
David Jenny, Serge Denis, Heinrich Haller mit Illustrationen von Lea Gredig
David Jenny, Serge Denis, Heinrich Haller mit Illustrationen von Lea Gredig
Carl Stemmler gewidmet –dem Pionier der Schweizer Steinadlerforschung
David Jenny, Serge Denis, Heinrich Haller mit Illustrationen von Lea Gredig
Haupt Verlag
2| Körperbau
Die Unterarten des Steinadlers – geografisch bedingte Feinanpassungen
Alte Steinadler verlieren an Spannkraft
Vom Jugendkleid zum Alterskleid – eine Metamorphose 41
Ausgebleichte Federn helfen bei der Altersbestimmung 44
Ein symmetrischer Federwurf – Serge Denis 46
Die Mauser – ein stetiger Erneuerungsprozess 47
Kampfopfer-Spuren kontra Hungerstreifen 50
4| Jagdverhalten und Ernährung
Gewichte vermag ein Steinadler zu tragen?
Beuteschlag – nur jeder zehnte Versuch ist erfolgreich
Erfolgreich Beuteschlagen – eine kognitive Parforceleistung
Tierkadaver sind die Treiber für Wanderungen von Jungadlern
werden verteidigt
Unsichtbare Reviergrenzen werden respektiert
Attacken können tödliche Folgen haben 111 Die Zahl der Kampfopfer ist gestiegen 113
Der Girlandenflug – ein klassisches Steinadlerverhalten 114 Konkurrenz als Schlüsselfaktor 116
Selbstregulation – ein universelles Phänomen bei tierischen Populationen 117
Mit zahmen Adlern unterwegs für die Wissenschaft 122
Die räumliche Trennung innerhalb der Reviere verstärkt den Einzeladler-Effekt 124
Neue Strategien als Antwort auf neue Herausforderungen 127 Zwischenartliche Konkurrenz 136
3| Verbreitung, Lebensraum, Nahrungsgrundlage 55
Verbreitungslücken und Überwinterungsgebiete – zum
Brüten reicht es nicht 57
Ist der Steinadler ein Vogel der Gebirge? 58
Steinadler sind auch Flachländer 60
In der Schweiz lebt 98 % des Steinadlerbestands in den Alpen
6| Fortpflanzung 141
Horste 142
Der Steinadlerhorst von Carl Mosca in der Val Sinestra 146
Besonderheiten bei Steinadlerhorsten 150
Fruchtbarkeit, Eiablage, Gelegegröße 164
Relativ große Eier, manchmal taub und sehr selten als Nachgelege 165
Konstante Brutperioden, aber individuelle Unterschiede 166
Ablösungen beim Brutgeschäft – das Weibchen dominiert 168
Kainismus 174
Geschlechterrollen der Altvögel bei der Jungenaufzucht 176
Bruterfolg, Nachwuchsrate, Brutgröße – Messgrößen für die Fortpflanzung 179
Bettelflugphase 185
Jungadler erhalten einen Sender 188 Technologische Entwicklungen ermöglichen
Erkenntnis-Schübe 194
8| Todesursachen, Gefährdung und Schutz des Steinadlers 213 Relativ hohe Überlebensraten 214 Tod durch Gift 216 Tödliche Kollisionen mit Kabeln 222
Besetzte Horste vor Störungen aus der Luft besser schützen 225 Störungen am Brutplatz 228 Gemäß der «Roten Liste» nicht mehr gefährdet – trotzdem bleibt der Bestand verletzlich 231
9| Synthese und Ausblick 233
Die Alpenpopulation im Kontext der weltweiten Verbreitung 234
Gefährdungsrisiken mit Fokus auf die Schweiz 236 Rückblick und Ausblick 237 Schlussbemerkungen 240 Wie wir zu Adlerforschern wurden
7| Entwicklung der Population in den Alpen, im Mittelland und im Jura 197
Bestandsaufnahmen und -trends als Grundlage für den Artenschutz 198
Im Horstfieber – Herausforderungen und Nutzen von Bestandsaufnahmen und des Brutpaarmonitorings 198
Rückeroberungen seit dem Bestandstiefpunkt 200
Im Alpenraum – Verdichtung nach innen 204 Bestandswachstum im Wallis 209 Die Schweizer Alpenpopulationen im Vergleich 210 Heimatliebe 211
Die Autoren und die Illustratorin
Ergänzende Abbildungen und Tabellen
«Ich rieche nichts», meinte mein Partner bei einer Sendermontage, der Aufforderung zum Hinhalten der Nase folgend. Stets, wenn ich einen unserer Steinadler-Nestlinge in den Händen hielt, musste ich tief einatmen. Dieser puderartige, sanfte und doch herbe Geruch von Jungadlern war bei mir mit positiven Assoziationen verknüpft. Gerüche werden im Langzeitgedächtnis insbesondere dann gespeichert, wenn sie mit Emotionen in Verbindung stehen. Bei Steinadlern waren es ganz offensichtlich Momente des Glücks. Die Leidenschaft für Steinadler teile ich zwar mit anderen Naturfreunden, derart diesem Vogel verfallen wie ich es bin, sind in der Schweiz aber wohl nur eine Handvoll Gleichgesinnte. Dazu gehören die beiden Mitautoren dieses Buches, Heinrich Haller und Serge Denis. Der charismatische Steinadler eignet sich besonders gut zur Entfachung einer Leidenschaft; er faszinierte die Menschen seit jeher und ist gerade auch deswegen mit Mythen beladen worden. Die Herausforderung für Forscher bestand und besteht daher darin, die sogenannten Könige der Lüfte von ihren Legenden zu befreien und mit nüchternem Blick deren wahre Lebenshintergründe zu beleuchten. Das ist in der heutigen Zeit des raschen Wandels notwendiger denn je, denn nur durch adäquates Wissen lassen sich die aktuellen Bedürfnisse potenziell gefährdeter Tierarten erkennen, wodurch letztlich die richtigen Artenschutz-Maßnahmen ergriffen werden können.
Die weltweit verbreiteten Steinadler haben in der Schweiz ihre ganz eigene Geschichte durchgemacht, die dank Pionieren wie Carl Stemmler heute sehr gut dokumentiert ist. Der Schaffhauser Stemmler, der auch zur Gilde der Steinadlerbefallenen gehörte, hatte in der Mitte des 20. Jahrhunderts den Keim für die nächsten Generationen von Steinadlerforschern gesetzt. Dazu zählen auch die Autoren dieses Buches, welche ihre Erkenntnisse wiederum an die heutige Forschergeneration weiterreichen.
Die Perspektive, welche das Buch aufzeigt, ist eine Mischung aus Rückschau, Kompilation aktuellen Wissens und Einblick in die moderne Forschung. Wenn wir manchmal in ökologische Erkenntnisebenen abschweifen oder eigene menschliche Befindlichkeiten beschreiben, so werden wir doch stets den Steinadler als Protagonisten im Zentrum behalten. Einen besonders genauen Blick werfen wir auf die Kan-
tone Graubünden mit dem Engadin, auf das Wallis und den Kanton Bern.
Die bewegte Geschichte des Steinadlers steht auch stellvertretend für dessen Lebensräume in den vielerorts wild gebliebenen Alpen, dem in Mitteleuropa mit Abstand größten naturnahen Raum. Und für andere Beutegreifer, deren Ruf auch heute noch oder sogar verstärkt wieder beschädigt wird. Unser Fokus beleuchtet immer wieder die Verletzlichkeit des Steinadlers und von Beutegreifern ganz allgemein. Diese latente Gefährdung wird nirgends so deutlich wie in den Adler-Kinderstuben. Besetzte Horste bilden eine Intimsphäre, welche absoluten Schutz erfordert. Störungen an Brutplätzen durch Horstfotografie kommen in der Schweiz leider häufiger vor als anderswo. Wir verzichten daher – abgesehen von wenigen historischen – auf Nahaufnahmen während der sensiblen Brutphase und zeigen stattdessen eigens angefertigte Bleistiftzeichnungen unserer äußerst engagierten Illustratorin Lea Gredig.
Steinadler neigen dazu, uns Menschen pathetisch werden zu lassen. Dem begegnen wir mit der nötigen Reserve, denn wir wollen faktenbasiertes Wissen vermitteln. Und doch empfiehlt es sich manchmal, die Symbolhaftigkeit des großartigen Jägers und Seglers zu bemühen. Im besten Sinn für alle, denn wer sonst soll uns besserer Botschafter sein für den Schutz der alpinen Landschaften, als dessen unbestrittener fliegender König.
David Jenny, Zuoz, im Juni 2025
Nachfolgende Doppelseite Frühe fotografische Aufnahme mit Jungadler und Horstanflug eines Altvogels aus den 1930erJahren im Berninagebiet (im Hintergrund mit Piz Palü). Als einer der Ersten filmte Bartholomé Schocher aus Pontresina das Brutgeschehen an einem Steinadlerhorst in luftiger Höhe (B. Schocher, Mitte der 1930er-Jahre, Pontresina GR. Archiv A. Lochau).
Gattung Aquila (Echte Adler; Brisson 1760)
Raubadler (oder Savannenadler)
Steppenadler
Östlicher Kaiseradler
Iberienadler (oder Westlicher Kaiseradler)
Molukkenadler (oder Gurney’s Adler)
Keilschwanzadler
Steinadler
Schwarzachseladler (oder Cassin’s Adler)
Klippenadler (früher Kaffernadler)
Habichtsadler
Afrikanischer Habichtsadler (oder Akazienadler)
Bevor wir die Körpermaße, das Gefieder und die Mauser genauer betrachten, werfen wir einen Blick auf die heute bekannten Unterarten des Steinadlers.
Die Unterarten
des Steinadlers –geografisch bedingte Feinanpassungen
Unterarten sind Varietäten von Steinadlern, die sich während der jüngsten Stammesgeschichte isoliert entwickelten und genetisch differenzierten. Im Gegensatz zu Arten bestehen zwischen Unterarten keine Fortpflanzungsschranken. Deren morphologische Unterscheidung basiert einzig auf einem eingeschränkten genetischen Austausch aufgrund von geografischer Distanz. Diese Unterschiede sind aber klein und äußerlich schwer zu erkennen; zudem gibt es stets auch Übergangsformen. Sie bedürfen einer genauen, vergleichenden Untersuchung von Körpermerkmalen, heute ergänzt durch Ergebnisse genetischer Analysen. Die Unterteilung erfolgte in der Vergangenheit – je nach Autor – in bis zu 14 Unterarten (Hartert 1922, Dementjew & Gladkow 1951, Vaurie 1965).
Im holarktischen, einen großen Teil der Nordhemisphäre umfassenden Verbreitungsgebiet des Steinadlers, lassen sich gemäß Fischer (1995) zwei biologische Gruppen unterscheiden: eine Waldgruppe im Norden und eine Gebirgsgruppe im Süden. Diese sind aber aufgrund der weiten Ausbreitung keinesfalls einheitlich und lassen sich auch nicht morphogenetisch unterscheiden: Die Vögel zeigen geringfügige Anpassungen an die verschiedenen Lebensräume und Überlebensstrategien. Der stärkste Größenunterschied ist zwischen den großen Formen
Aquila rapax (Temminck, 1828)
Aquila nipalensis (Hodgson, 1833)
Aquila heliaca (Savigny, 1809)
Aquila adalberti (C.L. Brehm, 1861)
Aquila gurneyi (G.R. Gray, 1861)
Aquila audax (Latham, 1806)
Aquila chrysaetos (Linnaeus, 1758)
Aquila africana (Cassin, 1865)
Aquila verreauxii (Lesson, 1831)
Aquila fasciata (Vieillot, 1822)
Aquila spilogaster (Bonaparte, 1850)
in Zentralasien und Ostsibirien und den wesentlich kleineren Steinadlern in Korea und Japan zu erkennen. Auch die nordamerikanische Form ist kleiner als die Nominatform Aquila chrysaetos chrysaetos (diese beschreibt die namensgebende Unterart, die als Vergleichsbasis herangezogen wird). Haller (1996) führt die Größenunterschiede mindestens teilweise auf Anpassungen an die Größe der wichtigsten Beutetiere zurück. Während im Norden des Areals und in den Alpen größere Huftiere wie Rentiere oder Gämsen geschlagen werden, sind es in Nordamerika oder Japan kleinere Tiere wie Hasen, Kaninchen oder Fasane. Die bezüglich Größe zwischen den sibirischen und fernöstlichen Formen liegende Nominatform wird auch als Goldadlertypus mit viel rostbräunlichen Tönen im Gefieder beschrieben. Allerdings bestehen aufgrund von alters- und mauserbedingten Gefiederausbleichungen durch das Sonnenlicht auch erhebliche individuelle und phasenbedingte Unterschiede bezüglich Gefiederfärbung. Generell haben die südlichen Formen aber ein dunkleres Grundgefieder. Dazu gehören die Steinadler aus Spanien, Nordafrika, Afghanistan, Pakistan, Indien (Abb. 3) und Nepal bis West- und Zentralchina und der Mongolei sowie Korea und Japan. Eine Ausnahme bilden die Steinadler auf Kamtschatka, welche trotz nördlicher Verbrei-
Tab. 1 Die Vertreter der Gattung Aquila bilden eine monophyletische Gruppe. Dieser Einteilung liegen neue Erkenntnisse über genetische Distanzen bei nuklearer und mitochondrialer DNA zwischen den Arten zugrunde (nach Lerner et al. 2016; in Klammern sind die Naturforscher aufgeführt, welche die Art erstmals taxonomisch beschrieben).
tung sehr dunkel sind. In Nordamerika unterscheidet Fischer (1995) eine hellere Form im Norden von einer dunkleren im Süden.
Die hier aufgeführte aktuelle Einteilung in sechs Unterarten (Abb. 4) basiert auf der bereits durch Carl von Linné (1758) und dem Russen Alexei Sewerzov (1888) zurückgehende Taxonomie, ist aber – mit Aussicht auf immer feiner werdende genetische Analysen – als nicht abschließend zu betrachten. Es lässt sich eine westliche und eine östliche Formengruppe unterscheiden:
Westpaläarktische Gruppe:
• Aquila chrysaetos chrysaetos (Nominatform; Linné 1758): Relativ große, eher helle Form. Verbreitung: Europa ohne Iberische Halbinsel, Westsibirien.
• Aquila chrysaetos homeyeri (Sewerzov 1888): Etwas kleiner und dunkler als die Nominatform. Verbreitung: Südlich an Nominatform anschließend; Nordafrika, Iberische Halbinsel, Kleinasien, Kaukasus, Arabische Halbinsel, von dort bis in den Iran.
Ostpaläarktische und nearktische Gruppe:
Abb. 3 Immatures Steinadler-Männchen der Unterart daphanea, aufgenommen in Ladakh. Aquila chrysaetos daphanea ist die größte Unterart und etwas dunkler gefärbt als die Nominatform (H. Haller, 19.02.2023).
• Aquila chrysaetos daphanea (Sewerzov 1888; Abb. 3): Noch dunkler als A. c. homeyeri, größte Unterart. Verbreitung: vom Osten des Iran über Afghanistan, Pakistan, Nordindien und Nepal bis West- und Zentralchina und die Mongolei.
Im Alter von etwa 15 bis 20 Jahren geht die Vitalität von Steinadlern allmählich zurück. Das äußert sich in nachlassender Agilität und Spannkraft, was sich insbesondere bei konkurrenzbedingten Auseinandersetzungen mit Artgenossen bemerkbar macht. Dieser Nachteil kann durch zunehmende Erfahrung und Revierkenntnisse teilweise wettgemacht werden. Alterserscheinungen zeigen sich aber auch äußerlich sichtbar an einigen Körpermerkmalen. Die bei jugendlichen Steinadlern auffallend gelben Hautpartien am Schnabel (Wachshaut) verblassen langsam und werden ungefähr ab dem 15. Lebensjahr deutlich fahler und schließlich gräulich. Der Schnabelwinkel (Lippen), welcher die
Schnabelöffnung säumt, verliert an Volumen, wird dünn und ist nur noch schwach angedeutet vorhanden. Ähnliche Verfärbungen finden auch an den Fängen statt (Abb.12). Deren ehemals gelb-orange Farbe wird langsam gräulich und stellenweise –durch altersbedingte, relativ häufig vorkommende Entzündungen (teils durch Verletzungen) – auch rötlich. Da bei Vögeln keine Strukturen wie Zähne existieren, welche lebenslänglich abgenutzt werden, lässt sich das Alter bei betagten Steinadlern nur anhand solcher Hautveränderungen am Schnabel und an den Fängen abschätzen. Die Krallen und der Schnabel des Steinadlers bestehen genauso wie die Federn aus Keratin (Hornmaterial). Sie
erneuern sich ständig. Dazu bildet sich unter der alten eine neue Kralle bzw. unter dem alten ein neuer Schnabel, der die alte, darüberliegende Schicht systematisch abblättern lässt. Dieser Vorgang kommt mit fortgeschrittenem Alter aus dem Rhythmus und kann weitere Hinweise auf eine Alterseinschätzung liefern. Es braucht dann eine Gesamtbetrachtung des Vogels aus der Nähe unter Einbezug der oben erwähnten Veränderungen der Hautpartien, um eine grobe Altersschätzung vornehmen zu können. Genaue Angaben zum Alter wild lebender, betagter Steinadler sind nur anhand der vereinzelten Ringfunde oder in Ausnahmefällen durch kontinuierliches individuelles Beobachten möglich. Das so belegte Maximalalter liegt bei mindestens 30 Jahren in der Schweiz (Haller 1996) und 37 Jahren in Europa (Abb.11; Fransson et al. 2023). Gefangenschaftsvögel können aber wesentlich älter werden, bis zu 57 Jahre sind nachgewiesen worden (Glutz von Blotzheim et al. 1971). Die mittlere Lebenserwartung liegt allerdings viel tiefer, da insbesondere unverpaarte Jungadler oft vor dem Erreichen der Geschlechtsreife umkommen. Einmal adult und verpaart, beträgt die Verweildauer eines Steinadlers in einem Revier aber durchschnittlich mindestens 11 Jahre (Haller 1996). Über 20-jährige Steinadler werden heute vermehrt von jüngeren Vögeln aus ihrem Revier verjagt und ersetzt. Für solche Vögel sinkt die Überlebensrate dann rapide.
Abb.11 Linke Seite: Der älteste bekannte und wild lebende Steinadler Europas lebte bis im Sommer 2024 in Südschweden. Das abgebildete beringte Weibchen erreichte ein Alter von 37 Jahren (R. Nordquist, 01.04.2023, Skåne).
Abb.12 Vernarbte, zerfurchte und rötliche Fänge (oben: mind. 30 Jahre altes Weibchen des Paars Varen VS) oder solche mit fehlenden Krallen (unten) sind deutliche Hinweise auf ein hohes Lebensalter. Diese Steinadler dürften mehr als 20-jährig gewesen sein (S. Denis).
Durch den Gefiederwechsel werden ständig alte Federn durch neue ersetzt. Alte Federn sind gut an deren Ausbleichung von neuen, dunkleren Federn zu unterscheiden (Abb.17). Die Ausbleichung erfolgt durch die Einwirkung von energiereicher UV-Strahlung, unter welcher die dunklen Pigmentstoffe (Melanine) zerstört werden. Zudem kommt es zu einer mechanischen Abnutzung, bei welcher – gefördert durch fortschreitende Sprödheit der keratinhaltigen Federschäfte und -fahnen – die Federn zunehmend Defekte aufweisen und Teile verlieren. Vor allem im Gegenlicht fallen die ausgebleichten Schwungfedern durch zunehmende Transparenz auf. Bei fliegenden Steinadlern ist insbesondere bei den Handschwingen der Anteil alter und frischer Federn recht gut zu unterscheiden, was Rückschlüsse auf den Mauserstand ermöglicht. Auch beim Körpergefieder, mit Deck- und Konturfedern, gibt es gut erkennbare Unterschiede. Ein juveniler Steinadler weist ein fast einheitlich dunkles, dunkelbraunes Gefieder auf. Schon im ersten Herbst beginnen die leicht helleren Oberflügeldecken aufzufallen und im zweiten Lebensjahr zeigt sich schon ein markanter, heller und breiter Streifen im Bereich der Oberflügeldecken. Dieses Merkmal ist das einzige, um einen diesjährigen von einem letztjährigen Steinadler im Feld sicher unterscheiden zu können. Auch das Kopf- und Nackengefieder wird dann stetig heller und erscheint beim Adultvogel schließlich goldbraun. Mit zunehmendem Alter verschachteln sich die Mauserzyklen der Deck- und Konturfedern allerdings so, dass sich dunkle und helle Federn mosaikartig verteilen. Über längere Zeit lassen sich Steinadler nur dann individuell erkennen, wenn durch die Mauser bedingte Veränderungen verfolgt und festgehalten werden können. Ausnahmen gibt es dann, wenn Adultvögel permanente Besonderheiten aufweisen, etwa Verletzungen mit dauerhaften Gefiederlücken, hängende oder erkennbar verletzte Fänge oder außergewöhnliche, von der üblichen Silhouette abweichende Flügelformen.
Abb.17 Alte, hellere Schwungfedern finden sich neben dunkleren, jüngeren Federn. Im linken Flügel sind bei diesem vermauserten, subadulten Weibchen die ausgebleichten, inneren Armschwingen der ersten Generation (weiße Pfeile), etwas dunklere Arm- und Handschwingen der zweiten Generation (graue Pfeile) und vier nochmals etwas dunklere Armschwingen (schwarze Pfeile) der dritten Generation (schwarze Pfeile) zu erkennen (S. Denis, 25.02.2017, Saillon VS).
Äußere Handschwingen 5–10
Verengung der Innenfahne
Randdecken
Flügelspiegel
Achselfedern
Kleine Unterflügeldecken
Mittlere Unterflügeldecken
Große Unterflügeldecken
HS 10
HS 9
Innere Handschwingen 1–4
Äußere Armschwingen 1–3
Mittlere Armschwingen 4–8
Innere Armschwingen 9–16
Stoßspiegel
Stoß
Unterschwanzdecken
Eine Altersbestimmung kann aufgrund von hochaufgelösten Flugfotos gemacht werden, vorzugsweise von der Unterseite. Frische Totfunde erlauben erwartungsgemäß die genaueste Analyse. Hier besteht die Möglichkeit, den Steinadler und dessen Gefieder detailliert zu dokumentieren, zu vermessen und somit auch morphologische Daten festzuhalten. Das hier verwendete Bildmaterial stammt ausnahmslos von wild lebenden Steinadlern (inkl. Totfunden) aus den Schweizer Alpen. Die meisten Federn gehen auf langjährige, bekannte Revieradler zurück, die zum Teil seit ihrem Auftreten
im Revier dokumentiert wurden. Dies erlaubt eine recht genaue Einschätzung ihres Alters und eine Herleitung der betreffenden Gefiedergenerationen. Federn, die aus einer Falknerei oder aus Volieren stammen, können zusätzliche Hinweise zur Veränderung der Gefiederzeichnung liefern. Sie entsprechen aber nicht den natürlichen Prozessen und Einflüssen auf das Wachstum, die mechanische Abnutzung und Ausbleichung durch Licht, was es zu berücksichtigen gilt.
Abb.18 Bezeichnungen der Großfedern (HS = Handschwingen, AS = Armschwingen, Stoß- oder Schwanzfedern), der Flügelfelder (Deck- und Konturfedern) und der weißen Zonen in den Flügeln (Spiegel) und im Schwanz. Unterseite eines immaturen Steinadler-Weibchens (S. Denis, 27.11.2011, Saillon VS).
juvenil
Gefieder der 1. Generation.
Alter: bis 1 Jahr
Mögliche Abweichungen vom Normalfall:
Einzelne Federn der 2. Generation (selten). Oft nur dann, wenn Federn der 1. Generation ausgerissen oder krankheitshalber (vor Wachstumsende) vermausert wurden.
immatur 1
Gefieder der 1. und 2. Generation Alter: 1–2 Jahre
Mögliche Abweichungen vom Normalfall: Es sind ausschließlich Federn der 1. Generation vorhanden (selten, Federn sind stark abgetragen und zerschlissen).
immatur 2
Gefieder der 1., 2. und 3. Generation (die weißen Zonen in den Schwingen und im Stoß werden durch die Federn der 3. Generation durchbrochen); Alter: 2–3 Jahre
Mögliche Abweichungen vom Normalfall:
a) Es sind ausschließlich Federn der 1. und 2. Generation vorhanden (stark abgetragen und zerschlissen).
b) Es sind ausschließlich Federn der 2. und 3. Generation vorhanden (auch innere Armschwingen der 1. Generation sind vermausert).
subadult 1
Gefieder der 2., 3. und 4. Generation Alter: 3–4 Jahre
Mögliche Abweichungen vom Normalfall: Wenige Federn der 1. Generation sind noch vorhanden (innere Armschwingen, seltener Stoßfedern).
Tab. 2 Altersklassen, Alter und Stand der Gefiederentwicklung beim Steinadler. Ergänzend sind häufige bis seltene Abweichungen vom Normalfall aufgeführt (Fotos: S. Denis).
subadult 2
Gefieder der 3. und 4. Generation, keine Federn der 2. Generation.
Alter: 4–5 Jahre
Mögliche Abweichungen vom Normalfall:
Wenige Federn der 2. Generation sind noch vorhanden (innere Armschwingen, seltener Stoßfedern und Handschwingen).
adult 1
Gefieder der 4. und 5. Generation
Alter: 5–8 Jahre
Mögliche Abweichungen vom Normalfall:
a) Wenige Armschwingen und Stoßfedern der 3. Generation sind noch vorhanden (mittlere und innere Armschwingen).
b) Einige Federn der 6. Generation sind vorhanden (innere Handschwingen, Stoßfedern).
adult 2
Alle Großfedern der 5. Generation und mehr
Alter: über 8 Jahre
Mögliche Abweichungen vom Normalfall:
Wenige Armschwingen und Stoßfedern der 4. Generation sind noch vorhanden (abgetragen und zerschlissen).
adult 3
Alle Großfedern der 10. Generation und mehr
Alter: 20 Jahre und älter
Als Gesamterscheinung zu betrachten. Meistens strukturreiche, variable Gefiederzeichnungen. Fahle Hautpartien (Wachshaut beim Schnabel, Fänge), Missbildungen im Großgefieder, am Schnabel und an den Krallen.
Nachfolgende Doppelseite In den Zentralalpen bewohnen Steinadler halboffene Habitate auf der subalpinen und der alpinen Höhenstufe. Hier finden sie Nahrung in Form von wild lebenden Huftieren und Murmeltieren und Nistplätze in Felsen oder auf Bäumen (R. Salis, 12.07.2019, Albulatal GR).
Prädatoren besetzen ökologische Nischen, die für das Leben und längerfristige Überleben anforderungsreich sind. Stets sind diese Jäger auf der Suche nach Beutetieren. Einmal geortet, erfordert es Erfahrung, Schnelligkeit und Kraft, um die Beute erfolgreich zu schlagen. Das braucht Energie und zehrt an den Reserven. Man könnte sich – etwa im Vergleich zu grasfressenden Huftieren – fragen, warum sie sich das antun. Die Antwort lautet: So werden wertvolle und deshalb begehrte tierische Eiweiße erschlossen. Diese können viel einfacher und energiesparender in körpereigene Substanz umgebaut werden als pflanzliche Nährstoffe. Steinadler verbringen sehr viel weniger Zeit mit der Verdauung als für die Nahrungssuche. Bei Pflanzenfressern wie Huftieren ist es genau umgekehrt. Dazu kommt ein Vorteil, den der Steinadler gegenüber vielen andern Greifvögeln oder Geiern hat: Er ist nicht nur Jäger (Abb.1 und 2) sondern auch Aasfresser und kann, je nach Situation, zwischen
Vorhergehende Doppelseite Füchse sind zwar potenzielle Beutetiere von Steinadlern, allerdings vor allem Jungfüchse und während der Nestlingsperiode. Das geringe Risiko für den bei einem adulten Steinadler-Männchen vorbeispazierenden Rotfuchs scheint dieser richtig einzuschätzen (H. Müller, 20.01.2024, Oberried VS).
Abb.1 Steinadler erbeuten Tiere in der Regel mit ausgestreckten und geöffneten Fängen. Die dolchartigen Krallen führen meist zur raschen Tötung der Beute. Im Bild ein subadultes SteinadlerMännchen (M. Meier, 31.01.2023, Flüelatal GR).
Abb.2 Beim Beuteschlag wechselt der Steinadler vom Gleitzum Sturzflug, fährt seine Fänge aus und richtet sie kurz vor dem Zupacken nach vorne. Hier beim Jagdflug auf seine sommerliche Hauptbeute, dem Murmeltier.
1.Auflage: 2025
ISBN 978-3-258-08361-2
Umschlaggestaltung, Gestaltung und Satz: pool design, Zürich
Cover Vorderseite: Subadultes Steinadlermännchen des Adlerpaars Flüela (M. Meier, 31.01.2023, Davos GR). Rückseite: Zweijähriger Steinadler, der einen in einer Lawine umgekommenen Steinbock als winterliche Nahrungsquelle nutzt (H. Haller, 19.03.2021, Maloja GR).
Panoramen im Vor- und Nachsatz: Sommerbild (am Anfang) und Winterbild (am Schluss) der Val Roseg mit Steinadlerhorst im Vordergrund. Im Hintergrund das Berninamassiv mit dem Piz Glüschaint (3594 m).
Zitiervorschlag: Jenny, D., S. Denis & H. Haller (2025): Der Steinadler: eine Rückeroberung im Alpenraum. Haupt Verlag, Bern.
Alle Rechte vorbehalten.
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Gedruckt in der Tschechischen Republik
Diese Publikation ist in der Deutschen Nationalbibliografie verzeichnet. Mehr Informationen dazu finden Sie unter http://dnb.dnb.de.
Der Haupt Verlag wird vom Bundesamt für Kultur für die Jahre 2021–2025 unterstützt.
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Wir verlegen mit Freude und großem Engagement unsere Bücher. Daher freuen wir uns immer über Anregungen zum Programm und schätzen Hinweise auf Fehler im Buch, sollten uns welche unterlaufen sein.
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Kaum eine andere Vogelart fliegt majestätischer durch die Lüfte und wird mehr bewundert als der Steinadler. Seine Größe und sein «Charakterkopf» beeindrucken – nicht umsonst ziert er zahlreiche Wappen und wird mit Stärke sowie Freiheit assoziiert. Dieses Image ist ihm allerdings nicht immer gut bekommen: Noch bis weit ins 20. Jahrhundert wurde der Steinadler dämonisiert und rigoros bejagt – man unterstellte ihm gar Kinderraub. Kein Wunder, dass die Bestände vielerorts zusammenbrachen.
Dank seiner Unterschutzstellung und neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse zu seinen Bedürfnissen haben sich die Populationen mittlerweile vollständig erholt, sodass er heute in allen alpinen Lebensräumen und auch in Teilen des Juras zu finden ist.
Dieses reich bebilderte Buch gewährt Einblick in das Leben und die Biologie des Steinadlers, sein Sozialverhalten und die Entwicklung der Jungvögel mit einem Fokus auf die Schweiz. Es fasst die neuesten Forschungsergebnisse zusammen und zeigt, wie ein Nebeneinander von Steinadler und Mensch im Alpenraum auch in Zukunft funktionieren kann.
ISBN 978-3-258-08361-2