Hausärzt:in 02/2022

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Hausärzt:in medizinisch

„An COVID sterbende Menschen sind lebende Menschen“

OA Dr. Dietmar Weixler, Präsident der Österreichischen Palliativgesellschaft, über schmerzliche und schützende Grenzen am Lebensende

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der Gemeinschaft angehören und sie unbedingten Wert haben, unabhängig von Leistungsfähigkeit und Ansehen. Jeder Mensch hat ein Recht auf ein Sterben unter würdigen Bedingungen, muss darauf vertrauen können, in der letzten Lebensphase mit seinen Vorstellungen, Wünschen und Werten respektiert zu werden.

+++ Gemeinschaftliche Werte befinden sich im Wandel +++ Grenzverschiebung am Lebensende +++ Einsamkeit in existenziellen Grenzsituationen in der Pandemie +++ Raum für Palliativ- und Hospizkultur schaffen +++ HAUSÄRZT:IN: Das Motto des diesjährigen Österreichischen Interprofessionellen Palliativkongresses, der leider abgesagt werden musste, lautete: „GrenzWerte“ . Wie sind Sie auf dieses Thema gekommen? OA WEIXLER: Palliativ- und Hospizkultur versteht sich seit den Anfängen als Sorgekultur: Jenen gilt die Sorge, die verletzlich und vom Tode bedroht sind, unabhängig von Alter oder Erkrankung. Diese Menschen kommen aus unserer Gemeinschaft und sollen auch in für sie schwierigen Zeiten auf Schutz und Achtung der Gemeinschaft vertrauen dürfen. Nun konfrontiert uns die Zeit, in der wir leben, mit vielen Grenzen, auch mit schmerzlichen, die Selbstbestimmung und die Gesundheit betreffend: sei es durch die Pandemie, seien es Grenzen der Machbarkeit oder Grenzen der Belastbarkeit unseres Planeten.

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Februar 2022

Genauso gibt es aber Grenzen, die Werte schützen, Anderes und Fremdes abwehren, Entwicklung ermöglichen sowie Ordnung und Struktur schaffen können. Gemeinschaftliche Werte sind im Wandel begriffen … Eine besondere Grenze hat der Verfassungsgerichtshof Ende 2020 aufgehoben und damit den assistierten Suizid ermöglicht. Wie sehen Sie das? Als wir das Motto dieses Kongresses gewählt haben, konnte noch niemand ahnen, welche Aktualität das Thema „GrenzWerte“ erfahren sollte. Diese Grenzverschiebung am Lebensende stellt uns vor große Unwägbarkeiten. Gerade in Zeiten großer Bewegung sollte der Blick auf dem Festen und Sicheren ruhen: Palliativ- und Hospizkultur muss Raum schaffen können und jenen, die es brauchen, die Sicherheit vermitteln, dass sie weiter

Könnten Sie uns das eine oder andere Beispiel dafür nennen? Wenn von „Würde“ oder „Menschenwürde“ gesprochen wird, lohnt es sich stets, ein Gegenüber zu fragen, wie die andere Person den Begriff versteht. Der Psychiater Dr. Harvey Chochinov gilt als der Begründer der würdezentrierten Therapie. Er hat die dignity question vorgestellt: „Was muss ich über Sie als Person wissen, damit Ihnen die bestmögliche Versorgung zuteilwerden kann?“ Welche Werte einen Menschen leiten, kann ich nicht in einer Fünf-Minuten-Anamnese erheben, in der ich vielleicht sogar noch den häufigen ärztlichen Fehler mache, mehr Redezeit zu beanspruchen als mein Gegenüber. Das braucht wirklich Zeit, in der sich Vertrauen entwickeln kann. Vertrauen ist ein Geschenk. Die Hausärztin wird auch als lebensbegleitende Ärztin verstanden – in diesem Beziehungskontext hat man sicher oft Einblick in das umfassende Wesen eines Menschen und seines sozialen Umfelds. Wie ist die Palliative Care – speziell auch in der Pandemie – gefordert? Sterben findet zurzeit im Spannungsfeld der herrschenden Pandemie statt und ist für Menschen, die im Gesundheits- und Sozialbereich arbeiten, und für Angehörige pflegebedürftiger Menschen besonders belastend. Es muss uns gelingen, Hospizkultur und Palliative Care in allen Versorgungsformen und -einrichtungen des Gesundheitswesens zu ver-


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