Kelter, zeichnen heißt sehen

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Heike Kelter zeichnen heiĂ&#x;t sehen

Haupt

GESTALTEN



Heike Kelter

zeichnen heißt sehen Mit dem flächigen Sehen zum dreidimensionalen Zeichnen

Haupt Verlag Bern • Stuttgart • Wien


Zur Autorin Heike Kelter ist Malerin; sie lebt und arbeitet in Berlin. Ihre Werke wurden bereits an zahlreichen Ausstellungen im In- und Ausland gezeigt. Heike Kelter ist Gründerin der Kinder- und Jugendkunstschule KIKUFRI, welche sie auch leitet. Außerdem unterrichtet sie Zeichnen an der Kunsthochschule Weißensee in Berlin. www.heikekelter.de www.kelterzeichnen.de www.kikufri.de

Gestaltung und Satz: Doris Wiese, D-Bollschweil Lektorat: Petra Puster, D-Niederpöcking Zeichnungen der Studien: Heike Kelter, D-Berlin Alle übrigen Zeichnungen stammen aus Kursen und Seminaren, die von der Autorin geleitet wurden. Fotografie: Jurgen Ostarhild, Berlin; Martin Becker, Berlin Das Visier in der im Buch gezeigten Form darf nicht zu kommerziellen Zwecken hergestellt und verwendet werden. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN: 978-3-258-60060-4 Alle Rechte vorbehalten. Copyright © 2013 by Haupt Berne Jede Art der Vervielfältigung ohne Genehmigung des Verlages ist unzulässig. www.haupt.ch Wünschen Sie regelmäßig Informationen über unsere neuen Titel zum Gestalten? Möchten Sie uns zu einem Buch ein Feedback geben? Haben Sie Anregungen für unser Programm? Dann besuchen Sie uns im Internet auf www.haupt.ch. Dort finden Sie aktuelle Informationen zu unseren Neuerscheinungen und können unseren Newsletter abonnieren.


Inhalt Vorwort: Zeichnen heißt sehen

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Einleitung: Das flächige Sehen

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Grundlagen Material und Hilfsmittel Das Papier Der Bleistift als Material Das Zeichenvisier Weiteres Zubehör Sehen und flächiges Sehen Das gewohnte Sehen Das flächige Sehen Vorbereitungen Der Standort  Der Bleistift als Werkzeug Arbeiten mit dem Visier Das Halten des Visiers: Die Grundposition Das Flachsehen mit dem Visier Zoomen und Bildausschnitt  Peilen und scannen  Festlegen der Augen­höhe und Horizontlinie  Der Scheibenwischer Vom Kreuzungspunkt des Visiers zur Mitte des Blattes

Die Methode des flächigen Sehens Zwischenräume sehen und zeichnen  Konturen sehen und zeichnen  Studie: Die Methode des flächigen Sehens  Zwischenräume und Konturen gemeinsam zeichnen  Porträt und Akt  Landschaft  Architektur Studie: Stillleben  Das flächige Sehen in der Perspektive  Horizont und Horizontlinie  Das Sehfeld  Die Diagonalen  Die Fluchtpunkte  Studie: Perspektive

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Komposition Komposition zentral angeordnet  Komposition aus der Mitte verschoben  Komplexe Komposition

Innenlinien, Schraffur und Fokus Die wichtigsten Innenlinien  Die Schraffur: Licht und Schatten  Die Grundschraffur Die verdunkelnde Zweit- und Drittschraffur Die Kreuzschraffur Die Körperlinien: Eine Schraffur für den Fokus Einen Fokus schaffen Schraffur und Fokus bei Porträt und Akt  Schraffur und Fokus bei Landschaft  Studie: Landschaft und Natur

Tipps und Tricks aus der Praxis

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Richtiges Sehen  Perspektive  Akt und Porträt  Stillleben und Architektur Schraffur Weitere Anregungen

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Nachwort  Dank der Autorin  Bildnachweis  Zitate

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Vorwort

Zeichnen heißt sehen Willkommen in einem Buch, das Ihnen die Augen öffnen möchte für eine vollkommen neue Art zu sehen, nämlich den zeichnerischen Blick. Entdeckt habe ich dieses Sehen und die damit verbundene Methode durch meinen eigenen Wunsch, Gesehenes zeichnen zu können. Als Studentin kam ich nach jahrelangem akademischem Zeichenunterricht zu der Einsicht, dass ich noch immer nicht wirklich sehen und entsprechend zeichnen konnte, sondern mich nur in Annäherungen bewegte. So begann ein langer Prozess, durch den sich mir dieses neue Sehen erschloss. Die wesentliche Erkenntnis lag darin, dass mir bewusst wurde, dass ich die Welt schon als eine Zeichnung wahrnehmen musste. So gründete sich diese Fähigkeit, zeichnerisch zu sehen, auf der Einsicht, dass die Fläche der Ausgangspunkt einer jeden Zeichnung ist. Ich versuchte also, alles schon als gezeichnet oder wie ein Foto zu sehen, und beschäftigte mich intensiv damit, während des Sehens die dritte, räumliche Dimension (zugunsten eines Neben-, Über- und Untereinander) auszuschalten. Nach diesem Umdenken und den dazugehörigen Techniken war es ein Leichtes zu zeichnen. Und ab sofort werden auch Sie die Welt als Fläche wahrnehmen können. Sie lernen zuerst das flächige Sehen und dann den schrittweisen Aufbau einer Zeichnung (unter Nutzung unserer Sehgewohnheiten), das Sehen der Perspektive und die besondere Bedeutung des Fokus. Die Faszination am zeichnerischen Sehen und mein elementares Interesse am Handwerk des Zeichnens haben zur Entwicklung dieser Methode geführt. Die dazugehörigen Hilfsmittel wie Zeichenvisier und Scheibenwischer sowie die Technik des Schraffierens und die Idee des Fokus bilden dabei eine grundlegende Hilfe. Wenn Sie die Welt als flache Zeichnung wahrnehmen, bedeutet Zeichnen lediglich ein Übertragen des Gesehenen auf das Papier. Durch meine langjährige Tätigkeit als Zeichenlehrerin konnte ich diese Herangehensweise mit vielen Schülerinnen und Schülern unterschiedlichen Alters erproben und weiterentwickeln. Einige dieser Zeichnungen haben Eingang in dieses Werk gefunden. Das Buch ist als Ratgeber aufgebaut. Es ist ein Lehrgang, der sich Ihren eigenen Vorlieben und Ihrem Temperament anpasst. Sie erfahren durch diese Methode einen grundsätzlichen Weg, den Sie auf Ihre Weise gehen können. Dieser Prozess wird überwiegend am Beispiel des Stilllebens verdeutlicht; er ist aber auf alle anderen Themen übertragbar. Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen beim Sehen und Zeichnen.

Vorwort: Zeichnen heißt sehen

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Einleitung

Das flächige Sehen Es brachte mir keinen geringen Gewinn, als ich im Dunkel im Bett liegend im Geist die Umrisse derjenigen Formen nachzeichnete, die ich zuvor studiert hatte – besonders derjenigen, von denen ich den Eindruck hatte, sie seien am schwersten zu erfassen und in der Erinnerung zu behalten. Auf diese Weise werden sie fest im Geist verankert und im Gedächtnis eingelagert. (Leonardo da Vinci)

dieses individuelle, erfahrungsgeladene Verhältnis zur Welt und zu seiner Umwelt entwickelt, um leben und handeln zu können. Diese Erfahrungen prägen die ­eigene Wahrnehmung unserer Welt und somit auch ­unser individuelles Sehen. Eine Zeichnung besteht jedoch nur aus Strichen und ­Linien. Durch meinen eigenen Versuch, den Prozess des Zeichnens zu verstehen, entdeckte ich, dass man nur Striche und Linien im Motiv sehen können muss, um zeichnen zu können. Und so versuchte ich nach und nach, einen rein zeichnerischen Blick auf meine Umgebung zu entwickeln.

Albrecht Dürer: Der Zeichner der Laute, 1525

Als Zeichenlehrerin ist mir aufgefallen, dass die sichtbare Welt verbunden ist mit gelebten und erfahrenen Bedeutungen. Alles, was wir sehen, verbinden wir mit Gewicht, Geruch, Geschmack und Material. Wir haben ein erfahrenes Wissen über die Dinge, die uns umgeben, und ein Gefühl für Räumlichkeiten, also für Nähe und Distanz. Im Laufe des Lebens hat jeder Mensch

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Mit diesem Buch möchte Ich Ihnen den Zugang zu ­diesem zeichnerischen Sehen öffnen und Ihnen eine Methode und einen handwerklichen Weg aufzeigen, um das Zeichnen zu erlernen. Das flächige Sehen ist die Tür zu allem Bildnerischen und Grafischen. Die Grundidee ist: Wenn ich die Welt schon als Zeichnung, das heißt als flaches Liniengerüst sehen kann, ist ja alles ganz einfach, dann brauche ich nur noch zu übertragen. Die Hauptschwierigkeit liegt also darin, sich dieser neuen, flächigen Wahrnehmung des ­Gewohnten zu öffnen. Dieser Ansatz ist in gewisser Weise radikal, da er so ausschließlich das zeichnerische Sehen als Grundlage ansieht.


Im ersten Teil des Buches lernen Sie, die verinnerlich­ ten Erfahrungen und Bedeutungen der sichtbaren Welt umzulenken und das Flachsehen zu verstehen. Dieses Sehen und den damit verbundenen hand­ werklichen Weg nenne ich die Methode des flächigen Sehens. Am Ende des Buchs schließt sich der Kreis wieder. Sie lernen unsere auf Erfahrungen und Kon­ ditionierungen beruhende Wahrnehmung zu nutzen, um durch Schatten, Innenlinien und Fokus im Gezeich­ neten die begehrte Wiedererkennbarkeit zu erzeugen. Um diesen Prozess zu unterstützen und die Linien des Raumes tatsächlich in die Fläche zu bringen, stelle ich Ihnen verschiedene Techniken und Hilfsmittel vor. Wesentliches und zentrales Werkzeug ist das Zeichen­ visier, das diesem Buch beiliegt. Dieses Buch ist für Anfänger gedacht, die ihre ers­ ten Zeichenversuche unternehmen, es kann aber auch Fortgeschrittenen viele Anregungen bieten und Ge­ wohntes unter einem neuen Aspekt erscheinen lassen. Die einzelnen Kapitel bauen aufeinander auf, jedoch können Sie auch nach dem Lernen des zeichnerischen Sehens individuell entscheiden, wie Sie Ihre Zeichnung entwickeln möchten und mit dem entsprechenden Kapitel fortfahren. Um Ihnen Mut zu machen und die Anwendung meiner Lehrmethode zu unterstreichen, sehen Sie viele Zeichnungen von Schülerinnen und Schülern. Die Zeichnungen wurden wegen ihrer Präg­ nanz ausgewählt und sind auf Ringblöcken dargestellt. Im Anschluss an die Kapitel habe ich Zeichnungen von mir als Studien platziert, die als Orientierung dienen können. Da sie auch in ihren Lokaltönen koloriert wur­ den und zum Teil Techniken der nächsten Kapitel vor­ wegnehmen, sind sie auch als weiterführende Anre­ gung gedacht.

Ein Stillleben mit Außenlinien, den wichtigsten Innenlinien, anfänglichen Schraffuren und beginnendem Fokus gezeichnet.

Das Wesentliche dieses Buches ist das Lernen des flachen Blickes, also des zeichnerischen Sehens. Dann wird alles sichtbar und leicht.

Einleitung: Das flächige Sehen

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Grundlagen



Grundlagen Material und Hilfsmittel Das Papier

Der Bleistift als Material

Grundsätzlich beeinflusst vor allem Ihre persönliche Zum Zeichnen mit dem Bleistift benötigen Sie BleiVorliebe die Wahl des richtigen Papiers, dennoch stifte unterschiedlicher Schwarzabstufung (B/Black) möchte ich Ihnen einige Entscheidungshilfen für den und Härte (H/Hard). Bleistifte bestehen aus einer MiKauf nennen. Es gibt zwei unterschiedliche Papierschung von Grafit und Ton. Je mehr Ton die Mine entarten, das industriell gefertigte und das handgehält, desto härter und heller ist der Strich, je weniger schöpfte. Zum Zeichnen nehmen wir immer industriell Ton, desto weicher, dunkler und verwischbarer. Angefertigtes Papier. Hier gibt es je nach Reinheitsgrad fangs ist meistens Härte HB oder 2B empfehlenswert. und Papierdichte, die sich auch in der Grammzahl aus- Wenn Ihnen der Härtegrad nicht zusagt, versuchen Sie drückt, erhebliche Unterschiede. auch Härte H oder 4B. • Ich schlage immer eine mittlere Qualität, also nicht Spitzen Sie Ihre Spitze grundsätzlich mit einem Messer zu teures, weißes Papier vor. Sie können aber auch an, da nur auf diese Weise ein größeres Stück Mine gelblicheres Papier verwenden. freigelegt werden kann (mindestens 1 cm, siehe Foto unten), die Sie dann mit Schleifpapier nochmals schär• Leicht angerautes Papier, auf dem der Bleistift gut haftet, ist oft angenehmer. fen können. • Achten Sie auf lichtechtes Papier, damit es nicht • Benutzen Sie am Anfang Bleistifte der Stärke HB vergilbt. oder 2B. Format: mittlere Größe, also DIN A3 oder DIN A2 Besorgen Sie sich ein Messer zum Anspitzen der • • Bleistifte. • Gewicht: 120–190 g pro m² Wer mag, kann auch einen Zeichenblock verwenden. Schleifpapier der Körnung 180 oder feiner brauchen • • Sie zum Spitzen der Mine.

Ein Stift, mit dem Messer gespitzt, verleiht der Spitze durch die Länge mehr Sensibilität und handwerkliche Möglichkeiten.

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Das Zeichenvisier Diesem Zeichenbuch ist ein Zeichenvisier beigefügt. Sie können sich aber auch ein Zeichenvisier herstellen. Besorgen Sie sich dazu eine rechteckige, stabile Klarsichtfolie in der Größe DIN A5 und tragen das abgebildete Kreuz und den Winkelhalbkreis mit einem wasserfesten schwarzen Stift auf. Das Zeichenvisier bildet das zentrale Werkzeug dieses Buches und meiner Theorie des flachen, zeichnerischen Blicks. Es erfüllt mehrere, unterschiedliche Funktionen, auf die im Anschluss eingegangen wird. Die wichtigste Funktion aber ist die der Sehhilfe, um das flächige Sehen zu erlernen. Dies ist die Grundlage und Voraussetzung für das Zeichnen, denn die durch das Visier gesehene Welt erscheint schon flach.

Weiteres Zubehör

• Zeichenunterlage: Um besser zeichnen zu können

• Ein fester, weißer Radiergummi ist beim Zeichnen

natürlich sehr nützlich, vor allem für Korrekturen, aber auch, um eine Schraffur wieder durch radierte Linien aufzuhellen oder Glanzlichter zu setzen. Knetradiergummi: Mit einem formbaren, weichen Knetradiergummi können Sie größere Stellen aufhellen. Dann wird der Knetradiergummi nur über die entsprechende Stelle gerollt, um etwas Grafit abzutragen. Er eignet sich vor allem für weichere Grafitstriche und sensibles Aufhellen. Glasscheibe: Besorgen Sie sich beim Glaser eine Glasscheibe von ca. 0,5 cm Stärke etwa im Format von DIN A4. Diese brauchen Sie, um darauf Außenlinien zu zeichnen, während Sie durch die Scheibe auf das Motiv schauen. Wasserlöslicher Filzstift: Schließlich ist es zum Zeichnen auf dem Visier oder der Glasscheibe von großem Nutzen, einen wasserlöslichen Filzstift in Schwarz der Stärke F zur Verfügung zu haben.

und um das Zeichenpapier zu fixieren, brauchen Sie eine harte Zeichenunterlage wie beispielsweise ein leichtes Holzbrett mit einer Klemme.

45°-Winkelpunkt

Das Visier wird in unterschiedlichster Weise benutzt

Grundlagen

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Sehen und flächiges Sehen Wer zeichnen will, muss zuvor sehen lernen. (Hugo Peters)

Das gewohnte Sehen

Das flächige Sehen

Unser gewohntes Sehvermögen ist notwendiger weise von den Erfahrungen geprägt, die wir mit unserer räumlichen Welt machen. Distanzen, Gewichte, Gerüche, Erfahrungen, Vorlieben – all dies sehen wir unbewusst mit. Dies können Sie überprüfen, indem Sie eine Ansammlung unterschiedlicher Materialien vor sich aufbauen. Einige Äpfel auf einem Tisch werden Sie anders motivieren als Gläser oder Werkzeuge oder Watte oder eine Rose oder 20 Rosen. Es ist auch sehr interessant, sich etwas anzuschauen, zum Beispiel eine Rose und dabei an eine Margerite oder an Gras zu denken. Dies stört unsere gewohnten Erfahrungen und Assoziationen, die wir mit dem Gegenstand verbinden. Für das Zeichnen, für die Linien in der Fläche sind diese Erfahrungen aber zweitrangig.

Beim Zeichenprozess geht es also darum, die dreidimensionale Wirklichkeit auf die Fläche eines Zeichenblattes zu übertragen und diese Räumlichkeit wieder herzustellen. Dieses Buch wird Ihnen zeigen, dass dieser Prozess dann beginnt, wenn Sie die Wirklichkeit schon flach und als Zeichnung sehen! Dafür sind zwei Fähigkeiten notwendig – die Methode des flächigen Sehens und die damit verbundenen praktischen Techniken, um dieses Sehen auf das Blatt übertragen zu können. In diesem Buch lernen Sie, Ihre Sichtweise bewusst zu ändern.

Wenn wir in die Welt schauen, sehen wir selbstverständlich unsere dreidimensionale, begehbare und erfassbare Wirklichkeit. Schauen wir uns Zeichnungen an, die diese Wirklichkeit abbilden, erkennen wir sofort alle Dinge wieder. Dies geschieht hauptsächlich durch die dargestellte Dreidimensionalität. Natürlich sieht man in einer guten Zeichnung die abgebildeten Dinge in ihrer räumlichen Illusion. Diese, durch zeichnerische Mittel, erzeugte Illusion führt wiederum zu einem ungestörten Bild in uns, sodass wir denken: «Ja, dies ist ein gezeichneter Apfel, das ist ein Mensch, das ist ein Stillleben und dies ist eine Landschaft.» Dieser Vorgang findet statt, obwohl die reale Fläche einer Zeichnung immer flach ist. So, wie die Linien gezeichnet oder angeordnet sind, führen sie dazu, dass wir in ihnen gewohnte Dinge erkennen können. Was ich Ihnen verdeutlichen möchte, ist, dass es letzten Endes nur Linien auf einem Blatt sind, Linien auf einer zweidimensionalen Fläche. Ich muss also nur dieses flächige Liniengerüst in unserer gewohnten Welt sehen können, um zeichnen zu können.

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• Sie lernen, auf die dritte, die räumliche Dimension während des Sehens zu verzichten.

• Sie lernen, die Gegenstände und die gesamte sicht• • • • •

bare Welt flach und als ein Liniensystem zu sehen. Sie lernen, diese zeichnerische Sicht schrittweise auf Papier zu übertragen. Sie lernen den sinnvollen Ablauf beim Zeichnen: Von der Außenlinie des Gesamten über die Außenlinie des Einzelnen bis hin zur Innenlinie. Sie lernen eine sinnvolle Anwendung von Schraffur. Sie lernen die Bedeutung des Fokus. Sie lernen, sich unseren Wunsch nach Wiedererkennung der Natur im Gezeichneten zu Nutze zu machen.

Zeichnen besteht darin, Ihr Motiv als Linien in einer bestimmten flächigen Zusammensetzung neu zu sehen.


Vorbereitungen Der Standort

• Horizontlinie: Mit dem Standort legen Sie

Ihre Position fest. Dadurch bestimmen Sie Ihre Augenhöhe, das heißt die Höhe Ihrer Augen bildet den jeweiligen Horizont. Man spricht daher von Augenhöhe oder Horizontlinie. Alle Linien auf der Augenhöhe verlaufen horizontal (siehe Horizont und Horizontlinie, Seite 56). Größe des Motivs: Mit dem Standort legen Sie Ihren Abstand zum Motiv fest. Dadurch bestimmen Sie die Größe des Motivs auf dem Blatt. Man nennt dies auch Ihr Sehfeld. Alles was mit einer Hand kreisend und ausgestreckten Arm erfasst werden kann, befindet sich in Ihrem Sehfeld. Perspektive: Mit dem Standort legen Sie Ihren Winkel zum Motiv fest. Ihre Neigung zum Gesehenen bestimmt die Neigung, in der Sie das Zeichenvisier zum Motiv halten. Durch Ihren Winkel wird die perspektivische Situation festgelegt. Sitzen Sie frontal vor etwas, haben Sie eine Zentralperspektive. Sitzen Sie diagonal vor einem Motiv, ergibt sich eine Zwei-Punkt-Perspektive (siehe Fluchtpunkte und Perspektive, Seite 62).

Eine Zeichnung mit überwiegend runden Gefäßen, auf der der Verlauf von Ellipsen zu sehen ist. Die Zeichnung der Trinkgefäße zeigt Ihnen, wie die Öffnungen sich in Bezug auf Ihre Augenhöhe vergrößern oder verkleinern.

Grundlagen

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Der Bleistift als Werkzeug Der Bleistift kann außer zum Zeichnen auch als Werkzeug benutzt werden zum • Peilen und Scannen von Horizontalen und Vertikalen • Bestimmen von Diagonalen, zuerst mit, später ohne Visier Strecken Sie Ihren Arm aus, und schließen Sie ein Auge. Diese einfache Haltung lässt sich leicht einnehmen und kann beliebig wiederholt werden. Würden Sie den Arm gebeugt halten, wäre es schwierig, den gleichen Winkel wieder zu finden. Auch würden die Größenverhältnisse dann nicht konstant erscheinen. Nun können Sie peilen, scannen oder den Scheibenwischer benutzen. Peilen und scannen Das Peilen und Scannen der horizontalen oder vertikalen Linien dient dazu, lineare Bezüge zu entdecken, das heißt zu sehen, was und wo etwas gemeinsam auf einer Linie liegt. Wie Sie mit dem Bleistift und dem Visier peilen und scannen, erfahren Sie im Kapitel Peilen und scannen, Seite 18. Der Scheibenwischer Um die Diagonalen in perspektivischen Zeichnungen zu sehen und um ihren Verlauf zueinander in der Fläche im Verhältnis zur Horizontlinie zu verfolgen, benutzen wir den Bleistift wie einen Scheibenwischer. Wie Sie den Bleistift als Scheibenwischer benutzen, erfahren Sie im Kapitel Der Scheibenwischer, Seite 19.

Diese Zeichnung wurde über die Außenlinie begonnen und mit einigen Innenlinien im Fokus ergänzt. Für die allgemeiner gelassenen Stellen ist der Umriss schon die endgültige Zeichnung.

Der Bleistift wird wie ein Scheibenwischer geschwenkt und so zum Sehen der Diagonalen benutzt.

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Beim Zeichnen eines Gegenstandes ist der Umriss das Wichtigste; … weil der Umriss eines Sujets unveränderlich ist. (Leonardo da Vinci)

Arbeiten mit dem Visier Das Halten des Visiers: Die Grundposition Damit das Zeichenvisier seine Funktion erfüllen kann, halten Sie es mit ausgestrecktem Arm stets parallel zur Stirn oder parallel zur Oberkante Ihres Papiers, wie es die Linie in der Abbildung zeigt. Der Winkel des Visiers ist außerordentlich maßgebend für den Verlauf der Linien. Sie können dies auch prüfen, indem Sie die Neigung des Visiers bewusst verändern und es nicht mehr parallel zu Ihrer Stirn oder ­Ihrem Papier halten, sondern zum Beispiel nach links oder rechts drehen oder kippen. Das veränderte Halten des Zeichenvisiers führt zu ganz anderen Linien im Verhältnis zum Kreuz. Probieren Sie das Zeichenvisier aus, indem Sie ein Auge schließen und mit wasserlöslichem Filzstift die

Halten Sie das Visier immer parallel zu sich oder Ihrer Stirn oder auch parallel zu Ihrem Zeichenblock.

Umrisse dessen, was Sie sehen, auf das Zeichenvisier zeichnen. (vgl. Seite 20 Zeichnen auf der Glasscheibe).

Das Flachsehen mit dem Visier Wir werden das Visier für die verschiedensten Funktionen benutzen. Zunächst wollen wir mit Hilfe des Visiers die räumliche Wirklichkeit umwandeln in ein flächen­ betonendes Schauen durch das Visier. Der Blick durch das Visier • Versuchen Sie, die Augen zu Sehschlitzen zu verengen und zu blinzeln. Versuchen Sie, einäugig zu sehen. • • Schauen Sie durch das Visier und fokussieren Sie dieses mehr als die zu zeichnende Wirklichkeit.

Dieses Symbol soll Sie an das Flachsehen erinnern. Schließen Sie dazu auch immer wieder ein Auge.

Bei diesem Symbol nehmen Sie das Zeichenvisier zur Hand. Sie können es je nach Motiv vertikal oder horizontal benutzen.

Grundlagen

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Bedenken Sie, dass Sie selbstverständlich räumlich s­ ehen. Das flache Sehen schaltet sich erst dann automatisch ein, wenn Sie die nachfolgenden Punkte anwenden. Eine wesentliche Hilfe besteht am Anfang ­darin, eher das Visier und die sich darauf abbildenden Linien zu fokussieren als das Motiv selbst. Es fällt anfangs nicht ganz leicht, auf das flächige Sehen umzuschalten. Bevor Sie die erste Linie zeichnen, versuchen Sie, die Dinge eher von ihrer Außenlinie zu betrachten, also von außen angrenzend zu sehen, so als würden Sie die Grenze zwischen Umraum und Objekt zeichnen (vgl. Konturen sehen und zeichnen, Seite 30).

Zoomen und Bildausschnitt

züge in Ihrem Motiv, indem Sie die horizontalen und vertikalen Entsprechungen entdecken. Mit dem Visier vor sich können Sie die horizontale Linie benutzen, um zu entdecken, welche Bezüge es vor Ihnen gibt. Das Gleiche gilt entsprechend für die Vertikalen. Sie peilen und scannen, indem Sie das Kreuz auf Ihrem Visier entsprechend horizontal und vertikal zum Motiv halten und so Bezüge entdecken. Sie können das Visier und den Bleistift auch horizontal und vertikal ­bewegen – unter Beibehaltung der Neigung – und so erkennen, welche Punkte gemeinsam auf einer Horizontalen beziehungsweise Vertikalen liegen.

Für die ersten Schritte beim Zeichnen ist es sinnvoll, So gehen Sie vor zunächst einfache Motive oder Objekte zu wählen, an 1. Sie nehmen Ihr Visier und halten es in der Grund­ denen sich grundlegende Prinzipien leichter studieren position (vgl. Seite 17) vor sich. lassen. Später können Sie sich dann komplexere Kompositionen aussuchen. Haben Sie etwas gewählt, müs- 2. Schauen Sie sich an, was alles auf der Vertikalen sen Sie sich entscheiden, ob Sie nur einen Ausschnitt oder Horizontalen liegt. davon oder das Gesamte auf Ihr Papier bringen wollen. Nun studieren Sie, wie durch ein Fenster von einer festgelegten Position aus, das Motiv. Sie halten den Kreuzungspunkt des Zeichenvisiers auf die Stelle im Motiv, die auch in der Mitte des Blattes stehen soll. Die Ecken und Ränder des Zeichenvisiers begrenzen somit Ihren Bildausschnitt. Verändern Sie den Abstand zum Auge, zoomen Sie den Ausschnitt größer oder kleiner. Erst wenn Sie einen Bildausschnitt gewählt haben, können Sie Ihren Standpunkt so festlegen, dass Sie mit ausgestrecktem Arm den Ausschnitt im Zeichenvisier erkennen. Alles was in eine ausgestreckte Hand passt, sollte auch die äußere Begrenzung Ihres Bildausschnitts sein. Auf diese Weise lässt sich das Zeichenvisier korrekt einsetzen und der Bildausschnitt bleibt während des Zeichen­ vorgangs fortlaufend gleich.

Peilen und scannen Mit dem Peilen und Scannen können Sie die Größenverhältnisse und Entsprechungen in der Fläche feststellen. Peilen und scannen Sie die bildnerischen Be-

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3. Prüfen Sie, welche gemeinsamen Punkte eine Vertikale oder Horizontale durchkreuzt. Sie können Ihr ­Visier auch horizontal verwenden. 4. Sie können Ihr Motiv mit dem Visier regelrecht abscannen. Benutzen Sie das Visier, bewegen Sie es nach oben und unten oder auch nach rechts und links. Legen Sie es dann an einen Punkt, schauen Sie über die horizontale Linie und entdecken Sie, was noch ­alles auf dieser Höhe liegt.


5. Oder legen Sie die Vertikale am Ende eines Gegenstandes an, schauen Sie nach oben und unten und prüfen Sie, welche Punkte entsprechend auf der gleichen Ebene liegen. Oftmals entdeckt man sehr überraschende Übereinstimmungen. Dies gilt vor allem für die Bodenebenen. 6. Halten Sie den Stift, wenn Sie kein Visier benutzen wollen, entsprechend im richtigen Winkel (Grund­ position) waagerecht oder senkrecht. Schließen Sie ein Auge. Nun können Sie ganz leicht sehen, wohin diese Linien führen und was alles miteinander auf der gleichen Linie liegt. Wichtig! Halten Sie, während Sie scannen und peilen, das Visier immer in der Grundposition parallel zu sich.

Festlegen der Augen­höhe und Horizontlinie Nehmen Sie das Zeichenvisier zur Hand. Mit Hilfe des Zeichenvisiers können Sie nun Ihre Augenhöhe und damit Ihre Horizontlinie festlegen.

Der Scheibenwischer Der Scheibenwischer dient dem genauen Sehen von Diagonalen. Man kann die perspektivischen Linien im Raum förmlich in die flächige Diagonale ziehen. So gehen Sie vor 1. Um den Verlauf von Diagonalen zu registrieren, ­halten Sie den Stift locker und Ihren Arm dabei immer ganz ausgestreckt. So haben Sie eine konstante Haltung, die Sie immer wieder einnehmen können. Mit der linken Hand halten Sie das Zeichenvisier so vor sich, dass die waagerechte Linie in der Höhe Ihrer ­Augen vor Ihrem Bildausschnitt verläuft. 2. Nun halten Sie den Zeichenstift in der anderen Hand und drehen ihn (mit einem geschlossenen Auge) so lange auf dem Visier, bis er sich mit den zu betrachtenden Linien im Raum (aber auf Ihrem Visier) deckt. Drehen Sie den Stift wie einen Scheibenwischer, bis Sie Ihre Diagonalen auf ihm fixiert haben. 3. Nun können Sie, die Diagonale auf dem Visier festhaltend, das Visier ganz einfach (parallel zur Bildkante) auf Ihr Blatt legen, und Sie sehen, wie Sie diese Linie zeichnen müssen. 4. So können Sie die Richtung der Diagonalen fest­ legen und sehen, in welchem Winkel die Linien des Motivs in der Fläche auf das Kreuz des Zeichenvisiers zulaufen. Sie sehen die Außenlinien der Objekte im Verhältnis zu den Linien des Kreuzes auf dem Visier, zum Beispiel den Winkel einer Diagonalen im Verhältnis zur Waagerechten des Kreuzes.

So gehen Sie vor 1. Halten Sie Ihr Visier mit ausgestrecktem Arm vor sich, und schauen Sie geradeaus. 2. Nun schieben Sie die Horizontale des Visiers in die Höhe Ihrer Augen. Wenn sich die Horizontale genau auf der Höhe Ihrer Augen befindet, haben Sie Ihre ­Horizontlinie erkannt. Alles, was auf dieser Linie liegt, bildet in der Zeichnung eine horizontale Linie.

5. Vergleichen Sie die Diagonalen des Scheibenwischers mit den angedeuteten Winkeln auf Ihrem Visier. 6. Drehen Sie immer wieder den Bleistift wie einen Scheibenwischer auf Ihrem Visier, bis Sie entsprechend die Diagonalen in der Fläche sehen. Für noch direkteres Peilen und Sehen der Diagonalen halten Sie den Zeichenblock hinter Ihren Bleistift, während Sie peilen, scannen oder den Scheibenwischer benutzen. Sie halten Ihre Zeichnung hoch (im richtigen Winkel des Vi-

Grundlagen

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Wichtig! Halten Sie das Visier stets parallel zu Ihrer Stirn in der Grundposition.

Durch das Zeichenvisier haben Sie ein Hilfsmittel, das dieses Sehen ermöglicht. Die waagerechte und senk­ rechte Linie des Kreuzes auf dem Visier dient wie ein Kompass zur Orientierung. Schauen Sie sich Ihre Um­ gebung durch das Visier an. Scannen Sie, was Sie se­ hen und entdecken Sie die dazugehörigen Linien, wie sie sich auf dem Visier zeigen. Stellen Sie fest, wie sich die Diagonalen, Waagerechten und Senkrechten im Verhältnis zum Kreuz des ­Zeichenvisiers verhalten. Halten Sie das Visier auch einmal falsch (also nicht pa­ rallel zu Stirn) und entdecken Sie, wie anders die Lini­ en verlaufen.

Durch das Visier schauen Zuerst benutzen Sie das Visier nur zum Schauen. Neh­ men Sie einen Bleistift in eine Hand und das Visier ­(parallel zu Ihnen) in die andere Hand und sehen Sie sich jetzt Ihre gesamte Umgebung durch das Visier an. Dabei können Sie den Stift benutzen, um sich den Verlauf der Linien auf dem Visier bewusst zu machen. Schauen Sie mehr auf das Visier und auf die Richtung, die die Linien in Ihrer Fläche einnehmen als auf die ­reale Welt. Sie sehen dann die Wirklichkeit etwas un­ scharf und fokussieren Ihr Visier. Dabei müssen Sie sich nicht anstrengen, sondern einfach wieder, mit ei­ nem geschlossenen Auge, mehr das Visier scharf se­ hen und versuchen, so das Flachsehen zu erfahren.

Zeichnen auf der Glasscheibe oder auf dem Visier Halten Sie einen wasserlöslichen Filzstift bereit. Bei dieser Übung können Sie damit auf das Visier zeich­ nen und die Abbildungen wieder entfernen. Sie kön­ nen die ersten Übungen auch mit einem wasser­lös­ lichen Stift auf Glas ausführen. Halten Sie das Visier oder die Glasscheibe parallel vor sich, so dass Sie gut durchschauen können. Sie zeichnen nun wie auf der Abbildung die Linien des Aufbaus auf Ihr Visier. Schlie­ ßen Sie ein Auge, und ziehen Sie die Umrisse des Mo­ tivs nach. Anschließend ­legen Sie das bezeichnete Vi­ sier oder die Glasscheibe auf Ihr Blatt. Beim Ansehen dieser Umriss­zeichnung stellt sich bereits ein Bild von Räumlichkeit ein. Jetzt können Sie gut erkennen, wie Ihre erste Zeichnung aussehen kann.

siers) und legen Ihren Stift an die obere Kante des Blo­ ckes. So können Sie die Perspektive in der Realität und auf Ihrem Blatt überprüfen. 7. Wandern Sie auch mit der Neigung der einzelnen Diagonalen zu den anderen Diagonalen, um die Unter­ schiede festzustellen, zum Beispiel von der obersten zur untersten Diagonale.

Der Bleistift als Scheibenwischer auf dem Visier vor das Motiv gehalten, lässt Sie auf einfache Weise die ­Dia­gonalen sehen.

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Vom Kreuzungspunkt des Visiers zur Mitte des Blattes

Nehmen Sie das Zeichenvisier zur Hand.

te festzulegen. Dies gilt für alle Sujets. Wollen Sie zum Beispiel einen Akt zeichnen, legen Sie den Kreuzungspunkt auf die Mitte des Körpers und beginnen in dieser Höhe die Darstellung. Natürlich kann man auf dem Blatt die Mitte auch verschieben. Der Hauptgegenstand kann, muss aber nicht immer nur in der Mitte liegen. Auf jeden Fall haben Sie durch den Kreuzungspunkt einen guten Ausgangspunkt, auch zum Peilen, Scannen und für den Scheibenwischer. Auf Seite 62 lernen Sie zusätzlich, wie man mit dem mittleren Kreuzungspunkt den zentralen Fluchtpunkt und somit die Zentralperspektive bestimmt.

Der Kreuzungspunkt Ihres Visiers dient als einfache Hilfe zur Orientierung im Motiv und auf dem Blatt. Dafür halten Sie das Visier vor sich und fixieren einen einzelnen Gegenstand im Motiv, der Sie am meisten interessiert. Halten Sie nun den Kreuzungspunkt Ihres Visiers auf diesen Gegenstand, und zoomen Sie nun so lange, bis Ihnen das Verhältnis von Objekt zu umgebendem Raum, also auch bis zu den Ecken des Zeichenvisiers, zusagt. Der Kreuzungspunkt des Zeichenvisiers erlaubt Ihnen, immer die Mitte Ihres Bildausschnittes festzulegen und wieder zu finden, sowohl im Motiv als auch auf dem Blatt. Der Einfachheit halber empfehle ich, diesen mittleren Gegenstand auch auf dem Blatt als Mit-

Hinweis: Beachten Sie, dass Sie die vertikale Position verschieben, wenn Sie beim einäugigen Sehen das Auge wechseln. Sie werden bemerken, wie sich das angepeilte Objekt verschiebt, wenn Sie einmal das eine oder andere Auge schließen.

Ein erstes Stillleben durch eine Glasscheibe gesehen und nachgezeichnet, ausgehend von den Umrissen der mittleren Gegenstände nach außen.

Grundlagen

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Die Methode des fl채chigen Sehens



Die Methode des flächigen Sehens Es besteht ein unermesslicher Unterschied zwischen dem Sehen einer Sache ohne Bleistift in der Hand und dem Sehen, während man sie zeichnet. Oder vielmehr, es sind zwei sehr verschiedene Sachen, die man sieht. Selbst der unseren Augen vertrauteste Gegenstand wird etwas völlig anderes, sobald man sich bemüht, ihn zu zeichnen: man wird gewahr, dass man ihn nicht kannte, dass man ihn niemals wirklich gesehen hatte. (…) Man muss also wollen, um zu sehen, und dieses gewollte Sehen ist das Ziel und das Mittel der Zeichnung zugleich. (Paul Valéry)

In diesem Kapitel stelle ich zwei unterschiedliche Wege vor, sich dem flächigen Sehen anzunähern. Wir dekonstruieren unsere erfahrungsgeladene Wahrnehmung und lernen, unsere Wahrnehmung auf konkrete Linien umzulenken. Die wichtigste Erkenntnis besteht darin, Zeichnen ausschließlich durch das Sehen zu lernen. Sie erfahren dabei, die räumliche Tiefe auszublenden und stattdessen die Welt als Liniengerüst wahrzunehmen, also zweidimensional. Gelingt es mit wachsender Routine, die Dreidimensionalität schon beim Betrachten des Motivs umzulenken, wird das Zeichnen ganz einfach. Sie sehen in diesem Stadium im Motiv alle Linien, die hinauf, hinunter oder diagonal verlaufen und in einer Ebene aneinander grenzen. Zeichnen ist dann nur noch ein Übertragen. Zwischenräume Als erste Sehübung empfehle ich das Sehen und Zeichnen von Zwischenräumen. So lernt man, den Blick vom Gegenständlichen abzulenken und sich auf das flächige Sehen von Linien zu konzentrieren. Das Zeichnen von Zwischenräumen und Leerflächen führt dazu, dass der Zeichner lernt, sich von der gewohnten dinglichen Sicht des Motivs zu lösen und nur Linien zu sehen.

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Konturen Wenn Sie etwas Übung im flächigen Sehen bekommen haben, sollten Sie mit dem Zeichnen der Außenlinien (Konturen) anfangen. Dies kann der gesamte Umriss eines Motivs sein oder es sind die aneinandergereihten Konturen einzelner Objekte. Das Zeichnen von Außenlinien ist der Anfang jeder Zeichnung. Sie sehen dann, wie eigenartig Außenlinien von größeren Stillleben oder einzelnen Objekten sein können.

Dieses Nur-Linien-Sehen ist der Beginn des zeichnerischen flächigen Sehens.


Zwischenräume sehen und zeichnen So gehen Sie vor 1. Stellen Sie ein einfaches Stillleben zusammen, das möglichst viele Zwischenräume beinhaltet, zum Beispiel einen Hocker auf einem Tisch. Nehmen Sie die Grundposition ein bzw. beachten Sie den Winkel, in dem Sie zum Motiv sitzen. In dieser Neigung sollten Sie Ihr Visier halten. 2. Wählen und zoomen Sie einen Ausschnitt mit dem Visier. Fixieren Sie die Mitte. Die Mitte des Visiers soll der Mitte Ihres Blattes entsprechen.

3. Da Sie durch den ersten Strich alle folgenden Linien festlegen, sollten Sie von der fixierten Mitte im Motiv ausgehend folglich auch in der Mitte Ihres Zeichenblattes beginnen. 4. Schließen Sie ein Auge oder blinzeln Sie durch beide. Fixieren Sie die leeren Räume zwischen und innerhalb der Gegenstände. Versuchen Sie, die leeren Stellen als einzelne Flächen zu sehen, die in einem Zusammenhang stehen. 5. Zeichnen Sie nun zuerst nur die Zwischenräume.

Sie sehen, wie die hervorgehobenen Zwischenräume flächig markiert sind. Deutlich können Sie schon die Räumlichkeit erahnen.

Die Methode des flächigen Sehens

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Hier sehen Sie, wie der Hocker einmal nur über die Zwischenräume gezeichnet wurde, …

… und anschließend die Außenlinien hinzugefügt wurden.

Ein Auge zudrücken und auf der Scheibe nachzeichnen, was wir mit dem anderen Auge sehen … Wir können uns aber auf die plane Richtigkeit unseres Ab-Bildes verlassen – es sieht auch in Wirklichkeit so aus! Daran müssen wir unser Auge gewöhnen. Denn vieles wissen wir zwar, (…), aber nur weniges sehen wir von dem, wie es erscheint. (Hugo Peters)

1. Übung Zeichnen Sie die Flächen der Zwischenräume mit einem wasserlöslichen Stift auf eine Glasscheibe. Schauen Sie durch Ihr Visier, und zeichnen Sie diese Zwischenräume dann auf Ihr Papier. Die Zwischenräume lassen bereits die Form der Gegenstände erkennen und erwecken schon einen räumlichen Eindruck.

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Bei dem Hocker sehen Sie, wie Flächen aneinander stoßen: Zeichnen Sie zuerst die Zwischenräume, dann die Kontur. So können Sie gut die Zwischenräume sehen und erkennen, wie sie eigenständige, flächige Formen bilden.

Diese Zeichnung zeigt Ihnen, wie die Zwischenräume die Stuhlbeine und Lehne bilden und man schon wunderbar die Räumlichkeit erkennen kann. Später sind auch alle Innenlinien hinzugefügt worden.

2. Übung Durch Flachsehen lösen Sie sich von im Gehirn gespeicherten Informationen und Vorstellungen und sehen nur die Linie. Um dies zu unterstützen, stellen Sie einen Stuhl auch einmal auf den Kopf, und widmen Sie sich dann wieder ausschließlich den Zwischenräumen. So kann man die Wahrnehmung von der gelernten Erfahrung lösen und zur Linie hin lenken. Wiederholen Sie diese Übung nach Bedarf auch auf der Glasscheibe.

Die Methode des flächigen Sehens

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Die Zeichnungen zeigen, wie beim Zeichnen der Zwischenräume zugleich schon Anteile der Konturen mitformuliert werden und die Gegenstände schon erahnt werden können.

3. Übung Suchen Sie sich Objekte, die Ihnen zusagen, und entdecken Sie deren Zwischenräume. Zeichnen Sie die Zwischenräume auch von einer etwas veränderten Position aus. Wählen Sie einen Tisch, einen Stuhl oder ähnlichen Gegenstand mit vielen Geraden und einfachen Zwischenräumen.

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Flachsehen bedeutet, die Linien der Zwischenräume zu sehen und zuerst nur die Leerräume zu zeichnen.

Sie lernen, einen Stuhl über die Zwischenräume als Liniengerüst in der Fläche zu sehen und zu zeichnen. So kann zum Beispiel auch die Perspektive einfach als ein Dreieck in der Fläche gesehen werden und nicht als komplizierte räumliche Konstruktion.

Die Methode des flächigen Sehens

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Nachwort

Bildnachweis

Dieses Buch zeigt Ihnen einen klaren Weg. Diesen Weg können Sie mit Ihrer Persönlichkeit füllen. Sie können Ihrem Temperament folgen und entsprechend die Mittel und die Art und Weise, wie Sie diesen Weg gehen, selbst bestimmen. Sie können nur Linien zeichnen, viel oder wenig schraffieren, starke Kontraste benutzen, sehr leichte, dünne Linien zeichnen und nie schraffieren, sehr groß und dunkel zeichnen, sehr klein und detailliert oder große Außenlinien und dann sehr genaue Details im Fokus zeichnen …

Seite 8 Albrecht Dürer: Der Zeichner der Laute, 1525: zeno.org, gemeinfrei, http://www.zeno.org/nid/20003999637 Seite 96 Leonardo da Vinci: Groteske Köpfe, 1478: gemeinfrei, http://www.smileosmile.com/wp-content/ uploads/2009/09/ldv_oldmen.jpg Leonardo da Vinci: Studie zum Sforzza-Denkmal, 1488/89: zeno.org, gemeinfrei, http://www.zeno.org/nid/20004132041 Seite 98 Leonardo da Vinci: Selbstporträt, 1512: zeno.org, gemeinfrei, http://www.zeno.org/nid/20004131967 Seite 105 Albrecht Dürer: Studie zum «Heller-Altar»: Hände eines Apostels, 1508: zeno.org, gemeinfrei, http://www.zeno.org/nid/20003998339 Seite 106 Leonardo da Vinci: Kopf einer Leda, 1505–1507: zeno.org, gemeinfrei, http://www.zeno.org/nid/20004131738 Seite 111 Holbein, der Jüngere: Porträt von Sir Thomas, 1532–34: gemeinfrei, Wikimedia Commons

Entdecken Sie Ihr bildnerisches Temperament, und entscheiden Sie selbst, welchen Weg Sie gehen wollen. In meinem Unterricht hat jede Schülerin und jeder Schüler diesen Weg, also eine eigene Sprache, entwickeln können, die einerseits immer ganz nah am Motiv orientiert war und andererseits völlig frei den eigenen Vorlieben und Schwerpunkten gefolgt ist. Finden Sie Ihren Weg. Ich wünsche Ihnen viel Spaß dabei! Heike Kelter

Dank der Autorin Meinen großen Dank an Sarah, Malte und Wilfried Silbernagel, Anna Lesko, Änne Sieh, ­Gabriele Seils, Larissa Lachmann, Sabina Bischoff, Sandy Ladewig, Heidrun Bombach, Karo Noack, Dorthea Menne, Oskar Grönebaum, Jutta Sauermann, Helen Zimmermann, Anke Lessmann, ­Marianne Schemmel, Timm Hoeller, alle Schülerinnen und Schüler der letzten 25 Jahre, die ­diesen Prozess begleitet haben, Studentinnen und Studenten der Kunsthochschule Weißensee/Berlin, Prof. Peter Roesel, Prof. Nikolaus Ott, Beate Vanden Branden, John Vanden Branden, Schülerinnen und Schüler der Berlin Brandenburg International School, Almut Kaspar, Anne Silbernagel, Barbara Kaack, Dietmar Kelter, Doerthe Kelter, Ilse von Flotow, Jurgen ­Ostarhild, Jochen Mahlke, Martin Becker, Ron Egg und Immo Wendt.

Zitate Seite 8 von Leonardo da Vinci: in «Leonardo da Vinci. Zeichnungen». DuMont Dokumente Buch­ verlag Köln, Emery Kelen, Seite 25 Seite 17 von Leonardo da Vinci: in «Leonardo da Vinci. Zeichnungen». DuMont Dokumente Buch­ verlag Köln, Emery Kelen, Seite 110 Seite 14, 26 und 40 Peters, Hugo: Der Äugel – Die Kunst des räumlichen Zeichnens. reprint 2001 b. E. A. Seemann Verlag Leipzig Seite 24 von Paul Valéry: in «Linea. Vom Umriss zur Aktion. Die Kunst der Linie zwischen Antike und Gegenwart», Ausstellungskatalog Kunsthaus Zug, Ostfildern 2010, S. 154–165 Seite 33 von August Wilhelm Schlegel: in «Über Zeichnungen zu Gedichten und John Flaxman’s Umrisse.» In: «Athenaeum II.» Berlin 1799, S. 205

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