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ATTRv: Falsche Faltung systemische Folgen

Amyloidablagerungen bedingen neuropathische und kardiale Symptome

Transthyretin (TTR) zeichnet für den Transport von Thyroxin und Retinol im Serum verantwortlich. Es wird überwiegend von der Leber und zu einem geringen Anteil im Plexus choroideus gebildet. Im Blut zirkuliert TTR als Tetramer, jedoch können verschiedene Mutationen eine Instabilität der Quartärstruktur bedingen, sodass die Tetramere in Monomere dissoziieren. Letztere führen durch eine Fehlfaltung und Aggregation zur Ablagerung der entstandenen Amyloidfibrillen an verschiedenen Stellen im Körper, was systemische Dysfunktionen verursacht (siehe Tabelle). Man unterscheidet zwischen der autosomal dominant vererbten hATTR (h = hereditär) bzw. ihrem Synonym ATTRv (v = variant) und der ATTRwt (wt = wildtype). Bei Letzterer kommt es mit fortschreitendem Alter zu einer strukturellen Dissoziation und falschen Zusammensetzung des TTR-Proteins, wodurch wiederum Amyloidfibrillen entstehen.1 Mittlerweile hat man mehr als 120 verschiedene TTR-Varianten identifiziert – die meisten davon sind pathogen. Die bekannteste Mutation (p.Val30Met) führt zu einem Austausch von Valin durch Methionin an Position 30 des reifen Proteins. Rund 50 % der weltweit vorkommenden TTR-Varianten können diesem Typ zugeordnet werden. Wie auch bei Morbus Alzheimer beginnt die Bildung von Amyloidablagerungen bereits Jahre vor dem Auftreten erster klinischer Symptome.1

Einteilung und Verbreitung

Die zuvor genannte Punktmutation steht mit dem „portugiesischen Phänotyp“ in Verbindung, der in endemischen Gebieten – wie Portugal – mit einem frühen Erkrankungsbeginn zwischen der 30. und 40. Lebensdekade vergesellschaftet ist. Derselbe Phänotyp geht in nicht endemischen Gebieten wie Österreich mit einer Manifestation zwischen der 60. und 80. Lebensdekade einher und weist stärkere motorische Einschränkungen auf als bei Early-Onset-Fällen – oftmals mit kardialer Beteiligung, aber weniger autonomen Symptomen. Durch die verbesserten diagnostischen Möglichkeiten gehen Forscher davon aus, dass die als seltene Erkrankung eingestufte ATTRv in Zukunft häufiger diagnostiziert werden könnte.1 Traditionell wird zwischen TTR-assoziierter familiärer Amyloid-Polyneuropathie (ATTR-FAP) – inzwischen ATTR-PN – und TTR-assoziierter familiärer Amyloid-Kardiomyopathie (ATTR-FAC) – mittlerweile ATTRCM – unterschieden, allerdings weisen die meisten Patienten Symptome beider TTR-Amyloidoseformen auf. Der Großteil der TTR-Varianten verursacht neuropathische bzw. gemischte Phänotypen, weswegen die nachfolgenden Ausführungen auf die ATTR-PN fokussieren.1

Nachweis der Heredität vonnöten

Laut der Leitlinie „Diagnostik bei Polyneuropathien“ verlangen u. a. folgende klinische Symptome eine genetische Testung auf ATTRv:2 • längenabhängige axonale PNP mit rascher Entwicklung motorischer Defizite, • Kardiomyopathie, • autonome Dysfunktion. Die Leitlinie weist explizit darauf hin, dass sich die ATTRv auch erst im höheren Lebensalter (> 60 Jahre) manifestieren kann. Der genetische Nachweis der ATTRv und die dadurch mögliche Abgrenzung von der ATTRwt sind nicht zuletzt aufgrund der Zulassung der zwei neuesten Medikamente für die hereditäre TTR-Amyloidose relevant. Als diagnostisches Instrument eignet sich zudem der Nachweis von Amyloidablagerungen im Gewebe mit anschließender immunhistochemischer oder massenspektrometrischer Identifikation des amyloidbildenden Proteins. Zur Biopsie eignen sich u. a. periphere Nerven, Bauchfett, Rektumschleimhaut und Speicheldrüsen.2

X Tabelle: Mögliche Symptome einer TTRAmyloidose

Organ

Nervensystem

Herz

Nieren

MagenDarmTrakt Mögliche Symptome

Empfindungsstörungen bzw. Missempfindungen an den Extremitäten, zunehmende Gangunsicherheit, veränderte Schweißsekretion, Erektionsstörungen, Muskelschwäche bzw. -schwund, beidseitiges Karpaltunnelsyndrom in der Anamnese

Herzinsuffizienz, Herzrhythmusstörung, Blutdruckstörungen (orthostatische Dysregulation)

Selten Eiweißablagerungen, bei ca. 10 % Dialysepflicht aufgrund der Herzinsuffizienz

Gewichtsverlust, Durchfall und Verstopfung im Wechsel

Augen

Amyloidablagerungen im Glaskörper und daraus resultierende Sehstörungen

Lunge

Amyloidablagerungen

Quelle: Amyloidosis Center Charité Berlin, 2021.

Medikamentöse Optionen

Früher war eine Lebertransplantation die einzige Hoffnung für Menschen mit ATTRv, doch selbst bei dieser hing das Outcome stark vom Genotyp ab. Mittlerweile sind jedoch wirksame Medikamente auf dem Markt.3 Tafamidis: 2012 wurde die Zulassungsstudie für Tafamidis, einen TTR-Stabilisator, durchgeführt. Der Wirkstoff vermochte in jener und in nachfolgenden Studien das Fortschreiten der Polyneuropathie-Symptome geringfügig zu verlangsamen, jedoch eher in einem früheren Krankheitsstadium. Diesbezüglich wurden gute Ergebnisse bei der ATTR-CM dokumentiert, einer Indikation, für die 2020 auch in Europa eine Zulassung erfolgte. Der oral zu verabreichende Wirkstoff erhielt bei der ATTR-PN allerdings nur für das Polyneuropathie-Stadium 1 – selbstständig ohne Hilfen gehfähig – eine Zulassung.3

Hemmung der TTRSynthese

Die beiden neuesten auf dem Markt befindlichen Wirkstoffe wurden hingegen auch für das Stadium 2 – Patient benötigt eine oder zwei Gehhilfen – zugelassen. Wie bereits erwähnt, muss für die Wirkstoffe Inotersen und Patisiran der Nachweis erfolgen, dass tatsächlich eine hereditäre TTR-Amyloidose vorliegt.3 Inotersen: Hierbei handelt es sich um ein Antisense-Oligonukleotid, welches den Abbau von TTR-prä-mRNA induziert. Somit sinken die TTR-Spiegel im Serum um 79 %. Im Vergleich mit der Placebo-Gruppe kam es im Verlauf von 15 Monaten nur zu einer geringen Verschlechterung der Symptomatik – in der Placebo-Gruppe war diese viel stärker ausgeprägt. In der Inotersen-Gruppe berichteten 36,5 % über keine Verschlechterung oder eine Besserung der neuropathischen Symptomatik, hinsichtlich der Lebensqualität waren es sogar 50 %. Die Medikamentengabe erfolgt bei Inotersen einmal wöchentlich subkutan. Zu monitieren sind die Thrombozytenzahl sowie die Nierenfunktion. Außerdem ist eine orale Supplementierung von Vitamin A ratsam, da neben dem mutierten TTR auch das Wildtyp-TTR in der Synthese gehemmt wird.3,4 Patisiran: Jener Wirkstoff stellt eine „small-interfering RNA“ dar, welche die TTR-mRNA abbaut und alle drei Wochen intravenös verabreicht wird. Die Daten aus der Zulassungsstudie zeigen ebenfalls, dass durch die Blockade der TTR-Synthese sogar eine Besserung der Symptomatik und eine Steigerung der Lebensqualität möglich sind. Neben der empfohlenen Supplementierung von Vitamin A muss bei der Gabe von Patisiran eine Prämedikation eine Stunde vor der Infusion verabreicht werden.3

Mag.a Marie-Thérèse Fleischer, BSc

Quellen: 1 Luigetti M et al., Ther Clin Risk Manag 2020; 16: 109-123. 2 Heuß D et al., Diagnostik bei Polyneuropathien, S1-Leitlinie, 2019. In: Deutsche

Gesellschaft für Neurologie (Hrsg.), Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der

Neurologie. 3 Löscher W, J Neurol Neurochir Psychiatr 2019; 20(4): 144-147. 4 Benson MD et al., N Engl J Med 2018; 379: 22-31.

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