rangordnung an der nördlichen Bahn­hof­stras­se her: Indem er sich in den Stadtraum hineinschiebt, macht er sich zum ersten Gebäude am Platz. Nicht protzig, aber kraftvoll und bestimmt. Gleichzeitig vermittelt er elegant zwischen seinen prominenten, sehr unterschiedlichen Nachbarn: Seine Proportionen nehmen die des historischen Bahnhofsgebäudes auf – dessen Bauch etwas weniger in den Bahnhofplatz hineinragt –, seine Materialisierung und Konstruktion stellen Bezüge zur spiegelnden Glasfassade des Rathauses auf der anderen Seite her. So schliesst die neue Halle die historische Fassadenlücke und wird damit zum wichtigsten Gegenüber des Kornhausplatzes, der zweiten Säule des Wettbewerbsentwurfs. Denn der Platz kann erst dank der nunmehr lückenlosen Kulisse seine volle Wirkung entfalten. Was auch andersherum gilt: Der Kubus braucht eine angemessene Bühne, kurz, Platz und Kubus bedingen sich. Der Bahnhofplatz selbst ist gebaute städtische Weite, der daran anschliessende Kornhausplatz ein luftiger, mit hellgrauen Granitplatten belegter Stadtraum. Selbstbewusst sagt er: St. Gallen hat nicht nur seine enge Altstadt, sondern rund um den Bahnhof auch einen weiten Atem. Nachts betont die dezente Fassadenbeleuchtung die Platzform. Der Belagswechsel von Asphalt zu Naturstein und die abgerundeten Ecken verstärken die Wahrnehmung des hellen Platzdreiecks als verkehrsfreie Insel inmitten hektischen städtischen Treibens. Die Landschaftsarchitekten haben den über die Jahre angelagerten städtischen Krimskrams, etwa den früheren Billett-Pavillon, weggeräumt. Den Rand der neu gewonnenen, 30 000 Quadratmeter grossen Weite haben sie mit schlanken, säulenförmigen Laternen und hoch aufgeasteten Bäumen gesäumt und dazwischen Sitzbänke frei verteilt. Die Mitte wird vom

restaurierten Lämmlerbrunnen besetzt. Die neun Meter hohe Bronzeplastik des Künstlers Köbi Lämmler, die 1980 als Symbol für die St. Galler Textilwirtschaft auf den Kornhausplatz gesetzt wurde, hätte das Feld eigentlich räumen müssen. Die Landschaftsarchitekten schlugen im Wettbewerb an seiner Stelle ein flaches Wasserbecken vor, dessen Sonnenlichtspiel den Dialog mit der lichtdurchlässigen Fassade des Kubus aufgenommen hätte. Während der Projektphase begrub ein politischer Vorstoss zur Rettung der Brunnenskulptur die Beckenidee. Obwohl die Bevölkerung über ein anderes Projekt abgestimmt hatte, gab der Stadtrat nach – mit dem Segen der Juristen. So markiert heute Lämmlers ‹ aufgestelltes Nastuch › wie eine stumpfe Antenne den Schwerpunkt des Platzes. Ein neuer Horizont über dem Bahnhofplatz Kornhausplatz und Kubus sind über eine breite Fussgängerquerung miteinander verbunden. Auf ihr teilen sich Wartende, Gehende sowie Busse und Appenzeller Bahnen den Platz. Die Fussgängerachse wird beidseitig von einer Reihe hoher Dächer über den Bushaltekanten gesäumt. Die Stahlkonstruktionen sind in denselben Materialien wie der Kubus gehalten, nehmen seine Dimensionen auf und sprechen seine Konstruktionssprache. Die sieben Dächer definieren einen neuen Dachhorizont über dem Bahnhof- und dem Kornhausplatz. Spitz zulaufend liegen sie auf grauen Stützen, deren Zwischenraum teilweise mit Glaswänden ausgefüllt ist, um wichtige Sichtverbindungen nicht einzuschränken. Während der Planung wurde intensiv über ihre Dimensionen diskutiert, sie ist ein Resultat funktionaler Anforderungen: Damit die Fahrgäste auch beim Ein- und Aussteigen ein Dach über dem Kopf haben und weil auch doppelstöckige Busse an die Haltekante fahren, ergab sich eine 4,5 Meter hohe Dachkante. Obwohl die Dächer sich an der Unterkante des Kubus orientieren und sich auch in die Höhe der Sockelgeschosse der umliegenden Gründerzeitbauten einpassen, folgte Kritik auf dem Fuss: Zu wuchtig, rücksichtslos und so hoch, dass man bei Regen nass wird, seien die Dächer, schimpften einige St. Galler über den ‹ städtischen Massstab › der Architekten. Die kompakte Anordnung der Haltekanten in der Längs­achse des Bahnhofplatzes und entlang der Kornhausstrasse hat zur Folge, dass einzelne Dächer einigen Fassaden ziemlich nahe kommen – etwa den beiden historischen Geschäftshäusern der Architekten Curjel & Moser sowie Pfleghard & Haefeli an der Kornhausstrasse. Auch das ungeübte Auge sieht: Die Dächer der Haltestellen und die grünlichen Sandsteinfassaden bilden kein harmonisches En­sem­ble. Auch dem Erker des denkmalgeschützten Hotels Metropol des Architekten Otto Glaus am Bahnhofplatz kommt die Ecke eines Haltekantendachs recht nahe. Doch in der Längsrichtung des Bahnhofplatzes beschleunigt und dynamisiert die Dachreihe den langen Stadtraum. Der Entwurf ist stabil genug, um den Kompromiss zwischen verkehrstechnischem Sachzwang, architektonischer Absicht und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zu bestehen. So schreibt der Aus- und Umbau des Bahnhof- und des Kornhausplatzes eine Planungsgeschichte fort, die 1907 mit dem Wettbewerb « zur Erlangung von Entwürfen für eine einheitliche architektonische Gestaltung der Fassaden » begann und den Grundstein legte für das grossstädtische Bahnhofsquartier. Im Mittelpunkt stehen heute wie damals der öffentliche Raum und seine Vernetzung. Städtebaulich schliesst der Glaskubus die Lücke der Platzfassade und spannt mit dem neuen Kornhausplatz eine Querachse zum lang gezogenen Bahnhofplatz auf, die auch genug architektonische Kraft entwickelt, um es mit der Piazza delle Erbe in Verona aufzunehmen siehe Seite 19.

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Längsschnitt Personen­unterführung Ost. 0

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Kornhausplatz Bahnhofspärkli Allee Poststrasse Grabenpärkli

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Situationsplan

Die Verbindung zur Altstadt stärken Die neue, kompakte Organisation des öffentlichen Verkehrs rund um den Bahnhof spielte nicht nur den Kornhausplatz frei, sondern ebnete auch den Weg für eine Aufwertung der Platz- und Strassenräume zwischen Bahnhof und Altstadt. Eine neue Allee an der Poststrasse bildet ihr Rückgrat. Zugunsten grosszügiger Baumreihen konnte ihr Strassenraum reduziert werden. Den Auftakt bildet das Bahnhofs­p ärkli im Osten des Bahnhofs. Seine dreieckige Kiesfläche ist von metallgefassten Stauden- und Baumrabatten gesäumt. Sie fassen eine kleine grüne Oase, die mit Sitzbänken und einem historischen Brunnen zu kurzen Pausen oder zum sommerlichen Mittagspicknick einlädt. Das Graben­pärkli mit dem ‹ Fass-Brunnen › von Roman Signer am anderen Ende der Allee wurde mit Staudenbepflanzungen sowie neuen Sitzbänken aufgewertet. Die prächtig blühenden Rabatten schaffen Intimsphäre auf klein­s­t em Raum.

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Bahnhof St. Gallen und Kornhausplatz 1 Kornhausplatz 2 Bushof 3 Glaskubus 4 Rathaus 5 Bahnhofspärkli 6 Aufnahmegebäude 7 Bahnhof Appenzeller Bahnen 8 Dienstgebäude 9 Personenunterführung Ost 10 Personenunterführung West 11 Parkhaus / Vorfahrt Fachhochschule

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Erdgeschoss

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Massgebende Unternehmer Bahnhofplatz, Platz- und Strassenbau: Walo Bertschinger, St. Gallen Glaskubus, Dach Aufgang Nord, Stahl und Metallbau: Tuchschmid, Frauenfeld Personenunterführung Ost, Tief- und Rohbau: Arge PU Ost, Stutz, St. Gallen ; Hastag, St. Gallen Fassadenbau: Krapf, Engelburg Natursteinarbeiten: Natur­ steine Wüst, Wallisellen Aufnahmegebäude, innere Fassaden und Metallbau:  Oppikofer, Frauenfeld Bahnreisezentrum, Holz­ele­ment­bau: Mobil Werke, Berneck

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Bahnhof und Bahnhofplatz St. Gallen, 2018 Bauherrschaft: Tiefbauamt Stadt St. Gallen, Hoch­ bauamt Stadt St. Gallen, SBB Infrastruktur, SBB Immobilien Projektkoordination:  TBF + Partner, Zürich Architektur:  Giuliani Hönger, Zürich Landschaftsarchitektur:  Hager Partner, Zürich Verkehrsplanung Wettbewerb, Vorprojekt:  Stadt Raum Verkehr, Birchler + Wicki, Zürich Verkehrsplanung Bauprojekt, Ausführung:  Tiefbauamt Stadt St. Gallen Gesamtleitung und Bau­ management Bauten:  Caretta Weidmann, Zürich Bauingenieure Bauten:  Dr. Lüchinger + Meyer, Zürich ; Grünenfelder & Lorenz, St. Gallen Bauingenieure Platz:  Nänny + Partner, St. Gallen und Teufen ; Tiefbauamt Stadt St. Gallen Elektroplanung, Koordi­na­ tion Gebäudetechnik:  Boess Sytek, Binningen HLKK, Planung: Aicher, De Martin, Zweng, Zürich Sanitärplanung: Tib Technik im Bau, Luzern Lichtplanung:  Königslicht, Zürich Fassadenplanung: GKP Fassadentechnik, Aadorf Brandschutz: Bianchi Beratungen, Burgdorf Bauphysik:  Bakus, Zürich Erdungskonzept:  Arnold Engineering und Beratung, Opfikon Auftragsart: offener Wettbewerb, 2009 Ausführung:  2014 – 2018 Investitionskosten alle Teilprojekte:  Fr. 120 Mio.

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Mit Sorgfalt und Präzision

Mit präzisen Eingriffen gelang es, das alte Aufnahmegebäude in die heutige Zeit zu führen. Ein neuer Eingang, eine Passage und zwei Unterführungen verbinden Bahn und Stadt. Text: Werner Huber

Von Genf bis St. Gallen und von Basel bis Lugano schmücken historische Bahnhofsgebäude die heutigen Verkehrsdrehscheiben. Die in den letzten Jahrzehnten von den SBB meist sorgfältig sanierten Aufnahmegebäude widerspiegeln die Bedeutung des Reisens in früheren Zeiten und den Repräsentationsanspruch der jeweiligen Bahngesellschaft sowie der Stadt. Die monumentalen Fassaden dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Bahnhöfe schon zu Pionierszeiten gebaute Funktionsschemen waren. Wie heute beim Flugverkehr folgte früher auch der Weg von der Stadt zur Bahn und zurück genau festgelegten Abläufen: Man betrat die Schalterhalle, kaufte ein Billett am Schalter, gab das Gepäck auf und setzte sich in den Wartsaal oder das Bahnhofsbuffet erster, zweiter oder dritter Klasse. Dort wartete man, bis der Einstieg in den Zug freigegeben wurde. Die Grundrisse hinter den eindrücklichen Fassaden waren präzis auf diese Abläufe abgestimmt. Mit der Zeit haben sich diese Abfolgen verändert. Bahnfahren wurde einfacher – ein Bahnhof von heute hat nicht mehr viel mit einem der Fünfziger- oder Sechzigerjahre zu tun. Automaten und digitale Verkaufskanäle machen die Billettschalter für die meisten Reisenden überflüssig, der dichte Taktfahrplan leerte die Wartsäle und Bahnhofsbuffets, und schlankes Handgepäck erübrigte die Gepäckdienste. Über die Jahrzehnte verlief dieser Prozess schleichend ; immer wieder passten die SBB die Gebäude den veränderten Bedürfnissen an. Das Aufnahmegebäude des St. Galler Bahnhofs erlebte seinen letzten grossen Umbau in den Neunzigerjahren. Schon damals drängten im Erdgeschoss kommerzielle Nutzungen die Bahndienstleistungen an den Rand, und in den Obergeschossen richtete sich die Migros-Klubschule ein. Damals entfernte man die über die Jahre gewucherten Einbauten der Schalterhalle und ersetzte sie durch Stahl-Glas-Konstruktionen, die sich deutlich vom alten Haus abgrenzten – so, wie man es damals eben machte.

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Befreiungsschlag in der Halle Ihre Funktion als Drehscheibe des Passagierverkehrs hat die Schalterhalle in St. Gallen zwar verloren: Diese Rolle hat die neue gläserne Halle siehe Seite 5 übernommen. Nach wie vor ist sie jedoch der wichtigste und repräsentativste Bahnhofsinnenraum – auch wenn seit dem jüngsten Umbau auch die Billettschalter ausgezogen sind. So gross, wie die Halle im Grundriss erscheint und die stadtseitige Fassade suggeriert, war sie aber nie. Von Anfang an standen darin die Einbauten für die Billettschalter und die Gepäckexpedition. Immer waren es eingeschossige Bauten, die zwischen die Stützen eingepasst waren. Zunächst im neobarocken Stil wie das ganze Gebäude, später banaler und moderner, aber immer unbefriedigend. →

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Aufnahme­gebäude vor dem Umbau.

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Aufnahme­gebäude nach dem Umbau.

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1 ehemalige Schalterhalle 2 neuer Zugang 3 Glaskubus 4 Längskorridor 5 Reisezentrum 6 Gastronomie 7 kommerzielle Nutzungen

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→ Hier setzten die Architekten Giuliani Hönger zum Befreiungsschlag an. Sie ersetzten die alten Einbauten nicht einfach durch neue, sondern entfernten sie vollständig. Damit legten sie den Raum zunächst in seinen ganzen Dimensionen frei. In enger Zusammenarbeit mit der Denkmalpflege entwickelten sie danach neue – nein, nicht Einbauten, sondern raumhohe Glaswände. Nun ist die grosse Halle zwar auf ihrer ganzen Höhe in einzelne Räume unterteilt, was sie bis anhin nie war. Dank der grossflächigen Gläser, die der Massstäblichkeit des Gebäudes entsprechen, wirkt sie dennoch grosszügiger und lässt sich in ihrem ganzen Ausmass erfahren. Das Neue ist zwar als solches zu erkennen, grenzt sich aber nicht krampfhaft vom Bestand ab. Vielmehr verfolgten die Architekten einen integrativen Ansatz. So sind die grossen Gläser in hölzerne Rahmen eingespannt, die das Material der bestehenden Türen aufnehmen. Die Beleuchtung der Halle knüpft ebenfalls an die historischen, längst verschwundenen Leuchter an. Der indirekte Lichtanteil sorgt für eine gleichmässige Ausleuchtung der Decke und verstärkt dadurch die räumliche Wirkung. Dazu trägt der dunkelrote Bodenbelag bei, dessen sechseckige Tonplatten sich über alles – auch über die vermieteten Flächen – erstrecken. Aufgewertete Längsachse Auch im ( stadt- )räumlichen Konzept von Giuliani Hönger spielt die einstige Schalterhalle eine zentrale Rolle. Früher widerspiegelte die parallele Raumfolge Bahnhofplatz – Halle – Perrons den Ablauf einer Bahnreise aus der Stadt über den Billettschalter zum Zug. Von der Schalterhalle zweigte ein Längskorridor mit den Bahnhofsbuffets, den Wartsälen und den grossen Abortanlagen ab. Diese Längs­achse, ursprünglich eine Sackgasse, ist jetzt das Rückgrat des ganzen Gebäudes. Sie verbindet die beiden Unterführungen und erschliesst mehrere Geschäfte sowie das Bahnreisezentrum. Einer der wichtigsten Eingriffe des jüngsten Umbaus ist deshalb der neue Zugang, der aus der neuen Glashalle direkt in die historische Halle führt und so den prächtigen Weg durch das Gebäude in seiner ganzen Länge erst ermöglicht. Die Räume am Korridor sind mit den ursprünglichen Holztüren mit Glasfüllungen abgeschlossen. Sie vermitteln ein authentisches Bild des alten Baus. Im Bereich des Reisezentrums wurde in die früheren hohen Wartsäle ein zusätzliches Geschoss eingebaut, um Büros, Sitzungszimmer und einen Aufenthaltsraum einzurichten. Die dafür gewählte Holzkonstruktion macht es möglich, dass die Einbauten später wieder entfernt werden können. Auch hier sind die Verglasungen in Holz gefasst. Umbau mit einfachen Mitteln In einem ferneren Zeithorizont, vielleicht in zwanzig oder dreissig Jahren, könnte am Bahnhof St. Gallen ein Kapazitätsausbauschritt anstehen, was sich vor allem im westlichen Bereich der Anlage manifestieren dürfte. Deshalb beschränkten die SBB sich beim jüngsten Umbau der Unterführung West auf das Nötigste: Sie wurde aufgefrischt und behindertengerecht ausgebaut. Die ursprünglichen Dimensionen mit einer relativ niedrigen Decke blieben dabei ebenso erhalten wie die Kunststeineinfassungen der bestehenden Treppenaufgänge. Auf der Westseite, wo hinter der Wand zuvor ein Posttunnel lag, erhielt jedes Perron einen Lift. Das Perron 2 wurde mit einer zusätzlichen Treppe erschlossen. Im Gegensatz zu den Holzkonstruktionen im Aufnahmegebäude setzten die Architekten hier im Untergrund eher erdige Materialien und Farben ein: gestockter Beton, Putz und

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mit hellem Korn versetzter, geschliffener Guss­asphalt. Ein anderes Material kam für den Boden auch kaum infrage, denn die Unterführung liegt im Grundwasser, und das mehr als hundertjährige Bauwerk ist gegen unten nicht abgedichtet. Die Materialpalette sorgt dafür, dass die erst vor einigen Jahrzehnten erstellte Verlängerung der Unterführung zur Fachhochschule nicht mehr als Fremdkörper wirkt, sondern das Bauwerk wie aus einem Guss erscheint. Um für den Neubau der Unterführung Ost freie Hand zu haben, wurden die Planung und Realisierung hier vorgezogen – was auch bedeutete, dass die Architekten ihr gestalterisches Repertoire zu einem Zeitpunkt entwickeln mussten, als die Arbeiten an der Hauptunterführung noch in weiter Ferne lagen. Das galt vor allem für die Stahl- und Glasbauten der Lifte. Gemäss dem Wettbewerbsmotto ‹ Akari › – dem japanischen Wort für Helligkeit und Licht, aber auch für Schwerelosigkeit –, das die Architekten als Basis ihres Entwurfs gewählt hatten, kreierten sie insbesondere die vier neuen Lifte. Im Osten alles neu Der grösste Brocken beim Umbau des Bahnhofs war der komplette Neubau der Unterführung Ost, den die zunehmenden Passagierströme nötig machten. In St. Gallen gibt es, anders als an anderen Orten, eine gut frequentierte Vorder- und eine weniger belebte Rückseite des Bahnhofs. Das bedeutet, dass im hinteren Bereich der Unterführung Läden kaum rentabel zu betreiben wären. Aus Kostengründen entschieden die SBB deshalb, darauf zu verzichten und die Unterführung gegen hinten schmaler werden zu lassen. Das hätte sich mit einem konischen Bauwerk machen lassen, was jedoch einen starken Fokus auf den rückwärtigen Aufgang gelegt hätte. Also wählten die Architekten das Prinzip der einseitigen Staffelung: Bei jedem Perronaufgang springt die eine Wand der Unterführung etwas vor, während die gegenüberliegende Wand die beiden Bahnhofsseiten kontinuierlich verbindet. Mehr als ein Zugang zur Bahn Stärker als in der westlichen Passage zeigen sich hier die warmen, erdigen Farbtöne. Der Sichtbeton ist ebenfalls gestockt, und am Boden liegt – im neuen, wasserdichten Bauwerk – ein Natursteinbelag. Wie in vielen neuen Unterführungen wollten die SBB auch hier ein kommerzielles Angebot realisieren, allerdings nur an den ‹ guten ›, also hoch frequentierten Lagen. Die neun Läden erhielten eine an den Ecken abgerundete Glasfront, die die Wirkung der Staffelung verstärkt und an den Einmündungen der Treppen für Übersicht sorgt. Die Rundungen leiten zudem elegant in die Perronaufgänge und in die Passage über. So entsteht ein angenehmer Raum, der dem Anspruch gerecht wird, nicht nur ein Zugang zur Bahn, sondern auch eine Verbindung in der Stadt zu sein. Um den Raum trotz der ‹ blinden Wand › im hinteren Teil als Einheit erscheinen zu lassen, entwickelten die Architekten für die nicht kommerziell genutzten Wandflächen eine Verkleidung aus transluzidem Glas, das im Abstand von einigen Zentimetern vor der Betonwand sitzt und hinterleuchtet ist. Dadurch erhält die Wand eine räumliche Wirkung und wird zu einer Einheit mit den Ladenfronten. Führt der rückwärtige Aufgang als einfache Treppe überraschend unter das Blätterdach eines Baums, ist der stadtseitige Aufgang stärker inszeniert: Hier springt die Decke der Unterführung etwas in die Höhe und lässt eine Halle entstehen, aus der die Treppen und Rolltreppen unter das neue grosse Glasdach führen. Sobald die Augenhöhe auf Strassenniveau liegt, öffnen sich der Raum und der Blick über den neu gestalteten Platz in die Stadt hinein.

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Verkehr, Architektur und Budget Architekt Christian Senn von der Planergemeinschaft Akari, Stadtingenieur Beat Rietmann, SBB-Gesamtprojektleiter Urs Honold und Projektkoordinator Joachim Rutz im Gespräch. Interview: Roderick Hönig

In das Projekt für den Bahnhof( platz ) St. Gallen waren viele involviert: SBB, Hochbau- und Tiefbauamt, Ver­kehrs ­p la­ ner, Landschaftsarchitekten, Denkmalpflege. Wie verlief die Zusammenarbeit ? Wie wurden Kompromisse zwischen verkehrstechnischen Sachzwängen, architektonischen Absichten und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen gefunden ? Was wurde verhandelt, was nicht ? Ein Gespräch über den besten Weg zum gut gestalteten Stadtraum. Bei der Umgestaltung des Bahnhofplatzes scheint der Bushof die planerische Knacknuss gewesen zu sein. Wieso ? Beat Rietmann:  Eine Herausforderung waren die zunehmenden Busfrequenzen. Während der Vorbereitungen des Wettbewerbs gingen wir von einer Steigerung des öffentlichen Verkehrs von 50 Prozent bis 2030 aus – bereits heute sind 10 bis 15 Prozent erfolgt. Entscheidend sind vermehrte Durchmesserlinien und das Durchflusssystem, das aus Platzgründen Einzug halten wird. Es wird nicht mehr möglich sein, dass jeder Bus seine fix zugeordnete Haltestelle hat. Durchmesserlinien sorgen dafür, dass auf dem beengten Platz nicht mehr gewendet werden muss. Das Durchflusssystem bedeutet: ankommen, anhalten, aussteigen, einsteigen, wegfahren. Es gibt also keine wesentlichen Ausgleichszeiten auf dem Bahnhofplatz mehr. Welche Rolle spielen die Passagiere, die in die Durchmesserlinien reinlaufen, um vom Bahnhof in die Stadt zu kommen ? Beat Rietmann:  Eine grosse. Die Fussgängerströme müssen praktisch, intelligent und behindertengerecht geleitet und gelenkt werden. Gleichzeitig sollen aber nicht alle Gehenden über einen vordefinierten Korridor marschieren müssen. Kurz: Es braucht eine Begegnungszone mit gegenseitiger Rücksichtnahme, in der tatsächlich begegnet werden kann – ohne Zäune oder physische Hindernisse. Und welche Rolle spielte der Bushof für die SBB ? Urs Honold:  Ebenfalls eine grosse. Vor hundert Jahren ging der Reisende in das repräsentative Aufnahmegebäude, kaufte sein Billett und nahm dann den Zug. Heute kommt der Reisende oft mit dem Bus an, muss nicht mehr zwingend in das Aufnahmegebäude, denn er will möglichst schnell in den Zug steigen. Weil der Bushof auf der Ostseite des Bahnhofs liegt, verändert er die Kundenströme. Es gibt heute viel mehr Fussgängerverkehr in der Ost-Unterführung. Das Bahnhofsprojekt musste diesen Veränderungen auf verschiedenen Ebenen Rechnung tragen.

Ein Bahnhof ist nicht nur Verkehrsdrehscheibe, sondern, besonders für die Stadt und für die SBB, auch eine Visitenkarte und ein öffentlicher Raum. Welche Rolle spielt das ‹ architektonische Zeichen › Bahnhof ? Christian Senn: Es ist ganz entscheidend, dass ein Bahnhof stadträumlich gut vernetzt ist. Schon im Wettbewerb haben wir diesbezüglich Verbesserungen vorgeschlagen. Wir haben sowohl den Stadtbereich mit dem Bushof als auch das Bahnhofsareal gesamtheitlich betrachtet und so eine Raumorganisation über das ganze Areal entwickelt – ohne Rücksicht auf Eigentumsverhältnisse. Resultat war das architektonische Zeichen Glaskubus. Er ist die neue Schnittstelle zwischen Stadt und Bahnhof. Beim Bahnhofsumbau mussten mehrere Ämter, drei Bauherrschaften und noch mehr Planer zusammen­ arbeiten. Joachim Rutz, Sie haben als externer Berater zwischen den unterschiedlichen Bauherrschaften vermittelt. Was war Ihre Arbeit ? Joachim Rutz: Es ging uns darum, ein Bewusstsein für Themen zu schaffen, die man nur gemeinsam anpacken kann. Die ursprüngliche Organisationsform war eine Linienorganisation: klare Hierarchien von oben nach unten. In der Gesamtprojektorganisation hat es dann aber geknirscht. Die Stadt wollte gewisse Themen ohne die SBB angehen – und umgekehrt. Hier haben wir angesetzt: Wir haben einerseits Übersetzungshilfe zwischen den völlig unterschiedlichen Organisationen SBB und Stadt geleistet. Andererseits haben wir mit einer Art virtueller Firma ein Zwischengetriebe mit klar festgelegten Kompetenzen geschaffen. Die drei Bauherrschaften Stadt St. Gallen, SBB Immobilien und SBB Infrastruktur waren Gesellschafter dieser virtuellen Firma. Sie war sehr einfach strukturiert: Es gab einen Steuerungsausschuss, der Entscheidungen fällte, und eine Projektkoordination, die die Entscheidungen vorbereitete. So konnten die drei Bauherren bei ihren Kernthemen bleiben und ihre eigenen Interessen auch besser vertreten. Unsere Erfahrung zeigt: Planer können solche Projekte zwar technisch koordinieren, aber in den restlichen Bereichen nicht. Können Sie ein Beispiel für ein solches Knirschen im Getriebe nennen ? Beat Rietmann:  Es ging auch um Geld: Die SBB haben sich für den neuen Kornhausplatz weder interessiert noch finanzielle Überlegungen dazu angestellt. Umgekehrt hatte die Stadt bei der Unterführung Ost ein Interesse und stand →

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→ auch in der Pflicht. Die Frage war immer: Wer zahlt wo wie viel ? So kamen wir auf die Idee, mindestens im Steuerungs- und Koordinationsbereich jemanden zu haben, der uns neutral verbindet, zusammenbringt und uns immer wieder ermahnt, was wir zu tun und zu entscheiden haben. Dieser Jemand waren Sie, Joachim Rutz. Woher wussten Sie, was zu tun ist ? Joachim Rutz: Wir koordinieren solche Projekte in der ganzen Schweiz und auch im angrenzenden Ausland. Unser Spezialgebiet sind grosse Infrastrukturprojekte. Wir kommen zwar von der Projektierung her, wir haben aber bald gelernt, dass das Drumherum häufig der Erfolgsfaktor ist – und nicht die Technik: Kommunikation, Öffentlichkeitsarbeit, Bewilligungsverfahren etc. Was aber nicht heissen soll, dass es in St. Gallen nicht gut lief: Das Bewilligungsverfahren etwa hat nur rund vier Monate gedauert – in Bern sind wir in einem ähnlichen Verfahren im Jahr sechs und immer noch nicht am Ziel. Wieso war die Bewilligungszeit so kurz ? Beat Rietmann:  Wir haben einfach versucht, möglichst pragmatisch und nicht nur nach den üblichen Vorgehen und Vorgaben zu denken: Was braucht es wirklich ? Sobald das klar war, haben wir das dafür Notwendige bereitgestellt. Das war aber nur möglich, weil alle mitgemacht haben. Das heisst, für eine kurze Bewilligungszeit braucht es Menschen, die Verantwortung übernehmen können und die für ihre Entscheidungen eintreten.

« Die Extraschlaufen haben gezeigt, wie stabil unser Gesamtkonzept war. »  Christian Senn

Gehen wir nochmals an den Anfang zurück. Wenn ich das Wettbewerbsprogramm aus dem Jahr 2009 lese, habe ich das Gefühl, es sei ‹ nur › eine Platzgestaltung gesucht gewesen. Heute ist der Bahnhofsumbau weit mehr. Haben Sie als Architekt schon damals gemerkt, dass das Wettbewerbsprogramm zu kurz griff ? Christian Senn: Uns wurde bereits während des Wettbewerbs bewusst, dass es Anpassungen an den SBB-Anlagen braucht. Der Bearbeitungsperimeter des Wettbewerbsprogramms beschränkte sich ja nicht nur auf den Kornhausplatz. Sowohl der Bahnhofplatz als auch das Bahnhofsareal waren Teil des Wettbewerbs. Im Planerteam haben wir schnell gemerkt, dass für eine sinnvolle Raum­ organisation und Vernetzung das Areal als Ganzes angeschaut und gedacht werden muss. Deshalb haben wir die Querverbindung vom Glaskubus in das Aufnahmegebäude vorgeschlagen und dessen Erdgeschoss neu gedacht. Wie wurde aus dem Platz- ein Bahnhofsarealprojekt ? Urs Honold:  Kurz nach dem Wettbewerbsentscheid konnten wir aufzeigen, dass die vorgeschlagene Anpassung der Unterführung nicht einfach so schnell nebenbei gemacht werden kann. Je mehr wir uns mit dem Projekt befassten, desto besser haben wir unseren Handlungsbedarf und auch die Chancen erkannt. Wir konnten den SBB-Verwaltungsrat davon überzeugen, dass wir die beiden Unterführungen, das Aufnahmegebäude und auch das Dienstgebäude anpassen dürfen. Zur Zeit des Wettbewerbs war vonseiten SBB kein weiterer Ausbauschritt geplant gewesen. Solange eine Anlage den Anforderungen entspricht und die Substanz in einem guten Zustand ist, besteht für die SBB kein unmittelbarer Handlungsbedarf.

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Würden Sie das Projekt rückblickend noch einmal so aufgleisen ? Beat Rietmann:  Wenn wir im Voraus gewusst hätten, wie aus den vielen Teilprojekten ein Gesamtprojekt entsteht, hätten wir es wohl anders aufgegleist. Das Wett­be­werbs­ergeb­ nis und die Überlegungen der SBB waren für die Stadt Fluch und Segen zugleich. Segen, weil die SBB sich am Projekt beteiligten. Fluch, weil damit die Organisation komplizierter und die Bausumme grösser wurde. Im Hinblick auf die Kommunikation zur Volksabstimmung war diese Kon­ stel­la­ti­on für mich sehr schwierig. Doch mit der Zeit wurde der Fluch immer kleiner und der Segen immer grösser. Wie macht man aus einer Reihe von Teilprojekten ein Gesamtprojekt ? Beat Rietmann: Ausschlaggebend waren das Miteinander und das Team. Und natürlich die Bereitschaft der SBB, die Aufträge für das Aufnahme- und das Dienstgebäude an die Planergemeinschaft Akari zu vergeben. So ist eine architektonische Einheit entstanden, die kontinuierlich gewachsen ist und mit der Zeit kaum mehr in Einzelprojekte zu trennen war. Ein wichtiger Baustein war dabei die gemeinsame Kommunikation nach aussen. SBB und Stadt sprachen aus einem Mund. Welche Rolle spielt der Architekt beim Zusammen­ schweissen einer solchen Konstellation ? Christian Senn: Der Architekt ist zusammen mit dem Landschaftsarchitekten Hüter des Gesamtprojekts. Wir Architekten hatten keine Einzelinteressen, sondern nur das grosse Ganze im Blick. Entsprechend hatten wir in den operativen Gremien überall Einsitz und konnten alle Themen aus den Teilprojekten in das Gesamtprojekt tragen und dort verarbeiten. Und weil alle Beteiligten dasselbe grosse Ziel vor Augen hatten, waren auch Kompromisse möglich. Ein Vorteil war dabei die Position des neutralen Vermittlers zwischen den Bauherrschaften. Dank Joachim Rutz konnten wir uns mehr auf unsere primär gestalterischen Interessen, auf die Raumidee fokussieren. Treffen bei solchen Diskussionen nicht immer messbare Grössen wie etwa Haltekantenlängen auf weniger messbare Grössen wie etwa Stadtraum ? Beat Rietmann: Doch. Aber wir haben immer alle Entscheidungen im Gesamtkontext des Wettbewerbsergebnisses getroffen. Es gab nie einen Entscheid ohne die Architekten und die Landschaftsarchitekten. Was aber nicht heisst, dass es keine kleineren Scharmützel gab. Haben Sie ein Beispiel für ein solches Scharmützel ? Beat Rietmann:  Der Kornhausplatz. Sein Wasserspiel war für die Landschaftsarchitekten ein zentrales gestalterisches Element. Es wurde zugunsten des Lämmlerbrunnens, der im Wettbewerb zur Disposition gestellt worden war, gekippt. Das war eine rein politische Geschichte. Ein wiederkehrendes Thema war auch die Überdeckung des Wegs vom Glaskubus auf den Kornhausplatz. Man wolle die Leute nicht in den Regen schicken, hiess es. Bald kursierten skurrile Visualisierungen, die Lösungsvorschläge zeigten. Diese Idee hätte aber das Gesamtprojekt in gestalterischer, architektonischer Hinsicht grundsätzlich infrage gestellt. Christian Senn:  Alle diese Extraschlaufen haben gezeigt, wie stabil unser Gesamtkonzept war. Ganz entscheidend war dabei das Verständnis, dass die Unterführung nicht nur eine SBB-Anlage ist, die die Gleise erschliesst, sondern eben auch eine öffentliche Querung in der Stadt. Es gibt in St. Gallen ein sehr klares vor und hinter dem Bahnhof. Wäre der Umbau nicht eine Gelegenheit gewesen, auch das ‹ Hinten › auszubauen ? Beat Rietmann: Der Umbau betrifft ja nicht nur die Stadtseite. Die Bahnhofszufahrt und das Bahnhofsparking auf der Seite der Fachhochschule entstanden bereits vor dem

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Urs Honold  Aufgrund seiner lang­ jährigen Tätigkeit im Bahnbetrieb verfügt er über umfassende Kenntnisse des Systems Eisenbahn. Seit seiner Weiterbildung zum Be­triebs­öko­no­men FH leitet er verschiedene In­fra­struk­tur­pro­jek­te bei den SBB von der Studie bis zur Ausführung. Seine Erfahrungen flossen auch in das Projektmanagement von Bahnhofsumbauten bei laufendem Betrieb ein. Honold unterstützt zudem Projektleitende in Fragen rund um die Baubewilligungen von Bahnprojekten.

Beat Rietmann  Seit 2010 ist er Stadt­inge­ nieur der Stadt St. Gallen. Vorgängig hat der diplomierte Bauingenieur ETH im Bauingenieurbüro Bänziger Partner und in der Bauunternehmung Preiswerk im Brückenbau gearbeitet. Seine langjährige fachtechnische Erfahrung in der Projektierung und Realisierung von grösseren Bauvorhaben hilft ihm heute in der Ausübung seiner Funktion als Leiter des Tiefbauamts, aber auch als Gesamtprojektleiter von komplexen Infrastrukturbauten.

Projekt. Sie waren eine wichtige Voraussetzung für die Eliminierung des motorisierten Individualverkehrs auf der Vorderseite. Es ist aber allen bewusst, dass der Bahnhof Nord um die Fachhochschule herum eine grössere Bedeutung erhalten wird. Testplanungen haben sein Potenzial ausgewiesen. In dreissig oder in fünfzig Jahren werden sich die Frequenzen zwischen den beiden Unterführungen angleichen. Wenn das Leben auf der Nordseite noch zunimmt, wird wohl auch die Unterführung West den neuen Bedürfnissen angepasst. Joachim Rutz: Ich bin zuversichtlich, dass die nächste Planungsgeneration an unserem Projekt weiterarbeiten kann. Das realisierte Projekt ist stark genug, um für sich allein zu funktionieren, und flexibel genug, um in Zukunft in Richtung Norden weiterentwickelt zu werden. Kommt hinzu: Wenn St. Gallen bereits den ganz grossen Wurf auch nach Norden geplant hätte, wäre das Fuder für die Abstimmung vielleicht überladen worden. Es brauchte strategische Entscheidungen und eine Gesamtidee, gleichzeitig stellten sich unzählige technische und gestalterische Fragen. Wie war es möglich, auf beiden Flughöhen zu fliegen ? Beat Rietmann: Vielfach kann man die beiden Flughöhen trennen. Entscheidend ist, an den richtigen Stellen die richtigen Leute einzusetzen und ihnen die Verantwortung zu erteilen, damit sie in diesem Rahmen ihre Fähigkeiten einsetzen können. Sie zu steuern, aber sie am richtigen Ort richtig arbeiten zu lassen. Christian Senn:  Die Kontinuität auf der operativen Ebene war gross. Über zehn Jahre konnte man eine Vertrauensbasis schaffen. Das hat die Zusammenarbeit sehr vereinfacht.

Christian Senn  Der diplomierte Architekt FH arbeitet seit 2007 im Architekturbüro Giuliani Hönger. Bereits 2009 war er Teil des Wettbewerbsteams Akari und betreute das Projekt als Projektleiter Architektur bis zur Eröffnung. Daneben hat er städtebauliche Studien be­arbeitet und war in die Ausführungsplanung des Neubaus der Fachhochschule St. Gallen involviert.

Joachim Rutz  Der Umweltingenieur ETH arbeitet seit 1997 bei TBF Partner, einem Planerund Ingenieurbüro mit Stand­orten in Zürich, Bern, Lugano, Genf und Deutschland. Seit 2013 ist Joachim Rutz geschäftsführender Partner. Er hat als Gesamtprojektleiter Infrastrukturprojekte entwickelt und beglei­tet. Rutz setzt seine Erfahrung vermehrt auch in der Beratung von Bauherren und Unternehmungen ein, wenn es da­rum geht, verschiedene In­te­res­sen effizient und zielgerichtet zusammenzubringen.

Was würden Sie Kollegen in vergleichbaren Projekten mit auf den Weg geben ? Joachim Rutz: Das Prinzip, jeder Bauherrschaft ihre Eigenheiten zu lassen. Wir haben das Modell, das wir in St. Gallen verfeinert haben, mittlerweile zwischen dem Bodensee und dem Genfersee erfolgreich auf eine Vielzahl vergleichbarer Projekte ausgerollt. Beat Rietmann:  Der Schlüssel ist eine den eigenen Verhältnissen angepasste, übergeordnete Organisation. Das bedeutet, sich gut zu überlegen, wo Probleme entstehen könnten, das bereits in der Organisation abzubilden und die entsprechenden befähigten Leute einzusetzen. Urs Honold: Neben dem Miteinander braucht es auch ein gutes architektonisches Projekt und Architekten, die sich mit den unterschiedlichen Anforderungen an einen Bahnhof auseinandersetzen. Die Architektur trägt dazu bei, dass eine Anlage gut angenommen wird. Die Architekten sorgen dafür, dass man sich in einem Gebäude wohlfühlt. Dazu kommt: Ein Bahnhof sollte als zusammenhängende Infrastruktur betrachtet werden. Man muss über die Eigentumsverhältnisse hinausdenken, damit am Ende gute Lösungen entstehen. Der Personenfluss hört ja auch nicht an der Grundstücksgrenze auf. Christian Senn: Voraussetzung ist ein starkes Projekt, das von allen getragen wird. Auf der Ebene der Planer ist es wichtig, dass sich alle als gleichwertige Partner verstehen. In St. Gallen hatten wir Architekten und die Landschaftsarchitekten den gestalterischen Lead, waren aber sonst ebenbürtig mit den anderen Fachplanern. Um gute Lösungen zu entwickeln und zu realisieren, muss man intensiv mit allen Fachdisziplinen zusammenarbeiten.

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Stadtkörper im Wegnetz Das Siegerprojekt Akari von Giuliani Hönger Architekten, Hager Landschaftsarchitektur und den Verkehrsplanern Stadt Raum Verkehr meistert die anspruchsvolle Aufgabe, indem es den ehemals von einem Tonnendach bekrönten Zugangsbereich zu den Gleisen als neuen Stadtkörper formuliert. Dank seiner Höhe weckt der gläserne Bal­dachin Assoziationen an historische Bahnhofshallen und schliesst elegant die Lücke in der Platzwand. Gleichzeitig bietet der Ankunftsbereich Schutz vor Witterung und signalisiert unverkennbar den Haupt­ein­gang – aufgrund seiner transluzenten Materialisierung auch zu nächtlicher Stunde. Indem die Architekten die bauliche Verbindung zu den

Nachbarbauten vermeiden, bleiben diese eigenständige Gebäude. Darüber hinaus stellt das Projekt den ursprünglichen Seitenzugang in das Bahnhofsgebäude wieder her. Nicht zuletzt überzeugten auch die zurückhaltende Gestaltung des Kornhausplatzes und die kompakte Anordnung der Busdächer und Haltekanten, die im stimmigen Kon­trast zur starken Zeichensetzung des Glaskubus stehen.

Stadtraum fassen und vernetzen Der Wettbewerb für die Aufwertung des Bahnhofplatzes zeigte, dass nicht seine Gestaltung, sondern der neue Hauptzugang zu den Zügen die planerische Knacknuss war. Text: Evelyn Steiner Fotos: Stadt St. Gallen

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Kristallisationspunkt, Visitenkarte und Verkehrsdreh­ scheibe: Die Anforderungen an die Neugestaltung des Bahnhofplatzes St. Gallen im 2009 ausgelobten Wett­ bewerb waren hoch. Die 14 Teilnehmer sollten nicht nur Verkehrsströme neu bündeln und den Platz neu fassen, sondern auch auf die verschiedenen architektonischen Sprachen der angrenzenden Gebäude reagieren. Ein Blick auf die fünf rangierten Projekte macht die eigentliche Knacknuss deutlich: die Gestaltung des Hauptzugangs zu den Zügen an sensibler Stelle zwischen neobarockem Auf­ nahmegebäude und spätmodernistischem Rathaus. Die Vorschläge wiesen ein breites bauliches Spektrum auf – vom Kubus bis zum dynamisch geschwungenen Dach­en­ sem­ble. Der Wettbewerb fokussierte primär auf die Neu­ gestaltung des Aussenraums und griff damit zu kurz. Die

Folge: Im Lauf der Umsetzung wurde das Projekt deutlich erweitert und angepasst. Als Folgeaufträge der SBB sa­ nierten Giuliani Hönger Architekten etwa das historische Aufnahmegebäude und bauten die Personenunterführun­ gen Ost und West aus. Angepasst wurde auch der gläserne Kubus: Aufgrund von Sparmassnahmen musste er in der Höhe rund 2,5 Meter gekürzt werden, was seine platzfas­ sende Wirkung schmälert. Zu guter Letzt wurde das Was­ serbecken auf dem Kornhausplatz Opfer der Lokalpolitik: Widerstand aus der Bevölkerung führte dazu, dass heute der ursprüngliche, steil aufragende Lämmlerbrunnen statt einer Wasserfläche den Platz bestimmt. Der Vergleich der rangierten Projekte zeigt, dass weder die reduzierte, ra­ dikale Geste noch die Überinszenierung der Verkehrsdy­ namik probate Lösungen darstellen, um den bereits mehrfach überformten Bahnhofplatz aufzuwerten. Sinniger­ weise entschied sich die Jury für die goldene Mitte: ein austariertes Ensemble, das dem Bahnhof St. Gallen das lang ersehnte, modernisierte Erscheinungsbild verleiht.

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Grosszügige Leere Das zweitrangierte Projekt von Andreas Geser Landschaftsarchitekten bildet die Antithese zu Akari: Die Verfasser zelebrieren die Leere und gestalten den Bereich zwischen Aufnahmegebäude und Rathaus als offenen Platz ohne Überdachung. Der ersatzlose Abbruch des Tonnendachs gibt den beiden rahmenden Gebäuden ihre Identität zurück. Auch die freie Sicht auf die historischen Perrondächer wirkt bestechend. Die Grosszügigkeit der Anlage unterstützt die konzen­ trierte, lineare Anordnung der Haltestellen längs zur Bahnhofsfront. Überzeugend setzt Geser die östliche Personenunterführung unter dem Bahnhofplatz fort, sodass die Fussgänger über einen zweiten

Mehrteilige Dachlandschaft Wiederum ganz anders gestaltet sich der vierte Rang von Boltshauser Architekten und Mettler Landschaftsarchitekten. Grosszügig überdachen sie den Raum zwischen Rathaus und Aufnahmegebäude mit einer Stahl-Glas-Konstruktion. Für die Busunterstände schlagen sie fünf weitere Überdachungen vor. Die Verfasser orientieren sich dabei am Rhombus als Grundidee, den sie aus dem Stadtraster und der Bewegungsrichtung der Züge ableiten. Rhombusförmige Platten überziehen teppich­ähnlich den Platz, rhombusförmig ist auch die Deckenbeleuchtung. Das ausladende Dach mit den schlitzartigen Öffnungen überzeugt, da es einen gut belichteten Warte- und Aufenthaltsbereich

Aufgang ungehindert die Busspur passieren können. So stringent sich die Lösung präsentiert, so weist sie aber auch Schwierigkeiten auf: Es fehlt eine überdachte Ankunftssituation, ferner sind das Wenden sowie unabhängige Ausfahrtmöglichkeiten der Busse erschwert. Zudem verhindern die zu ähnlich gestalteten Betonüberdachungen der Unterführungen sowie der Bus­unter­stände eine schnelle Orientierung.

schafft. Fast nahtlos schliesst es an die beiden Nachbarbauten an, worunter jedoch deren Eigenständigkeit leidet. Auch schmälern der fehlende seitliche Eingang in das Aufnahmegebäude sowie die zu einheitliche Gestaltung der Platzfläche den Entwurf.

Radikale Kreuzfigur Noch radikaler erscheint der drittrangierte Vorschlag von Jean-Pierre Dürig: Eine einzige asymmetrische Kreuzfigur soll die komplexen Anforderungen auf dem Bahnhofplatz lösen. Die zwei schmalen Dächer überspannen den Platz in der Richtung der Hauptverkehrsachsen. In der reduzierten Figur konzentrieren sich sämtliche Auf- und Abgänge sowie die Haltestellen. Obwohl der Eingriff in seiner Reduktion und der selbstbewussten Haltung besticht, hinterlässt er viele Fragezeichen: Das Kreuz unterteilt den Bahnhofplatz in vier zufällig erscheinende Platzräume. Die starke Zeichenhaftigkeit fordert zudem ihren Tribut: Das Projekt ist wenig flexibel und kaum erweiterbar.

Geschwungene Libellenflügel Den fünften Platz belegte die Arge Projektgruppe ‹ Schönes St. Gallen › mit dem umfassendsten Eingriff, der sich ganz der Metapher der Libelle verschreibt: Ein langes, geschwungenes Dach in der Mitte des Platzes begleitet die Bushaltekanten, zwei seitlich angeordnete, flügelähnliche Dächer schützen die Personenaufgänge vor der Witterung. Grosse Oblichter in Form von Zylindern gewährleisten die ausreichende Beleuchtung. Auch hier bestechen die Verlängerung der Personenunterführung Ost bis auf die Südseite des Bahnhofs und der zusätzliche Aufgang zur Mittel­insel zwecks Entflechtung der Verkehrs­t eilnehmer. Plausibel wirkt zudem die direkte Anbindung des

Die vielfältigen betrieblichen Anforderungen vermag der skulpturale Körper nicht zu erfüllen, so fehlt auch hier eine vor Witterung geschützte Kundenhalle.

Aufnahmegebäudes an die Unterführung Ost. Trotz der Übersichtlichkeit der Anlage überzeugen die beliebig und wuchtig wirkenden Dachformen nicht. Darüber hi­ naus bereitet die kurvenartige Anord­nung der Haltekanten betriebliche Schwie­rig­keiten und bietet wenig Flexibilität.

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Wie funktionieren Bahn und Städtebau im engen Hochtal, wo schon die Altstadt die Talbreite füllt ? Der verflixte Topos von St. Gallen beschäftigte nicht nur die Eisenbahner. Text: Peter Röllin

Bis zur Bahneröffnung in St. Gallen 1856 war es ein weiter Weg. Erste Anstrengungen, Zürich – Winterthur mit dem Umschlagplatz Rorschach am Bodensee per Eisenbahn zu verbinden, reichen ins Jahr 1836 zurück. Aus technischen und verkehrspolitischen Gründen – der Thurgau warb für eine praktischere Linienführung durch seinen Kanton – blieben sie zehn Jahre ohne Fortschritt. Die Argumente für die Textilmetropole St. Gallen führten 1846 zur Gründung des St. Gallisch-Appenzellischen Eisenbahn-Vereins durch das Kaufmännische Direktorium St. Gallen. Die Regierung sowie internationale Experten unterstützten das topografisch anspruchsvolle Projekt der Bahnführung in das enge, auf 670 Meter über Meer gelegene Hochtal. Dank einer eisernen Fachwerkbrücke über das tief eingeschnittene Sittertobel konnte die Bahn den starken Niveausprung Bruggen – Lachen überwinden und den heutigen Standort des Bahnhofs erreichen. Doch schon vom Hügel St. Leon­hard musste die Bahn um den nördlichen Scheitel der Altstadt geführt werden. Die dadurch entstandene Diagonale unterbrach abrupt die linearen Vorstellungen der Anfang des 19. Jahrhunderts begonnenen Quartierentwicklung auf den ehemaligen Leinwandbleichen vor den westlichen Stadtausgängen. Citybildung in engstem Stadtraum Es mutet deshalb seltsam an, dass der heutige Bahnhofplatz sich ausgerechnet an der engsten Stelle des Hochtals befindet. Der Talboden ist hier nur wenig mehr als 300 Meter breit. Der lang gezogene Platz seitlich der Bahnanlagen endet an der Bahndiagonalen formal als konkaver, gegen Westen hin eingezogener Sack. Zufahrten definieren dreieckige und trapezförmige Parzellen rund um den Bahnhof. Auf der dem damaligen Bahnhofsgebäude gegenüberliegenden Parzelle baute der Bund 1887 ein imposantes Postgebäude im Gewand der französischen Neurenaissance – landesweit das erste, das der Bund in eigener Regie erbaute. Mit der Eröffnung des vis-à-vis gelegenen Rathausturms 1977 wurde dieser erste St. Galler Postbau, der seit 1927 als Rathaus gedient hatte, abgebrochen. An seiner Stelle empfängt heute der offene, dreieckige Stadtraum – der Kornhausplatz – gegenüber dem Glaskubus Bewohner und Besucherinnen der Stadt. Nach dem Bau des ersten Postgebäudes entstanden bald weitere monumentale Bahnhofs- und Postbauten. Sie markieren die Bedeutung St. Gallens als damaligen Exportmeister der Stickerei, international bekannt als Broderies Suisses, Swiss Embroidery, Ricami Svizzeri. Bis zum Zusammenbruch der Branche am Ende des Ersten

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Die Aufnahme, die der Ballonfahrer Eduard Spelterini um 1900 gemacht hat, zeigt, wie die Gleis-Diagonale den engen Stadtraum von St. Gallen durchquert. Foto: Bildarchiv Verkehrshaus der Schweiz, Luzern

Weltkriegs erlebte das weltläufige St. Gallen rund um den Bahnhof einen immensen ökonomischen Aufschwung: Allein in dem Zeitraum von 1864 bis 1880 steigerte sich der Export von Stickereien in die USA um mehr als das Sechzigfache. 1913 betrug der gesamte Ausfuhrwert von Stickereien 225 Millionen Franken. Der wirtschaftliche Aufschwung zeigte sich auch in Architektur und Bautechnik. Um 1900 entwickelte sich St. Gallen in den Phasen des Jugendstils, des ‹ Art nouveau › und der Reformen aus England und Deutschland zur Hochblüte. Stickerei-Produzenten und Kaufleute ankerten ihre luxuriösen Geschäftshäuser mit Namen wie Oceanic, Pacific, Atlantic, Wa­ shing­ton und Wilson rund um den früheren Hauptsitz der Helvetia-Versicherungen. Führende in- und ausländische Architekturfirmen wie Curjel & Moser und Robert Maillart gründeten in St. Gallen Zweitbüros. Modernste Eisen-Beton-Techniken sorgten hinter Fassaden aus Sandstein für lichtdurchflutete Räume.

Hans Wilhelm Auer, Architekt des Parlamentsgebäudes in Bern. Von den 23 eingegangenen Entwürfen erhielten die Architekten Pfleghard & Haefeli, Kuder & von Senger und Curjel & Moser zweite Ränge ex aequo. Ein erster Rang wurde nicht vergeben. Pfleghard & Haefeli wurden 1908 mit dem Bau des Postgebäudes beauftragt, Kuder & von Senger mit dem des Aufnahmegebäudes, Curjel & Moser gingen leer aus. Der Wettbewerb-Patt-Entscheid war die Basis einer langwierigen und konfliktgeladenen Planungsund Realisierungsgeschichte, die erst 1914 / 15 mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs ein Ende fand. Mit ein Grund war eine mangelnde gestalterische Koordination innerhalb der Bundesstellen, die als Bauherrschaften auftraten. Die Maxime der einheitlichen Platzgestaltung wurde schon 1908 aufgegeben.

Verona in St. Gallen Den laufenden Diskussionen gab SBB-Architekt Heinrich Ditscher eine eigene Richtung, und zwar mit einem Drei zweite Ränge städtebaulichen Vorschlag, der auf einer Ideenanleihe Den Grundstein zum heutigen Bahn­hofs­en­s em­ble beim Wiener Stadtplaner und Städtebautheoretiker Calegte 1907 ein Wettbewerb « zur Erlangung von Entwürfen millo Sitte beruhte: In den von Sitte 1889 publizierten für eine einheitliche architektonische Gestaltung der Fas- Analyseplan der Piazza delle Erbe in Verona trug Ditscher saden » eines neuen Postgebäudes und eines neuen Auf- mehr oder weniger kongruent Baulinien und Volumennahme- und Verwaltungsgebäudes der SBB. Als Ausgangs- setzung seiner Planung für den Bahnhofplatz St. Gallen punkt dienten Pläne des in St. Gallen aufgewachsenen ein. ‹ Zur Bahnhof-Platzfrage in St. Gallen 1909 ›, sein →

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Monumentaler Auftritt in der Stickerei-Metropole um 1920: Links die Hauptpost mit Postturm ( Pfleghard & Haefeli Architekten, Zürich ), rechts das Aufnahmegebäude ( Alexander von Senger, Architekt ). Dazwischen der Bahnhofplatz in annähernden Dimensionen der Piazza delle Erbe in Verona. Foto: Archiv Eidgenössische Denkmalpflege / Schweizerische Nationalbibliothek

Korrektur an der Diagonalen Die Planung für ein neues SBB-Verwaltungsgebäude an der Stelle des ersten, 1856 in Betrieb genommenen Baus startete 1972 nach jahrzehntelanger Abwägung verschiedener Stand­orte am östlichen Bahnhofplatz. Das skulpturale Projekt von Walter Custer machte 1963 den Weg frei für das heutige Rathaus. Denn nach dem Abbruch des mittelalterlichen Rathauses 1877 war die Stadt St. Gallen genau hundert Jahre ohne ein für diesen Zweck errichtetes Gebäude. Custer drehte einen Turm von der Bahndiagonalen ab und richtete ihn axial auf die Post­stras­se und die Altstadt aus. Das Projekt wurde nicht realisiert, und so übernahm die Stadt die Parzelle für ihr neues Rathaus. Die mit der Realisierung beauftragten Architekten Fred Hochstras­ser und Hans Bleiker übernahmen Custers abgedrehte Ausrichtung. Mit dem 1977 in Betrieb genommenen und 2007 von Roger Boltshauser sanierten gläsernen Rathausturm und seinen den Platz durch Auskragungen einbeziehenden Annexen gelang ein passgenauses städte­bau­liches Implantat. Heute bindet das Dreigestirn der Türme Post – Rathaus – Fachhochschule das Bahnhofsareal in die Strukturen des WestOst-Talverlaufs ein. Plan und Perspektive aus dem Jahr 1972: Baudokumentation Stadt St. Gallen

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Bahnhof eines Brandstifters Die architektonische Beurteilung des Aufnahmegebäudes von Sengers aus heutiger Sicht verlangt vorerst Distanz zum Menschen, ja zum Brandstifter Alexander von Senger ( 1880 – 1968 ). Schon Paul Renner hat in seiner wichtigen, 1932 bei Eugen Rentsch erschienenen Schrift ‹ Kultur-Bolschewismus ? › aufgezeigt, wie von Senger die Moderne von Le Corbusier und Adolf Loos als « verbrecherischen Anschlag gegen das keimende Leben eines neuen Baustils » an den Pranger stellte. Mit ‹ Krisis der Architektur › ( 1928 ) und ‹ Die Brandfackel Moskaus › ( 1932 ) versuchte von Senger, die gesamte Moderne und deren Realitäten als kommunistisches und bolschewistisches Komplott zu deklarieren. Von Senger, für den auch die Studierenden der damaligen Architekturabteilung der ETH Zürich als ‹ bolschewisiert › galten, war Dozent an der Technischen Hochschule München und seit den Dreissigerjahren bekennender Nationalsozialist. Heute fragt man sich: Gelingt eine trennende Sicht zwischen Architektur und braunen Pam­phle­ten ihres Schöpfers ? In der Architektur ist das möglicherweise leichter als in den Motiven der Malerei. Denn aktuell stellen sich analoge Fragen in Deutschland um Emil Nolde ( der übrigens als Emil Hansen im heutigen Textilmuseum St. Gallen von 1892 bis 1897 als Kunstgewerbelehrer tätig gewesen war ).

Quellen – Der Bahnhof St. Gallen. Moritz Flury-Rova. GSK Gesellschaft für Schweizerische Kunst­ geschichte, Bern 2014. – Rathaus St. Gallen. Beat Bühler. Hochbau-­ amt St. Gallen 2007. – Stickerei-Zeit. Kultur und Kunst in St. Gallen, 1870 bis 1930. Peter Röllin, Kunstverein St. Gallen ( Hrsg. ). VGS Verlagsgemeinschaft St. Gallen 1989. –C opyrights wider die Moderne: Verona und klösterliche Orgelklänge am St. Galler Bahnhofplatz. Peter Röllin. Unsere Kunstdenkmäler, Mitteilungsblatt für die Mitglieder der GSK Gesellschaft für Schweizerische Kunstgeschichte 37, Bern 1986, S. 95 – 106.

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→ gedrucktes und illustriertes Referat, baut direkt auf den Leitgedanken und der praktischen Ästhetik von Sitte auf. Der Wiener verstand sein Anliegen als einen Kampf um Rehumanisierung nach den « Misserfolgen des modernen Städtebaus ». Ditschers Vorschlag ist heute noch abzulesen: Zumindest in der Verjüngung des Platzes Richtung Westen wie auch durch die markante Stellung des Postturms als signalstarker Vertikale erinnert die heutige Platzfassung von Post und Bahnhof entfernt an die Platz­ anlage in Verona. Das Malerische setzte mit dieser Art Platzfassung einen Kontrapunkt zum « modernen Kastensystem », wie Sitte es bezeichnete, und zum Funktionalismus der Chicago School. Der Stellung des Veroneser Torre del Gardello entsprechend rückte Ditscher den Turm an die südliche Platzseite, also an das Postgebäude. Frappanter Stilwechsel Aber nicht nur über Städtebau wurde in St. Gallen damals heftig diskutiert, auch über die Architektur beziehungsweise den Stil: 1909 schlugen Kuder & von Senger, zumindest verbal, für das Aufnahmegebäude einen Eisenbetonbau ohne Hausteinverkleidung vor, also einen Sichtbetonbau mit gestockten Flächen. Die SBB entschieden sich vehement dagegen. Als Kuder sich aus dem Büro zurückzog und 1912 verstarb, überarbeitete von Senger seinen Entwurf: Er wechselte von Werkbund- beziehungsweise Reform-Architektur zum Neo-Spätbarock. Der frappante Stilwechsel sorgte in der Fachpresse für Kopfschütteln: Zu der « Verona-Referenz » von Ditscher und dem « mykenisch anmutenden Mauerwerk » des Postgebäudes von Pfleghard & Haefeli habe sich von Senger nun für ein « modernisiertes Barockformen-System » entschieden, kommentierte die ‹ S chweizerische Bauzeitung › von Sengers Entwurf 1911. Einmalig war der Diskurs zwischen Reform- und Barock-Architektur in der damaligen Baukunst nicht. Im Gegenteil: Auch der Architekt Karl Moser etwa setzte sich beim Bau der Universität Zürich mit Barock-Architektur in Bern, St. Gallen und im Stift St. Florian in Oberösterreich auseinander. Symbol langsamer gewordener Baumassen Der über Jahre anhaltende Planungsstreit um Post und Bahnhof ist schon lange beigelegt. Die heutige Anlage wird vom SBB-Aufnahmegebäude unter dem kupfernen Mansarddach als kraftvolle Masse dominiert. Mit dem strengeren, durch geschossweise Rücksprünge gestalteten Westtrakt sorgt sie über eine Länge von 132 Metern für eine volumetrisch gute Verteilung. Zwischen zwei stumpfen Türmen weitet sich das Aufnahmegebäude in einer leicht konvexen Rundung als einheitlicher Pfeilerbau aus. Über dem Kranzgesims in der Attikazone schwingen Balustraden und Volutengiebel mit hochgestellten Ochsenaugen mit – Barockzitate der St. Galler Klosterkirche. Unter den Fensterwänden führen sechs Eingänge in die grandiose Haupthalle mit ihren neun Spiegelgewölben. Die wirre Planungsgeschichte des St. Galler Bahnhofplatzes, gefasst von Post, Aufnahmegebäude und dem im Westen brückenartig verbindenden Nebenbahnhof der Appenzeller Bahnen, hat ihn zu einem Symbol langsamer gewordener Bau­massen gemacht. Die Zeit, als die Post St. Gallen gesamtschweizerisch die zweitgrösste Frequenz aufwies, war schon 1920 vorbei. Während weit oben am Postturm die Zeiger der Uhr über riesige, in Sandstein gearbeitete Stickereien streichen, schlägt zwischen diesen mächtigen Architekturfelsen mehr als hundert Jahre später der himmelblau leuchtende digitale Zeitmesser des Künstlers Norbert Möslang siehe ‹ Die binäre Uhr ›, Seite 5 im neuen Glaskubus einen lebhaft neuen Takt.

Die Postkarte zeigt drei Generationen Posthäuser links und zwei Generationen Bahnhöfe rechts ( um 1930 ).

Im südlich an den Bahnhofplatz angrenzenden Handelsquartier kon­zen­ trie­ren sich architektonische Glanzleistungen aus den Stickereijahren von 1877 bis 1910. Das venezianisch anmutende Gebäude der HelvetiaVersicherungen im Hintergrund wurde 1977 abgebrochen. Foto: Archiv Peter Röllin

Bei der Planung des Bahnhofplatzes nahm SBB-Architekt Heinrich Ditscher 1909 die Analyse des Wiener Stadtplaners Camillo Sitte der Veroneser Piazza delle Erbe als Grundlage. In Rot hat er darauf die St. Galler Bauten eingezeichnet. Plan: Bildarchiv Kantonale Denkmalpflege St. Gallen

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Verwandtschaften im ganzen Land Die veränderten Funktionen der Aufnahmegebäude und die Verbindung von Stadt und Bahn beschäftigen Bahnhöfe in der ganzen Schweiz. Eine Auswahl zeigt Parallelen und Unterschiede zu St. Gallen. Text und Fotos: Werner Huber

Basel Der Bahnhof Basel SBB hat sein historisches Aufnahmegebäude behalten ; zurzeit läuft als letzte Sanierungsetappe der Umbau des französischen Bahnhofsteils. Extrem ist in Basel die Ausrichtung auf eine einzige zentrale Achse vom Bahnhofplatz durch die Schalterhalle und die Roll­treppe hoch in die Bahnhofpasserelle. Dieses eindrückliche Bauwerk ist eine ideale Umsteigeplattform. Der Anschluss an die Innenstadt über die Rolltreppe ist aber ein Nadelöhr, das vor allem im Berufsverkehr Engpässe zeigt. Der vor bald zwanzig Jahren umgestaltete Bahnhofplatz gehört einzig den Fussgängern und den Trams. Allerdings kommt es dabei oft zu Konflikten, denn die Tramlinien

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müssen vor dem Bahnhofsgebäude den auf der zentralen Achse pulsierenden Fussgängerstrom kreuzen. Wie in Genf gilt auch hier: Besser als in Bern oder Zürich ist es trotz allem.

Bern Der Bahnhofsneubau von 1957 bis 1974 machte aus der veralteten, verbrauchten Anlage eine moderne Verkehrsmaschine. Die enge Situation am Fuss der Grossen Schanze führte zu einem unübersichtlichen Konglomerat auf vielen Ebenen. Die Orientierung war schwierig, die Architektur problematisch, die Verbindung in die Stadt nur unterirdisch möglich. Schritt für Schritt haben die verschiedenen Beteiligten versucht, die Situation zu verbessern. Vieles ist tatsächlich besser geworden: Die Nordhalle schuf 2003 eine direkte Verbindung von der Stadt auf die Grosse Schanze, der ‹ Baldachin › zonierte 2008 den Bahnhofplatz neu und gab den Fussgängern mehr Platz, und im

Westen funktioniert die ‹ Welle › seit 2004 als attraktive Umsteigeplattform. Bei alldem ging jedoch der Überblick verloren. Heute wirkt der Bahnhof Bern noch fragmentierter als 1974. Schmerzlich vermisst man ein kräftiges architektonisches Zeichen ; das historische Gebäude ist längst weg, der Neubau hatte zwar durchaus Cha­rakter, ist aber wegen der zahlreichen Umbauten keine Einheit. Zurzeit sind zwei Gross ­p rojekte im Bau: eine neue Personenunterführung und ein neuer unterirdischer Bahnhof für den Regionalverkehr der RBS.

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Genf Historisch sind am Genfer Bahnhofsgebäude nur noch die Fassade und die einstige Schalterhalle. Das ganze übrige Innenleben entstand bis 2014 neu. Es ist ein gelungenes Beispiel für einen – im Grunde verpönten – Neubau hinter alten Fassaden. Entstanden ist ein Gebäude, das Bahn­hofs­­atmo­sphäre verströmt, obwohl die typischen Bahnhofsnutzungen auch hier nur noch wenig Platz benötigen. Den Anschluss an die Stadt schafft seit 1981 das unterirdische ‹ Métroshopping ›. Seit 2004 haben die Fussgänger auf dem Bahnhofsvorplatz mehr Platz, und sie können sich mehr oder weniger frei bewegen. Das aktuelle Regime wird zwar

Winterthur Wie Lausanne ist auch der Bahnhof Winterthur ein enger Verwandter von St. Gallen. Es gibt ein historisches, sorgfältig saniertes Aufnahmegebäude, der Platz vor dem Bahnhof ist beschränkt, und die Fussgängerströme laufen asymmetrisch am Gebäude vorbei. Der Winterthurer Bahnhof wurde laufend den wechselnden Bedürfnissen angepasst. Im Gegensatz zu St. Gallen ist die Schalterhalle hier nicht historisch, sondern eine Zutat aus den Neunzigerjahren. Damit hat das Gebäude eine Mitte erhalten, die es heute gar nicht braucht, denn die Schalter sind auf die Seite gerückt. Geradezu verhängnisvoll war der Bau des Parkhauses über den Gleisen Mitte der Achtzigerjahre: Die Perronhalle

heftig kritisiert, führt zu Konflikten und lässt auch gestalterisch zu wünschen übrig. Besser als in Zürich oder Bern ist es allemal. Dennoch gibt es Pläne, die Place de Cornavin erneut umzubauen.

wurde zu einem dunklen, unwirtlichen Loch. Mit Licht und Farbe versuchte man dieses Übel bald zu beheben, was mangels Gesamtkonzept jedoch nicht gelang. Zurzeit wird eine weitere Beleuchtungsgeneration montiert, doch das Gewirr an Gestänge und Leitungen wird nur noch grösser. Hoffnungsvoll stimmt der Bau der neuen Unterführung Nord, der auf Hochtouren läuft. Sie wird den Bahnreisenden mehr Platz und den Velofahrenden eine eigene Route bringen ; die Visualisierungen sind vielversprechend. Umso trister wird die Unterführung Süd erscheinen, die wohl nach wie vor die Hauptlast tragen wird, liegen hier doch die Busstation und der Eingang zur Altstadt.

Lausanne Der Bahnhof Lausanne ist der engste Verwandte von St. Gallen. Beide Aufnahme­gebäude stammen aus einer ähnlichen Zeit, beide Bahnhöfe haben eindrückliche Schalter- und mächtige Perronhallen. In den Neunzigerjahren sanierten die SBB die Gebäude sorgfältig, und die Stadt gestaltete den Platz neu. Zurzeit steht der Lausanner Bahnhof gleich vor mehreren grossen Kraftakten. Die zu schmalen Perrons werden verbreitert, und die Anlage wird Richtung See verschoben. Dabei verändert auch die grosse Perronhalle ihren Standort leicht. Die Überlastung der bestehenden Metrolinie und der Bau einer weiteren U-Bahnlinie lassen unter dem

Zürich Der mit Abstand grösste Bahnhof der Schweiz erlebte in den letzten Jahrzehnten mehrere Wachstumsschübe. Er ist heute eine funktionierende, weitgehend gut gestaltete Verkehrsdrehscheibe. Zurzeit werden das Aufnahmegebäude von 1871 und die einstige Perronhalle aufwendig saniert – eine perfekte Visitenkarte für die SBB und die Stadt Zürich. Umso erstaunlicher ist es, dass in den letzten fünfzig Jahren nicht gelungen ist, was die St. Galler nun erreicht haben: Den Bahnhof – genauer gesagt das prächtige Aufnahmegebäude – mit der Stadt zu verbinden. In keiner anderen Schweizer Stadt herrscht auf dem Bahnhofplatz noch das Verkehrsregime der Sechzigerjahre.

Bahnhofplatz eine zusammenhängende, mit dem Bahnhof verbundene Unterwelt entstehen. Der Platz darüber soll weitgehend frei von Bauten bleiben.

‹ Fussgängerfrei › wollte man den Platz damals haben – und das ist er geworden. Da­ran ändern auch die Fussgängerstreifen nichts, die schon vor gut 25 Jahren aufgemalt wurden.

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Urbane Drehscheibe Die Stadt St. Gallen hat nicht nur einen neuen Platz und Bushof bekommen, sondern auch einen Bahnhof, der als Verkehrsdrehscheibe und als Einkaufszentrum und Stadtraumver­ netzer funktioniert. Aus- und umgebaute Personenunterführungen, neue Zugänge und alte Passagen verbinden bestehende und neue Stadt- und Grünräume – vor und hinter den Gleisen. Ein Themenheft zum Um- und Ausbau des Bahnhofs St. Gallen.

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