Boerboom, Punkte überall

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und zeichnen
Peter Boerboom

Punkte überall entdecken

und zeichnen

Haupt Verlag
Peter Boerboom

Zeichen 142

Muster 136

4 Episoden
8
Ursprung/Anfang
Kreise 30 Raster 126 Tropfen 20

Im Freien 68

Scheiben und Kugeln 42

Löcher 56

Kleine Teilchen 80

Dichte 118

Formationen 110

Schwärme 90

Strukturen 102

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Was ist denn schon ein Punkt? Wie kann dieses winzige, kleine Pünktchen, das in der Vorstellung so klein ist, dass es keine Fläche, geschweige denn einen Körper besitzt, irgendeine Rolle im Zeichnen oder Bildermachen spielen? Es mag seltsam anmuten, aber gerade weil der Punkt so klein ist, ist er alles und nichts, ist er Anfang und Ende gleichermaßen.

Am Anfang ist ein Punkt, mit ihm fängt jede Gestaltung an. Mit dem Stift oder mit dem Pinsel zwischen den Fingern nähern wir uns dem Papier und behutsam – oder auch rabiat – setzen wir ihn zum ersten Mal an einer bestimmten Stelle auf. Die erste schöpferische Tat ist vollbracht, das Papier ist nicht mehr weiß! Es ist „befleckt“ und das, was wir zum Ausdruck bringen wollen, beginnt sich zu konkretisieren.

So beendet dieser erste Anfangspunkt das Nichts, alles kann aus ihm entstehen. Eine Linie zum Beispiel. Oder eine kreisförmige Fläche, wenn man den Stift an dieser ersten Stelle verweilen lässt. Oder verschiedenste Muster und Strukturen, wenn sich zum ersten ein zweiter Punkt und viele weitere gesellen. Dem Punkt haftet dabei nicht das handwerkliche Geschick an, das für die Linie so wichtig ist. Kein Punkt verweist auf eine subjektive Handschrift, nichts bringt ihn zum „schwingen“ oder lässt ihn elegant aussehen, er bleibt ganz für sich, klar und objektiv.

Diese Objektivität des punktierten Farbauftrags schätzten die Neoimpressionisten im ausgehenden 19. Jahrhundert sehr. Entsprach dies doch genau ihrem analytischen Vorgehen, die Gegenstände oder Landschaften, die sie malten, in kleine Punkte von möglichst reiner Farbe zu zerlegen, damit sie sich später in den Köpfen der Betrachter:innen wieder zusammensetzen.

So klein wie die heutigen Raster- und Bildpunkte unserer Zeitungen, Smartphones und Computer waren die Farbpunkte der Neoimpressionisten nicht. Aber sie stehen am Anfang einer langen Reihe von Punkten in der Kunst: In den abstrakten Gemälden und Zeichnungen von Wassily Kandinsky und Hilma af Klint ist der Punkt oder Kreis eigenständiges Gestaltungselement; für Paul Klee beginnt mit ihm überhaupt erst jede Gestaltung, das schreibt er in seinen theoretischen Unterrichtsnotizen und umkreist dieses Thema in vielen Zeichnungen und Bildern. Die Drip Paintings von Jackson Pollock punkteten buchstäblich mit der brachialen

6 Über Punkte – Punkte überall

Abkehr aller bisherig gekannten Konventionen hinsichtlich Farbauftrag und Komposition: Auf die Leinwand geschüttet und von allen Seiten am Boden liegend angegangen, entstanden in den 1950er-Jahren wirklich schockierende Bilder. Nicht angeschüttet, dafür perforiert, sind die Bilder von Lucio Fontana, der mit den Löchern und Schlitzen in den Malgründen keine Zerstörung beabsichtigt, sondern neue Formen der Leere entdeckt.

In den 1960er-Jahren haben Punkte Hochkonjunktur. In den Raster- und Nagelbildern der Zero-Künstler Otto Piene und Günther Uecker fängt sich Licht und Bewegung. Yayoi Kusama bemalt Leinwände, Körper, Gegenstände und Räume mit unendlich vielen Polka Dots. Damit schmückt und verziert sie die Objekte und Räume nicht nur, sie löscht sie gleichsam damit aus. Wieder anders präsentieren sich die Rasterbilder von Sigmar Polke, in denen er ein mechanisches Vorgehen mithilfe von Punkten deutlich, aber auch gebrochen zeigt. Dagegen will Damien Hirst, dass seine Spot Paintings so aussehen, als hätte sie eine Person gemacht, die versucht, eine Maschine zu sein. We are the Robots, singen Kraftwerk Jahre früher.

War es die zunehmende Fragmentarisierung aller Lebensbereiche, die die künstlerische Arbeit mit Punkten so reizvoll machte? Sicher, mit Punkten lässt sich direkt, abstrakt, ohne Zuhilfenahme eines Gegenstands etwas zur mechanischen, industriellen Verfahrensweise sagen. Auch zur Demokratisierung weiter Teile der Gesellschaft, weil der Punkt so ganz ohne künstlerische Attitüde ein Konzept der unhierarchischen Gleichheit aller Teile in den Vordergrund rückt. Vielleicht ist es aber auch die aufkommende Ahnung, dass sich alles, wirklich alles, in kleinste Bild- und Pixelpunkte zerlegen und beliebig wieder zusammensetzen lässt.

Dieses Zeichenbuch dreht sich ganz um den Punkt. Wie im vorherigen Band zur Linie ist es wieder eine zeichnerische Entdeckungsreise, die mit ganz unterschiedlichen Zeichenutensilien, Fotos und Objekten einen Punkt zum Fleck, zum Kreis und zur Kugel anwachsen lässt, ihn draußen in der Landschaft als Mosaikbaustein interpretiert oder ihn in Form eines Lochs als materialisierte Antimaterie untersucht. Gehäufelt bilden sich Strukturen, Formationen schälen sich heraus, und im gleichmäßigen Rapport entstehen Muster und Rasterbilder. Ein letzter Ankerpunkt auf der Reise wird in den Schrift- und Zeichensystemen gesetzt.

Wenn wir am Ende unter dem Sternenhimmel des Punktiversums liegen und uns ein Punctum von Roland Barthes anspringt – das ist ein „Detail, das mich anzieht oder verwundet“ – dann hat das kleine Anfangspünktchen vielleicht einen kurzen Moment der Erkenntnis entzündet. „Der Punkt ist nichts und alles, und er kann alles aus nichts und nichts aus allem entstehen lassen, weil alles, was wir sehen, nicht existiert; alles ist in Transformation und bleibt nicht in dem Zustand, in dem wir es sehen. Der Punkt ist das GANZE.“ Georges Vantongerloo

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Ursprung/Anfang

Der Punkt ist ein Paukenschlag. Das jedenfalls meint Wassily Kandinsky in seinem grundlegenden Werk Punkt und Linie zu Fläche. Selbst wenn die erste absichtsvolle Berührung der Zeichenfläche mit einem Werkzeug sehr viel zarter und behutsamer sein kann, ist es für Kandinsky ein „Zusammenstoß“, ein Zusammenprall, der die „Grundfläche befruchtet“.

Mit dem ersten Aufsetzen eines Stifts oder eines Pinsels beginnt jedes bildnerische Schaffen. Gestalterische Entscheidungen werden getroffen, oder folgen einem künstlerischen Konzept. Das leere Blatt füllt sich absichtsvoll oder manchmal auch in zufälliger Weise.

Für Leonardo da Vinci liegt dieser erste Punkt an der „gemeinsamen Grenze von Nichts und Linie. […] Das Ende des Nichts und der Beginn der Linie sind hier miteinander in Kontakt, aber nicht verbunden, und in diesem Kontakt ist der Punkt Teiler zwischen dem Kontinuum von Nichts und Linie.“

8
34 [Kreise]

Experimente mit einem alten Plattenspieler: Papier auflegen, Pinsel mit Farbe aufsetzen –oder Farbtropfen mit Rakel während des Drehens verstreichen – oder einen Fineliner kurz in der nassen Farbfläche aufsetzen.

35

Kohle bröselt

[Kreise]

Alles lässt sich in Einzelteile zerlegen, zersplittern, fragmentieren. Nur der Punkt nicht. „Der Punkt hat keine Teile“, so lautet die lange gültige Übersetzung, mit der Euklid das Element aller Elemente einführt. Wörtlich übersetzt aber heißt es: „Das Zeichen ist, dessen Teil nichts ist.“

[Kleine Teilchen] 86

Tinte bleibt wasserlöslich. Das lässt sich ausnutzen, um aus der flächigen Linienzeichnung einen dreidimensionalen Pflasterbelag zu gestalten.

87
Pinsel mit Wasser löst die Tinte.
134 [Raster]
Vierfarbdruck Yellow 0° Magenta 15° Cyan 75° Die Drehung minimiert Moiréeffekte. Black 45°

Roy Lichtenstein benutzt die Rasterpunkte zum Aufhellen der Farben und als Stilelement. Um einen einheitlichen Hautfarbton zu erzeugen, setzt er rote Punkte auf weiße Leinwand.

135

„Ichsah auf das rote Muster der Tischdecke, als ich aufblickte, bedeckte dasselbe rote Muster die Decke, die Fenster und die Wände, und schließlich den ganzen Raum, meinen Körper und das Universum. Ich begann mich selbst aufzulösen, und fand mich in der Unbegrenztheit von nicht endender Zeit und in der Absolutheit der Fläche wieder. Ich reduzierte mich auf ein absolutes Nichts.“ Niemand hat so eindrücklich wie Yayoi Kusama in ihrer Kunst gezeigt, wie Unendlichkeit und Auslöschung ineinandergreifen – und das mit der einfachen Verwendung von Polka Dots.

Der Begriff Polka Dots geht tatsächlich auf den Polka-Tanz zurück. Diesem beschwingten Rundtanz verfiel in der Mitte des 19. Jahrhunderts ganz Europa und auch die europäischen Einwanderer:innen in den USA waren davon begeistert. Um die Zugehörigkeit zu den Clubs zu zeigen, etablierten sich farbige Oberteile mit gleichmäßig verteilten Punkten. Ein Jahrhundert später präsentierte Walt Disney Minnie Mouse in einem Kleid mit großem Punktemuster; das Foto der Schauspielerin Chili Williams im weißen Bikini mit schwarzen Punkten und Marilyn Monroe im Punktekleid sorgten wenig später dafür, Punkte zu einem der beliebtesten Designs in der Mode zu machen.

136
Muster
137
152 [Zeichen]

Sobald drei Punkte im Spiel sind, sehen wir ein Gesicht. Auge, Auge, Mund; Auge, Auge, Nase. Liegen die zwei Kreise unten, funktioniert das nicht. Das Zeichen für Blindheit ist oben links abgebildet.

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Bisher erschienene Bücher von Peter Boerboom und Tim Proetel im Haupt Verlag:

Raum Illusion mit Methode Ideen

Licht

Bewegung

Illusion auf Papier

Figur

Menschen zeichnen entdecken, skizzieren, experimentieren etdecke,ske

Farbe

Material & Wirkung

Methoden zum Zeichnen von Geschwindigkeit wahrnehmen und experimentieren

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Peter Boerboom und Tim Proetel
räumlichen
zum
Zeichnen
Peter Boerboom und Tim Proetel Peter Boerboom und Tim Proetel Peter Boerboom Tim Proetel Peter Boerboom und Tim Proetel
und Dunkel
kommt das Licht in
Zeichnung?
Illusion aus Hell
Wie
die

Tim Proetel und Peter Boerboom studierten zwischen 1991 und 1998 an der Akademie der Bildenden Künste München bei Prof. Sauerbruch. Es verbindet sie eine lange Freundschaft, die immer wieder zu gemeinsamen Arbeiten führt. Fünf Bände zu Raum, Licht, Bewegung, Figur und Farbe sind bereits erschienen, weitere Bände zu neuen Themen sind im Entstehen.

In ihrem letzten Buch Linien überall ließen sie sich vom elementaren Ausdrucksträger der Zeichnung leiten. Wie im vorliegenden Band experimentieren sie mit vielen Möglichkeiten, aus Linien Formen, Zeichen und Räume zu gestalten.

Tim Proetel unterrichtet Kunst am Richard-Wagner-Gymnasium in Bayreuth und wirkt als Fachreferent für die Gymnasien in Oberfranken an der Weiterentwicklung des Fachs Kunst mit.

Peter Boerboom studierte außerdem Kommunikationsdesign an der Fachhochschule für Gestaltung in München. Er ist Gründungsmitglied der Künstlergruppe Department für öffentliche Erscheinungen und realisiert gemeinsam mit Carola Vogt Kunst- und Fotografieprojekte.

www.zeichenbuecher.de

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Peter Boerboom Tim Proetel entdecken und zeichnen

1. Auflage 2023

ISBN 978-3-258-60263-9

Zeichnungen, Bilder, Gestaltung und Satz: Peter Boerboom, Tim Proetel (Seite 72, 78/79, 94, 96), Paula Vogt (Seite 154/155)

Lektorat: Heidi Müller, Haupt Verlag, CH-Bern

Alle Rechte vorbehalten.

Copyright © 2023 Haupt Verlag, Bern

Jede Art der Vervielfältigung ohne Genehmigung des Verlags ist unzulässig.

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Gedruckt in Tschechien

Diese Publikation ist in der Deutschen Nationalbibliografie verzeichnet. Mehr Informationen dazu finden Sie unter http://dnb.dnb.de.

Der Haupt Verlag wird vom Bundesamt für Kultur für die Jahre 2021–2024 unterstützt.

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www.haupt.ch

Der Punkt ist das kleinste gestalterische Element, er ist der erste Kontakt des Zeichenstifts mit der Zeichenfläche. Meistens stellen wir ihn uns winzig und rund vor, als Tuschetropfen beispielsweise kann er aber ganz andere Formen annehmen.

Peter Boerboom erkundet mit Stift und Pinsel, Feder und Kamera verschiedene Themen rund um den Punkt. Ursprung, Kreis, Kugel, Loch, Schwarm oder Raster – seine Zeichnungen und Bilder veranschaulichen, in welch ungeahnten Formen der Punkt in Erscheinung tritt. Die Arbeiten sind in verschiedenen Techniken entstanden und mit Hinweisen zur Umsetzung versehen. Sie animieren, den Stift in die Hand zu nehmen und den ersten Punkt zu machen. ISBN

978-3-258-60263-9
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