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Schwindel im Kindesalter
Kleine Patient:innen nehmen Gleichgewichtsstörungen mitunter anders wahr
In der Literatur wird „Schwindel“ im Erwachsenenalter als häufiges Krankheitssymptom angegeben. Für Kinder fehlen jedoch verlässliche Statistiken, vorhandene Daten stammen meist aus einem bereits selektionierten Krankengut. Doch auch im Kindesalter treten Schwindel und peripher-vestibuläre Störungen auf, allerdings vergleichsweise deutlich seltener. Die Inzidenzzahlen variieren stark, sie werden mit 0,5 bis 15 % angegeben. Grund dafür ist, dass kurze isolierte Schwindelattacken von Kindern nicht als bedrohlich empfunden und häufig nicht mitgeteilt werden. Sie
beschreiben ihre subjektiven Empfindungen oft, ohne diese zu bewerten. Anders als bei Erwachsenen ist der Schwindel oder die Gleichgewichtsstörung häufig nicht das Leitsymptom.
Die Rolle der Eltern
© Robert Newald Photographie
Für den Untersucher ergibt sich die Problematik, dass man auf die Beschreibungen von Erwachsenen angewiesen ist, denen es schwerfällt, Gleichgewichtsstörungen von der physiologisch noch mangelhaften Gleichgewichtsregulation zu unterscheiden. Hier ist die Aufklärung der Eltern über die Meilensteine der Entwicklung wichtig. Die altersadäquaten Ziele in der Entwicklung – wie Kopfstabilisation, Sitzen, Krabbeln, Stehen, Gehen und Laufen – müssen erklärt werden. Die wichtigsten Entwicklungsstufen werden in der Literatur wie folgt angegeben: • Bis zum vierten Monat sollten eine Kopfdrehung (Rückenlage) und das Anheben des Kopfes mit Armstütze (Bauchlage) gelingen. • Bis zum achten Monat erwartet man kontrollierte Handbewegungen, das Halten einer Trinkflasche, das korrekte „Den-Mund-Finden“ , das Sitzen (Arme nach vorne gestreckt) und das Vom-Rücken-auf-den-
Bauch-Rollen. • Erst mit drei Jahren sollten normales Stiegensteigen, das Treffen eines großen Fußballs sowie ein kurzer
Einbeinstand möglich sein und das Schaukeln zum
Genuss werden. • Im Alter von fünf Jahren sollte die Körperkontrolle so gut funktionieren, dass ein Purzelbaum gelingt. • Mit sechs Jahren sollten die Fähigkeiten so weit verfeinert sein, dass auch das Schreiben und Lesen keine
Probleme macht. Wichtig ist mitzuteilen, dass es sich dabei um Meilensteine in der Entwicklung handelt – und nicht um Grenzsteine. Bei der klinischen Untersuchung muss zwischen Schulkindern und jüngeren Kindern unterschieden werden. Ab dem Schulalter können die eigenen Angaben des Kindes als verlässlich bezeichnet werden, sofern man dem Kind Zeit gibt, seine Empfindungen zu beschreiben. Bei Kleinkindern ist man auf die Fremdanamnese angewiesen.
AUTOR: Univ.-Prof. Dr. Andreas Temmel
Facharzt für Hals-, Nasen-, Ohrenheilkunde, Kopf- und Halschirurgie, Wien und Perchtoldsdorf
Herausforderungen in der Diagnostik
Zur Abgrenzung des kindlichen Schwindels ist, ebenso wie bei den Erwachsenen, eine otologische und neurologische Durchuntersuchung erforderlich. Als häufigste kindliche Schwindelursache werden ein Paukenerguss und eine Otitis media angegeben, die Inzidenz beträgt zwischen 22 und 50 %. Häufig klagen die Kinder nicht über Schwindel, aber den Eltern fällt Ungeschicktheit, >
Tollpatschigkeit und gelegentlich eine Sturzneigung auf. Der Mechanismus ist unklar. Es werden sowohl eine Labyrinthitis als auch der Unterdruck im Mittelohr und eine konsekutive Druckveränderung über dem runden und ovalen Fenster im Innenohr als möglicher Pathomechanismus diskutiert. Glücklicherweise kommt es nach erfolgreicher Behandlung des Mittelohres in 85 % der Fälle zu einer Besserung der Symptomatik. Daher ist eine Ohrinspektion und Tympanometrie bei allen auffälligen Kindern notwendig. Die weitere Diagnostik der vestibulären Funktion beim Kind, besonders beim Kleinkind, stellt ein ,,Stiefkind“ dar. Sie läuft in diesem Alter meist unsystematisch ab, sodass es zur „over“ und „underinvestigation“ kommt.
Untersuchungsmethoden
Grundsätzlich können bei Kindern – wie bei Erwachsenen – vestibulookuläre Reaktionen (Screening auf Spontan-, Lage- und Lagerungsnystagmus, rotatorische Prüfung), vestibulospinale Reaktionen (Romberg-Test, Unterberger-Tretversuch), das visuelle System (Blickrichtungsprüfungen, Blickfolgeprüfung, Optokinetischer Nystagmus) und die visuell-vestibuläre Interaktion geprüft werden. Auf manche Untersuchungen, etwa die kalorische Prüfung und elektrophysiologische Verfahren, muss häufig verzichtet werden, da diese bei den kleinen Patienten Angst und Unruhe auslösen.
Formen von Vertigo im Kindesalter
Grundsätzlich können bei Kindern alle Schwindelformen auftreten, die aus der Erwachsenenmedizin bekannt sind. Zusätzlich muss man an angeborene oder erworbene Störungen oder Läsionen in peripheren und zentralvestibulären Strukturen denken. Hierzu zählen Schädigungen durch Medikamente (Zytostatika, ototoxische Stoffe), Hirntumore, Meningitis, Enzephalitis, Otitis, Labyrinthfistel oder Schädeltraumen. Es gibt aber auch Schwindelformen, die nur bei Kindern vorkommen. Die häufigste Erkrankung ist der benigne paroxysmale Schwindel der Kindheit (Benign Paroxysmal Vertigo of Childhood). Hierbei kommt es zu anfallsartigen Drehschwindelattacken mit Fallneigung, die zwischen dem ersten und dem vierten Lebensjahr beginnen und Sekunden bis Minuten anhalten können. Pathophysiologisch liegt solchen Attacken wahrscheinlich ein Migränemechanismus zugrunde. Oft wird ein Übergang in andere Migräneformen beobachtet. Eine spezifische Therapie ist nicht erforderlich, denn der Verlauf ist gutartig und es kommt innerhalb von Monaten bis Jahren zur Spontanheilung. Auch der benigne paroxysmale Torticollis stellt eine frühkindliche migräneähnliche Sonderform dar und fällt in die gleiche Altersperiode. Eine weitere kindliche Erkrankung ist die Basilarismigräne, die zwischen dem ersten und dem zehnten Lebensjahr auftreten kann und durch Sehstörungen, Stand- und Gangataxie, Schwindel und Nausea, Hinterkopfschmerz und andere neurologische Zeichen charakterisiert ist. Differentialdiagnostisch ist die Abgrenzung zur vestibulären Epilepsie erforderlich. Anamnestisch muss bei all diesen kindlichen Schwindelformen auch an den familiären periodischen Schwindel gedacht werden. Spasmus nutans wird nur in der Kindheit beobachtet und ist durch die Trias – supranukleäre Okulomotoriusstörung (Fixationspendelnystagmus), tremorartiges Kopfwackeln und okulärer Schiefhals – gekennzeichnet. Typischerweise manifestiert sich die Erkrankung zwischen dem vierten und dem 18. Lebensmonat. Meist kommt es bis zum dritten Lebensjahr zum Sistieren der Symptomatik. Die Ätiologie ist unbekannt, eine Therapie aufgrund des Verlaufs nicht notwendig. Differentialdiagnostisch muss an einen frühkindlichen Tumor des dritten Ventrikels und des Chiasma opticus gedacht werden. Als Visual-Cliff-Phänomen werden eine weitgehend genetisch bedingte Angst und ein Vermeidungsverhalten bezeichnet, die ein Kind zeigt, wenn es sich einer Stufe oder einem Abgrund visuell nähert. Üblicherweise verschwindet die Angst nach dem zweiten Lebensjahr. Kinetosen (Bewegungskrankheit) treten im Kindesalter häufig durch eine Überreizung der an der Gleichgewichtserhaltung beteiligten Strukturen infolge von wiederholten und zumeist unphysiologisch intensiven Bewegungen auf. Als Ursache wird ein Informationskonflikt der noch in Entwicklung befindlichen vestibulären, visuellen und propriozeptiven Systeme erachtet.
Univ.-Prof. Dr. Andreas Temmel Fazit
Liegt eine der erwähnten Krankheiten vor, muss die Therapie die Beseitigung der Grundursache zum Ziel haben, z. B. durch einen operativen Fistelverschluss, eine Tumorentfernung oder eine antibiotische Therapie bei Infektionen. Antivertiginosa und Antiemetika wirken nur symptomatisch und sind wichtig für die Linderung von massivem Schwindel und starker Nausea, bei akuten Labyrinthstörungen und bei der Kinetose. Ein unerwünschter Nebeneffekt ist jedoch die Verzögerung von Kompensations- und Habituationsprozessen. Eine große Bedeutung kommt bei der Behandlung von Gleichgewichtsstörungen im Kindesalter dem Training zu. Es zielt darauf ab, den physiologischen Bewegungsdrang des Kindes in die Therapie einzubeziehen, um das Körpergleichgewicht zu normalisieren bzw. zu stabilisieren. <