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Das Stiefkind der Gynäkologie

Lichen sclerosus vulvae bleibt oft ohne Diagnose

Etwa ein bis drei Prozent der erwachsenen Frauen leiden an Lichen sclerosus. Die Dunkelziffer ist hoch.

Tritt Juckreiz im Intimbereich auf, so wird in vielen Fällen eine Pilzinfektion vermutet. Jucken ist aber auch eines von mehreren Symptomen des genitalen Lichen sclerosus. Die chronische gutartige entzündliche Hauterkrankung gilt als „Stiefkind der Gynäkologie und wird häufig übersehen“, weiß die Geschäftsführende Oberärztin der Frauenklinik Innsbruck, Dr.in Alexandra Ciresa-König und MINI MED-Vortragende.*

Problem Fehldiagnose

Zu den häufigsten Symptomen von Lichen sclerosus (LS) zählen neben Juckreiz und Brennen auch Schmerzen im Intimbereich (siehe Infobox, S. 18). Deshalb kommt es oft zur Fehldiagnose Pilzinfektion. Die Diagnoseverzögerung wird mit circa fünf Jahren angegeben.2 Leider werden die Beschwerden von Frauen – nämlich das Einreißen der Haut bei Geschlechtsverkehr, ein diffuses Trockenheitsgefühl oder Brennen – oft nicht hinreichend ernst genommen. Die Haut wird trotz sichtbarer minimaler Hinweise als „normal“ bezeichnet. Das führt zu weiteren Diagnoseverzögerungen. Auch bei Kindern ist der Leidensdruck durch den chronischen Juckreiz sehr groß und die erfolglosen Therapieversuche durch Antibiotika, Pilzcremen und Wurmtabletten etc. sind zahlreich. Als wichtiges klinisches Merkmal von Lichen sclerosus gilt die porzellanartige weißliche Verfärbung im Bereich der Vulva – hier vor allem der kleinen und großen Labien – und rund um den Anus. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von einer erkennbaren „figure of eight“ bzw. 8erFigur.1 Der Juckreiz zieht Kratzeffekte und Einblutungen nach sich, später sogar die Sklerosierung der Haut. Für die Diagnose sei eine Biopsie nur im Zweifelsfall, bei ausbleibendem Therapieerfolg oder bei nicht abheilenden Ulzerationen bzw. malignitätsverdächtigen Veränderungen angezeigt, da die Veränderungen meist pathognomonisch und eindeutig in Richtung eines Lichen sclerosus wiesen, berichtet OÄ Ciresa-König.

Expertin zum Thema: OÄ Dr.in Alexandra CiresaKönig

Geschäftsführende Oberärztin, Frauenklinik Innsbruck

Auftreten und Häufigkeit

Grundsätzlich können Frauen, Kinder und selten auch Männer von der Erkrankung betroffen sein. Man nimmt

„Wenn wir Lichen sclerosus früh entdecken, gut und ausreichend lang behandeln, dann kann eine Frühform auch so reversibel sein, dass keine Veränderungen mehr sichtbar sind.“

an, dass etwa ein bis drei Prozent der erwachsenen Frauen unter Lichen sclerosus leiden. Die Dunkelziffer ist jedoch hoch. Eine familiäre Häufung des LS tritt in etwa zehn Prozent der Fälle auf. Es wird vermutet, dass es sich um eine immunologische Störung der genitalen Haut handelt, da ein konkomitantes Auftreten mit anderen Autoimmunkrankheiten – beispielsweise Schilddrüsenerkrankungen, bestimmten Formen des Haarausfalls (Alopecia areata), Diabetes mellitus Typ 1 – beobachtet werden konnte. Die Erkrankung verläuft schubweise und ist nicht übertragbar.

Spätfolgen der Erkrankung

Wenn jahrelang keine Therapie erfolgt, können oft eine Schrumpfung der Labien und ein „Verschwinden“ der Klitoris durch Verklebung des Präputium clitoridis mit den kleinen Schamlippen beobachtet werden. Ein häufiges Symptom der Spätform von Lichen sclerosus stellt die Dyspareunie dar. Diese werde durch den Verlust der Elastizität der Scheidenschleimhaut hervorgerufen, erklärt OÄ Ciresa-König: „Es kommt zu einer Enge oder auch zu einem hohen Damm, der immer wieder einreißt. Schmerzen, die Verengung und somit oft die Unmöglichkeit, Geschlechtsverkehr zu haben, sind die Folgen. Das betrifft vor allem Patientinnen im höheren Lebensalter.“ Chronische Analfissuren könnten ebenfalls aus der Erkrankung resultieren. Am Boden eines Lichen sclerosus könne sich – wenn auch selten – ein Karzinom im höheren Lebensalter entwickeln. Lichen sclerosus gelte als fakultative Präkanzerose. Die Wahrscheinlichkeit einer Entartung sei bei guter Behandlung aber gering, erläutert OÄ Ciresa-König.

Cortison als Therapie der Wahl

Als Therapie der Wahl empfiehlt OÄ Ciresa-König bestimmte Cortison-Salben. Ein Problem sei hierbei, dass viele Menschen Vorbehalte gegen die Behandlung mit Cortison hätten. Studien hätten aber gezeigt, dass diese Hauterkrankung als Autoimmunerkrankung eine Immunmodulation benötige. Dafür stehen im Fall von Lichen sclerosus zwei Präparate zur Verfügung: Erstlinienpräparat ist Clobetasolpropionat, Zweitlinienpräparat das cortisonfreie Tacrolimus. Letzteres sei nur mit Vorbehalt als Erstlinienpräparat zu empfehlen, da es auf offenen Stellen häufig zu massivem Brennen führe. Die Folge: Betroffene setzten das Medikament rasch wieder ab. Damit die Therapie nachhaltig wirkt und auch die Wahrscheinlichkeit weiterer Krankheitsschübe reduziert wird, muss sie ausreichend lang – etwa drei bis sechs Monate – durchgeführt werden. Bei Therapieversagen kommen andere Präparate wie Retinsäure, eine Steroid-Unterspritzung oder andere immunsupprimierende Medikamente wie Ciclosporin oder Methotrexat zum Einsatz. Dilatatoren und operative Eingriffe können bei Scheidenenge eine Verbesserung erzielen. Von Laserbehandlungen oder Eigenbluttherapie rät >

OÄ Ciresa-König aufgrund mangelnder Langzeitdaten entschieden ab. Diese Therapieansätze sollten primär in kontrollierten Studien verfolgt werden.

Therapie bei Kinderwunsch

Grundsätzlich muss der Therapieplan an den jeweiligen Ist-Zustand der Betroffenen angepasst werden. Das klinische Bild, die Beschwerden, das vorliegende Alter und auch der Kinderwunsch sind zu berücksichtigen. „Günstig ist es sicher, den Lichen sclerosus vor Eintritt einer Schwangerschaft adäquat – das heißt mit einer hoch potenten Cortisoncreme – zu behandeln“, führt die Oberärztin aus. Eine Schwangerschaft verlaufe dann vonseiten der Vulva häufig unkompliziert und man benötige lediglich Pflegesalben. Auch eine vaginale Geburt sei meist möglich.

Was können Betroffene tun? Den Behandlungserfolg beeinflussen

Die Oberärztin empfiehlt ihren Patientinnen, Lichen-sclerosus-Selbsthilfegruppen beizutreten. Somit könnten sie sich in das Thema einlesen und ihre behandelnden Ärzte gezielt darauf ansprechen. Um die Haut elastisch zu halten, sollten Betroffene zusätzlich täglich Fettsalben verwenden. Auch die Vermeidung von Seifen oder der sogenannten „feuchten Kammer“, also von plastikhältigen Slipeinlagen, sei wichtig. Gute Erfahrungen gebe es außerdem mit Seidenunterwäsche, weil diese zu weniger Reibung führe. Aufgrund des gering erhöhten Risikos bösartiger Schleimhauterkrankungen der Vulva sollten Patientinnen alle sechs bis zwölf Monate zur gynäkologischen Kontrolle kommen. Eine HPV-Impfung sei für Betroffene, aber auch für andere Patientinnen grundsätzlich ratsam. Beim Thema „gesunder Lebensstil“ verweist OÄ Ciresa-König auf eine italienische Studie3: Diese konnte zeigen, dass bei genetischer Prädisposition sowie bei Vorliegen der Faktoren Bluthochdruck und Übergewicht das Risiko, an LS zu erkranken, erhöht ist. Grundsätzlich sei ein „gesundes Leben“ bei Autoimmunerkrankungen empfehlenswert. Ob man die Anzahl der Schübe dadurch reduzieren könne, sei jedoch noch nicht belegt: Bis dato gibt es keine Studie, welche die Korrelation zwischen der Häufigkeit der Schübe und einem gesunden Lebensstil untersuchte.

Die häufigen Fehldiagnosen lassen sich laut der Medizinerin auf vielfältige Gründe zurückführen: „Ich denke, das Problem ist einerseits die fehlende Fachkenntnis der Ärztinnen und Ärzte: Das Krankheitsbild findet im MedizinStudium kaum Erwähnung und wird daher häufig zu spät diagnostiziert. Andererseits ist das Schamgefühl der Frauen problematisch: Ihnen fällt es schwer, über Probleme des Genitales zu sprechen. Sie verwenden oft verschiedene Cremen im Selbstversuch, bevor sie professionelle Hilfe suchen.“ Die Empfehlung von OÄ Dr. Ciresa-König an Hausärzte lautet: Bei Juckreiz, welcher trotz einer Therapie (z. B. Pilztherapie, Fettsalbe) bestehen bleibt, sollte man unbedingt eine Inspektion des Areals vornehmen beziehungsweise an den Facharzt überweisen. Erste Ansprechpartner sollten in diesem Fall bei Frauen Gynäkologen, bei Männern Dermatologen sein. Auch wenn in der gängigen Literatur meist etwas anderes zu lesen ist, vertritt die Expertin die Meinung, dass die Hauterkrankung gut behandelbar sei: „Meine persönliche Erfahrung: Wenn wir Lichen sclerosus früh entdecken, gut und ausreichend lang behandeln, dann kann eine Frühform auch so reversibel sein, dass keine Veränderungen mehr sichtbar sind.“

Lichen sclerosus vulvae bei einem 10-jährigen Mädchen (links) und bei einer 65-jährigen Patientin mit Spätdiagnose (rechts).

Mag.a Ines Riegler, BA

* MINI MED STUDIUM: Lichen sclerosus vulvae: Diagnose,

Differentialdiagnose, Therapie. minimed.at/audiovideo/videothek

Quellen: 1 Kirtschig G. Lichen Sclerosus-Presentation, Diagnosis and Management. Deutsches Arzteblatt international. 2016. 113(19), 337–343. doi.org/10.3238/arztebl.2016.0337 (abgerufen am 14.5.21). 2 ebd. 3 Virgili A. / Borghi A. / Cazzaniga S. et. al. New insights into potential risk factors and associations in genital lichen sclerosus. J Eur Acad Dermatol Venereol. 2017

Apr;31(4):699-704. doi.org/10.1111/jdv.13867 (abgerufen am 26.5.21).

X Infobox: wichtigste Fakten im Überblick

Symptome:

„ Juckreiz, Brennen, Schmerzen im

Anogenitalbereich „ Spannende Haut „ Kratzeffekte in der Nacht, häufig bei

Kindern zu beobachten

„ Dyspareunie, häufiges Symptom bei der

Spätform von Lichen sclerosus

Klinische Merkmale:

„ Porzellanartige weiße Verfärbungen im

Bereich der Vulva und rund um den Anus:

Man spricht von einer 8er-Figur („figure of eight“) „ Verteilung der klinischen Zeichen im

Bereich „figure of eight“ „ Sklerose, Vernarbung und Verhärtung der

Haut

„ Rhagadenbildung und Fissuren „ Einblutungen

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