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Wenn Menschen übermäßig wachsen
Foto: © shutterstock.com/ Steve Heap
Endokrinologie: mehr Awareness für Akromegalie zugunsten optimierter Heilungschancen
Im Rahmen des alljährlich am 1. November stattfindenden Welt-AkromegalieTages soll die globale Awareness für die seltene Erkrankung gesteigert werden. Das Ziel: eine frühzeitigere Diagnose, ein rascherer Therapiebeginn und letztlich bessere Heilungschancen. Denn in den meisten Fällen wird Akromegalie erst in einem späten Erkrankungsstadium diagnostiziert. Durchschnittlich vergehen etwa sieben bis acht Jahre von dem retrospektiv eruierten ersten Auftreten der Symptome bis zur Diagnose. Die somatischen Veränderungen entwickeln >
sich dabei oftmals zu langsam, um von den Betroffenen und ihrer nächsten Umgebung frühzeitig bemerkt zu werden. Akromegalie ist mit einer Vielzahl von Komorbiditäten, mit gesteigerter Morbidität sowie Mortalität assoziiert.
Oft ist die Lebensqualität erheblich beeinträchtigt
Akromegalie resultiert aus einer unkontrollierten gesteigerten Produktion von Somatotropin (Wachstumshormon; im Englischen Growth Hormone – GH), welche sich in den allermeisten Fällen auf ein GH-produzierendes Hypophysenadenom zurückführen lässt. In äußersten Ausnahmefällen kann auch ein ektoper GH-Releasing-Hormon produzierender Tumor für die überschießende GH-Sekretion verantwortlich sein. Zu den Symptomen, welche die Lebensqualität der Betroffenen meist erheblich beeinträchtigen, zählt zunächst das namensgebende akrale Wachstum. Dieses prägt das optische Erscheinungsbild der Akromegalie basierend auf den Veränderungen der Knochen und des Bindegewebes. Betroffene Patientinnen und Patienten stellen sich typischerweise mit vergrößerten Händen, Füßen, vergrößertem Kinn, Unterkiefer und vergrößerter Nase vor. Hinzu kommen Vergröberungen der Gesichtszüge, eine Vergrößerung der Zunge (Stichwort obstruktive Schlafapnoe) sowie eine Vergrößerung des Kehlkopfs, die meist mit einer tieferen Stimme einhergeht. Außerdem haben Patienten oftmals mit Fatigue, verringerter physischer Belastbarkeit, Konzentrationsstörungen, Hyperhidrose und Cephalgie zu kämpfen. Aufgrund des Wachstums innerer Organe kann es zu Komorbiditäten kommen, beispielsweise zu kardiovaskulären Erkrankungen (Herzinsuffizienz), Hypertonie, Diabetes mellitus, Arthropathie, Karpaltunnelsyndrom, Parästhesien, Struma, Dysmenorrhö, Libido- respektive Potenzstörungen sowie Gesichtsfeldeinschränkungen bis hin zu Sehstörungen.
X Infobox: Akromegalie – leicht erklärt
Diagnose: Die Messung des IGFIWertes genügt meist nicht
Wachstumshormon aktiviert und kontrolliert auch das vorwiegend in der Leber produzierte Hormon Insulinlike-Growth-Factor-I (IGF-I). Stellt der Körper zu viel GH her, so ist der IGF-I-Wert dauerhaft erhöht – wobei die Normalwerte stets von Alter und Geschlecht abhängig sind. Da die alleinige Messung dieses Wertes allerdings im Hinblick auf die Diagnosefindung meist nicht ausreicht, ist ein zusätzlicher Glukosesuppressionstest erforderlich. Während die orale Gabe von Glukose bei gesunden Menschen zu einer Hemmung der GH-Ausschüttung führt, unterbleibt die Unterdrückung von Wachstumshormon bei AkromegaliePatienten und bestätigt neben den genannten Messungen die Diagnose. An den laborchemischen Nachweis einer Akromegalie ist eine Magnetresonanztomografie (MRT) anzuschließen. Auf diesem Weg werden die Größe des Hypophysenadenoms sowie dessen Beziehung zu den angrenzenden Strukturen eruiert – im Speziellen zum Chiasma opticum. Handelt es sich um ein Makroadenom (> 1 cm; < 1 cm wäre ein Mikroadenom) bzw. um ein an das Chiasma opticum heranreichendes Adenom, empfiehlt sich auch eine neuroophthalmologische Untersuchung.
Ein kostenloser OnlineKurs von selpers.com informiert Betroffene
Univ.-Prof. Dr. Anton Luger, Facharzt für Innere Medizin und Endokrinologie und Vorstandsmitglied der Österreichischen Gesellschaft für Endokrinologie und Stoffwechsel (ÖGES), ist Experte auf dem Gebiet der Hormon- und Stoffwechselerkrankungen. Im Rahmen eines kostenlosen Online-Kurses erläutert er das Thema Akromegalie für Betroffene und ihre Angehörigen. Der in Wien niedergelassene Internist und Endokrinologe sowie ehemalige Leiter der Abteilung für Endokrinologie und Stoffwechsel am Universitätsklinikum AKH Wien geht dabei auf Ursachen, Symptomatik, Diagnose sowie Therapieoptionen und Prognose ein. Die Kursdauer beträgt etwa 70 Minuten, die Teilnahme ist ohne Anmeldung möglich: selpers.com/kurs/akromegalie-verstehen.
Der Therapieerfolg hängt vom Diagnosezeitpunkt ab
Sobald die Diagnose Akromegalie gestellt ist, gibt es mehrere Behandlungsmöglichkeiten, die zur Heilung der Erkrankung, zur Linderung der Beschwerden oder zur Verlangsamung der Progredienz beitragen können. Sofern möglich gilt die transsphenoidale Entfernung des Adenoms, deren Erfolg von der Größe des Tumors – und damit auch von einer möglichst frühzeitigen Diagnose – abhängt, als Therapie der Wahl. Im Falle eines Mikroadenoms liegen die Heilungschancen bei über 80 Prozent. Ist eine Operation aus bestimmten Gründen keine Option bzw. eine vollständige Resektion des Tumors dadurch nicht möglich, so stehen medikamentöse Therapiealternativen wie Somatostatinanaloga (SSA) zur Verfügung. Wirken SSA nur unzureichend oder kommt es zu Nebenwirkungen in Form von Glukoseintoleranz und Diabetes, so kann in der Second-Line-Therapie ein Wachstumshormon-RezeptorAntagonist wie beispielsweise Pegvisomant zum Einsatz kommen. Das Hauptziel medikamentöser Therapien ist stets die Normalisierung der Konzentration von GH und IGH-1. Im Falle eines ausbleibenden Behandlungserfolgs im Zusammenhang mit den genannten therapeutischen Vorgehensweisen, stellt eine radiochirurgische Intervention die letztmögliche Behandlungsoption dar. Der Therapieerfolg ist individuell und hängt stets von Größe und Lokalisation des Tumors ab. Dank der Behandlungsoptionen wird die Progredienz von Komorbiditäten zwar gestoppt und die Lebensqualität der Patienten verbessert, die entstandenen Körperveränderungen bilden sich jedoch nur eingeschränkt zurück. Unter Voraussetzung einer frühzeitigen Diagnose gilt die Akromegalie jedoch generell als gut therapierbare und in den meisten Fällen vollständig heilbare Krankheit.
Lisa Türk, BA
Weniger Anfälle, mehr Lebensqualität
Chancen und Herausforderungen der Diagnose und Therapie von seltenen Epilepsiesyndromen

Das Lennox-Gastaut-Syndrom (LGS), das Dravet-Syndrom (DS) und die Tuberöse Sklerose (TSC) sind seltene Epilepsieerkrankungen im Kindesalter. Insbesondere ihre therapierefraktäre Natur konfrontiert die behandelnden Ärztinnen und Ärzte, die Angehörigen sowie die Betroffenen selbst mit diversen Problemen. Prim.a Priv.-Doz.in Dr.in Edda Haberlandt, Fachärztin für Kinder- und Jugendheilkunde mit Additivfach Neuropädiatrie, Krankenhaus Dornbirn, gibt einen Einblick in die Epidemiologie jener Epilepsiesyndrome: „Die Prävalenz des LGS liegt schätzungsweise bei 15 : 100.000 in der Allgemeinbevölkerung. Von Anfallskranken sind 5–10 % betroffen und 1–2 % der Epilepsien im Kindesalter lassen sich auf ein LGS zurückführen.“ Seltener ist das DS anzutreffen. „Ein bis zwei von 40.000 Babys kommen mit einem DS auf die Welt – Buben doppelt so häufig wie Mädchen“, konkretisiert Prim.a Haberlandt. Hinsichtlich der Prävalenz von TSC in Europa liegen laut der Neuropädiaterin Daten zwischen 1 : 11.300 und 1 : 5.000 vor.
Manifestation in jungen Jahren
Während die Symptome bei Kindern mit LGS im Alter zwischen zwei und sieben Jahren erstmals auftreten, ist dies bei DS und TSC bereits früher der Fall. „Vom DS sind zuerst gesunde Kleinkinder betroffen. Sie entwickeln dann eine therapierefraktäre epileptische Enzephalopathie – die typischen klinischen Phänomene zeigen sich im ersten – spätestens im zweiten – Lebensjahr“, schildert Prim.a Haberlandt. Bei Kindern mit TSC stellt das erste Lebensjahr das typische Manifestationsalter dar – epileptische Anfälle können schon in den ersten Lebensmonaten zutage treten. „Kennzeichnend für diese neurokutane Erkrankung sind multisystemische Veränderungen – am häufigsten der Haut, des Gehirns, der Nieren, der Lungen und des Herzens. Etwa 75–90 % der TSCPatienten entwickeln eine Epilepsie. Das West-Syndrom bzw. BNS-Anfälle (Blitz-, Nick- und Salaam-Anfälle; engl. „infantile spasms“) sind oftmals die ersten Symptome, derentwegen die Eltern TSC-kranker Kinder den Kinderarzt konsultieren. Circa 10–25 % der Säuglinge mit BNS-Anfällen erhalten die Diagnose TSC“, erläutert die Expertin.
Auswirkungen auf die ganze Familie
„Die Diagnose einer therapieresistenten Epilepsie verändert das Leben der betroffenen Familien mit Beginn der Anfälle abrupt und vollständig. Sie bedeutet, dass das Kind an einer Erkrankung leidet, die es das ganze Leben lang begleiten wird“, schildert Prim.a Haberlandt. Zum Zeitpunkt der Diagnosestellung lasse sich der individuelle Krankheitsverlauf meist nicht abschätzen. Ein annähernd normales Leben im Alltag sei nur selten möglich, der Großteil der Kinder mit einer solchen Erkrankung bleibe lebenslänglich auf Betreuung angewiesen. „Die Eltern müssen ihre Lebensplanung überdenken und bisherige Bedürfnisse in den Hintergrund stellen. Geschwisterkinder bekommen nicht ausreichend Aufmerksamkeit – sie lernen, ständig Rücksicht zu nehmen“, weiß die Kinderärztin über die Problematik. Aus einer Analyse der deutschen Kohorte der Querschnittsstudie „Dravet syndrome caregiver survey“ (DISCUSS)* ging hervor, dass sich 98,5 % der Betreuer (n = 67) Sorgen um die Zukunft des betroffenen Kindes machen. Prim.a Haberlandt beschreibt, mit welchen Belastungen und Gefahren ein therapieresistentes Epilepsiesyndrom im Alltag einhergeht: „Die Anfälle kommen unerwartet und immer wieder in bedrohlichem Ausmaß, sodass eine ungeplante stationäre medizinische Betreuung notwendig sein kann. Eltern und andere Betreuungspersonen werden instruiert, ein vereinbartes Notfallmedikament in einer prolongierten oder eindeutig als Status epilepticus einzustufenden Anfallssituation frühzeitig zu verabreichen.“ Zusätzlich müssen regelmäßig zeitaufwendige medizinische Untersuchungen durchgeführt werden, die medikamentöse Therapie kann mit Nebenwirkungen verbunden sein. Wichtig ist darüber hinaus, im weiteren Verlauf die geistige und körperliche Entwicklung des Kindes zu beurteilen und Einschränkungen in diesen Bereichen zu diagnostizieren sowie therapeutische Förderungsmaßnahmen zu veranlassen. „Bei einer therapieresistenten Epilepsie besteht außerdem ein erhöhtes Risiko, dass ein Sudden Unexpected Death of Epilepsy
Expertin zum Thema: Prim.a Priv.-Doz.in Dr.in Edda Haberlandt
Fachärztin für Kinder- und Jugendheilkunde mit Additivfach Neuropädiatrie, Krankenhaus Dornbirn
Patients (SUDEP) eintritt“, macht Prim.a Haberlandt aufmerksam. Die diesbezügliche Inzidenzrate sei jedoch unter den von Epilepsie betroffenen Kindern und Erwachsenen nicht gleichbleibend hoch. Sie hänge von unterschiedlichen Faktoren ab, etwa den Lebensumständen und insbesondere der Art und Schwere der Epilepsie. So hätten Kinder mit einem schwer behandelbaren Dravet-Syndrom ein höheres SUDEP-Risiko, vor allem im Kleinkindalter.
Neue Behandlungsmöglichkeiten
Hinsichtlich der Therapie erklärt Prim.a Haberlandt: „Da es sich bei den drei Epilepsiesyndromen LGS, DS und TSC um therapieschwierige Epilepsien handelt, werden spezielle Kombinationstherapien empfohlen. Zusätzlich wird beim LGS und TSC überprüft, ob ein epilepsiechirurgischer Eingriff zur Verringerung der Anfallsfrequenz möglich ist. Als weitere Option steht der Vagusnerv-Stimulator bei fehlender OP-Möglichkeit zwecks Reduktion der Anzahl von Anfällen zur Verfügung.“ Allerdings sind viele Patienten trotz individueller Kombinationstherapien nicht anfallsfrei. Die gute Nachricht: Neue Behandlungsoptionen bergen das Potenzial für eine verbesserte Anfallskontrolle. „Für das DS steht seit Anfang 2021 Fenfluramin als ein möglicher Therapiebaustein zur Verfügung“, berichtet Prim.a Haberlandt. 2021 kam Cannabidiol (CBD) in die Gelbe Box und wird mittlerweile bei TSC, LGS und DS eingesetzt. „Das Extrakt aus der Hanfpflanze hat antikonvulsive Eigenschaften. In fünf relevanten Studien, an denen über 900 Patienten mit LGS, DS oder TSC teilnahmen, zeigte sich, dass das untersuchte CBD-haltige Präparat bei einer Anwendung in Kombination mit anderen Epilepsiearzneimitteln die Zahl der Anfälle nach 14–16 Behandlungswochen verringerte“, so die Neuropädiaterin. „Das CBD-Präparat wird, gemeinsam mit Clobazam, für Patienten ab zwei Jahren zur adjuvanten Behandlung von Krampfanfällen im Zusammenhang mit dem LGS oder dem DS angewendet. Zusätzlich ist es für die adjuvante Behandlung von Krampfanfällen im Zusammenhang mit TSC bei Kindern über zwei Jahre zugelassen“, präzisiert Prim.a Haberlandt. Abschließend gibt die Fachärztin für Kinder- und Jugendheilkunde Auskunft über das Wirkungsprinzip und mögliche Nebenwirkungen von CBD bei Epilepsiepatienten – angeführt in Infobox 2.
X Infobox 1: Wichtige Gesichtspunkte hinsichtlich der Diagno
se von seltenen Epilepsiesyndromen im pädiatrischen Setting
LennoxGastautSyndrom (LGS)
Das LGS ist mit einem bunten Bild von Anfallstypen in hoher Anfallsfrequenz vergesellschaftet – eine eingehende Anamnese muss vorgenommen werden. Tonische Anfälle im Schlaf sind mittels Video-EEGMonitorisierung zu detektieren. Die Ursachen sind mannigfaltig, ebenso umfangreich präsentieren sich die Komorbiditäten des einzelnen Patienten.
DravetSyndrom (DS)
Fieberprovozierte Anfälle in hoher Frequenz sollten frühzeitig als Epilepsiesyndrom erfasst und nicht als unkomplizierte Fieberkrämpfe eingestuft werden. Bei hochfrequent auftretenden fieberprovozierten Anfällen ist an eine genetische Abklärung zu denken. Komorbiditäten müssen erkannt werden. Eine antiepileptische Therapie mit Wirkung auf spannungsabhängige Natriumkanäle sollte vermieden werden.
Tuberöse Sklerose (TSC)
Die klinischen Zeichen einer Tuberösen Sklerose müssen erkannt sowie alle Organe und die Haut (Wood-Licht) beurteilt werden – insbesondere bei BNS-Epilepsie im Säuglingsalter. Eine sofortige cMRT-Bildgebung in Anästhesie bei Säuglingen mit Anfällen und die Darstellung einer Hypsarrhythmie im EEG mit Schlafaufzeichnung sind zu veranlassen – es kann sein, dass sich eine Hypsarrhythmie im Wachzustand kaum nachweisen lässt.
Literatur: * Strzelczyk A. et al., Monatsschr Kinderheilkd (2021), doi.org/10.1007/s00112-021-01153-5.
X Infobox 2: Wirkungsprinzip und mögliche Nebenwirkungen
von CBD
Der exakte Wirkmechanismus von CBD ist bei den beiden Epilepsieformen LGS und DS bislang nicht vollständig geklärt. Cannabidiol reduziert offenbar die neuronale Hyperaktivität zum einen durch die Modulation von intrazellulärem Calcium über GPR55 (G-Protein-gekoppelter Rezeptor 55) und über TRPV1 („transient receptor potential cation channel subfamily V1“), zum anderen durch die Modulation von adenosinvermittelten Signalen durch eine Hemmung der zellulären Adenosinaufnahme über ENT-1 (equilibrativer Nukleosidtransporter 1). Sehr häufige Nebenwirkungen (betreffen > 1/10 der Behandelten) sind Somnolenz, verminderter Appetit, Diarrhö, Fieber, Müdigkeit und Erbrechen. Die Nebenwirkungen konnten durch eine Reduktion der Dosierung gemildert werden. Die häufigste Ursache für den Abbruch der Behandlung stellen erhöhte Leberenzymwerte im Blut dar, die nach Absetzen wieder rückläufig sind.


