Schwander, Wenn Kinder sterben

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Wenn Kinder sterben und Eltern ihre Kinder verlieren

Grundlagen und Antworten für Eltern, Angehörige und Fachpersonen

Wenn Kinder sterben und Eltern ihre Kinder verlieren

Grundlagen und Antworten für Eltern, Angehörige und Fachpersonen

Haupt Verlag für Eltern,

4.3

als Frage der Kindermedizin

5.2 Förderung und Schutz bei lebensbegrenzend erkrankten und sterbenden Kindern

6.1

6.2

6.3.2 Kind – Familie – verantwortliche Ärztin oder verantwortlicher Arzt

7 Eltern und Geschwisterkinder müssen Abschied nehmen

7.1 Trauerphasen – Traueraufgaben – Trauerarbeit

7.2 Trauerprozess der Eltern beim Verlust eines Kindes

7.3 Zur besonderen Problematik des frühen Todes von Kindern

7.3.1 Grundlegend

7.3.2 Fachstelle kindsverlust.ch

7.3.3 Buchempfehlungen

7.4 Religiosität – Spiritualität angesichts des Todes von Kindern

7.4.1 Grundlegend

7.4.2 Wie Weltreligionen mit dem Tod umgehen

7.5 Begleitung von betroffenen Familien

7.5.1 Rund um den Tod

7.5.2 Nach der Beisetzung

7.6 Abschiedsrituale

7.7 Buchempfehlungen

9.1

Vorwort

Liebe Leserinnen und Leser

Ich freue mich, dass Sie sich für dieses herausfordernde Fachbuch von Marianne Schwander zum höchst sensiblen und anspruchsvollen Thema «Wenn Kinder sterben und Eltern ihre Kinder verlieren» interessieren. Es richtet sich an Eltern, Angehörige und Fachpersonen, die mit dem Verlust eines Kindes konfrontiert sind, und bietet grundlegende Informationen und Antworten zum Thema Allgemeine und Pädiatrische Palliative Care, Gesprächsführung mit Kindern, Sterbeprozesse, Trauerverarbeitung, rechtliche und (medizin-)ethische Aspekte sowie Einblicke in Familiengeschichten und die Erfahrungen von Familien im neu eröffneten ersten Kinderhospiz der Schweiz.

Als Oberärztin der Pädiatrischen Hämatologie, Onkologie und Palliativmedizin an der Universitätsklinik für Kinderheilkunde Bern und Ärztin im allani Kinderhospiz Bern bin ich regelmäßig mit Diagnosen einer lebensbegrenzenden Erkrankung bei einem Kind konfrontiert. Die Betreuung der Familien in diesen Ausnahmesituationen ist eine anspruchsvolle Aufgabe, welche Verständnis, Offenheit und Flexibilität für die individuellen Situationen und Wünsche der Familien erfordert. Eine der größten Herausforderungen für mich persönlich ist, einerseits mit den Familien ehrlich und offen über die bestehende Krankheitssituation und Prognosen zu kommunizieren und andererseits ihnen den Mut und die Hoffnung nicht zu nehmen. Denn die Hoffnung gibt den Familien Kraft, diese wahnsinnig schwere und kräftezehrende Zeit durchzustehen. Es geht in der Palliativmedizin nicht primär darum, die Lebenszeit um jeden Preis zu verlängern, sondern das wichtigste Ziel ist es, leidvolle Symptome zu lindern und damit eine situationsangepasste gute Lebensqualität zu erreichen und zu erhalten.

Ein Kind zu verlieren ist wohl das schlimmste und schmerzhafteste Ereignis, welches Eltern und Angehörigen widerfahren kann. Mit diesem sensiblen Thema begegnen wir einer Realität, die für viele unvorstellbar ist und doch ungefähr 500 Familien in der Schweiz pro Jahr betrifft. In solchen Momenten scheint die Welt still zu stehen und die Trauer kann überwältigend sein. Für diese Familien ist eine Begleitung und umfassende Betreuung auf ihrem Weg von Diagnosestellung bis über die Trauerphase hinaus essenziell, welcher viel Energie und einen langen Atem erfordert. Palliative Care für Kinder und Jugendliche (Pädiatrische Palliative Care, PPC) ist ein umfassendes, «ganzheitliches» Angebot für das Kind, seine Familie und das bestehende Netzwerk, welches das Kind und seine Bedürfnisse ins Zentrum der Betreuung stellt.

In den letzten Jahren konnte zwar das Angebot von Pädiatrischer Palliative Care in der Schweiz bekannter gemacht und zunehmend erweitert werden, sodass immer mehr betroffene Familien das Angebot einer spezialisierten Palliative Care

in Anspruch nehmen können. Jedoch ist das Angebot in der Schweiz im Vergleich zu Deutschland noch deutlich weniger weit ausgebaut. Beispielsweise wurde erst vor einem Jahr das allererste Kinderhospiz (allani) in der Schweiz (in Bern) eröffnet. In Deutschland bestehen schon seit vielen Jahren mehrere Kinderhospize, die zur Entlastung der schwer belasteten Familien dienen. So bestehen auch gut etablierte, spezialisierte, ambulante Kinderpalliativteams, welche über genügend Finanzierung und Ressourcen verfügen und Kinder mit einer lebensbegrenzenden Erkrankung zuhause versorgen können (inkl. 24-Std.-Rufdienst).

Der Grund für diese verzögerte Entwicklung in der Schweiz ist die ungenügende Verankerung der Spezialisierten Pädiatrischen Palliative Care auf Gesetzesebene, sodass nur ein Bruchteil der medizinischen, pflegerischen und therapeutischen Leistungen abgerechnet werden kann, wobei es kantonale Unterschiede gibt. Im Kinderhospiz allani können z. B. gar keine ärztlichen Leistungen abgerechnet werden, da die «Institution Kinderhospiz» im Kanton Bern gesetzlich nicht verankert und somit nicht einem Tarifsystem angeschlossen ist. Das bedeutet, dass die Finanzierung der ärztlichen Versorgung im allani komplett über Stiftungs- und Spendengelder erfolgen muss. Es stimmt mich einerseits traurig und macht mich andererseits wütend, dass die Betreuung und Versorgung dieser schwer kranken Kinder und deren höchstbelasteten Angehörigen im Gesundheitssystem bezüglich Finanzierung nicht genauso berücksichtigt werden wie bei Menschen/Kindern mit nicht lebensbegrenzenden/lebensbedrohlichen Erkrankungen.

Ich wünsche Ihnen, dass Sie in diesem sorgfältig erarbeiteten Buch von Marianne Schwander Informationen und Antworten finden, die Ihnen den weiteren Weg etwas erleichtern können.

Dr. med. Claudia Hügli

Ärztin im allani Kinderhospiz Bern und Oberärztin Pädiatrische Hämatologie, Onkologie und Palliativmedizin Universitätsklinik für Kinderheilkunde, Inselspital Bern

Einleitung

«Was ist das für ein wahnsinniger Auftrag des Lebens, wenn man ein Kind in den Tod statt ins Leben begleiten muss?

Und doch haben wir es geschafft, mussten wir es schaffen, aber nur zusammen mit euch allen.

Till musste seine Würde nie verlieren.

Er fehlt unendlich, war nur gut und hat dem Leben so wenig abverlangt.

Sein Tod ist und bleibt entsetzlich unfair, solange wir leben.

Till durfte gehen, ganz sanft und im richtigen Moment.

Er hat einfach ausgeatmet.

Da war nichts Schweres. Nur ein letzter Atemzug.»

Mutter von Till.1

Über das Sterben und den Tod zu sprechen, ist nicht einfach, fast nicht möglich. Und doch gehören das Sterben und der Tod, wie die Geburt, zum Leben. Die Lebenserwartung bei der Geburt in der Schweiz ist eine der höchsten der Welt, was in erster Linie auf den starken Anstieg im Laufe des letzten Jahrhunderts zurückzuführen ist. Laut Bundesamt für Statistik liegt die Lebenserwartung von Mädchen, welche im Jahr 2023 geboren wurden, bei 85,8 Jahren, von Knaben bei 82,2 Jahren.2 Frauen und Männer sterben daher entsprechend der öffentlichen Wahrnehmung nach einem mehr oder weniger erfüllten Leben, aber nicht im Säuglings- oder Kindesalter.

Die Realität ist jedoch eine andere: Im Jahr 2023 hat das Bundesamt für Statistik 334 Totgeburten erfasst. Zudem starben im Verlaufe des ersten Lebensjahres 265 Kinder, wobei die Säuglingssterblichkeit in den letzten Jahrzehnten stark gesunken ist. Darüber hinaus starben nach dem ersten bis zum 14. Lebensjahr 65 Knaben und 52 Mädchen.3

Die sinkende Säuglingssterblichkeit bis zu Beginn der 1980er-Jahre war vorwiegend auf eine Abnahme der Todesfälle in den ersten Lebenswochen zurückzuführen. Der weitere Rückgang seit Anfang der 1990er-Jahre läßt sich vor allem mit der Ver-

1 Brigitte Trümpy-Birkeland 2014, S. 157. «Sternenkind» ist eine wahre Geschichte über Till, der im Alter von sieben Jahren an einem Hirntumor erkrankte und drei dreiviertel Jahre später starb. Brigitte Trümpy-Birkeland war die Großmutter von Till.

2 Siehe Bundesamt für Statistik zu Lebenser wartung, https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/ bevoelkerung/geburten-todesfaelle/lebenserwartung.html.

3 Siehe Bundesamt für Statistik zu Säuglingssterblichkeit, Totgeburten, https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/ home/statistiken/gesundheit/gesundheitszustand/sterblichkeit-todesursachen/saeuglings-totgeburten. html.

ringerung der Todesfälle von Säuglingen im Alter zwischen einem Monat und einem Jahr erklären. Seit nahezu 20 Jahren ist die Säuglingssterblichkeit stabil.4

Dank bedeutenden medizinischen, sozialen und technischen Fortschritten, auch in der Kindermedizin, überleben Kinder, im Gegensatz zum Globalen Süden, öfters und können gesund aufwachsen. Aber das Sterben ist und bleibt weiterhin ein Thema bei Ungeborenen, Neugeborenen, Säuglingen und Kindern. In der Schweiz sterben laut PELICAN-Studie jährlich 400 bis 500 Kinder im Alter zwischen 0 und 18 Jahren, wobei rund die Hälfte von ihnen im ersten Lebensjahr stirbt. Fast 40 Prozent aller Todesfälle im Kindesalter ereignen sich in den ersten vier Lebenswochen, namentlich, weil die Neugeborenen zu früh oder mit schweren Fehlbildungen zur Welt gekommen sind. Nach dem ersten Lebensjahr treten vor allem krankheitsbedingte Todesfälle aufgrund einer lebensbegrenzenden Krankheit auf, wobei neurologische Diagnosen im Vordergrund stehen, gefolgt von Krebs- und Herzerkrankungen. Ab dem zweiten Lebensjahr, speziell bei Schulkindern und Jugendlichen, sind Unfälle bei knapp der Hälfte aller Todesfälle die Ursache.5

Ab Diagnose einer lebensbegrenzenden Krankheit bis zum möglichen Tod ist in der Kindermedizin, aber auch in der Neonatologie (Früh- und NeugeborenenIntensivstation), parallel zur kurativen Betreuung, die Pädiatrische Palliative Care (PPC) hinzuziehen.6

Im Zusammenhang mit PPC und den Kindern, die mit einer lebensbegrenzenden Krankheit oder mit dem Sterben konfrontiert sind, und den Eltern, die ihr Kind sterben lassen müssen, stellen sich verschiedenste Fragen. Im vorliegenden Fachbuch werden sowohl grundlegende wie auch praxisorientierte Antworten aus einer interdisziplinären Perspektive aufgezeigt, ohne auf medizinische Behandlungen einzugehen. Diese Antworten werden jeweils mit Beispielen untermauert. Nach dieser Einleitung folgen die drei Teile des Fachbuches.

In einem ersten Teil steht das Kind respektive dessen Perspektive im Mittelpunkt. Zuerst wird erarbeitet, was Kinder, je nach ihrem Alter und Entwicklungsstand, über die Themen Sterben und Tod wahrnehmen beziehungsweise wissen. Dies wird anhand verschiedener Theorien der Entwicklungspsychologie dargestellt. Aufgezeigt wird auch der Unterschied des Todesverständnisses von gesunden und ster-

4 Siehe Bundesamt für Statistik zu Säuglingssterblichkeit, Totgeburten, https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/ home/statistiken/gesundheit/gesundheitszustand/sterblichkeit-todesursachen/saeuglings-totgeburten. html.

5 Zur PELICAN-Studie, welche von 2012 bis 2015 schweizweit durchgeführt wurde, siehe Eva Bergsträsser et al., 2016; Dies. 2016, S. 7; zu den fünf häufigsten Todesursachen bei Kindern im Jahr 2023 siehe Bundesamt für Statistik zu Anzahl Todesfälle nach Todesursachen in der Schweiz, Kinder 0-14 Jahren, nach Geschlecht, https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/kataloge-datenbanken.assetdetail.32407888.html.

6 Siehe u. a. Deborah Gubler et al. 2020, S. 26 ff.; Eva Bergsträsser et al., 2016, S. 5.

benden Kindern. Es werden des Weiteren Fragen zum Trauer- und Sterbeprozess von Kindern beantwortet.

Ganz zentral sind Fragen zu den Rechten, auch den Grundrechten, von lebensbegrenzend erkrankten und sterbenden Kindern. Auf diese Fragen werden möglichst umfassende Antworten erarbeitet. Integraler Teil ist eine Auseinandersetzung über die Urteilsfähigkeit. Zudem werden der Verein Kind+Spital sowie die EACHCharta für Kinder (Europäische Vereinigung für Kinder im Spital, European Association for Children in Hospital EACH) vorgestellt.

Der erste Teil wird mit der Beantwortung der Frage abgerundet, wie ein Gespräch mit einem lebensbegrenzend erkrankten Kind geführt werden soll respektive wie es alters-, entwicklungs- und situationsgerecht informiert werden kann und soll.

In einem zweiten Teil werden einleitend die Aufgaben der Eltern nach dem Schweizerischen Zivilgesetzbuch (ZGB) dargelegt: Gewichtigster Bestandteil ist die elterliche Sorge und das Kindeswohl. Was heißt Förderung und Schutz bei einem lebensbegrenzend erkrankten und sterbenden Kind? Und was bedeutet Kindeswohl in der Kindermedizin? Vor diesem Hintergrund werden verschiedenste rechtliche und ethische Fragen und deren Antworten diskutiert. Im Zentrum stehen namentlich die zwei Fragen: Wer entscheidet darüber, ob eine medizinische Maßnahme angeordnet oder unterlassen wird und auf welche Weise wird darüber entschieden? Abschließend wird das Abschiednehmen thematisiert. Hierbei wird auf die Trauer der Eltern beim Verlust eines Kindes eingegangen, auch auf die besondere Problematik eines frühen Todes von Kindern. Angesprochen werden der Themenbereich Religiosität und Spiritualität angesichts des Todes von Kindern, die Begleitung von betroffenen Familien sowie verschiedene Abschiedsrituale.

In einem dritten Teil werden zunächst die Grundsätze der Palliative Care (PC) dargelegt, danach die PPC definiert und sodann die Charakteristiken, die Prinzipien sowie die Krankheitsgruppen und Phasen der PPC erarbeitet. Zudem wird die Frage beantwortet, wo die Schweiz bei der PPC steht. Eine besondere Erwähnung findet hierbei das erste Kinderhospiz der Schweiz, das allani Kinderhospiz Bern. Das Fachbuch wird mit einer Zusammenfassung und verschiedenen Antworten abgerundet.

Wenn nachfolgend vom Kind gesprochen wird, schließt dies Säuglinge und Jugendliche bis zum 18. Lebensjahr ein.7

7 Siehe Artikel 1 des Übereinkommens der Rechte des Kindes (UN-KRK).

Hinweis für Leserinnen und Leser Eltern, deren Kind lebensbegrenzend erkrankt oder sterbend ist, haben viele Fragen und suchen nach Antworten, Antworten, die ihnen in der höchst herausfordernden und belastenden Lebenssituation weiterhelfen und sie damit im besten Fall unterstützen und begleiten.

Die drei Teile des vorliegenden Fachbuches, in denen verschiedenste Antworten erarbeitet werden, bauen aufeinander auf, als Nachschlagewerk stehen jedoch die einzelnen Themenbereiche unabhängig nebeneinander (siehe Inhaltsverzeichnis).

In diesen drei Teilen werden theoretische Grundlagen mit zahlreichen Praxisbeispielen dargelegt, wobei in Exkursen jeweils spezifisches Grundlagenwissen zusammenfassend erläutert wird, das jedoch für den weiteren Leseverlauf nicht zwingend zu lesen ist (als offenes Viereck hinterlegt). Schlussfolgerungen der theoretischen Grundlagen sowie Hinweise für die Praxis werden jeweils als Zusammenfassung sowie Praxishinweise aufgeführt (hellblau hinterlegt). Zusätzlich wird das theoretisch Erarbeitete mit Beispielen von individuellen Schicksalen veranschaulicht (gelb hinterlegt). Gedichte, Texte von Songs, Aussagen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern werden jeweils zwischen den Kapiteln und Abschnitten aufgeführt.

Die Kapitel werden mit Buchempfehlungen für Kinder, Jugendliche, Eltern sowie Fachpersonen ergänzt.

Im Fachbuch werden auch Hinweise und Adressen für Unterstützungen und Hilfsmöglichkeiten genannt.

In einem Glossar werden zusätzlich die wichtigsten Begriffe erläutert.

Alle https://www-Adressen wurden zum letzten Mal abgerufen am 23. Januar 2025.

Das Fachbuch ist ohne KI-Hilfe erarbeitet worden.

TEIL 1 Kinder, die sterben

Grundlagenwissen zum Todesverständnis

Grundlagenwissen zu den vier Stadien kognitiver Entwicklung

1.2 Entwicklung des kindlichenWissens über das

Zusammenfassung: Ab zwölftem Lebensjahr

1.3 Todesverständnis von Kindern, die sich mit dem eigenen Sterben und ihrem Tod auseinandersetzen müssen

1.3.1 Grundlegend

Beispiel: Unbewusstes Wissen des eigenen Todes des neuneinhalbjährigen Till 31

Beispiel: Erstes Gespräch nach der Diagnose der lebensbegrenzenden Krankheit von Till

1.3.2 Vorschulkinder ab zweitem Lebensjahr

1.3.3 Grundschulkinder ab siebtem Lebensjahr

1.3.4 Kinder ab zwölftem Lebensjahr

1.3.5 Fazit zum Todesverständnis von sterbenden Kindern 36 Zusammenfassung: Todesverständnis von sterbenden Kindern

Zusammenfassung: Urteilsfähig und medizinische Maßnahmen

Zusammenfassung: Urteilsunfähig und medizinisch indizierte Maßnahmen

3.2 Urteilsfähigkeit als Frage in der Kindermedizin

Praxishinweis: Fragestellungen zur Urteilsfähigkeit, die von den Ärztinnen und Ärzten zu klären sind

Exkurs: Ärztliche Schweigepflicht

Exkurs: Child Life Specialist-Programm

3.3 Rechte im Trauer- und Sterbeprozess

3.3.1 Grundlegend

3.3.2 Kind+Spital

3.4 Umsetzung der Kinderrechte

3.5

4.1 Warum Gespräche führen?

Beispiel: Brief an Eltern, die ihr Kind verlieren werden

Zusammenfassung: Nicht schweigen, sondern reden

4.2 Wie Gespräche führen?

Praxishinweis: Führen eines Gesprächs mit einem Kind ganz konkret

Praxishinweis: «6 E» Strategie

4.3

1 Sterben und Tod von Kindern

«Die Phase der Kindheit ist diejenige, die mit dem Ende des Lebens überhaupt nicht in Berührung zu kommen scheint.

Alles ist noch am Anfang, im Aufbau, alle Möglichkeiten sind noch offen. Kind und Sterben, Kind und Tod sind also für uns eigentlich ein Widerspruch. Wenn ein Kind sterben muss, stellt sich die Frage nach dem Sinn eines solchen Geschehens, und wir müssen uns eingestehen, dass wir – wenn wir nicht einen tiefen Glauben an eine gütige, allwissende, alles ordnende Macht besitzen – nur Sinnlosigkeit sehen».

Annemarie Wunnerlich 1972, S. 16.

Eine junge Mutter betritt eine Buchhandlung und fragt die Buchhändlerin, ob sie ihr helfen könne. Sie suche ein Buch, das ihrem Kind erklärt, dass sein Schwesterchen bald sterben wird. Die Buchhändlerin steuert auf ein Buchregal hin und kommt mit dem Buch «Hurra, ich bekomme ein Geschwisterchen!» zurück. Die Mutter versucht das Missverständnis zu klären und sagt, dass ihr jüngeres Kind bald sterben werde und sie tatsächlich nach einem Buch suche, das ihrem älteren Kind hilft, das zu verstehen. Die Buchhändlerin ist irritiert und weiß nicht weiter … .8

Ausgehend von diesem Beispiel stellt sich einleitend die Frage, was Kinder, je nach ihrem Alter und Entwicklungsstand, über die Themen «Sterben» und «Tod» wahrnehmen und wissen. Diese Frage ist aus zwei verschiedenen Perspektiven zu beantworten: Einerseits aus der entwicklungspsychologischen Perspektive von Kindern, die mit dem Sterben und dem Tod von anderen konfrontiert sind, und andererseits aus der Perspektive von Kindern, die an einer lebensbegrenzenden Krankheit leiden und sich mit ihrem eigenen Sterben und Tod auseinandersetzen müssen.

8 Siehe Sonntagszeitung vom 21. November 2021, S. 49.

Exkurs: Begriffe

Kind und Sterben, Kind und Tod sind, wie ANNEMARIE WUNNERLICH vorstehend beschreibt, für uns eigentlich ein Widerspruch, und trotzdem ist es eine Realität – und für diese Realität müssen Begriffe gefunden werden, Begriffe, die möglichst die Wirklichkeit abbilden, und doch für den Themenbereich Tod und Sterben Hoffnung ermöglichen. Hoffnung ist einer der mächtigsten und wertvollsten inneren Lebenskräfte und Ressourcen. Laut HERMANN COHEN9 kann nicht verzweifeln, wer hofft. Denn Hoffnung gibt Kraft und wirkt, ohne sich erfüllen zu müssen. Zudem öffnet sie die Möglichkeit zur Kommunikation.

Daher sind Begriffe zu wählen, die trotz äußerst bedrohlicher Krankheit auch das Leben ins Zentrum stellen.

Das ist das eine, das andere aber ist, dass zum Leben das Sterben und der Tod gehören. Kinder, beispielsweise mit der Diagnose zystische Fibrose oder einer schweren Stoffwechselerkrankung, ahnen, dass sie sterben müssen. Die Kinder sind demzufolge darauf angewiesen, dass mit ihnen offen und ehrlich gesprochen wird. Das Sterben und der Tod sind daher begrifflich nicht zu verleugnen, denn Kinder können Ausflüchte und Unwahrheiten erkennen.

Vor dem Hintergrund wird im vorliegenden Fachbuch mit folgenden Begriffen gearbeitet: «lebensbegrenzend erkrankte Kinder» oder, rund um den Tod, «sterbende Kinder».

1.1 Grundlegend

«Der wichtigste Einfluss auf die Entwicklung von Todeskonzepten ist […] die Haltung der Eltern zu dieser Frage und die Weise, wie sie mit ihrem Kind darüber reden.»

Dietrich Niethammer 2008, S. 130.

Über Jahrhunderte hinweg prägten das Sterben und der Tod von Kindern das Leben aller Familien in allen Schichten. Als Gründe für die hohe Säuglings- und Kindersterblichkeit lassen sich namentlich mangelnde Hygiene, unzureichende medizinische Versorgung, schlechte Wohnverhältnisse und falsche Ernährungsgewohnheiten

9 Siehe Hermann Cohen 2002, S. 45 f.; siehe auch Ursula Renz 2022, S. 90.

aufführen.10 Das änderte sich in den letzten Jahrzehnten, je nach Weltregion, deutlich. Damit sank, insbesondere im Globalen Norden, die Säuglings- und Kindersterblichkeit stetig, bis sie seit der zweiten Jahrtausendwende recht stabil blieb.11 In der Schweiz sterben laut PELICAN-Studie, wie in der Einleitung erwähnt, jährlich 400 bis 500 Kinder im Alter zwischen 0 und 18 Jahren, wobei rund die Hälfte von ihnen im ersten Lebensjahr stirbt.12

Bis ins 19. Jahrhundert löste der Tod eines Kindes bei Erwachsenen eher Trauer als Angst aus. Kinder starben häufig in Anwesenheit der Familie, von Verwandten und Bekannten. Das Sterben und der Tod wurden als Teil des Lebens angesehen. Das änderte sich erst, als ab Anfang bis Mitte des 20. Jahrhunderts das Sterben und der Tod in den Gesellschaften des Globalen Nordens immer mehr aus dem Sichtfeld der Familie verdrängt wurden. Ein Grund ist sicher, dass das Sterben und der Tod großmehrheitlich nicht mehr in der häuslich familiären Umgebung, sondern in der Anonymität der Spitäler stattfanden.13

Das Verständnis und die Bilder vom Tod sind nicht angeboren. Die Kinder erwerben im Laufe ihres Sozialisationsprozesses die jeweiligen kulturellen, religiösen und familiären Besonderheiten im Umgang mit Sterben, Tod und Trauer.14 Viel früher, als Erwachsene ihnen das im Allgemeinen zutrauen15, entwickeln Kinder ein Todesverständnis und haben Bilder vom Sterben und Tod, die sie im Laufe ihres Älterwerdens mitnehmen.16

Kinder gleichen Alters, und zwar abhängig von ihrer Erziehung und Sozialisation, haben daher äußerst unterschiedliche Todesvorstellungen:

«Die Vorstellungen vom Tod beim Kind sind so unterschiedlich wie Kinder selbst.»17

10 Siehe Agnieszka Maluga 2020, S. 41 ff. sowie S. 55; Ann-Marie Sevcisk 2018, S. 7 ff.; Dietrich Niethammer 2008, S. 103 ff.

11 Die Säuglingsmortalität und damit die Todesfälle der unter einjährigen Kleinkindern nahm in der Schweiz zwischen 1870 und 2006 von rund 210 Promille auf 4,4 Promille ab, auch die Abnahme der Mortalität von Kindern zwischen einem und fünf Jahren lief parallel, dazu siehe Alfred Perrenoud 2010.

12 Siehe Fn. 5.

13 Siehe Dietrich Niethammer 2008, S. 103; Marco Hüttenmoser / Annina Oberwiler 1999, S. 27 ff.

14 Monika Specht-Tomann / Doris Tropper 2011, S. 59, benennen die drei folgenden Elemente, die eine Rolle spielen: «der Einfluss der vorherrschenden Kultur, der religiöse Einfluss mit den jeweils speziellen Vorstellungen von Leben und Tod sowie der Einfluss der engeren Umwelt, also der Herkunftsfamilie und des Freundeskreises.»

15 Siehe Dietrich Niethammer 2005, S. 14: «Wie kam es aber nun zu diesen – wie wir heute wissen – abwegigen und falschen Vorstellungen? Der Grund dafür ist wohl in der Tatsache zu finden, dass Mediziner, Pädagogen und Psychologen über die Möglichkeit von Kindern, sich mit Sterben und Tod auseinanderzusetzen, Konzepte entwickelt hatten, die wohl eher ihrem Selbstschutz dienten, als dass sie der Wahrheit nahe kamen.»

16 Siehe Agnieszka Maluga 2020, S. 65; zusammenfassend siehe Eva Bergsträsser 2016, S. 73 ff.

17 Monika Plieth 2011, S. 38.

Zusammenfassung: Kindliche Todesvorstellungen

Die über Jahrzehnte weitverbreitete Annahme, kindliche Todesvorstellungen seien ausschließlich vor dem Hintergrund ihres kognitiven Reifungsprozesses und dem Erreichen bestimmter Stadien der Begriffsbildung abhängig, gilt heute als überholt. Stattdessen kann festgehalten werden, dass unterschiedliche Ursachen für die Herausbildung konkreter Todesvorstellungen beim Kind verantwortlich sind.18 Denn jedes Kind macht unterschiedliche Erfahrungen, durchlebt individuelle Entwicklungen, und das vor seinem sozialen und kulturellen Hintergrund. Es gibt daher keine trennscharfen Systematisierungen von Todesvorstellungen nach Altersstufen, diese können jedoch als Orientierungshilfe dienen.19

Ab Mitte des 20. Jahrhunderts beginnt auch zögerlich die Auseinandersetzung mit der Frage, ob bei Kindern, die an einer lebensbegrenzenden Krankheit leiden, die Entwicklung des Todesverständnisses möglicherweise anders verläuft als bei gesunden. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der Medizin/Pädiatrie, Psychologie, Psychoanalyse als medizinisch-psychologische Disziplin, Pädagogik, Psychiatrie oder aus der Anthropologie veröffentlichten Arbeiten, im Speziellen über krebskranke Kinder, aus denen deutlich wurde, dass dies tatsächlich so ist.20

Exkurs: Grundlagenwissen zum Todesverständnis

Damit ein Kind versteht, was tot sein bedeutet, bedarf es entwicklungspsychologischer Vorbedingungen, welche namentlich von JEAN PIAGET21 erarbeitet wurden. Dazu gehören22:

• die stabile Objektkonstanz im Sinne, dass Personen und Objekte weiterhin da sind, auch wenn diese nicht mehr gesehen werden,

• die sichere Ich-Identität,

• die Unterscheidung von belebten und unbelebten Dingen,

• ein lineares Zeitempfinden und damit eine Unterscheidung von Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem sowie

• die Fähigkeit des logischen und abstrakten Denkens.

18 Siehe Monika Plieth 2011, S. 38, Fn. 23.

19 Siehe Agnieszka Maluga 2020, S. 67.

20 Zur chronologisch zusammengestellten wissenschaftlichen Entwicklung siehe im Speziellen Dietrich Niethammer 2008, S. 103 bis S. 138. Weiterführend siehe Kapitel 1.3.

21 Siehe grundlegend Jean Piaget / Bärbel Inhelder 2009; Jean Piaget 2017. Jean Piaget wurde am 9. August 1896 in Neuenburg geboren und verstarb am 16. September 1980 in Genf.

22 Zusammenfassend Agnieszka Maluga 2020, S. 67; als Grundlage kann das Lehrbuch von Annette Boeger 2022 herangezogen werden.

Vor diesem Hintergrund kann ein biologisches Todesverständnis entstehen. Ein Kind erkennt, dass

• die Körperfunktionen aufhören, wenn der Mensch verstorben ist.

• tot zu sein, einen unumkehrbaren Zustand darstellt.

• alle Lebewesen sterblich sind und niemand ewig leben kann.

• der Tod biologische Ursachen hat.23

Exkurs: Grundlagenwissen zu den vier Stadien kognitiver Entwicklung

Das kindliche Todesverständnis im Prozess des Entwicklungsalters bei Kindern orientiert sich an den vier Stadien kognitiver Entwicklung nach JEAN PIAGET24:

• In der sechsstufigen sensomotorischen Phase (ab Geburt bis ins zweite Lebensjahr) lernen der Säugling und das Kleinkind ihre Sinne kennen und führen erste Bewegungen aus.

• In der voroperationalen Phase (ab drittem bis zum siebten Lebensjahr) tritt das anschauliche Denken auf: Die Fantasie ist die Welt des Kindes, alles kann magisch und mythisch sein und menschliche Züge aufweisen (anthropomorph sein). Ereignisse werden aus einer ichbezogenen Perspektive erklärt, unbelebte Dinge sind lebendig (animistisch) und von Menschenhand gemacht. Aus der Wirkung eines Geschehnisses kann dessen Sinn erschlossen werden (finalistisch). Zudem verfügt das Kind in dieser Lebensspanne noch über kein realistisches Zeitverständnis.25

• In der konkret-operationalen Phase (ab siebtem bis zum elften Lebensjahr) entstehen die Grundlagen des logischen Denkens, aber immer noch auf anschaulichen respektive konkreten Erfahrungen.

• In der formal-operationalen Phase (ab elftem, zwölftem Lebensjahr) kann logisch und systematisch über konkrete und abstrakte Fragen und Probleme nachgedacht und können Vermutungen über mögliche Lösungen angestellt und diese sorgfältig überprüft werden.26

23 Siehe Stephanie Reuter 2020, S. 160; Monika Specht-Tomann / Doris Tropper 2011, S. 66 f.; Agnieszka Maluga 2020, S. 67.

24 Siehe Jean Piaget 2017, S. 230 ff., wobei er nur über gesunde Kinder geforscht und geschrieben hat. Zu dieser Aussage siehe Dietrich Niethammer 2008, S. 109; siehe auch Alain Di Gallo 2018, S. 70 ff.

25 Siehe zusammenfassend Agnieszka Maluga 2020, S. 69 f.; Elisabeth Schwarz 2003, S. 199.

26 Zusammenfassend siehe im Speziellen Annette Boeger 2022, S. 75 bis S. 95.

1.2 Entwicklung des kindlichen Wissens über das Sterben und den Tod

«Das Wissen um die kindlichen Todesvorstellungen ist wichtig, um sterbende Kinder besser zu verstehen.

Nur wer verstehen kann, hat auch die Chance, angemessen zu reagieren, was nicht immer zur eigenen Zufriedenheit gelingt.

Eigene Ansprüche und Unsicherheiten dürfen jedoch nicht dazu führen, Gesprächen über den Tod auszuweichen, denn eher der aktive Zugang erscheint hilfreich.

Ein wichtiger Schritt ist getan, wenn wir uns auf die Welt der Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen einlassen, auf ihre metapherreiche Sprache, ihre ablehnende Haltung, ihren Zorn, ihre Coolness.»

Boris Zernikow / Nicole Bunk 2021, S. 77.

Das nachfolgend Erarbeitete über das kindliche Todesverständnis im entwicklungspsychologischen Prozess dient, wie vorne ausgeführt, als Orientierungshilfe. Es wird in einem ersten Schritt aus der Perspektive von Kindern, die mit dem Sterben und dem Tod von anderen konfrontiert sind, erläutert.

1.2.1 Kleinkinder bis zum zweiten Lebensjahr

In der Psychologie wird davon ausgegangen, dass Säuglinge und Kleinkinder grundsätzlich bis ins zweite Lebensjahr hinein nicht die notwendigen entwicklungspsychologischen Bedingungen besitzen, um über ein realistisches Todesverständnis zu verfügen.

Für einen Säugling oder ein Kleinkind ist seine Mutter, sein Vater, ein Schnuller oder ein anderer Gegenstand entweder da oder abwesend. Das Verständnis und damit das Vertrauen, dass alles, was verschwindet, wiederkehrt, wird erst Schritt für Schritt entwickelt. Ihm fehlt auch ein Zeitverständnis, denn die Aussage «in einer Stunde wieder zu Hause sein» bedeutet Abwesenheit und kann Verlustängste auslösen. Säuglinge und Kleinkinder müssen daher den Wechsel von Dasein und Abwesenheit lernen.27

Säuglinge und Kleinkinder nehmen indessen Veränderungen wahr und reagieren unbewusst auf Trauer, Verlust und Trennung. Auf starke Gefühlsschwankungen

27 Siehe Eva Bergsträsser 2014, S. 55; siehe auch Martina Plieth 2011, S. 65 ff.

der Mutter oder des Vaters können sie mit Unruhe, möglicherweise auch mit einem plötzlich geänderten Ess- oder Schlafverhalten, antworten.28

Vor diesem Hintergrund ist es von zentraler Bedeutung, dass einerseits die wichtigsten Bezugspersonen da sind, wenn der Säugling oder das Kleinkind wach ist, und dass andererseits die Abläufe und Rituale rund um sie so wenig wie möglich geändert werden. Ungewohnte Geräusche und Ereignisse, beispielsweise viele und unbekannte Menschen oder lautes Weinen, sind von ihnen fernzuhalten.29 Das ermöglicht dem Säugling oder dem Kleinkind in den ersten Lebensmonaten ein Ur- und Grundvertrauen aufzubauen. Je tiefer ein solches Vertrauen ist, desto weniger sind später die Todesvorstellungen mit Angst behaftet.30

Demzufolge wird bei jedem Kind bereits in den ersten Stunden und Tagen der Grundstein für das Gefühl gelegt, ob es sich auf seine Umwelt verlassen kann. Denn es entwickelt in den ersten Lebensmonaten sehr rasch ein Gefühl, ob es sich vertrauensvoll und getrost in die Arme anderer legen kann, die seinen Bedürfnissen nachkommen können und seinen Schmerz verstehen. Trennungen und Verlust samt all den damit verbundenen körperlichen und seelischen Schmerzen sind nicht aus dem Leben wegzudenken, im Speziellen auch bei Kleinkindern nicht. Aus diesem Grund sind Säuglinge und Kleinkinder auf einzelne Bezugspersonen möglichst ohne Unterbrechung, auf Geborgenheit und Sicherheit sowie auf die Erfüllung ihrer Grundbedürfnisse angewiesen.31

Das Verständnis für «belebt» und «unbelebt» wird im Verlaufe des zweiten Lebensjahres aufgebaut und gilt als wesentliche Grundlage für die später zu entwickelnde Realitätsprüfung: Kinder beginnen ihre Gefühle auszudrücken und die Außenwelt erkennt, wenn sie ängstlich, zornig, ärgerlich oder traurig sind. Verliert ein Kind eine ihm nahestehende Bezugsperson, so reagiert es in diesem Alter mit heftigen Wutausbrüchen, mit Desinteresse am Spielen, um auf diese Weise seine Verzweiflung und Frustrationen auszudrücken. Denn es versteht nicht, was geschehen ist und sucht nach der oder dem Verstorbenen, und zwar häufig über eine längere Zeit.32

Auch in einer solch belastenden Situation ist es äußerst wichtig, die gewohnten Tages- und Nachtabläufe so wenig wie möglich zu ändern und dem Kind viel Zeit zu widmen. Zudem verstehen Kinder ab etwa 18 Monaten einfache Sätze wie, deine Mutter oder dein Vater ist nicht mehr da. Die Anwesenheit einer vertrauten engen Bezugsperson und die Wiederholung dieses einfachen Satzes gibt dem Kind Sicher-

28 Siehe Eva Bergsträsser 2014, S. 55; siehe auch Martina Plieth 2011, S. 65 ff.

29 Siehe Eva Bergsträsser 2014, S. 55; Boris Zernikow / Nicole Bunk 2021, S. 69.

30 Siehe Elisabeth Schwarz 2003, S. 198; siehe auch Martina Plieth 2011, S. 67.

31 Siehe zum Ganzen Monika Specht-Tomann / Doris Tropper 2011, S. 54; Boris Zernikow / Nicole Bunk 2021, S. 69; Franziska Bobillier 2022, S. 35.

32 Siehe Eva Bergsträsser 2014, S. 55.

heit, Gewissheit sowie Konstanz und hilft ihm, die Situation möglichst zu verstehen –aber trotz des zweijährigen Lernprozesses bleibt der Tod etwas Abstraktes, dessen vollständige Endgültigkeit nicht erfasst werden kann.33

Zusammenfassung: Bis zum zweiten Lebensjahr

Säuglinge und Kleinkinder erleben bis ins zweite Lebensjahr hinein den Verlust einer engen Bezugsperson über eine traurige Stimmung und eine entsprechende Atmosphäre um sie herum. Es ist daher elementar, dem Kind in einfachen Sätzen ehrlich und genau zu erzählen, was passiert ist. Sie begreifen jedoch den Tod nicht als etwas Endgültiges oder Unwiderrufliches, sondern als eine Form des Wegseins für eine bestimmte Zeit.

1.2.2 Vorschulkinder ab zweitem Lebensjahr

Beispiel: Todesvorstellung eines knapp Dreijährigen

Der knapp dreijährige Cousin von Till glaubt nach dessen Beerdigung fest daran, «dass Till irgendwann zurückkommt, und macht sich Gedanken dazu. ‹Vielleicht könnte ich ihn mit einem Flugzeug holen, mit einem selbst gebauten Jet direkt vom Blauen Haus [Elternhaus von Till, A.d.V.] aus. Oder wenn es dort irgendwo einen ganz hohen Baum gibt, könnte er doch wieder herunterklettern›, meint er hoffnungsvoll. An Weihnachten kaufe ich [Großmutter von Till und Ile, A.d.V.]

Glückwunschkarten, und der Dreijährige fragt, ob er eine haben könne, für Till. Er setzt sich an sein weißes Kindertischchen und malt Bögen, ‹Schnüerlischrift› nennt er das, und als ich frage, was er seinem Cousin denn schreibe, antwortete er: ‹Dass er in unserem Herzen ist.› Und da er gerade sein geliebtes Eisbärenkostüm trägt, meint er plötzlich: ‹Meme, schreibe ihm doch bitte noch liebe Grüße vom Eisbären dazu, dann muss Till sicher lachen, bis die Sterne wackeln.›»34

Da Kinder etwa ab dem Alter von zwei Jahren sprechen, ermöglichen sie den Erwachsenen, Einblicke in ihre fantasieausgeschmückte Welt zu nehmen. Ihr Denken ist magisch und mythisch und sie stehen im Zentrum ihrer eigenen Welt. Ihre Realität

33 Siehe Eva Bergsträsser 2014, S. 55 f.; Monika Specht-Tomann / Doris Tropper 2011, S. 69 f. samt Fallbeispielen; siehe auch Franziska Bobillier 2022, S. 35 samt Formulierungsvorschlägen.

34 Brigitte Trümpy-Birkeland 2014, S. 169.

ist eng mit ihrer Fantasie verbunden. Der Tod ist für sie vergleichbar mit dem Schlaf, der ein begrenzter Zustand und reversibel ist, und der Sarg ein Schiff, mit dem die oder der Verstorbene reisen kann. Die Endgültigkeit des Todes wird daher noch nicht verstanden.35 Die vierjährige Tochter von Elisabeth Kübler-Ross sagte, als ihre Familie einen toten Hund begrub:

«Das ist gar nicht so traurig. Im Frühling, wenn die Tulpen kommen, dann kommt er auch wieder heraus und spielt mit mir.»36

In der Fantasie des Kindes in diesem Alter können Verstorbene Hunger haben oder wieder erwachen. Wenn eine von ihm geliebte Person gestorben ist, kann es in diesem Alter daher selbst nach einer Beerdigung fragen, wann die oder der Verstorbene wiederkommt. Auch wenn es die Antwort nicht versteht, soll ihm ehrlich geantwortet werden, und zwar im Sinne, dass die oder der Verstorbene nie mehr kommt, da sie oder er tot ist. Denn Aussagen, wie, dass die oder der Verstorbene schläft oder auf einer langen Reise ist, kann zu großen Ängsten vor dem Schlaf oder einer langen Reise führen, da die oder der Tote ja nie mehr aufwacht oder heimkehrt – und das nimmt das Kind wahr.

Es kann sich aber auch verantwortlich für Ereignisse, sogar für den Tod eines anderen Menschen, fühlen. Daher ist es außerordentlich wichtig, ihm immer wieder zu versichern, dass es keine Schuld trägt.37 Zudem ist es notwendig, ihm zu erklären, dass Menschen sterben, wenn sie sehr, sehr alt oder sehr, sehr krank sind, denn sonst kann ein Kind, da es ja auch ab und zu krank ist, Ängste vor Krankheiten oder dem Tod entwickeln.38

In diesem Alter stellen Kinder Fragen über Fragen, teilweise immer die gleichen, denn sie möchten wissen, was genau passiert ist und wohin die oder der Verstorbene gegangen ist. Wesentlich ist in diesem Zusammenhang, dass die Antworten ehrlich, aber einfach ausformuliert sind und immer gleich ausfallen, beispielsweise, dass die Verstorbenen nicht mehr atmen, sich nicht mehr bewegen oder dass ihr Körper nichts mehr spürt. Dies hilft ihnen, die Realität zu erforschen und das Geschehene zu verarbeiten.39

35 Siehe Eva Bergsträsser 2014, S. 56; Monika Specht-Tomann / Doris Tropper 2011, S. 71.

36 Elisabeth Kübler-Ross 2011, S. 114. Brigitte Trümpy-Birkeland 2014, S. 78: «Später ziehe ich [Tills Großmutter, A.d.V.] Till in seinem roten Ferrari [Leiterwagen, A.d.V.], so schnell es nur geht, den Rhein entlang. Malin [Tills jüngere Schwester, A.d.V.] rennt neben uns, will wissen, wer schneller ist, sie oder Till. Alles muss magisch werden, wenn man dem Tod eine lange Nase drehen will, und Malin glaubt plötzlich, die Steine am Ufer singen zu hören.»

37 Siehe Eva Bergsträsser 2014, S. 56; Elisabeth Schwarz 2003, S. 199.

38 Siehe Eva Bergsträsser 2014, S. 57 f.; Elisabeth Schwarz 2003, S. 199 f.

39 Siehe Eva Bergsträsser 2014, S. 57; zu Angebote für das Verständnis von Tod, für den Umgang mit Warum-Fragen und zum magischen Denken siehe Franziska Bobillier 2022, S. 36 f.

Wenn Kinder im Vorschulalter mit dem Sterben und dem Tod von anderen konfrontiert werden, sind sie vor allem auf emotionale Zuwendung, Geborgenheit und Sicherheit, Stabilität im häuslichen Ablauf und auf Zeit und Unterstützung angewiesen. Verschiedenste Bilderbücher40, Puppen- und Rollenspiele geben ihnen Halt und Sicherheit. Aber auch Gesprächsbereitschaft, Lob und Anerkennung sind hilfreich.41

Zusammenfassung: Ab zweitem Lebensjahr

Kinder im Vorschulalter beginnen, den Tod zu erfragen und dessen Geheimnisse zu erforschen. Sie glauben in ihrer Fantasiephase aber nicht, dass sie selbst sterben könnten, sondern, dass sie und alle ewig leben oder die geliebten Personen sich vor dem Tod verstecken könnten. In dieser Phase ist es wichtig, einfach und ehrlich, aber immer gleich auf ihre Fragen zu antworten. Denn die Kinder wollen es ganz genau wissen, beispielsweise, was bei einer Beerdigung geschieht, wie es in einem Sarg aussieht oder ob sie die Seele sehen könnten. Sie hören genau zu und überprüfen das für sich selbst.42

1.2.3

Grundschulkinder ab siebtem Lebensjahr

Mit dem Beginn der konkret-präoperationalen Phase43 lösen sich Kinder von der Vorstellung, Dinge und Abläufe allein beeinflussen zu können. Zudem können sie zunehmend die Perspektive von anderen einnehmen. Kinder sind nun in der Lage, durch die bereits erworbenen Fähigkeiten, Sachverhalte in einen logischen Zusammenhang zu setzen, und damit komplexere Denkoperationen durchzuführen sowie Probleme systematisch zu lösen.44

Durch diese neu erworbenen Fähigkeiten erlangen Kinder die Kenntnis, dass gewisse Abläufe und Prozesse nicht mehr rückgängig zu machen sind. Sie beginnen zu begreifen, dass nicht alles umkehrbar ist. Zudem entwickeln die Kinder mit dem Beginn der Schulzeit ein Gefühl für Zeitabstände. Sie erleben die Länge einer Schulstunde, einer Woche, der Ferien und die eines Schuljahres.45

Grundschulkinder interessieren sich für die Geheimnisse des Lebens: Sie hören am Familientisch oder an Familienfesten bewusster und aktiver den Gesprächen der

40 Siehe Kapitel 1.4.

41 Siehe Boris Zernikow / Nicole Bunk 2021, S. 69 f.

42 Siehe Eva Bergsträsser 2014, S. 57 f.; Monika Specht-Tomann / Doris Tropper 2011, S. 71 ff.

43 Siehe Kapitel 1.1, Exkurs: Grundlagenwissen zu den vier Stadien kognitiver Entwicklung.

44 Siehe namentlich Agnieszka Maluga 2020, S. 70; Boris Zernikow / Nicole Bunk 2021, S. 70.

45 Siehe namentlich Agnieszka Maluga 2020, S. 70; Elisabeth Schwarz 2003, S. 200 f.; Martina Plieth 2011, S. 71 f.

Erwachsenen zu. Auch tauschen sie sich mit den Gleichaltrigen in der Schule aus. Ebenso üben Beerdigungen und Friedhöfe eine Faszination auf sie aus. Wenn sie in diesem Alter erstmal den Tod einer oder eines Familienangehörigen oder den Tod eines Haustieres erleben, veranlasst sie dies zu eigenen Gedanken, und die ersten großen Fragen zum Leben tauchen auf: Was bedeutet Tod? Warum muss eine Person sterben? Was geschieht nach dem Tod? Der kindliche Glaube, dass beispielsweise Pflanzen, aber auch unbelebte Objekte beseelt sind, ist zwar noch nicht gänzlich überwunden, aber sie können die Antworten der Erwachsenen auf ihre Fragen immer besser einordnen.46

Das Todesverständnis ist nun zwar realistischer, aber in diesem Alter wird der Tod oftmals personifiziert, beispielsweise als Engel oder Skelett.47 Grundschulkinder können sich infolge eines Todesfalls große Sorgen um die Gesundheit der anderen Familienmitglieder, beispielsweise der Mutter oder des Vaters, machen und große Ängste entwickeln. Sie brauchen die Nähe ihrer Eltern mehr als zuvor und wollen unter anderem nicht auswärts schlafen.48

Zusammenfassung: Ab siebtem Lebensjahr Kinder erkennen nun Schritt für Schritt, dass der Tod etwas Endgültiges oder Unwiderrufliches ist und dass alle sterben müssen – sich selbst nehmen sie aber noch weitgehend davon aus. Neun-, Zehnjährige nähern sich dem Todesverständnis von Erwachsenen an. Bereits Elfjährige haben Kenntnisse über die biologischen Zusammenhänge und wissen, dass tot wirklich tot bedeutet. Sie reagieren beim Tod einer geliebten Person in diesem Alter häufig mit körperlichen Beschwerden, ziehen sich in ihrer Trauer zurück oder sie drücken ihre Trauer mit Wut und Aggressionen aus. Je mehr sie ermutigt werden, ihren Schmerz mit anderen zu teilen, beispielsweise über verschiedene Rituale49, desto eher können sie den Verlust verarbeiten.

46 Siehe Agnieszka Maluga 2020, S. 70 f.; Monika Specht-Tomann / Doris Tropper 2011, S. 75 ff. samt Fallbeispielen.

47 Zur Personifikation des Todes siehe namentlich Martina Plieth 2011, S. 72 ff. samt Verweisen in Fn. 208. Zu Beispielen konkreter Imaginationen siehe Dies. 2011, S. 81 ff.; siehe auch Franziska Bobillier 2022, S. 39.

48 Siehe Eva Bergsträsser 2014, S. 58; Elisabeth Kübler-Ross 2011, S. 115; siehe dazu auch Agnieszka Maluga 2020, S. 70 f.

49 Siehe Kapitel 7.6 Abschiedsrituale.

1.2.4 Kinder ab zwölftem Lebensjahr

Die Neugierde ab dem zwölften Lebensjahr für herausfordernde Themen, auch das Interesse am Geheimnis des Todes, wächst mit beginnender Pubertät weiter. Denn durch die Suche nach der eigenen Identität wird die Sinnfrage des Lebens drängender und damit rückt auch der eigene Tod punktuell ins Gesichtsfeld.50

Jugendliche suchen bei der Auseinandersetzung über die großen Fragen des Lebens vor allem den Sinn in allem Werden und Vergehen. Sie denken über konkrete und abstrakte Fragen und Probleme nach, stellen Vermutungen über mögliche Lösungen an und überprüfen diese auch sorgfältig. Das Werden und Vergehen und damit das Sterben und der Tod gehören fast unausweichlich zum Leben in der Pubertät – im Gegensatz dazu finden Erwachsene meistens keinen spontanen Zugang zu diesen Themen.51 Jugendliche suchen denn auch aufgrund ihrer besonderen Lebensphase verstärkt Konfrontationen mit den Positionen, Konzepten und Meinungen der Erwachsenen, um sich einen eigenen Standpunkt erarbeiten zu können52 – auch im Zusammenhang mit Sterben und Tod.

Die Diskussionen und Überlegungen über die Todesvorstellungen bei einem Teil der Kinder im Übergang zu Jugendlichen sind tendenziell verklärend und romantisierend. Diese können einhergehen mit Todeswünschen und einem ausgeprägten Totenkult, und zwar aus ihrer Weltschmerzstimmung heraus. Andere berührt der Tod wenig, sie fühlen sich durch den Tod nicht bedroht, oder sie reagieren, namentlich in Bezug auf die Tatsache, dass auch sie einmal sterben müssen, mit einem mehr oder minder brutalen Zynismus.53

Zusammenfassung: Ab zwölftem Lebensjahr Kinder und Jugendliche besitzen ab dem elften, zwölften Lebensjahr biologischmedizinisch realistische Todesvorstellungen. Sie wissen, dass die Körperfunktionen aufhören, wenn der Mensch verstorben ist, dass tot zu sein, einen unumkehrbaren Zustand darstellt, dass alle Lebewesen sterblich sind und niemand ewig leben kann und der Tod biologische Ursachen hat.54 Ab dieser Altersstufe sind sie

50 Siehe Agnieszka Maluga 2020, S. 71; Monika Specht-Tomann / Doris Tropper 2011, S. 78 ff. samt Fallbeispielen; Elisabeth Schwarz 2003, S. 201.

51 Siehe Detlef Bongartz 2019, S. 158.

52 Siehe Agnieszka Maluga 2020, S. 71 f.

53 Siehe Agnieszka Maluga 2020, S. 71; Elisabeth Schwarz 2003, S. 201; Boris Zernikow / Nicole Bunk 2021, S. 73; zu möglichen Trauerreaktionen siehe Franziska Bobillier 2022, S. 43 f. Weiterführend über das eigene Sterben und den Tod siehe Kapitel 1.3.4.

54 Siehe Kapitel 1.1, Exkurs: Grundlagenwissen zum Todesverständnis.

auch in der Lage, die Vorgänge des Sterbens und des Todes auf den eigenen Körper und das eigene Leben zu übertragen. 55

In einem zweiten Schritt wird nun die Frage beantwortet, was Kinder, je nach ihrem Alter und Entwicklungsstand, über die Themen «Sterben» und «Tod» wahrnehmen und wissen, und zwar aus der Perspektive von Kindern, die an einer lebensbegrenzenden Krankheit leiden und sich mit ihrem eigenen Sterben und Tod auseinandersetzen müssen.

1.3 Todesverständnis von Kindern, die sich mit dem eigenen Sterben und ihrem Tod auseinandersetzen müssen

«Till beginnt, sich auch von Menschen des innersten Kreises zu verabschieden, und liegt immer öfter nur noch in Mamas und Papas Bett.

Und eines Tages will er nur noch diese eine Mama-Hand halten, schafft sich Abstand, als wolle er uns jetzt schon lehren, ohne ihn weiterzuleben.

Das Loslassen wird nun ganz konkret und tut entsetzlich weh.»

Brigitte Trümpy-Birkeland 2014, S. 151.

1.3.1 Grundlegend

Bis vor ein paar Jahrzehnten redeten die Erwachsenen grundsätzlich nicht mit Kindern über den Tod – so wie sie auch nicht untereinander über den Tod sprachen. Die Erwachsenen sahen darin auch keine Notwendigkeit. Denn namentlich in der Psychoanalyse56 und der Entwicklungspsychologie57 wurde die Meinung vertreten, dass Kleinkinder, Kinder im Vorschulalter und in der Grundschule nichts über den Tod wissen, kein reales Todesverständnis haben und entwickeln können und aufgrund dessen nicht darüber nachdenken.58 Auch Kinderärzte und Kinderärztinnen vertra-

55 Siehe im Speziellen Agnieszka Maluga 2020, S. 71.

56 Namentlich Sigmund Freud, Die Traumdeutung, Erstausgabe Leipzig, Wien 1900 / Studienausgabe Frankfurt am Main 1972.

57 Namentlich Jean Piaget, siehe Kapitel 1.1.

58 Siehe zusammenfassend Boris Zernikow / Nicole Bunk 2021, S. 68 f.

ten diese Haltung und bis in die 1970er- und 1980er-Jahre wurde dies auch den Studenten und Studentinnen der Medizin eingeprägt und gelehrt.59

Es waren insbesondere die Kinder, welche an Krebs erkrankt waren, die mit ihrer Krankheit eine Veränderung erwirkten. Bis zu Beginn der 1970er-Jahre überlebten allenfalls fünf bis zehn Prozent der an Krebs erkrankten Kindern trotz aller Therapieversuche – das hat sich glücklicherweise geändert. Das bedeutete jedoch, dass damals in der Kinderonkologie ab dem ersten Tag der Diagnose der Tod im Raum stand.60

Fachpersonen aus verschiedenen Disziplinen nahmen sich neu der Thematik an. Es wuchs langsam, aber stetig die Erkenntnis, dass die Todesvorstellungen respektive das Todesverständnis von gesunden und todkranken Kindern sich unterscheiden, und zwar nicht bezogen auf die von Jean Piaget61 erarbeitete Reihenfolge der Entwicklungsstufen, sondern auf den Zeitablauf. Lebensbegrenzend erkrankte Kinder durchleben genauso wie gesunde Kinder die verschiedenen Entwicklungsstufen. Eine lebensbegrenzende Diagnose führt jedoch zwangsläufig dazu, dass die Entwicklungsphase, in der sie sich befinden, um eine intensive Auseinandersetzung mit dem Tod erweitert wird.62

Lebensbegrenzend erkrankte Kinder werden durch ihre Krankheit zu einer frühen Auseinandersetzung mit Fragen über das Sterben und den Tod gezwungen. Sie vermitteln bezüglich ihrer Entwicklung ein verwirrendes Bild:

«In gewissen Bereichen sind sie sehr weit, haben ein großes Wissen und einen eindrücklichen emotionalen Bezug, in anderen Bereichen schützen sie sich durch Regression, die als wohl wichtigster Bewältigungsmechanismus einen gewissen Schutz vor der zerstörerischen Bedrohung bieten kann.»63

Da individuelle Lebensereignisse und eigene Erfahrungen die kognitive Entwicklung prägen, weisen Kinder, die in einer besonderen Beziehung und Nähe zur Todesthematik sind, einen gedrängteren Entwicklungsverlauf auf. Sterbende Kinder wissen um ihre Situation, ahnen oder spüren diese, auch wenn ihnen die Worte dafür fehlen. Denn Erwachsene, das können Eltern oder Fachpersonen sein, welche das Kind unterstützen und begleiten, berichten, dass etliche sterbende Kinder sich bewusst

59 Siehe Dietrich Niethammer 2008, S. 104.

60 Siehe Dietrich Niethammer 2008, S. 105.

61 Siehe Kapitel 1.1, Exkurs: Grundlagenwissen zu den vier Stadien kognitiver Entwicklung.

62 Siehe Agnieszka Maluga 2020, S. 72; zum Todesverständnis bei gesunden und kranken Kindern siehe ausführlich Dietrich Niethammer 2008, S. 61 ff. sowie S. 103 ff.

63 Alain Di Gallo 2018, S. 72.

Die Autorin und der Verlag danken folgenden Institutionen für ihren Beitrag zur Publikation dieses Buchs:

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Gedruckt in der Tschechischen Republik

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Über das Sterben und den Tod zu sprechen, ist schwierig, fast nicht möglich, und dennoch gehört der Tod zum Leben. Der Verlust des eigenen Kindes ist für Eltern eine der schwersten Erfahrungen. Dieses Buch bietet grundlegende und praxisorientierte Antworten aus interdisziplinärer Perspektive zur Pädiatrischen Palliative Care.

Im ersten Teil steht das Kind im Mittelpunkt: Was wissen Kinder – je nach Alter und Entwicklungsstand – über den Tod? Was wissen sterbende Kinder? Es werden Fragen zum Trauer- und Sterbeprozess, zu den Rechten todkranker Kinder sowie zur Kommunikation mit ihnen beantwortet.

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ISBN 978-3-258-08433-6

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