Giganten des Abfalls

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Themenheft von Hochparterre, Dezember 2025

Giganten des Abfalls

Die Schweizer Kehrichtverwertungsanlagen werden zu weithin sichtbaren Energiezentralen – und fordern Architektur wie Städtebau heraus.

4 Neue Monumente am Horizont

Die Schweizer KVA-Landschaft ist im Wandel

6 Kehricht-Architekturen

Über die Kehrichtverwertung als gestalterische Aufgabe

8 Das Pionierprojekt

Die Energiezentrale Forsthaus in Bern

10 Reptil im Rippenmantel

Die Renergia in Perlen

12 Monumentale Energiekathedrale

Die KVA der Kenova AG in Zuchwil

14 Zwischen Himmel und Erde

Die geplante KVA Thurgau in Weinfelden

16 Generationenprojekt im Limmattal

Das geplante Limmattaler Energiezentrum in Dietikon

18 « Die Architektur ist der Schlüssel »

Ein Gespräch zwischen Auftraggeber und Architekten

Die Bilder in diesem Heft

Die Fotostrecke in diesem Heft stammt vom Fotografen und Künstler Julian Stettler, der in den Anlagen von Bern, Perlen und Zuchwil die faszinierende Kombination von Abfall, Energie und Architektur bildlich eingefangen hat.

Editorial

Auf dem Weg zur Energiezentrale

Abfall ist nichts, worauf wir stolz sind. Eher gesellt sich zu den Abfallbergen das latent schlechte Gewissen. Beides entsorgen wir in den Kehrichtverwertungsanlagen ( KVA ), wo sich der angesammelte Müll unserer Konsumgesellschaft in Rauch auflöst. Die KVA – ein notwendiges Übel des modernen Wohlstands ? Immerhin: Offene Abfalldeponien, verschmutzte Gewässer und kontaminierte Böden gehören seit Langem der Vergangenheit an. Und lange schon versteht sich die Kehrichtverbrennung auch als Kehrichtverwertung: Das Abfallverbrennen produziert nicht nur CO2, sondern auch Wärme – und damit Energie Eine neue Generation von KVA verschiebt den Fokus nochmals deutlicher von der Abfallentsorgung zur Energieversorgung: Die neuen Anlagen sind komplexe Energiezentralen, die die anfallende Wärme nicht nur in Fernwärmenetze einspeisen, sondern auch in Strom und Gas umwandeln und diese speichern können. Sie werden damit zu zentralen Energieversorgern ganzer Regionen. Die gesellschaftliche Relevanz, aber auch die schieren Dimensionen dieser neuen Energiezentralen verlangen nach städtebaulichen und architektonischen Antworten. Dieses Heft porträtiert und diskutiert realisierte und geplante Beispiele – vom Pionierprojekt Energiezentrale Forsthaus in Bern bis zum geplanten Generationenprojekt Limmattaler Energiezentrum LEZ in Dietikon. Es zeigt auf, wie die grösste Infrastrukturaufgabe des 21. Jahrhunderts G estalt annimmt. Marcel Bächtiger

Dieses Themenheft ist eine journalistische Publikation, entstanden in Zusammenarbeit mit Partnern. Die Hochparterre-Redaktion prüft die Relevanz des Themas, ist zuständig für Recherche, Konzeption, Text und Bild, Gestaltung, Lektorat und Übersetzung. Die Partnerinnen finanzieren die Publikation, genehmigen das Konzept und geben ihr Einverständnis zur Veröffentlichung.

Impressum

Verlag Hochparterre AG Adressen Ausstellungsstrasse 25, CH-8005 Zürich, Telefon +41 44 444 28 88, www.hochparterre.ch, verlag @ hochparterre.ch, redaktion @ hochparterre.ch Geschäftsleitung Deborah Fehlmann, Roderick Hönig Redaktionsleitung Axel Simon Leitung Themenhefte Roderick Hönig Konzept und Redaktion Marcel Bächtiger Fotografie Julian Stettler, www.julianstettler.ch Art Direction Antje Reineck Layout Jan Reimann Produktion Nathalie Bursać Korrektorat Rieke Krüger Lithografie Team media, Gurtnellen Druck Stämpfli AG, Bern Herausgeber Hochparterre in Zusammenarbeit mit Verband der Betreiber Schweizerischer Abfallverwertungsanlagen ( VBSA ) hochparterre.ch / kva Themenheft bestellen ( Fr. 15.—, € 12.— ) und als E-Paper lesen

Inhalt

Neue Monumente am Horizont

Die Schweizer Kehrichtverwertungsanlagen wandeln sich zu komplexen Energiezentralen, die Stadt und Landschaft prägen. Was man über die grosse Infrastrukturaufgabe des 21. Jahrhunderts wissen muss.

Text: Marcel Bächtiger

In der Schweiz stehen derzeit 29 Kehrichtverwertungsanlagen ( KVA ). Manche stehen mitten in dicht b esiedelten Stadtgebieten, andere in idyllischen Flusslandschaften oder am Fuss von hoch aufragenden Bergen, wieder andere in Industriegebieten der Agglomerationen. Die KVALandschaft ist also ein Spiegel der Schweizer Landschaft –und befindet sich im Umbruch. Der Erneuerungsbedarf ist gross. Viele Kehrichtverwertungsanlagen wurden in den 1960er- und 1970er-Jahren errichtet. Diese Bauten haben nun ihr Lebensende erreicht. Die Technik genügt den heutigen Ansprüchen nicht mehr, die elektromechanischen Komponenten sind veraltet und toxisch. Zudem stossen viele der älteren Anlagen an Kapazitätsgrenzen. Die schrittweise Erneuerung der Schweizer Kehrichtverwertungsanlagen hat bereits begonnen: Ein weitherum beachtetes Flaggschiff der neuen Generation von Anlagen ist die 2011 in Betrieb genommene Energiezentrale Forsthaus in Bern siehe ‹ Das Pionierprojekt › Seite 8, die die KVA Warmbächli aus den 1950er-Jahren ersetzt hat. Es folgten neue Anlagen in Perlen siehe ‹ Reptil im Rippenmantel ›, Seite 10 und Zuchwil siehe ‹ Monumentale Energiekathedrale ›, Seite 12

Noch immer aber sind gut zwei Drittel der Schweizer Kehrichtverwertungsanlagen älter als 30 Jahre. In den nächsten drei Jahrzehnten müssen diese erneuert werden. Es ist also kein Zufall, dass in regelmässigem Abstand neue Projekte am Horizont auftauchen: 2022 wurde der Studienauftrag für den Ersatzneubau der KVA Thurgau in Weinfelden durchgeführt siehe ‹ Zwischen Himmel und Erde ›, Seite 14, 2024 der Studienauftrag für das Limmattaler Energiezentrum LEZ in Dietikon siehe ‹ Generationenprojekt im Limmattal ›, Seite 16, 2025 der für die Kehrichtverwertung Zürcher Oberland KEZO in Hinwil. Dutzende mehr werden folgen.

Mehr Abfall, mehr Energie

All diesen Projekten gemeinsam sind erst einmal ihre beeindruckenden Dimensionen. Der Ersatzneubau der KVA Thurgau beispielsweise ist 170 Meter lang und über 50 Meter hoch ; die alte KVA könnte im geplanten Neubau problemlos drei- bis viermal Platz finden. Was ist der Grund für solche Massstabssprünge ? Die naheliegende Antwort ist keine falsche: In der Schweiz wird viel Abfall verbrannt. Vier Millionen Tonnen finden pro Jahr den Weg in die Kehrichtverwertungsanlage. Und die Menge steigt –parallel zum Wachstum der Bevölkerung, die gemäss dem mittleren Szenario des Bundesamts für Statistik bis 2055 um 1,4 Millionen Menschen anwachsen wird.

Die stetig steigende Abfallmenge ist aber nur die eine, sozusagen schmutzige Seite der Geschichte. Auf der anderen, freundlicheren Seite findet man eine immer effizientere Nutzung der Abfallverbrennung zur Gewinnung von Energie. Moderne KVA produzieren nicht mehr bloss Wärme, sondern wandeln diese auch in Strom und Gas um, sie verfügen über Speichervorrichtungen und zusätzliche Kraftwerke, um eine lückenlose Energieversorgung ganzer Regionen sicherzustellen.

Alle diese Vorrichtungen verlangen nach zusätzlichen Bauvolumen und tragen somit zur imposanten Grösse der neuen KVA bei. Dass die neuen Anlagen oft gar nicht mehr Kehrichtverwertungsanlagen, sondern Energiezentralen genannt werden wollen, ist Ausdruck dieser Fokusverlagerung von der Entsorgung zur Versorgung.

Ikonen der Nachhaltigkeit ?

Die Energie, die von den neuen KVA zur Verfügung gestellt wird, gilt als nachhaltig und klimaneutral. Und die produzierte Energiemenge ist gross. So kann das geplante Limmattaler Energiezentrum LEZ sich zum Ziel setzen, das gesamte Limmattal zu dekarbonisieren, sprich: alle Haushalte mit CO₂-neutraler Wärme, sauberem Strom und grünem Gas zu versorgen. Nicht zu Unrecht spricht der Städteplaner und emeritierte ETH-Professor Kees Christiaans e in Bezug auf das Generationenbauwerk LEZ also von einer « Ikone der Nachhaltigkeit ».

Allerdings ist die Rede von der « klimaneutralen Energie » nur ins ofern korrekt, als die KVA-Abwärme laut Bundesamt für Umwelt nicht als Primärenergie gilt und deshalb als CO₂-neutral bezeichnet werden darf. Vereinfacht ausgedrückt: Die CO₂-Emissionen werden dort ausgewiesen, wo sie entstehen – nämlich bei der Verbrennung –, aber nicht bei Folgeprodukten wie Abwärme und Elektrizität. Oder noch einfacher: Die Wärme ist sowieso da. Sie zu nutzen, verursacht kein zusätzliches CO₂.

Das Verbrennen unserer Abfälle verursacht jedoch nach wie vor viel CO₂. Rund 5 Prozent der gesamtschweizerischen CO₂-Emissionen gehen auf das Konto der KVA. Gerade weil sie relevante Emittenten sind, sind sie auch prioritäre Kandidatinnen für Carbon Capture and Storage – eine sich schnell entwickelnde Technologie, die die Abscheidung und Speicherung von CO₂ erlaubt. Bund und Branche treiben entsprechende Pilotprojekte voran, erste Testanlagen laufen bereits. Einem flächendeckenden Einsatz stehen allerdings noch Finanzierungs- und Logistik-

hürden entgegen. Sollte die CO₂-Abscheidung und -Speicherung jedoch Realität werden, wäre man dem Ideal der sauberen Energie einen Schritt näher gekommen.

Der Ruf nach Architektur

Relevant sind die neuen KVA aber nicht allein wegen ihrer Grösse oder der beeindruckenden Abfall- und Energiemengen, die sie verarbeiten. Relevant sind sie auch als öffentliche Infrastrukturbauwerke, die einen gesamtgesellschaftlichen Zweck erfüllen. Abfallentsorgung ist in der Schweiz eine öffentlich-rechtliche Aufgabe, entsprechend befinden sich die KVA im Besitz von Gemeinden, Gemeindeverbänden oder Kantonen. Es sind also öffentliche Bauwerke, die von der Gesellschaft für die Gesellschaft errichtet werden – vielleicht sind sie die Monumente des 21. Jahrhunderts

Kombiniert man die gesellschaftliche Bedeutung der neuen KVA mit ihren immensen baulichen Dimensionen, scheint es selbstverständlich: Die Kehrichtverwertungsanlage – oder eben Energiezentrale – ist eine der wichtigsten architektonischen und städtebaulichen Aufgaben der Gegenwart. Für Christoph Rothenhöfer, der mit dem Planungs- und Ingenieurbüro TBF + Partner schon mehrere der neuen KVA-Projekte aufgegleist und begleitet hat, steht fest: Gerade weil viele Energiezentralen zentrumsnah und teilweise in sensiblem landschaftlichem oder urbanem Kontext liegen, können sie nicht einfach als funktionale Bauten entworfen werden. Vielmehr verlangen sie nach herausragender Architektur. ●

Die KVA in der Schweiz Aktuell sind in der Schweiz 29 KVA in Betrieb. Viele der älteren Anlagen wurden im Verlauf der Jahre erweitert und modernisiert, für einige ist bereits ein Ersatzneubau geplant.

1 K VA Basel ( IWB ): Inbetriebnahme 1999

2 K VA Bazenheid SG ( ZAB ): Inbetriebnahme 1976

3 E nergiezentrale Forsthaus, Bern ( EWB ): Inbetriebnahme 2012

4 K VA Brügg BE ( M üve Biel-Seeland): Inbetriebnahme 1967

5 K VA Buchs AG ( GEKAL ): Inbetriebnahme 1973

6 K VA Buchs SG ( VFA ): Inbetriebnahme 1962, Neubau geplant 2030 – 2034

7 U VTD Colombier NE ( VADEC ): Inbetriebnahme 1971

8 L EZ Dietikon ZH ( LIMECO ): Inbetriebnahme 1971, Neubau geplant 2025 – 2034

9 K VA Hagenholz, Zürich ( ERZ ): Inbetriebnahme 1969

10 K VA Gamsen VS ( REVO ): Inbetriebnahme 1972

11 I CTR Giubiasco TI ( ACR ): Inbetriebnahme 2009

12 K VA Hinwil ZH ( K EZO ) : Inbetriebnahme 1963, Neubau geplant 2027 – 2030

13 K VA Horgen ZH ( E ZI ) : Inbetriebnahme 1967

14 U VTD La Chaux-deFonds NE ( VADEC ): Inbetriebnahme 1972, Neubau geplant 2027 – 2 031

15 U VTD Lausanne VD ( TRIDEL ): Inbetriebnahme 2006

16 K VA Les Cheneviers GE ( SIG ): Inbetriebnahme 1996

17 K VA Monthey GE ( SATOM ): Inbetriebnahme 1976

18 K VA Linth, Niederurnen GL: Inbetriebnahme 1971

19 KVO Oftringen ( ERZO ): Inbetriebnahme 1972, Neubau geplant 2027 – 2032

20 K VA Perlen ( Renergia ): Inbetriebnahme 2015

21 KVA Posieux FR ( SAIDEF ): Inbetriebnahme 2001

22 K VA St. Gallen: Inbetriebnahme 1972

23 K VA Thun BE ( AVAG ): Inbetriebnahme 2003

24 K VA Trimmis GR ( GEVAG ): Inbetriebnahme 1975

25 K VA Turgi AG: Inbetriebnahme 1970

26 U VTD Uvrier VS ( ENEVI ): Inbetriebnahme 1971

27 K VA Weinfelden TG: Inbetriebnahme 1996, Neubau geplant 2026 – 2031

28 K VA Winterthur: Inbetriebnahme 1965

29 K VA Emmenspitz SO ( K ENOVA ): Inbetriebnahme 2025

M ehr zu den KVA Nr. 3 , 8, 20, 27 und 29 ab Seite 8

Quelle: VBSA

Die KVA ist eine junge Bautypologie, die nicht immer als architektonische Aufgabe verstanden wurde – ein Streifzug durch die Geschichte ihrer Gestaltung.

Text: Elischa Bischof

Kehricht-Architekturen

Die erste Kehrichtverbrennungsanlage entstand 1876 im englischen Nottingham. In der Schweiz nahm 1904 die erste ihren Betrieb auf. Sie war weltweit die dritte, untergebracht in einem zweckmässigen Backsteinbau mit hohem Kamin, kaum zu unterscheiden von den anderen Fabrikbauten im heranwachsenden Zürcher Industriequartier Aussersihl. Abgesehen von einer Anlage in Davos blieb die Zürcher KVA lange die einzige in der Schweiz, denn die Kehrichtverbrennung ist mehrheitlich eine Entwicklung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Mit dem Aufschwung von Wohlstand und Konsum nach dem Zweiten Weltkrieg veränderten sich Menge und Zusammensetzung des Abfalls grundlegend. Abfallberge an den Siedlungsrändern, die die Luft verpesteten und das Grundwasser verseuchten, führten der Bevölkerung die Verletzlichkeit ihrer Umwelt vor Augen.

Erste Gewässerschutzgesetze wurden erlassen und der Bau von KVA vorangetrieben. Die Planung der Anlagen blieb jedoch weitgehend dem Ingenieurwesen überlassen. Abfall erschien als ein rational zu bewältigendes Problem, das keiner besonderen Formgebung bedurfte. Zudem schienen die verfahrenstechnischen Abläufe der gestalterischen Freiheit enge Grenzen zu setzen, sodass Architekturschaffende kaum Veranlassung sahen, sich mit ihrer Gestaltung auseinanderzusetzen.

Skulptur oder Hülle

Erst in den 1960er-Jahren – vielleicht unter dem Einfluss von Publikationen wie ‹ Achtung: die Schweiz › – wurde die Gestaltung und landschaftliche Einbettung solcher Anlagen allmählich thematisiert. Edmond Guex und Gerd Kirchhoff gehörten zu den ersten Architekten, die an der Planung einer KVA beteiligt waren. Die Anlage Les Cheneviers bei Genf, damals hochmodern und per Schiff mit Abfällen aus der Stadt beliefert, verkörperte die Fortschrittseuphorie jener Zeit: Eine selbstbewusst gestaltete Infrastruktur, die die Kehrichtverbrennung als moderne Errungenschaft in der Landschaft inszenierte.

Doch so klar ihr landschaftsbauliches Auftreten war, so deutlich zeigte sich auch die Unsicherheit in der Suche nach einer architektonischen Identität. Der Bau erinnert gleichzeitig an ein Lagergebäude, eine Schule und einen Sakralbau, ergänzt um einen dazugestellten Kamin. Eine selbstverständliche Form für die neue Bautypologie KVA gab es nicht ; ob Ar chitektur überhaupt notwendig war, blieb eine offene Frage. Denn viele der Anlagen wurden weiterhin als einfache Zweckbauten ohne gestalterische Ambition erstellt.

Pierre Zoelly, der sich während seiner Zeit in den USA für anonyme Industriearchitektur interessierte, suchte in den 1970er-Jahren nach der passenden Gestalt für KVA. Bei jener in Niederurnen zelebrierte er die Maschinen-Ästhetik, indem er die einzelnen Anlagenteile offenlegte und aus Abfallbunkern, Filteranlagen und Kaminen – zusammengebunden durch Welleternit und die immer gleichen quadratischen Öffnungen – ein skulpturales Konglomerat formte und dadurch Technik und Landschaft in direkte Konfrontation miteinander treten liess.

Eine konträre Position nahm zur selben Zeit Jean-Paul Darbellay ein, der die Anlage in Uvrier in eine verspielte, postmoderne Hülle aus Trapezblech kleidete. Die beiden Bauten markieren bis heute die zwei grundsätzlichen Wege zur architektonischen Gestalt: Entweder wird der

KVA Josefstrasse, Zürich, 1904
KVA Les Cheneviers GE, 1966
KVA Niederurnen GL, 1973 Foto: GTA Archiv
KVA Uvrier VS, 1971

technische Prozess selbst zur Bauform, oder er wird von einer Hülle umschlossen, die sämtliche gestalterischen Freiheiten – auch formale und nicht inhaltsbezogene Vorstellungen – ermöglicht.

Ein technisch zu lösendes Problem

Um 1980 waren hierzulande bereits über 40 Anlagen in Betrieb. Von einer sauberen Abfallpolitik konnte jedoch keine Rede sein: Massenkonsum und fehlende Sortierung führten zu wachsenden Mengen, die die kleinen Anlagen qualitativ und quantitativ nicht bewältigen konnten. Rauchgasreinigung und verbindliche Grenzwerte fehlten –Umweltskandale mit Dioxinvergiftungen von Kühen und ihrer Milch erschütterten das Land. Es folgte der Paradigmenwechsel zu einer Abfallwirtschaft, die den Umweltschutz und die Ressource Abfall ins Zentrum rückte. Damit waren insbesondere technische Neuerungen des Ingenieurwesens gefragt: Luftkondensatoren und Dampfturbinen zur Stromproduktion, Elektrofilter zur Entstaubung der Rauchgase und Katalysatoren zur Bindung von ozonbildenden Stickoxiden wurden an den Anlagen installiert. Verworrene Rohrsysteme und Blechkisten liessen die Anlagen zu immer grösseren, chaotischen Industriekonglomeraten anwachsen – ein Bild, das viele Anlagen bis heute prägt. Architektonische Fragestellungen waren kaum von Belang. Ab und zu wurde mit kaschierender Fassadengestaltung versucht, der Anlage ihre Bedrohlichkeit zu nehmen – als Extrembespiel im internationalen Kontext ist Friedensreich Hundertwasser zu nennen, der die KVA Spittelau in Wien in ein Märchenschloss verwandelte.

Businessmodell Abfall

Mit der Liberalisierung des Energiemarkts in den 1990er-Jahren in Europa und dem Vorhaben verschiedener Länder, ein Deponieverbot für unbehandelte Abfälle einzuführen, entwickelte sich Abfall zunehmend zu einem lukrativen Geschäftsfeld. Energie aus Abfall statt fossilen Quellen – war das eine umweltfreundliche Alternative ? Anlagenbetreiber positionierten sich immer stärker als umweltbewusste Akteure.

Die KVA wurde vom notwendigen Zweckbau zum geschätzten Kraftwerk, was der Frage nach dem architektonischen Ausdruck dieser Anlagen neuen Aufschwung verlieh. Als Erste machte die KVA Weinfelden, entworfen von Antoniol + Hub er, auf sich aufmerksam: Mit einem kathedralartigen Bau und einer markanten Doppelturmanlage inmitten der Thurebene setzte sie eine Landmarke und offenbarte das gestalterische Potenzial in der Auseinandersetzung zwischen Verfahrenstechnik und Architektur. Weitere Anlagen folgten, etwa jene in Thun, entworfen von Andrea Roost. Bei ihr wurden die technischen Prozesse hinter einer grossen Glasfront inszeniert. Dann die Energiezentrale Forsthaus in Bern siehe ‹ Das Pionierprojekt ›, Seite 8, wo die Promenade durch die Anlage selbst für die Besucherinnen zum architektonischen Erlebnisraum wird.

Zuletzt zeigt ein Blick nach Kopenhagen, was in Sachen Besuchserlebnis bei einer Kehrichtverwertungsanlage noch möglich ist. Das Architekturbüro BIG rund um den Architekten Bjarke Ingels entwarf 2009 die Anlage Amager Bakke als künstlichen Hügel. Dieser ist mit Skipiste, Wanderwegen und Kletterwand überzogen. Die Sinnhaftigkeit dieser hedonistischen Inszenierung, die die lineare Materialwirtschaft geradezu zelebriert, darf kritisch betrachtet werden. Die Frage bleibt, wie Kehrichtverwertungsanlagen in Zukunft so gestaltet werden können, dass sie ihre leider notwendige Funktion für unsere Konsumgesellschaft erfüllen, dabei aber ihre Existenz nicht euphemistisch verklären. ●

Müllverbrennungsanlage Spittelau, Wien, 1971

Müllverbrennungsanlage ‹ Amager Bakke ›, Kopenhagen, 2017

KVA Weinfelden TG, 1996

Energiezentrale Forsthaus, Bern

Das Pionierprojekt

Spricht man mit Verbandsvertretern, Expertinnen und Architekten über die neue Generation von Kehrichtverwertungsanlagen und darüber, wie sich deren öffentliche Wahrnehmung verändert hat, fällt rasch der Name der Energiezentrale Forsthaus. In der Tat spricht einiges dafür, das ‹ Kraftwerk im Wald › als Pionierprojekt zu b egreifen. Da ist zum einen der Schritt von der Kehrichtverwertungsanlage zur Energiezentrale: Im Lauf der zehnjährigen Planung wurde aus der KVA mit zwei Verbrennungslinien eine Kombination aus KVA, Holzheizkraftwerk und Gas-und-Dampf-Kombikraftwerk. Dass all diese Prozesse unter einem Dach vereint wurden, war damals eine Schweizer Premiere. Die 2012 in Betrieb genommene Anlage verbrennt nicht nur den Abfall der Stadt Bern und der 22 umliegenden Gemeinden, sie produziert auch bis zu einem Drittel des Stroms, den die Stadt benötigt. Dank der kombinierten Anlagen ist auch der Spitzenbedarf im Winter gedeckt. Zum anderen ist da die Pionierarbeit in Sachen Vermittlung: Anders als viele ihrer Vorgängerinnen war die Energiezentrale Forsthaus keine den Augen der

Öffentlichkeit entzogene Verbrennungsanlage im Nirgendwo eines Industriegebiets. Im Gegenteil: Hier war eine Infrastruktur entstanden, die sich als öffentliches Bauwerk verstand und die Einbindung der Gesellschaft auch aktiv unterstützte.

Besuchende der Energiezentrale Forsthaus gelangen über eine elegante Treppe ins Innere. Danach führt ein « Promenadendeck » lateral üb er die gesamte Länge des Baus und gibt gezielte Einblicke in den Abfallverwertungsund Energieerzeugungsprozess. Ein spektakulärer Blick in den Kehrichtbunker am Ende des Gangs rundet den Besuch ab. Kein Zufall also, dass das Forsthaus bald schon als Publikumsmagnet galt.

Ein Tanker im Wald

In Bern entstand 2012 eine KVA, die ein bis dahin ungekanntes Selbstbewusstsein zur Schau trug. Auch heute wirkt der von Graber Pulver entworfene Betonbau imposant und poetisch zugleich. Am Rand des Bremgartenwaldes aus den Bäumen aufragend, blickt das 310 Meter lange und stellenweise bis zu 70 Meter hohe B auwerk über die Bahngleise Richtung Inselspital. Nachts leuchten die roten Lichter des Kamins weit in die Ferne.

Ein im Wald gestrandetes Frachtschiff ? Das Bild des Frachters, der vor den Toren der Stadt vor Anker liegt, hatten die Architekten ins Spiel gebracht – und es erwies sich als grosse Hilfe im Planungs- und Bewilligungsprozess. Es war verständlich und gut kommunizierbar, diente der Identitätsbildung und der Vermittlung zwischen Behörden und Bevölkerung sowie als gestalterische Leitplanke im Austausch zwischen den involvierten Planern. Nicht zuletzt war die Metapher des Frachters auch das unmittelbare Abbild einer konzeptionellen Entscheidung: Graber Pulver hatten die verschiedenen Anlagenteile nicht wie üblich in einem Cluster zusammengefasst, sondern sie linear aneinandergefügt. Auf die Anlieferung des Kehrichts in der Abladehalle und seine Lagerung im Bunker folgt der Verbrennungstrakt, dann die Rauchgasreinigung mit Kamin, schliesslich die Wärme- und Stromproduktion.

Sichtbarkeit der Relevanz

Eine zeitgenössische ‹ Architecture parlante ›, die didaktisch gelesen werden soll ? Die lineare Anordnung der Komponenten in einem extrem langen Bauwerk ist in der Tat spektakulär. Sie hat jedoch auch praktische Gründe, erlaubt sie doch eine gute Zugänglichkeit der Anlagen. Dasselbe gilt für die Materialisierung, die sich ebenfalls am Bild des Frachters orientiert: Der an einen Schiffsrumpf erinnernde Sockel für Bunker und Tragstruktur ist in massivem Ortbeton ausgeführt, während die oberen Fassaden aus Betonfertigteilen gefügt sind. Dies erlaubt einen einfachen Ersatz der dahinterliegenden elektromechanischen Bauteile.

Mit dem Sichtbarmachen der Funktion geht auch ein Sichtbarmachen der gesellschaftlichen Relevanz der Kehrichtverwertung und Energiegewinnung einher. In der Energiezentrale Forsthaus fand eine der bestimmenden Infrastrukturaufgaben des 21. Jahrhunderts erstmals einen öffentlichen architektonischen Ausdruck. ●

Themenheft von Hochparterre, Dezember 2025 Giganten des Abfalls Das Pionierprojekt

Skulpturale Erscheinung zwischen Himmel und Bäumen

Energiezentrale

Forsthaus, 2012 Murtenstrasse 100, 3008 Bern

Bauherrschaft: Energie Wasser Bern ( EWB ), Bern

Architektur: Graber Pulver, Zürich und Bern

Gesamtprojektleitung:

TBF + Partner, Bern

Landschaftsarchitektur: Hager Partner, Zürich

Renergia, Perlen

Reptil im Rippenmantel

Die Geschichte der kleinen Ortschaft Perlen im Luzerner Reusstal ist eng mit der gleichnamigen Papierfabrik verbunden. Ihr roter Kamin markiert bis heute das Industrieareal in der Talsohle. Bei der benachbarten Kehrichtverwertungsanlage der Renergia Zentralschweiz hingegen sucht man einen solchen Kamin vergebens. Stattdessen prägt eine charakteristische Fassade die Anlage: Vertikale Rippen verleihen ihr einen kraftvollen Ausdruck, während die dahinterliegenden horizontalen Fensterbänder Büros vermuten lassen. Durch grünes Schilf und über spiegelnde Wasserflächen hinweg führt ein Steg Besuchende und Angestellte zum zentralen Eingang.

Mittelachse als Rückgrat

Der Verwaltungstrakt auf der Stirnseite hat zwei Teile. Auf Höhe des dritten Obergeschosses schwebt eine Passerelle über der Anlieferungshalle, der Blick fällt links und rechts auf Lastwagen, die Kehricht abladen. 26 Meter über der Halle sitzt der Kranführer und blickt hinunter in die mit buntem Abfall gefüllten Bunker. Nebenan liegt der

Kommandoraum, wo Mitarbeitende die Prozesse rund um die Uhr überwachen. Wenn sie ihren Blick von den grossen Monitoren lösen, können sie ihn durch die raumhohen Fenster über den Reusskanal und die grünen Hügel schweifen lassen. Dass Büros, Sitzungszimmer und der Kommandoraum am gleichen Ort angesiedelt sind, ist kein Zufall: « Eigentlich ist nur der Kranführer auf diese Position angewiesen », s agt der Architekt Luca Deon. « Indem wir die anderen Mitarbeitenden in dessen Nähe gerückt haben, fördern wir den sozialen Austausch und die Kommunikation in der Belegschaft. »

Luca Deon und sein Team haben auch die Verkehrsströme genau analysiert. Ursprünglich sollte der Abfall auf der gegenüberliegenden Seite der Anlage angeliefert werden. Rund 80 Lastwagen hätten täglich das gesamte Areal umrundet. Um ihre Wege zu verkürzen, schlugen die Architekturschaffenden eine lineare Struktur vor, bei der die Anlieferung ganz vorne und die Gewinnung der Fernwärme am anderen Ende des Gebäudes erfolgt. Damit konnten sie alle Beteiligten überzeugen.

Erschliessung, Statik und Gebäudetechnik orientieren sich an der zentralen Achse, die durchs Gebäude führt. Im Kesselhaus, das rund zwei Drittel des Gebäudevolumens einnimmt, bewegen sich die Mitarbeitenden zwischen den beiden Verbrennungslinien mittig durch das Gebäude ; die Orientierung fällt leicht. Auch die vielen externen Besuchenden nehmen den Weg durch die Mitte der Anlage. Links und rechts sind grosse silberne Behälter zu sehen, weiter prägen die grau lackierte Stahlkonstruktion und die aus Gitterrosten gebildeten Stege und Treppen das Bild. Halt findet das Auge an den charakteristischen orangeroten Geländern. Zudem fällt der Blick durch vertikale Fensterbänder immer wieder in die grüne Umgebung, wo ein Maisfeld und eine kleine Kapelle zu sehen sind.

Flexibles Gehäuse

Während das Innere von der Verfahrenstechnik dominiert wird, gab es zur äusseren Erscheinung kaum Vorgaben. Der ungewohnte Massstab führte zu städtebaulichen Reflexionen: « Soll ein s olches Gebäude Teil der Landschaft werden oder als monolithisches Kunstobjekt erscheinen ? » De on liess die Frage offen und bat seine Mitarbeitenden, auf schnellen Zeichnungen ihre Ideen festzuhalten. Einige davon wirkten surreal und leicht, andere beinahe bedrohlich. Unter den Skizzen war eine bewegte Silhouette, die in einen Dialog mit der sanften Hügellandschaft tritt – eine Vision, die überzeugte. Mit den reptilienartigen Rippen kam ein weiteres Bild dazu. «Das Gehäuse einer Maschine muss schützen und tragen», so der Architekt. « Gleichzeitig b oten die tragenden vertikalen Rippen eine hohe Planungsflexibilität. » Mal sind die Rippen dicker, mal dünner, mal stehen sie eng beisammen, dann wieder weit auseinander. Wo notwendig, sind sie betoniert, ansonsten handelt es sich um eine mit Aluminium verkleidete Stahlkonstruktion, die sich einfach entfernen lässt, sodass auch Maschinenteile im Innern gut ersetzt werden können. Auf den Lichteinfall reagieren die beiden Materialien unterschiedlich, doch ihr Schattenwurf ist derselbe. Entstanden ist ein changierendes Erscheinungsbild, das der Maschine Leben einhaucht. Beinahe scheint es, als würde sich aus dem seichten Gewässer ein mehrköpfiges Fabelwesen erheben. ●

Die KVA in Perlen bietet eine gute Orientierung und viel Tageslicht.

Längsschnitt

Obergeschoss

10 m Renergiea Grundriss OG

Erdgeschoss

Grundriss EG

KVA Renergia, 2015 Wagmattplatz 1, Perlen LU Bauherrschaft: Renergia Zentralschweiz, Perlen

Architektur: Deon, Luzern Statik: Dr. Joseph Schwartz Consulting, Zug Planung Verfahrenstechnik: Wandschneider + Gutjahr, Hamburg

Landschaftsarchitektur: Robert Gissinger, Luzern Situation

Themenheft von Hochparterre, Dezember 2025 Giganten des Abfalls Reptil im Rippenmantel
Skulpturale Grossform zwischen Bahngleisen und Reusskanal

vereint: Schmale horizontale Bänder aus rot-gelbem Jurakalkstein gliedern die Betonflächen. Gleichzeitig kaschieren die Steine die horizontalen Arbeitsfugen, die beim Betonieren entstehen. Mittels eingelegter Trapezleisten entstehen zusätzlich vertieft ausgebildete Schalungsfugen, die die Flächen weiter unterteilen.

Harmonisches Gesamtgefüge

Während der Kehrichtbunker vollständig in Beton ausgeführt ist, ist beim Prozessgebäude nur der Sockel massiv ausgebildet. Die darüber errichteten Verbrennungslinien werden von einer leichten Konstruktion aus Stahl und Holz umhüllt, die rundum mit Photovoltaikmodulen verkleidet ist. « Wir haben uns in die Anlagenlogik eingedacht, um üb er Anordnungsvorschläge der Komponenten Einfluss auf die Gebäudeproportionen nehmen zu können und ein harmonisches Gesamtgefüge zu schaffen », erklärt Architekt Christian Penzel. In Beton ausgeführt ist auch das 80 Meter hohe ‹ Bellevue ›: Der markante Turm enthält zwei Kaminrohre und eine Vertikalerschliessung, die zum höchstgelegenen Raum der Anlage führt.

Auf der dem Bellevue gegenüberliegenden Gebäudeseite sind der Hauptzugang und die Kehrichtanlieferung angeordnet. Acht Geschosse darüber liegt die Kommandozentrale. Dunkel gestaltet, soll sie den Fokus der Mitarbeitenden auf die Monitore lenken, über die der Betrieb rund um die Uhr gesteuert wird. Drei Fenster geben den Blick auf den Solothurner Jura frei, während man auf der gegenüberliegenden Raumseite, wo der Kranführer seine Arbeit verrichtet, in den Anlieferungsbereich und die Bunkerkompartimente blickt.

Das Prozessgebäude grenzt seitlich an den Bunker. Unterschiedliche Grautöne prägen sein Inneres: Das Stahltragwerk des Gebäudes und der Anlage sind einheitlich dunkelgrau materialisiert, die Rohre und Behälter der Prozesstechnik glänzen metallisch silbern. Die Sekundärkonstruktion der Fassaden besteht aus Holz, das ebenfalls grau lasiert ist. Tageslicht gelangt von ganz oben und ganz unten in diesen Gebäudeteil: Ein gläsernes Band trennt den Sockel von der darüberliegenden Halle und gewährt Einblick in die Anlage; über die öffenbaren Glaslamellen wird ausserdem die Abwärme der Verbrennungsöfen aus dem Prozessgebäude abgeführt.

Der helle Turm ist aus allen Richtungen gut sichtbar. Blitzt er nur kurz auf, könnte man ihn für den Glockenturm einer modernen Kirche halten. Stattdessen gehört er zur plastisch geformten neuen Energiezentrale, die am Ortsrand von Zuchwil auf einer grünen Wiese steht. Aus der einen Blickrichtung erscheint der Neubau der Kenova als hoher heller Betonbunker, aus der anderen als grosser dunkler Kubus, der von feinen silbernen Linien durchwoben ist. Gemein ist den unterschiedlichen Oberflächen ihre glatte und weitgehend geschlossene Erscheinung.

« Der Massstab b ezieht sich eher auf die nahe Bergkette des Jurasüdfusses als auf die Wohnhäuser der Nachbarsgemeinden », sagt Johanne s Süssbier, Projektleiter bei Penzel Valier. « Die aussergewöhnlichen Dimensionen erforderten eine sorgfältige Gliederung der grossen Fassadenflächen. Gleichzeitig haben wir versucht, einen lokalen Bezug zur Identität der Landschaft herzustellen. » Diese beiden Aspekte sind in einem Gestaltungselement

Identitätsbildende Landmarke

Im flacheren dritten Gebäudeteil sind die Flugaschenwaschanlage und der viergeschossige Verwaltungstrakt angesiedelt. Über dem Haupteingang kragen die Luftkondensatoren aus und bilden ein riesiges Vordach. Mit dem Betreten des Empfangs lässt man die raue MaschinenÄsthetik hinter sich: Glänzender Solothurner Kalkstein und dunkles Eschenholz schaffen eine elegante Atmosphäre. Im zweiten Obergeschoss befindet sich der Pausenraum für die Verwaltungsangestellten. Er liegt zwar weit entfernt von demjenigen für die Mitarbeitenden der Kommandozentrale, doch beide Räume haben eine Gemeinsamkeit: Durch die Fenster mit den tiefen Laibungen sieht man in der Ferne die Solothurner St. Urs en-Kathedrale. Aus der neuen Energiezentrale mit ihren imposanten Dimensionen betrachtet, wirkt sie klein. Doch beide Bauten verbindet der Jurakalk als Baustoff und die Silhouette als identitätsbildende Landmarken. ●

Kenova, Zuchwil
Ein feines Liniennetz gliedert die kräftigen Baukörper.

Querschnitt

KVA Kenova, Fertigstellung 2027

Emmenspitz, Zuchwil SO Bauherrschaft: Kenova, Zuchwil

Architektur und Bauingenieurwesen:

Penzel Valier, Zürich

Gesamtleitung und Anlagenbau:

TBF + Partner, Zürich

Landschaftsarchitektur: Maurus Schifferli, Bern

2. Obergeschoss
Der Neubau setzt mit einer charakterstarken Silhouette ein Zeichen.

KVA Thurgau, Weinfelden Zwischen Himmel und Erde

Etwas ausserhalb von Weinfelden betreibt der Verband KVA Thurgau seit gut einem Vierteljahrhundert eine Kehrichtverwertungsanlage. Der bestehende Bau vom Architekturbüro Antoniol + Huber b esitzt zweifellos ikonische Qualität: Den Doppeltürmen einer Kathedrale gleich, ragen die beiden Kamine weit in den Himmel, dahinter schliessen wie ein Kirchenschiff die Verbrennungsanlage und der Abfallbunker an. Allerdings ist die Anlage technisch in die Jahre gekommen, ausserdem kommt sie zunehmend an ihre Kapazitätsgrenzen.

Ausgelegt auf 120 00 0 Tonnen Abfall pro Jahr, sind heute bereits 150 00 0 Tonnen zu bewältigen. Prognosen zeigen, dass die Abfallmenge weiter ansteigen wird – auf bis zu 224 00 0 Tonnen pro Jahr bis 2050, wenn auch das Entsorgungsgut aus der Region Konstanz mitberücksichtigt wird. Ein Ersatzneubau etwas südlich der bestehenden Anlage soll diese Mengen aufnehmen, den Betrieb effizienter gestalten und gleichzeitig eine Schlüsselrolle als regionaler ‹ Energy Hub › übernehmen.

Riese in der Thurebene

Die neue KVA Thurgau wird also nicht nur moderner, sondern auch um einiges grösser sein als die bestehende Anlage – ein weithin sichtbarer Riese in der offenen Thurebene. 2022 schrieb der Verband einen Studienauftrag aus, um städtebaulich und landschaftlich tragfähige Antworten zu finden. Das erfahrene Büro Graber Pulver Architekten gewann den Wettbewerb mit einem überraschenden Vorschlag, der in mancher Hinsicht eine Antithese

zum bestehenden Bauwerk von Antoniol + Huber darstellt: Statt auf Monumentalität setzt ihr Entwurf auf Verschmelzung oder sogar Auflösung in der Landschaft. Eine horizontale Gliederung teilt die grosse Baumasse in drei Schichten. Den untersten Teil bildet ein massiver Sockel aus Recyclingbeton, der auf den mineralischen, künstlich geformten Boden in der Umgebung Bezug nimmt. Darauf folgt eine durchlässige, mit Rankpflanzen begrünte Schicht, die den Baukörper optisch mit der Vegetation der Umgebung verbindet. Die Bauvolumen im obersten Drittel wiederum sind mit einer leicht gefalteten, gläsernen Hülle aus Photovoltaikmodulen verkleidet. In ihnen spiegelt sich der Himmel, sodass sich die KVA optisch aufzulösen beginnt. Ein gleichermassen vorsichtiger und experimentierfreudiger Umgang mit der landschaftlichen Situation. Typisch für die neue Generation von Kehrichtverwertungsanlagen ist der additive Charakter und modulare Aufbau der Anlage. Durch die gewählte Skelettbauweise bleibt das Bauwerk flexibel und kann ohne grosse Eingriffe erweitert oder modifiziert werden. Die kompakte Platzierung des Baus im südlichen Teil des Areals schafft zudem Raumreserven zwischen neuer und alter KVA. Bereits mitgedacht im Entwurf ist nämlich die « zweite Zukunft » der KVA Thurgau: 2070, wenn dereinst auch die neue Anlage ihren Lebenshorizont erreicht haben wird, soll dort, wo heute die Kehrichtkathedrale von Antoniol + Huber platziert ist, die übernächste KVA bereitstehen. Bauten für zukünftige Komponenten wie die CO₂-Abscheidung finden Platz dazwischen und können sowohl mit der nächsten als auch mit der übernächsten Anlage interagieren.

Gut abgestützter Planungsprozess

Die weit ausgreifenden Planungen sind das Ergebnis eines längeren Prozesses, der 2020 begann. Unter dem Titel « Vision 2050 » diskutierte der Verband frühzeitig die künftige Rolle der KVA, führte Bevölkerungsbefragungen mit mehreren hundert Teilnehmenden durch und prüfte verschiedene Varianten. 2024 stimmten die Verbandsgemeinden schliesslich einem Investitionskredit von 558 Millionen Franken für den Ersatzneubau zu, zusätzlich einem Rahmenkredit von 150 Millionen Franken für den Ausbau zum Energy Hub – ohne finanzielle Mehrbelastung der Gemeinden, da die Investition über Energieerlöse refinanziert werden soll. Der Zeitplan ist ambitioniert: Im Sommer 2025 wurden das Baugesuch eingereicht und die Bauvisiere aufgestellt. Nach Erhalt der Baubewilligung soll im Herbst 2026 der Spatenstich erfolgen. Der Betriebsbeginn ist Ende 2031 vorgesehen, der Rückbau der alten Anlage bis Mitte 2033. ●

Additive Komposition in drei horizontalen Schichten: Visualisierung der neuen KVA Thurgau

Längsschnitt

Obergeschoss

Ersatzneubau KVA

Thurgau, 2026 – 2033

Rütelihofstrasse, 8570 Weinfelden TG

Bauherrschaft:

Verband KVA Thurgau

Architektur: Graber Pulver, Zürich und Bern

Gesamtleitung:

TBF + Partner, Zürich

Landschaftsarchitektur: Ghiggi Paesaggi, Zürich

LEZ, Dietikon

Generationenprojekt im Limmattal

Die 1971 in Betrieb genommene KVA in Dietikon liegt am Rand des Industriegebiets Silbern, angrenzend an das Naturschutzreservat, das sich bis zur Limmat erstreckt. Noch etwas älter ist die Abwasserreinigungsanlage ( ARA ), die seit den 1960er-Jahren in Betrieb ist und mitten in der geschützten Landschaft liegt. Beide Anlagen werden von der interkommunalen Anstalt LIMECO betrieben, die 1959 von acht Limmattaler Gemeinden gegründet wurde. In den letzten Jahrzehnten ist Dietikon stark gewachsen. Deutlichster Ausdruck dafür ist das neue Stadtviertel Limmatfeld, das an das Industriegebiet anschliesst und mit dem Limmat Tower ein weithin sichtbares Zeichen des Aufbruchs sendet. Auch das Gebiet Silbern versteht sich je länger, je mehr als urbanes Wirtschafts- und Einkaufsquartier. KVA und ARA liegen also eingeklemmt zwischen wachsenden Siedlungs- und Industriegebieten und einem sensiblen Landschaftsstreifen. Was tun, wenn die beiden Anlagen nun nicht bloss ersetzt, sondern auch vergrössert und erweitert werden müssen ?

Im Dialog mit der Bevölkerung

Mit dem Erwerb des an die KVA angrenzenden Grundstücks, wo Coop noch für einige Jahre ein Logistikzentrum betreiben wird, verschaffte sich LIMECO 2018 den notwendigen Handlungsspielraum. Auf dem Grundstück kann bis 2034 die neue KVA erstellt werden; die neue ARA wiederum findet Platz am Standort der bisherigen KVA, worauf die alte Anlage im Naturreservat rückgebaut werden kann. Das Projekt bietet die Möglichkeit, die Energiepro -

duktion beider Anlagen weiter auszubauen und die Kreisläufe von Wärme, Strom und Gas aufeinander abzustimmen. Statt von KVA und ARA wird man in Zukunft deshalb vom LEZ, dem Limmattaler Energiezentrum, sprechen. Längerfristig soll mit Hilfe der hier produzierten Energie die Dekarbonisierung des gesamten Limmattals gelingen. Ein kluger Plan – trotzdem war für LIMECO und die begleitenden Planer von TBF + Partner von Anfang an eines klar: Ein Projekt dieser Grössenordnung hat nur dann Erfolg, wenn die Öffentlichkeit miteinbezogen wird und eine frühzeitige Diskussion mit Anwohnenden und Interessengruppen stattfindet. Es braucht nicht nur überzeugende ökonomische und ökologische Argumente, sondern auch ebenso überzeugende städtebauliche und architektonische Ideen. Der Weg dorthin führte über ein Dialogverfahren, das in zwei Weissbüchern mündete. Aus dem partizipativen Verfahren ging einerseits ein Kleeblatt mit den Leitperspektiven Natur, Wasser, Energie und Zusammenleben hervor, das seither als Kompass für Planung und Kommunikation dient. Andererseits konnte auf Basis einer Testplanung und der darauffolgenden Reaktionen der Bevölkerung ein Richtprojekt erarbeitet werden, das als Grundlage für den kantonalen Gestaltungsplan sowie für den 2024 durchgeführten Studienauftrag diente.

Eine « Ikone der Nachhaltigkeit »

Im Gewinnerprojekt von Penzel Valier findet die Integration der Öffentlichkeit ihren räumlichen Ausdruck. Anders als die jetzige KVA ist das LEZ keine umzäunte Anlage am Ende einer Stichstrasse mehr, sondern ein selbstbewusstes Bauwerk, dessen Eingang an der Strasse zwischen Limmatfeld und Gebiet Silbern liegt. Ein neuer Stadtplatz verdeutlicht den öffentlichen Anspruch. Zum anderen führen verschiedene Wege durch die Energiezentrale. Die sich hügelartig aufschichtenden Bauten können über eine begrünte Rampe betreten werden, das Restaurant oder das Parkplateau im zweiten Obergeschoss stehen für alle offen. Ein Auenwall umfasst die Anlage, bietet einen informativen Natur- und Energiepfad und bildet einen gestaffelten Übergang zur geschützten Landschaft.

Die durchlässige Struktur, die leichte Materialisierung und die konsequente Begrünung wirken den grossen Dimensionen entgegen. Dass das LEZ dennoch imposant wirkt, ist kein Versehen. Für den Städteplaner und emeritierten Professor Kees Christiaanse, der Teil der Jury war, verlangt die gesellschaftliche Bedeutung des LEZ nach entsprechender Sichtbarkeit. In seinen Augen entsteht in Dietikon nichts weniger als eine « Ikone der Nachhaltigkeit ». ●

Das geplante LEZ zwischen Siedlungsgebiet, Industrie und Naturschutzreservat.

Längsschnitt

Limmattaler Energiezentrum ( LEZ ), 2026 – 2034 ( KVA ), 2035 – 2050 ( ARA ) Reservatstrasse 5, 8953 Dietikon ZH

Bauherrschaft: LIMECO, Dietikon

Architektur und Bauingenieurwesen: Penzel Valier, Zürich

Landschaftsarchitektur: Krebs und Herde, Winterthur

Verfahrensbegleitung: TBF + Partner, Zürich

Situation mit Dachaufsicht
2. Obergeschoss
5. Obergeschoss

Robin Quartier

Der Umweltwissenschaftler und Jurist ist seit 2013 Geschäftsführer des Verbands der Betreiber Schweizerischer Abfallverwertungsanlagen ( VBSA ).

Christian Penzel

Der Architekt ist Partner des Architektur- und Ingenieurbüros Penzel Valier in Zürich, das er mit Martin Valier 2008 gegründet hat.

Johannes Süssbier

Der Architekt ist Mitglied der erweiterten Geschäftsleitung von Penzel Valier und Projektleiter für die neue KVA in Zuchwil.

Marco Graber

Der Architekt ist Gründungspartner des Architekturbüros Graber Pulver Architekt:innen.

Thomas Pulver

Der Architekt ist Gründungspartner des Architekturbüros Graber Pulver Architekt:innen mit Sitz in Zürich und Bern.

« Die Architektur ist der Schlüssel »

Die neueren Schweizer KVA haben eins gemeinsam: den hohen gestalterischen Anspruch, von der landschaftlichen Einbettung bis zum konstruktiven Detail.

Interview:

Marcel Bächtiger

Wieso ist dem Schweizerischen Abfallverwertungsverband die Architektur so wichtig ?

Robin Quartier: Schweizer KVA sind öffentliche Bauten, ihre Erstellung wird mit öffentlichen Geldern finanziert, sie müssen also von der Stimmbevölkerung bewilligt werden. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist, dass die Bauten sorgfältig gestaltet sind und sich gut in das Landschaftsoder Stadtbild integrieren. Im Unterschied zu anderen Ländern gibt es in der Schweiz auch zahlreiche Einsprachemöglichkeiten. Einfach technische Komponenten in die Landschaft zu stellen, wie das im letzten Jahrhundert häufig gemacht wurde, ist heute nicht mehr möglich. Wir brauchen die Akzeptanz der lokalen Bevölkerung. Und ich glaube, die Architektur ist der Schlüssel dazu. Und was interessiert Architekturschaffende an der Aufgabe Kehrichtverwertungsanlage ?

Thomas Pulver: Wir sehen die KVA in einer langen Reihe von grossen Infrastrukturbauten, die die Schweiz im 20. Jahrhundert geprägt haben: Staumauern, Brücken, Strassen, Tunnels. Schon frühere Generationen waren sich bewusst, dass diese Bauwerke wichtige Eingriffe in die Landschaft sind und deshalb besonders sorgfältig gestaltet sein müssen – ich denke da zum Beispiel an die Brücken von Robert Maillart oder die Tunnelportale von Rino Tami. Könnte man die Kehrichtverwertungsanlagen in dieser Tradition als die grosse Infrastrukturaufgabe des 21. Jahrhunderts bezeichnen ?

Christian Penzel: Die Bauaufgabe KVA besitzt sicher mehr Relevanz als früher. Indem das Thema der Energieproduktion ins Zentrum gerückt ist, haben die KVA eine ganz neue gesellschaftliche Bedeutung erlangt. Früher ging es vor allem um das Entsorgen von Abfall, heute um das Versorgen mit umweltfreundlicher Energie. Dazu kommt der grosse Erneuerungsbedarf, weil viele der KVA aus der letzten Generation in den kommenden Jahren ersetzt werden müssen. Was wir aber nicht vergessen sollten: Auch in der Vergangenheit gab es Kehrichtverwertungsanlagen und Heizkraftwerke, die mit grossem Bewusstsein für Ort und Aufgabe entworfen wurden, wie jene von Pierre Zoelly.

Marco Graber: Das stimmt, die meisten bestehenden Anlagen sind jedoch gesichtslose, heterogene Konglomerate. Sie bringen weder zum Ausdruck, was in ihnen geschieht, noch gelingt ihnen eine kontextuelle Verankerung. Interessant wird die Bauaufgabe, wenn man sich fragt, wie eine KVA – oder eben Energiezentrale – Identität und Identifikation schaffen kann. Das ist eine grosse Herausforderung. Findet der Wandel von KVA zu Energiezentrale auch im Ausland statt ? Oder handelt es sich um eine Schweizer Besonderheit ?

Robin Quartier: Die Schweiz war Pionierin in der Nutzung von Energie aus Abfall, weil hier ganz besondere Rahmenbedingungen gelten: Die Schweiz hat keine Erdöl-, Gasoder Kohlevorkommen. Neben Holz ist Abfall der einzige einheimische Brennstoff, der in relevanten Mengen verfügbar ist. Deshalb wurde schon früh versucht, die Abwärme aus der Abfallverbrennung zu nutzen, zuerst für die Fernwärme und später auch für die Stromproduktion. Abfall ist ein schwieriger Brennstoff, seine energetische Nutzung ist technisch anspruchsvoll und erfordert grosse Investitionen. In der Schweiz hatten wir das Glück, dass sowohl das technische Know-how mit Firmen wie Von Roll ( heute Kanadevia ), ABB oder Sulzer als auch das notwendige Kapital vorhanden waren. Hinzu kam der Leidensdruck: Mülldeponien sind in unserem dicht besiedelten Land heute nicht mehr vorstellbar. Im Flachland ist der Boden viel zu kostbar und fast überall fliesst Grundwasser, das es zu schützen gilt. Wir mussten also die Technologie der thermischen Abfallverwertung vorantreiben, hatten aber auch die besten Voraussetzungen, diese Herausforderung zu meistern. Wie äussert sich der Wandel von der Kehrichtverbrennung zur Energiegewinnung architektonisch?

Johannes Süssbier: Der Schritt von der Verbrennung zur Verwertung bringt eine positive Konnotation mit sich, die auch in der Gestaltung zum Ausdruck kommen soll. Für die Bauherrschaft der Kenova Zuchwil etwa war es wichtig, dass das Gebäude nicht an Abfall und Verbrennung erinnert, sondern einen positiven und freundlichen Ausdruck erhält. Deshalb haben wir einen hellen Beton mit sehr glatter Schalung verwendet, der gewissermassen die Sauberkeit der Energiegewinnung widerspiegelt.

« Mit jeder Verschärfung der Emissionsgrenzwerte sind die KVA der ersten Generation weiter gewachsen. »

Robin Quartier, Geschäftsführer VBSA

Robin Quartier: Das ist eine spannende Entwicklung. Mit jeder Verschärfung der Emissionsgrenzwerte sind die KVA der ersten Generation weiter gewachsen und so zu eigentlichen Frankenstein-Anlagen geworden. Den volumetrisch grössten Teil bildeten die Komponenten der Rauchgasreinigung, die um den rot-weiss gestrichenen Kamin herum organisiert waren. Und dieser Kamin war eher ein Symbol für Gefährlichkeit als für Sauberkeit. Dabei ist auch der CO₂-Ausstoss der modernen Anlagen enorm.

Christian Penzel: Es sind Verbrennungsanlagen und damit grosse CO₂-Emittenten. Ein kleines Beispiel: Wir schlugen während der Projektierung der Kenova Zuchwil einen CO₂reduzierten Zement vor. Darauf hat man uns vorgerechnet, dass die Anlage pro Jahr ein Vielfaches mehr an CO₂ ausstösst, als wir mit unseren Aufwänden beim Bau einsparen würden. Wir setzten uns dennoch für den Einsatz eines Betons mit sehr guter CO₂-Bilanz ein, um einen bestmöglichen Beitrag zu leisten. Was aber in Zukunft sicher kommen wird, ist die Abscheidung und Speicherung von CO₂ aus dem Verbrennungsprozess des Abfalls. Die dafür notwendigen Komponenten sind in zukünftigen Anlagen wie dem Limmattaler Energiezentrum LEZ oder der KVA Thurgau bereits als Erweiterung berücksichtigt. Was bei diesen zukünftigen Anlagen auffällt, ist die modulare, additive Architektur. Ist der Grund dafür, dass eine Energiezentrale sehr viele Komponenten hat?

Thomas Pulver: Ja, eine Energiezentrale umfasst nebst der klassischen Kehrichtverbrennung und -verwertung noch viele andere Module, die teils erst im Verlauf der Planung oder später dazukommen. Bei der KVA Thurgau etwa sind das ein Biomassekraftwerk, grosse Wärmespeicher oder eben die Module für die CO₂-Abscheidung. Das sind Bauvolumen, von denen wir noch nicht genau wissen, wie sie aussehen und organisiert sein werden. Man muss sie also mit einer gewissen Flexibilität kompositorisch mitdenken –und das hat dann Einfluss auf das Dispositiv der Anlage Johannes Süssbier: Ich denke, da hat ein Wandel stattgefunden. Die Kenova Zuchwil oder die Renergia Zentralschweiz in Perlen weisen eine sehr skulpturale Ausgestaltung auf. Mit der neuesten Generation von Energiezentralen geht die Entwicklung klar in Richtung Modularität und additive Bausteine. Umso wichtiger ist ein generalistischer Ansatz, der die verschiedenen verfahrenstechnischen Bausteine zu einer Struktur mit klaren Gestaltungsprinzipien verbindet. Das ist der Beitrag, den wir als Architekten bei diesen Bauaufgaben leisten können.

Wie kommt es eigentlich, dass fast alle neuen KVA in der Schweiz von denselben zwei Architekturbüros entworfen werden ?

Christian Penzel: Ich glaube, das hat zuallererst mit einem Interesse zu tun – mit der Bereitschaft, sich in das Thema hineinzudenken. Infrastrukturbauten wie KVA werden klassischerweise von Ingenieuren geplant, die wenig Wert darauf legen, die Teilbereiche zu koordinieren und das Ganze integral zusammenzudenken. Hier können sich Architektinnen mit ihrem Grundverständnis für Zusammenhänge und Proportionen einbringen. Und ja: Wer sich einmal in die Funktionsweisen und Abhängigkeiten einer Energiezentrale eingearbeitet hat, hat beim nächsten Wettbewerb einen gewissen Wissensvorsprung.

« Mit der neuesten Generation von Energiezentralen geht die Entwicklung klar in Richtung Modularität. »

Johannes Süssbier, Architekt

Marco Graber: Die Erfahrung hilft, ist aber kein Garant dafür, dass man gewinnt – manchmal steht sie einem auch im Weg. Den Wettbewerb für die Energiezentrale Forsthaus Bern beispielsweise haben wir als absolute Greenhorns in dieser Thematik gewonnen. Was es immer wieder von Neuem braucht, ist die Fähigkeit, komplexe Zusammenhänge zu erkennen und darauf architektonische Antworten zu finden. Dabei geht es nicht bloss um Technik, sondern auch um den kulturellen und gesellschaftlichen Kontext, um ein Verständnis des grossen Ganzen. So gesehen, ist die KVA eine Bauaufgabe wie alle andern.

«

Heute ist es selbstverständlich, die KVA zu begrünen und mit Photovoltaik-Elementen zu bestücken. »

Das heisst aber auch, dass der Beitrag der Architektur mehr ist, als bloss eine freundliche Hülle zu entwerfen.

Thomas Pulver: Absolut. Für uns sind diese Energiezentralen auch eine Art Auskristallisation verborgener Netze aus Fernwärme-, Strom- und Gasleitungen. Wir gestalten, was von diesem Netz sichtbar wird. Aber das können wir nur, wenn wir begreifen, was da passiert.

Christian Penzel: Ich glaube, das gilt für beide Büros: Wir stehen in einer Tradition, die den Inhalt als wesentlichen Teil des Ausdrucks versteht. Es gibt ja Beispiele aus dem Ausland, wo eine KVA auch eine Skipiste sein kann, wo die Architektur also einfach eine Eventhülle ist, die nicht zwingend etwas mit dem Inhalt zu tun hat. Uns aber hilft die Auseinandersetzung mit den inhaltlichen Fragen, um zu einem Ausdruck oder zu einer Form zu gelangen, die kohärent aus den Funktionen und Abläufen entwickelt ist.

Robin Quartier: Was mich als Branchenvertreter freut, ist das Selbstbewusstsein, das die Bauten zur Schau tragen. Sie verstecken sich nicht, sondern stehen zu ihrem Zweck. Sie erzählen von einer Gesellschaft, die nicht wegschaut, sondern sich dem Problem der Abfallentsorgung stellt und es gemeinsam so gut und so sauber wie möglich löst. Wenn die neuen Kehrichtverwertungsanlagen eine Geschichte erzählen, ist es immer dieselbe ? Oder wandelt sie sich je nach räumlichem und zeitlichem Kontext ?

Thomas Pulver: Die gesellschaftlichen Ansprüche an die Architektur einer KVA wandeln sich im Lauf der Zeit. Offensichtlich wird das beim Thema Nachhaltigkeit, das vor 20 Jahren noch deutlich weniger präsent war. Heute ist es selbstverständlich, die KVA zu begrünen und mit Photovoltaik-Elementen zu bestücken.

Thomas Pulver, Architekt → →

Monumente unserer Zeit

Die Dimensionen der neuen Generation von Kehrichtverwertungsanlagen und Energiezentralen zeigen sich im Vergleich mit anderen stadt- und landschaftsprägenden öffentlichen Bauten.

Der markante Turm der KVA Kenova in Zuchwil SO überragt die Barockkirche St. Ursen im benachbarten Solothurn.

Die KVA der Renergia Zentralschweiz in Perlen LU im Vergleich mit der berühmten Jesuitenkirche von Luzern.

Die neue KVA Thurgau wird im Vergleich zur bestehenden Anlage aus den 1990erJahren deutlich grösser ausfallen.

Trotz ihrer Grösse kommt die Energiezentrale Forsthaus nicht an den 100 Meter hohen Turm des Berner Münsters heran.

Das LEZ in Dietikon mit KVA und ARA lässt den 80 Meter hohen Limmat Tower – ebenfalls in Dietikon – klein erscheinen.

« Die Programme werden mit jedem Wettbewerb noch grösser und die Dimensionen noch ungeheuerlicher. »

Marco Graber: Was mir auffällt: Die Programme werden mit jedem Wettbewerb noch grösser und die Dimensionen noch ungeheuerlicher. Wir arbeiten ja gerne mit Metaphern, um einem Bauwerk ein Thema und eine Identität zu geben. Damals bei der Energiezentrale Forsthaus war es die Metapher vom Frachtschiff, das vor den Toren der Stadt vor Anker liegt. Wenn wir heute eine KVA entwerfen, lauten die Metaphern aber Isola Bella oder Hügel oder Berg. Die Referenzen kommen also plötzlich aus ganz anderen Massstabszusammenhängen. Manchmal frage ich mich, wo das noch hinführt.

Die ungeheuren Dimensionen haben ja einen banalen

Grund: Die produzierte Abfallmenge wächst immer weiter an.

Robin Quartier: Pro Kopf bleibt die Abfallmenge ungefähr dieselbe, aber wegen des Bevölkerungswachstums steigt sie kontinuierlich an. Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass wir noch viel grössere Anlagen planen. Die Logistik und der Verkehr setzen hier Grenzen.

Trotzdem: Lenken die attraktive Architektur und Bezeichnungen wie « Energiezentrale » nicht vom eigentlichen Daseinsgrund der Anlagen ab – dem Verbrennen von Abfall ?

Robin Quartier: Ich glaube nicht. Zu jedem Besuch in einer KVA gehört der Blick in den Ofen. Es geht einfach darum, die Verbrennung bestmöglich und nachhaltig zu nutzen. Würden die Architekten in der Runde zustimmen ?

Christian Penzel: Nicht ganz vorbehaltlos. Sicher: Die Verbrennung geschieht sehr kontrolliert und sauber und ist insofern wahrscheinlich weniger problematisch als das weltweit frei flottierende Plastik. Die zivilisationskritische Frage, warum wir so viel Abfall produzieren, ist damit nicht vom Tisch. Wir können sie aber auch nicht stellvertretend beantworten, weder als Architekten noch als Anlagenbetreiber.

Thomas Pulver: Es gibt einen Widerspruch: Einers eits versuchen wir als Gesellschaft, den Abfall zu reduzieren, andererseits sind die KVA auf diesen Abfall angewiesen, um Energie zu erzeugen. Sie möchten mit dieser Energie auch Gewinn erwirtschaften.

Robin Quartier: Auf diesen scheinbaren Widerspruch werde ich oft angesprochen. Zuerst muss ich festhalten, dass wir als Gesellschaft nicht sehr erfolgreich sind mit der Abfallvermeidung. Zudem ist eine KVA aus meiner Sicht nicht auf Abfall angewiesen. Unsere Schweizer KVA sind

« Die zivilisationskritische Frage, warum wir so viel Abfall produzieren, ist nicht vom Tisch. »

im Besitz der Städte und Gemeinden, genauso wie Strassen, Kläranlagen oder Schulen. Nehmen wir als Vergleich die Schule: Wir brauchen Schulen, weil wir Kinder haben. Geht die Anzahl der Kinder zurück, werden weniger Klassen unterrichtet. Kinder sind auf Schulen angewiesen, aber Schulen nicht auf Kinder. Und wie Schulen sind die KVA Infrastrukturen mit einem bestimmten Zweck. Fällt weniger Abfall an, fährt die KVA die Leistung herunter und schliesst das Jahr mit einem Verlust ab, für den Städte und Gemeinden aufkommen müssen. Geht die Abfallmenge weiter zurück, kann eine Ofenlinie abgestellt werden. Über die Anpassung der Kapazität nach oben oder unten entscheidet die Allgemeinheit. Und wie bei den Schulen trägt sie die Kosten dafür. Wir als Gesellschaft sind auf eine gute Infrastruktur angewiesen, aber unsere Infrastruktur ist auf gar nichts angewiesen – wir passen sie an unsere Bedürfnisse an.

Der Makel der Energiezentralen bleibt der CO₂-Ausstoss. Hier setzt man grosse Hoffnungen in die bereits erwähnte CO₂-Abscheidung und -Speicherung.

Johannes Süssbier: Carbon Capture and Storage ( CCS ) wird gerade an verschiedensten Orten getestet. Die KVA Linth ist dabei, eine erste CCS-Anlage zu implementieren, und auch die KEZO in Hinwil will im kleinen Rahmen einen Versuch starten. Architektonisch sind diese Bausteine eine Herausforderung, weil diese Anlagen sehr grosse Dimensionen aufweisen und bereits jetzt in der Konzeption der neuen Anlagen städtebaulich und funktional mitgedacht werden müssen.

Robin Quartier: Die Technologie zur Abscheidung des CO₂ entwickelt sich rasant weiter. Das Problem, das wir noch zu lösen haben, ist die Logistik. Eine KVA produziert ungefähr gleich viel CO₂, wie sie Abfall verbrennt. Das CO₂ liesse sich gut in Pipelines transportieren, aber solche Pipelines gibt es nicht. CO₂ kann auch in speziellen Bahnkesselwagen transportiert werden, allerdings muss es dazu zuerst bei minus 30 Grad Celsius verflüssigt werden, es braucht eine CO₂-Verladestation und einen grossen Zwischenspeicher. Für die Befüllung eines Blockzugs mit CO₂ sind 300 Meter lange Gleise erforderlich. Kurz: CO₂-Terminals benötigen viel Platz und erfordern hohe Investitionen. Falls die Architekten irgendwann keine Lust auf den Bau von Kehrichtverwertungsanlagen mehr haben, wartet also eine neue grosse Aufgabe auf sie: der Entwurf von CO₂-Terminals. ●

Giganten des Abfalls

Viele Kehrichtverwertungsanlagen ( KVA ) haben das Ende ihrer Lebensdauer erreicht und werden durch Neubauten ersetzt. Die KVA der Zukunft sind grösser und komplexer als ihre Vorgänger. Sie verarbeiten nicht nur mehr Abfall, sondern produzieren auch mehr Wärme, Strom und Gas. Ihre immensen Dimensionen machen sie zu weithin sichtbaren Riesen in der Stadtlandschaft der Schweiz – eine Herausforderung für Architektur, Landschaftsgestaltung und Städtebau. Dieses Heft erklärt die Hintergründe und stellt fünf beispielhafte Projekte vor. www.vbsa.ch

In Zusammenarbeit mit:

Mit freundlicher Unterstützung von:

Das Regiowerk fürs Limmattal

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