Jäpel, Berufsmaturität als Ausbildungsalternative

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Prisma Beiträge zur Erziehungswissenschaft aus historischer, psychologischer und soziologischer Perspektive Schriftenreihe des Instituts für Erziehungswissenschaft der Universität Bern Herausgeber Elmar Anhalt, Rolf Becker, Alexander Bertrams, Tina Hascher



Franziska Jäpel

Die Berufsmaturität als Ausbildungsalternative Einflussfaktoren individueller Bildungsentscheidungen am Ăœbergang in die nachobligatorische Ausbildung

Haupt Verlag


Von der Philosophisch-humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität Bern auf Antrag von Prof. Dr. Rolf Becker (Hauptgutacher) und Prof. Dr. Philipp Gonon (Zweitgutachter) angenommene Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde. Bern, 11. September 2016

Der Dekan / Die Dekanin: Prof. Dr. Fred Mast

Franziska Jäpel hat an der Universität Erlangen-Nürnberg Soziologie, Psychologie und Pädagogik studiert und promovierte in Erziehungswissenschaft mit Schwerpunkt Bildungssoziologie an der Universität Bern. Ihre Forschungsinteressen gelten Bildungsungleichheiten, Bildungsentscheidungen sowie alternativen Bildungsverläufen.

1. Auflage: 2017 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­bibliografie; ­detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. ISBN: 978-3-258-08010-9 Alle Rechte vorbehalten. Copyright © 2017 Haupt Bern Jede Art der Vervielfältigung ohne Genehmigung des Verlages ist unzulässig. Umschlaggestaltung: Daniela Vacas nach einem Konzept vom Atelier Mühlberg, Basel Redaktion und Satz: Franziska Jäpel Printed in Germany www.haupt.ch


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

11

2 Das 2.1 2.2 2.3

23 24 30 41 43 50

schweizerische Bildungssystem: Strukturen und Befunde Funktionen des Bildungssystems . . . . . . . . . . . . . . . Das schweizerische Bildungssystem . . . . . . . . . . . . . . Bildungsdisparitäten in der Schweiz . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Befunde zur obligatorischen Bildung . . . . . . . . . 2.3.2 Befunde zur nachobligatorischen Bildung . . . . . . 2.4 Die Berufsmaturität zwischen beruflicher und allgemeiner Bildung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Zusammenfassung und Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . .

3 Theoretische Ansätze und Erklärungsmodelle 3.1 Der Charakter mechanismenbasierter Erklärungen . . 3.2 Strukturell-individualistische Erklärungsmodelle . . . . 3.2.1 Theorie der sozialen Produktionsfunktion . . . 3.2.2 Ressourcenlage und Herkunftseffekte . . . . . . 3.2.3 Subjektive Bewertung von Bildungsalternativen 3.2.4 Persönlichkeitsmerkmale . . . . . . . . . . . . . 3.2.5 Die Ablenkungsthese . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Zusammenfassung und Hypothesen . . . . . . . . . . .

. . . . . . . .

. . . . . . . .

64 74

79 . 80 . 84 . 87 . 91 . 96 . 98 . 105 . 108


6

Inhaltsverzeichnis

4 Die 4.1 4.2 4.3 4.4

DAB-Panelstudie Konzeption der Panelstudie . . . . . . . Datenerhebung . . . . . . . . . . . . . . Stichprobe und Ausschöpfungsquote . . Variablen und Operationalisierungen . . 4.4.1 Abhängige Variablen . . . . . . . 4.4.2 Individuelle Merkmale . . . . . . 4.4.3 Theoretische Parameter . . . . . 4.5 Zusammenfassung der Analysevariablen

. . . . . . . .

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5 Empirische Befunde 5.1 Verteilungen und deskriptive Befunde . . . . . . . . . . . . 5.2 Entscheidungsverläufe in den letzten beiden Schuljahren . . 5.3 Analysen zur Berufsmaturität als Ausbildungsalternative . . 5.3.1 Analyse der theoretischen Parameter . . . . . . . . . 5.3.2 Zwischen zwei Alternativen: Analysen zu den Ausbildungsplänen und -entscheidungen . . . . . . . . . . . 5.3.3 Zusammenfassung der Ergebnisse zur Berufsmaturität als Ausbildungsalternative . . . . . . . . . . . . .

119 119 122 124 126 126 128 132 141 145 145 156 165 171 187 208

6 Zusammenfassung, Diskussion und Ausblick 213 6.1 Zusammenfassung und Diskussion der Ergebnisse . . . . . . 214 6.2 Resümee und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 A Anhang 229 A.1 Tabellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 A.2 Erläuterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 B Literatur

243


Abbildungsverzeichnis 1.1

Ausbildungsalternativen am Ende der Sekundarstufe I . . .

17

2.1 2.2 2.3

Gesellschaftliche Teilsysteme und ihre Austauschprozesse . . Das Bildungssystem der Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklung der Lernenden in der Sekundarstufe I nach Anforderungsniveau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklung der Anteile ausgewählter Abschlüsse der Sekundarstufe II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklung der Maturitätsquote . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklung der Lernenden in der Sekundarstufe I nach Anforderungsniveau und Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklung der Lernenden in der Sekundarstufe I nach Anforderungsniveau und Staatsangehörigkeit . . . . . . . . . . Entwicklung der Quote der sofortigen Übertritte in die nachobligatorischen Ausbildungen nach Geschlecht . . . . . . . . . Entwicklung der Maturitätsabschlüsse nach Maturitätstyp und Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklung der sofortigen Übertritte in die nachobligatorischen Ausbildungen nach Staatsangehörigkeit . . . . . . . . Übergänge in die Hochschulen nach Art der Zugangsberechtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklung der Berufsmaturitätsabschlüsse nach Richtung Entwicklung der Berufsmaturitätsabschlüsse nach Abschlussart Übertrittsquoten Berufsmaturität-Fachhochschulen nach Maturitätsrichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25 31

2.4 2.5 2.6 2.7 2.8 2.9 2.10 2.11 2.12 2.13 2.14

3.1

Coleman-Schema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35 39 40 44 47 56 57 59 62 67 68 70 81


8

Abbildungsverzeichnis

3.2 3.3 3.4 3.5 3.6

Strukturebenen sozialer Ungleichheit . . . . . . . . . . . . . 82 Grundmodell soziologischer Erklärungen nach Esser . . . . . 84 Gesellschaftliche Ebenen der Genese und Persistenz von Bildungsungleichheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 Modell der primären und sekundären Herkunftseffekte . . . 95 Modell zur Erklärung von Ausbildungsentscheidungen am Ende der Sekundarstufe I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109

4.1

DAB-Panelstudie: Konzeption und Datenerhebung . . . . . 120

5.1

Verteilung der Lernenden nach Schultyp und Geschlecht (9. Klasse) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausbildungspläne zu Beginn der 9. Klasse nach Schultyp . . Ausbildungspläne zu Beginn der 9. Klasse nach Geschlecht . Ausbildungspläne zu Beginn der 9. Klasse nach Nationalität und nach Erstsprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausbildungspläne zu Beginn der 9. Klasse nach Herkunftsklasse (EPG) und Bildungsstand (ISCED) im Elternhaus . . Verlauf der Ausbildungspläne in den letzten beiden Schuljahren der Sekundarstufe I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschlechterunterschiede im Verlauf von Ausbildungsplänen Verlauf der Ausbildungspläne in den letzten beiden Schuljahren der Sekundarstufe I (Männer) . . . . . . . . . . . . . . . Verlauf der Ausbildungspläne in den letzten beiden Schuljahren der Sekundarstufe I (Frauen) . . . . . . . . . . . . . . . Ausbildungspläne: Berufsmaturität (vs. EFZ) . . . . . . . . Ausbildungspläne: Berufsmaturität (vs. EFZ; anforderungsreichere Schultypen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausbildungspläne: Berufsmaturität (vs. EFZ; weniger anforderungsreiche Schultypen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausbildungsentscheidung: Berufsmaturität (vs. EFZ) . . . . Ausbildungspläne: Berufsmaturität (vs. Maturität) . . . . . Ausbildungsentscheidung: Berufsmaturität (vs. Maturität) .

5.2 5.3 5.4 5.5 5.6 5.7 5.8 5.9 5.10 5.11 5.12 5.13 5.14 5.15

146 149 150 151 152 159 160 163 164 190 193 194 195 202 204


Tabellenverzeichnis 2.1

Bildungsabschlüsse der Sekundarstufe II in ausgewählten Jahrgängen (total) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38

4.1 4.2

DAB-Panelstudie: Stichprobe und Rücklauf . . . . . . . . . Itemskala zur Erhebung von interner und externer Kontrollüberzeugung nach Jakoby und Jacob 2010 . . . . . . . . . . Itemskala zur Erhebung von Zeit-/Gegenwartspräferenz . . Faktorenmatrizen der Itemskalen zu individuellen Berufspräferenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Variablendeskription . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

4.3 4.4 4.5 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 5.6 5.7 5.8

125 137 137 142 143

Ausbildungspläne zu Beginn der 9. Klasse nach Geschlecht, Schultyp und Herkunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 Ausbildungsentscheidung am Ende der 9. Klasse nach Geschlecht, Schultyp und Herkunft . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Ausbildungspläne zu Beginn der 9. Klasse (multinomiale logist. Regression) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Ausbildungspläne zu Beginn der 9. Klasse (anforderungsreichere Schultypen, multinomiale logist. Regression) . . . . . 169 Ausbildungspläne zu Beginn der 9. Klasse (weniger anforderungsreiche Schultypen, multinomiale logist. Regression) . . 170 Subjektive Einschätzungen der Nutzenparameter nach Geschlecht, Leistung und Herkunft (OLS-Regression) . . . . . 176 Individuelle Ausprägungen der Persönlichkeitsparameter (OLSRegression) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 Bedeutung und Ausprägung der Berufsparameter nach Geschlecht und Herkunft (OLS-Regression) . . . . . . . . . . . 182


10

Tabellenverzeichnis

5.9 5.10 5.11 5.12 5.13 5.14

Ausbildungspläne: Berufsmaturität (vs. EFZ; logist. Regression) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausbildungspläne: Berufsmaturität (vs. EFZ; anforderungsreichere Schultypen; logist. Regression) . . . . . . . . . . . . Ausbildungspläne: Berufsmaturität (vs. EFZ; weniger anforderungsreiche Schultypen; logist. Regression) . . . . . . . . Ausbildungsentscheidung: Berufsmaturität (vs. EFZ; logist. Regression) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausbildungspläne: Berufsmaturität (vs. Maturität; anforderungsreichere Schultypen; logist. Regression) . . . . . . . . . Ausbildungsentscheidung: Berufsmaturität (vs. Maturität; anforderungsreichere Schultypen; logist. Regression) . . . . . .

A.1 Ausprägung beruflicher Präferenzen nach Geschlecht und Herkunft (OLS-Regression; vollständige Tabelle) . . . . . . . . A.2 Einschätzung der Parameter zur Berufslehre (OLS-Regression; vollständige Tabelle) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A.3 Einschätzung der Parameter zur Berufsmaturität (OLS-Regression; vollständige Tabelle) . . . . . . . . . . . . . . . . . A.4 Einschätzung der Parameter zur gymnasialen Maturität (OLSRegression; vollständige Tabelle) . . . . . . . . . . . . . . . A.5 Variablendeskription für Tabelle 5.9 . . . . . . . . . . . . . A.6 Variablendeskription für Tabelle 5.12 . . . . . . . . . . . . . A.7 Variablendeskription für Tabelle 5.13 . . . . . . . . . . . . . A.8 Variablendeskription für Tabelle 5.14 . . . . . . . . . . . . . A.9 Deskription der Gewichtungsvariablen . . . . . . . . . . . .

197 198 199 200 206 207

230 231 232 233 234 235 236 237 239


1. Einleitung Mit der im Jahr 1994 eingeführten Berufsmaturität wurde das Spektrum an Abschlüssen in der nachobligatorischen Bildung der Schweiz um eine weitere Ausbildungsalternative ergänzt (Wettstein u. a. 2014; Gonon 1994). Es handelt sich hierbei um eine Hochschulberechtigung, die im Rahmen der beruflichen Bildung erworben wird, wobei den Lernenden zwei Wege offenstehen: die Berufsmaturität (BM) kann lehrbegleitend während der beruflichen Grundbildung (BM1) oder aber – in Voll- oder in Teilzeit – nach Abschluss einer Berufslehre (BM2) absolviert werden und ist an eine von sechs inhaltlichen Richtungen gebunden. Zentrale Voraussetzung für den Abschluss ist der Eintritt in die Berufsbildung und der Erwerb eines eidgenössischen Fähigkeitszeugnisses (EFZ). Die Besonderheit der Berufsmaturität ist, dass mit ihr innerhalb der beruflichen Grundbildung eine erweiterte Allgemeinbildung vermittelt und zertifiziert wird und sich weitere Bildungswege ausserhalb der Berufsbildung eröffnen. Die Berufsbildung hat in der Schweiz eine lange Tradition. Die hohe Attraktivität des berufsbildenden Angebots zeigt sich darin, dass hier die Mehrheit der Schülerinnen und Schüler nach Beendigung der Sekundarstufe I ihren Bildungsweg fortsetzt. Gegenwärtig schliessen etwa zwei Drittel der Jugendlichen eine der rund 250 angebotenen Berufsausbildungen ab (BFS 2015a; BFS 2015b). Zwar ist der Anteil der berufsbildenden Abschlüsse an allen Abschlüssen der Sekundarstufe II seit Beginn der 1990er Jahre rückläufig, wenn jedoch auch die in dieser Zeit eingeführten Berufsmaturitätsabschlüsse berücksichtigt werden, so ist ihr Anteil relativ stabil geblieben (BFS 2009). Die Berufsausbildung steht heute mehr denn je in Konkurrenz zur allgemeinbildenden Ausbildung an den Gymnasien und Mittelschulen, die in den letzten Jahren eine immer stärkere Nachfrage verzeichnet (BFS 2015a). Das steigende Interesse am allgemeinbildenden Weg über die Gymnasien an die Hochschulen bedrängt die Berufsausbildungen im Wettbewerb um leistungsstarke und engagierte Jugendliche. Mit der Berufsmaturität wur-


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1. Einleitung

de die Möglichkeit geschaffen, im Kontext der Berufsbildung Zugang zur Ausbildung an einer Fachhochschule oder – seit 2003 mit Ergänzungsprüfung via Passarelle – an einer universitären bzw. eidgenössisch-technischen Hochschule zu erlangen (Schmid und Gonon 2011). Aus bildungspolitischer Perspektive ging es auch darum, die Attraktivität der Berufsbildung zu stärken, diese weiter für schulbegabte Lehrlinge interessant zu gestalten sowie Weiterbildungsmöglichkeiten wie den Zugang zur Tertiärstufe zu schaffen (Kiener und Gonon 1998, S. 7). Ein weiteres Argument für die Möglichkeit, innerhalb des Berufsbildungssystems eine Hochschulzugangsberechtigung zu erwerben, ist es, in einem stark stratifizierten, segmentierten und differenzierten Bildungssystem wie dem der Schweiz die Durchlässigkeit zwischen allgemeinbildenden und berufsbildenden Bildungsgängen zu erhöhen (Maurer und Gonon 2013, S. 10) und gleichzeitig den Einfluss sozioökonomischer Herkunftsfaktoren auf den Bildungserwerb zu reduzieren (Falter und Wendelspiess Chávez Juárez 2013, S. 2). Die zunehmende Nachfrage und Akzeptanz der Berufsmaturität lassen sich zum einen mit den Daten der amtlichen Statistik nachzeichnen, und zum anderen finden sich Beschreibungen in der wissenschaftlichen Literatur. Die Anzahl an Abschlüssen der Berufsmaturität ist in den letzten Jahrzehnten von absolut 2’278 (1996) auf 14’177 (2014) gestiegen. Das ergibt 14% aller Sekundar-II-Abschlüsse, die Anteile der allgemeinen Maturität liegen 2014 bei 18% (BFS 2014c). Während nach Einführung eine Berufsmaturität überwiegend (zu zwei Dritteln) lehrbegleitend erworben wurde, ist seitdem der Anteil an Abschlüssen, die nach einer Berufslehre erworben wurden, auf 46,7% im Jahr 2014 gestiegen (SBFI 2015b; BFS 2014c). Bisherige Studien zeigen, dass vor allem männliche Jugendliche (BFS 2014a), solche mit deutscher Erstsprache und solche aus eher niedrigeren Sozialschichten (Schumann 2011) eine Berufsmaturität erwerben. Werden allerdings nur Personen innerhalb der Berufsbildung betrachtet, dann sind es dort eher solche aus den höheren Bildungsschichten, die mit einer Berufsmaturität abschliessen (Falter und Wendelspiess Chávez Juárez 2013). Untersuchungen von Forrer kurz nach der Einführung der Berufsmaturität zu deren Wahrnehmung durch Lehrlinge und ihre Eltern zeigen, dass eine BM vor allem Angehörige der unteren Sozialschichten in den Bereichen Prestige, Schulbildung, Verdienst und Weiterbildung als gleichwertig zu einer gymnasialen Maturität einschätzen (Forrer 1998, S. 224ff). Neuere Untersuchungen zeigen, dass be-


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züglich des Erwerbs eine BM im Vergleich zu einem EFZ als aufwendiger und kostenintensiver wahrgenommen wird (Glauser 2015). Am Übergang in die tertiäre Bildung beginnen Berufsmaturandinnen und Berufsmaturanden seltener ein Hochschulstudium als solche mit einer allgemeinen Maturität, und sie lassen sich dabei zwischen Abschluss und Studienbeginn mehr Zeit (Griga 2014; Schmid und Gonon 2011). Personen, die über die Passarelle in die Hochschulen eintreten, stammen häufiger aus nicht-akademischen Elternhäusern (Grob u. a. 2007). Mit diesen Befunden zeigen sich bereits Hinweise auf selbst- und fremdselektive Mechanismen beim Erwerb einer Berufsmaturität. Zahlreiche weitere Untersuchungen weisen insgesamt eine hohe soziale Selektivität beim Eintritt in die nachobligatorische Bildung, aber auch an den anderen Übergängen im Bildungssystem der Schweiz nach (siehe z.B.: Glauser 2015; Neuenschwander 2012; Hupka-Brunner u. a. 2010; Neuenschwander, Frey u. a. 2010; Stalder u. a. 2008; Bertschy u. a. 2007; Meyer 2004). Soziale Disparitäten und Übergangsmuster am Übergang von der Primarstufe in die Sekundarstufe (siehe z.B.: Beck 2015; Neuenschwander 2010; Neuenschwander und Malti 2009) wirken sich signifikant auf die Entscheidungen und Chancen im späteren Bildungsverlauf aus (R. Becker 2011; R. Becker 2010a), da hier entschieden wird, welchen Schultyp bzw. welche Stammklasse der Sekundarstufe I die Kinder besuchen werden. Die sozial selektiven Übertrittschancen an diesem ersten Übergang führen zwangsläufig zu einer Verteilung der Schulkinder auf die verschiedenen Anforderungsniveaus der Sekundarstufe I nach sozialer Herkunft. Das ist aus verschiedenen Gründen fatal: Zum einen gelangen leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler auf diese Weise in anforderungsärmere Lernumfelder, zum anderen sind über die Allokation der Schulkinder in die verschiedenen Anforderungsniveaus deren Möglichkeiten am Ende der obligatorischen Schulzeit vorstrukturiert, indem ihre Chancen, später eine anspruchsvolle nachobligatorische Ausbildung zu beginnen, geringer ausfallen (Hupka u. a. 2006; Meyer 2004). Die Befunde zur Berufsmaturität zeigen in Ergänzung zu anderen Studien, die im Schweizer Bildungssystem Chancenungleichheit konstatieren, dass beim Eintritt in die nachobligatorische Bildung, und dabei auch beim Erwerb der Berufsmaturität, herkunftsspezifische Unterschiede bestehen. Soziale Ungleichheit ist dann der Fall, (...) wenn Menschen (immer verstanden als Zugehörige sozialer Kategorien) einen ungleichen Zugang zu sozialen


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1. Einleitung

Positionen haben und diese sozialen Positionen systematisch mit vorteilhaften oder nachteiligen Handlungs- und Lebensbedingungen verbunden sind (Solga u. a. 2009, S. 15). Solga u. a. (2009) folgend, ist dann von sozialen Bildungsungleichheiten die Rede, wenn bestimmte Personengruppen nicht nur geringere Bildungserfolge erzielen, sondern sich diese Nachteile zudem auf ihre Lebensbedingungen auswirken. Die Einordnung in solche Gruppen bzw. soziale Kategorien kann unterschiedlich erfolgen. Im vorliegenden Fall konzentrieren sich die Ausführungen auf Herkunftskategorien oder genauer auf den Einfluss der Herkunft auf Bildungschancen. Die zentrale Bedeutung der Bildungsabschlüsse auf Sekundar-II-Niveau ergibt sich daraus, dass sie über die Verknüpfung des Bildungssystems mit dem Arbeitsmarkt massgeblich zur beruflichen und sozialen Positionierung von Individuen innerhalb der Gesellschaft beitragen (R. Becker 2012a; Mayer und Blossfeld 1990). Soziale Ungleichheiten beim Bildungserwerb sind folglich von zentraler Bedeutung für die Individuen selbst, für deren Umfeld und schliesslich für die Gesamtgesellschaft, weil sie zur Entstehung und Reproduktion von sozialer Ungleichheit in den Lebenschancen beitragen (R. Becker 2011; Kristen und Dollmann 2010; R. Becker 2010a; W. Müller 1998). Allerdings war die Berufsmaturität bisher kaum oder nur teilweise Gegenstand von theoriegeleiteten Untersuchungen in der Schweizer Bildungsforschung. Bisher fehlen Studien, welche die Berufsmaturität innerhalb der nachobligatorischen Bildung explizit berücksichtigen und ihre Rolle zwischen der klassischen Berufslehre und dem Besuch des Gymnasiums herausarbeiten. Weiter fehlen Studien, die bei der Untersuchung sozialer Disparitäten im Bildungserwerb die Berufsmaturität einschliessen, sowie solche Studien, die eine frühe und explizite Aspiration und Entscheidung von Seiten der Jugendlichen für eine Berufsmaturität theoriegeleitet und mechanismenbasiert untersuchen und erklären. An dieser Stelle setzt die vorliegende Arbeit an. Das Forschungsinteresse gilt dem Stellenwert der Berufsmaturität beim Übergang in die nachobligatorische Bildung und der Erklärung sozial selektiver Übergangsmuster an diesem Übergang. Die Bedeutung individueller Bildungsentscheidungen Die Erklärung beobachtbarer gesellschaftlicher Phänomene wie die Nachfrage nach der Berufsmaturität und die soziale Ungleichheit von Bildungschan-


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cen beim Eintritt in die nachobligatorische Bildung ist Teil einer strukturellindividualistischen Bildungsforschung. Aus soziologischer Perspektive versteht sie sich im Sinne Webers als eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will (Weber 1972, S. 1). Sie ist, so Weber, in ihrem Kern eine sowohl verstehende als gleichzeitig erklärende Wissenschaft, in der Erklären immer ursächliches Erklären ist. Max Weber und den Annahmen von James Coleman (1987) folgend, wird davon ausgegangen, dass Makrophänomene wie die Nachfrage nach bestimmten Bildungsabschlüssen auf der Mikroebene im individuellen Handeln der einzelnen Akteure begründet sind. Den Kern der Weberschen Konzeption bilden vier Elemente, die in drei Schritten theoretisch miteinander verbunden werden. In einer Situation bewirkt der einzelne Akteur durch sein soziales Handeln einen externen Effekt durch die Wirkung, die sein Handeln auslöst. Der erste Schritt einer Analyse ist, den subjektiven Sinn des Akteurs zu verstehen. Im zweiten Schritt soll der Ablauf der Handlung (mithilfe einer Handlungstheorie) erklärt werden. Den dritten Schritt bilden Annahmen zur Wirkung der Handlungen auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene (vgl. Esser 1993, S. 92ff). Die individuellen Handlungen sind im vorliegenden Fall individuelle Bildungsentscheidungen, die insbesondere an den Schwellen im Bildungssystem zum Tragen kommen und im Aggregat die beobachtbaren Bildungsergebnisse (beispielsweise die Berufsmaturitätsquote) ergeben. Um sozial selektives Bildungsverhalten auf der Mikroebene mechanismenbasiert zu erklären, hat sich in der Bildungssoziologie – in Ergänzung zu makrosoziologischen Theorien – ein strukturell-individualistischer Erklärungsansatz und dessen Erweiterungen bewährt. Ausgangspunkt bilden die handlungstheoretischen Überlegungen von Boudon (1974), die von Erikson und Jonsson (1996), Breen und Goldthorpe (1997) und Esser (1999) weiterentwickelt sowie von vielen Autorinnen und Autoren empirisch angewendet und überprüft wurden (Glauser 2015; Beck 2015; R. Becker, Haunberger u. a. 2010; R. Becker und Hecken 2008; Stocké 2007; R. Becker 2003). Den zentralen Überlegungen dieser Ansätze folgend, sind individuelle Bildungsentscheidungen als Ergebnis mehr oder weniger intensiver Abwägungen von Alternativen zu verstehen, die unter Berücksichtigung ihrer jeweils subjektiv erwarteten Kosten, Nutzen und Erfolgswahrscheinlichkeit eingeschätzt


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1. Einleitung

werden. Sie gelten als ursächlich für die Genese und Persistenz herkunftsbedingter Bildungsdisparitäten. Entsprechend dieser Argumentation können Bildungsungleichheiten an der ersten Schwelle1 als aggregierte Folge sozial unterschiedlicher Bildungsentscheidungen verstanden werden, die insbesondere bei den Übergängen im Bildungssystem zum Tragen kommen. Dabei werden die Ausgangsbedingungen auf der Makroebene und deren Einfluss auf individuelle Ausbildungsabsichten und -entscheidungen auf der Mikroebene einerseits und die Auswirkungen von ebendiesen auf gesellschaftliche Entwicklungen andererseits untersucht. Um soziale Disparitäten im Bildungserwerb erklären zu können, müssen demnach individuelle (Aus-)Bildungsentscheidungen im Kontext der gegebenen Rahmenbedingungen untersucht werden. Zur Erklärung von Bildungsdisparitäten einerseits und für die Sicherstellung des Bedarfs an Fachkräften für den Arbeitsmarkt andererseits ist es wichtig zu wissen, wie Bildungsentscheidungen junger Erwachsener zustande kommen, welche Determinanten dabei zentral sind, inwiefern diese Determinanten die subjektiven Einschätzungen und Aspirationen der Jugendlichen während des Prozesses ihrer Ausbildungswahl prägen und in welchem Ausmass diese Determinanten schliesslich die Entscheidung der Jugendlichen am Ende der obligatorischen Schulzeit beeinflussen. Die Entstehungsbedingungen und Prozessmerkmale, die bei Bildungsentscheidungen an der ersten Schwelle im Kontext Berufslehre-Berufsmaturität-gymnasiale Maturität zum Tragen kommen, stehen im Zentrum dieser Arbeit. Ziel ist es, den Entscheidungsprozess zu beschreiben und die individuelle Ausbildungswahl auf verschiedene strukturelle und individuelle Einflussfaktoren hin theoriegeleitet und mechanismenbasiert zu untersuchen.

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Die Bezeichnungen erster bzw. zweiter Übergang beziehen sich auf den Übergang von der Primar- in die Sekundarstufe I und von der Sekundarstufe I in die Sekundarstufe II. Insbesondere in der Berufsbildungsforschung hat sich die Bezeichnung erste und zweite Schwelle für die Übergänge nach der obligatorischen Schulzeit etabliert. Als erste Schwelle wird der Übergang in die Anschlussmöglichkeiten, vor allem zertifizierende Ausbildungen, der Sekundarstufe II bezeichnet. Die zweite Schwelle steht für den Eintritt in den Arbeitsmarkt nach einer Ausbildung (BFS/TREE 2003; TREE 2013). Demnach entspricht der zweite Übergang der ersten Schwelle.


17 Problemstellung und Forschungsfragen

Gymnasiale Maturität

(Fach-) Hochschulstudium

A

Berufsmaturität

B

C Berufsausbildung

D

Arbeitsmarkteintritt

Abschluss Sekundarstufe I

In der Schweiz stehen Schulabgängerinnen und Schulabgänger am Ende der Sekundarstufe I vor der wichtigen Entscheidung, auf welchem Bildungsweg sie ihre nachobligatorische Ausbildung fortsetzen wollen, um einen Beruf zu erlernen und anschliessend in den Arbeitsmarkt einzutreten. Nach der neunten Klasse stehen ihnen verschiedene Alternativen zur Verfügung, die sich grob in allgemeinbildende und berufsbildende Ausbildungen einteilen lassen. Abbildung 1.1 illustriert in aller Einfachheit das Spektrum der gängigen Alternativen am Ende der Sekundarstufe I.

Zwischenlösung E (Keine nachobligatorische Ausbildung)

Quelle: Eigene Darstellung. Hinweis: Illustration der möglichen (zertifizierenden und nicht zertifizierenden) Ausbildungsalternativen nach der obligatorischen Bildung im schweizerischen Bildungssystem in Anlehnung an die zentrale Filterfrage der DAB-Panelstudie (siehe Abschnitt 4).

Abbildung 1.1.: Ausbildungsalternativen am Ende der Sekundarstufe I

Alternative (A) stellt den Besuch einer Mittelschule/eines Gymnasiums dar. Die gymnasiale Maturität wird immer stärker nachgefragt und steht in direkter Konkurrenz zur beruflichen Bildung. Alternative (B) ist eine Berufslehre (EFZ/EBA).2 Die Mehrheit der Jugendlichen beginnt nach der obligatorischen Schulzeit eine duale oder vollzeitschulische Lehre, um sich für einen Beruf zu qualifizieren. Alternative (C) stellt die Berufsmaturität dar. Sie kann zusätzlich zur Berufslehre erworben werden und bietet die Möglichkeit, den Bildungsweg an einer (Fach-)Hochschule fortzusetzen.3 Weitere Alternativen sind Brückenangebote/Zwischenlösungen (D) oder der direkte 2 3

EFZ: Eidgenössisches Fähigkeitszeugnis; EBA: Eidgenössisches Berufsattest. Diese drei Alternativen (A+B+C) gehören in die Kategorie der zertifizierenden nachobligatorischen Ausbildungen in der Sekundarstufe II.


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1. Einleitung

Eintritt in den Arbeitsmarkt (E). Diese Möglichkeiten (A–E) definieren den Alternativenraum am Ende der obligatorischen Schule. Die Ausbildungsalternativen unterscheiden sich – neben ihrer berufs- oder allgemeinbildenden Ausrichtung – hinsichtlich zahlreicher Faktoren wie Prestige, Einkommens- und Arbeitsmarktchancen sowie Anschluss- und Weiterbildungsmöglichkeiten, aber auch hinsichtlich der mit ihnen verbundenen Kosten wie beispielsweise des finanziellen und zeitlichen Aufwands. Obwohl die Jugendlichen die Konsequenzen ihrer Entscheidungen möglicherweise nicht vollumfänglich einschätzen können, müssen sie sich dennoch entscheiden. Der Fokus liegt auf dem Bildungsverhalten Jugendlicher in den letzten beiden Schuljahren der obligatorischen Schulzeit, insbesondere zu Beginn der neunten Klasse, wenn sie mit verschiedenen Fragen bezüglich ihrer beruflichen Zukunft und den möglichen (wählbaren) Alternativen konfrontiert sind (Herzog, Neuenschwander und Wannack 2004, S. 7). Zu diesem Zeitpunkt ist die Konsolidierungsphase, also die erfolgte Berufswahl, in der Regel bereits abgeschlossen (Herzog, Neuenschwander und Wannack 2006, S. 84). Auch wenn es noch einen Entscheidungsspielraum gibt, wissen die Jugendlichen, welche Möglichkeiten ihnen aufgrund der bisherigen Leistungen offenstehen, und sie müssen die entsprechenden Schritte gehen, z.B. sich für Aufnahmeprüfungen anmelden oder die entsprechende Lehrstelle suchen. Die Möglichkeit, innhalb der Berufsausbildung einen Bildungsweg mit Abschluss der Berufsmaturität zu wählen, kann als Sonderfall der Berufsbildungsentscheidung in Konkurrenz zur gymnasialen Maturität und zum traditionellen EFZ verstanden werden (Schumann 2011). Die (frühzeitige) Aspiration einer Berufsmaturität verlangt von den Jugendlichen eine fortgeschrittene(re) Planung und einen weiteren Zeithorizont bezüglich ihrer weiteren Bildungslaufbahn. Allerdings stehen nicht allen Betroffenen alle Alternativen offen. Die Möglichkeiten, die im Anschluss an die obligatorische Schule gewählt werden können, stehen in einem engen Zusammenhang mit den bislang erzielten Leistungen und dem in der Sekundarstufe I besuchten Schultyp (Hupka u. a. 2006; Meyer 2004; BFS/TREE 2003). So werden Entscheidungen beim Eintritt in die nachobligatorische Ausbildung teilweise durch die Selektion am Übergang von der Primarschule in die verschiedenen Anforderungsniveaus der Sekundarstufe I beeinflusst. Die Verteilung nach Herkunftsmerkmalen erklärt die soziale Selektivität an der ersten Schwelle jedoch nur


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teilweise. Vielmehr wird angenommen, dass es sich bei den Einflussfaktoren um ein Zusammenspiel von strukturellen und vor allem individuellen Herkunfts- und Persönlichkeitsmerkmalen handelt. Aus der übergeordneten Frage, welche Merkmale für selektive Ausbildungsentscheidungen verantwortlich sind und welche Rolle die Berufsmaturität als Alternative unter den Ausbildungsmöglichkeiten in der nachobligatorischen Ausbildung der Sekundarstufe II spielt, ergeben sich folgende Unterfragen: 1. Wie verläuft der Entscheidungsprozess zwischen den Ausbildungsalternativen einer traditionellen Berufslehre (EFZ), der Berufsmaturität und der gymnasialen Maturität in den letzten beiden Schuljahren der Sekundarstufe I? 2. Welchen Beitrag liefern subjektive Kosten-Nutzen-Abwägungen zur Erklärung der Wahl einer Berufsmaturität im Vergleich zur (a) traditionellen Berufslehre und (b) zur gymnasialen Maturität? 3. Welche Rolle spielen individuelle berufliche Präferenzen und Persönlichkeitseigenschaften bei der Erklärung der Wahl einer Berufsmaturität im Vergleich zur (a) traditionellen Berufslehre und (b) zur gymnasialen Maturität? 4. Werden leistungsstarke Jugendliche durch die Alternative der Berufsmaturität in die Berufsbildung abgelenkt, oder gelingt es, durch die Berufsmaturität die soziale Selektivität zwischen beruflichen und allgemeinbildenden Bildungswegen aufzuweichen? Bezüglich der ersten Frage wird untersucht, wie sich die Entscheidungsverläufe der Jugendlichen in den letzten beiden Jahren der obligatorischen Schulzeit darstellen. Dazu werden die Entscheidungsprozesse zwischen den drei Alternativen Berufslehre-Berufsmaturität-gymnasiale Maturität beschrieben. Zur Untersuchung der Fragen 2 und 3 werden diejenigen individuellen Merkmale identifiziert, die Ausbildungsabsichten und Entscheidungen im Handlungsspektrum Berufslehre mit Abschluss EFZ – Berufsmaturität – gymnasiale Maturität erklären können. Dabei wird das Merkmalsspektrum


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1. Einleitung

der individuellen Merkmale4 und schulrelevanten Faktoren5 um theoretisch relevante Parameter ergänzt. Sozial divergierende Kosten-Nutzen-Einschätzungen der drei Ausbildungsalternativen werden um individuelle berufsrelevante Präferenzen und Persönlichkeitsmerkmale erweitert und deren Zusammenspiel in Bezug auf das Bildungswahl- und -entscheidungsverhalten in der neunten Klasse analysiert. Frage 4 wird in einer kritischen Auseinandersetzung mit sozioökonomischen Ungleichheiten beim Zugang zur nachobligatorischen Bildung diskutiert. Hier wird anknüpfend an die Untersuchungen zur sozialen Selektivität von (Aus-)Bildungsabsichten und -entscheidungen an der ersten Schwelle diskutiert, ob die Möglichkeit der Berufsmaturität zu einer Reduzierung von Bildungsungleichheiten beigetragen hat, ob sie dem Anspruch, das Bildungswesen durchlässiger zu gestalten, gerecht werden kann und ob sie eine Ablenkungswirkung auf leistungsstarke Jugendliche ausübt. Aufbau der Arbeit Die vorliegende Dissertation enthält sechs Kapitel. Sie ist an die DAB-Panelstudie6 angegliedert. Das Projekt wurde im Auftrag des Staatssekretariats für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) durchgeführt und beschäftigt sich mit individuellen Berufs- und Ausbildungsentscheidungen sowie der Frage, welche Faktoren für die Entscheidung für oder gegen eine bestimmte Ausbildung verantwortlich sind. Im zweiten Kapitel werden zunächst zentrale Funktionen von Bildungssystemen und die Rahmenbedingungen im Bildungsraum Schweiz erläutert. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Sekundarstufe I und der nachobligatorischen Ausbildung, auf die sich auch die Analysefragen beziehen. Daran anschliessend werden wesentliche Befunde aus der Schweizer Bildungsforschung zusammengefasst, insbesondere Studien der Transitionsforschung, 4

Geschlecht, sozioökonomische Herkunft und Migrationshintergrund Berücksichtigt werden der besuchte Schultyp und die schulischen Leistungen in Mathematik und Deutsch. 6 Berufsbildungsentscheidungen beim Übergang an der ersten Schwelle. Determinanten der Berufswahl und der Berufsbildungschancen, Universität Bern (2011-2013) (R. Becker, Glauser und Jäpel 2013), finanziert durch das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation SBFI, konzipiert und durchgeführt an der Abteilung Bildungssoziologie am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Bern. 5


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Untersuchungen zu ungleichen Bildungschancen und zum Einfluss individueller Merkmale auf den Bildungserfolg. Dieses Unterkapitel hat zwei Schwerpunkte: Zum einen werden Befunde zu Bildungsdisparitäten und Bildungschancen in der Schweiz präsentiert, wobei die Ergebnisse entsprechend der Struktur des schweizerischen Bildungssystems gegliedert sind. Hier wird wo möglich auf Daten der amtlichen Statistik zurückgegriffen. Zum anderen werden verschiedene Studien und Forschungsergebnisse zusammengefasst, die sich aus strukturell-individualistischer Perspektive mit Bildungsentscheidungen befassen. Der Abschnitt behandelt Studien aus der Schweiz und wird durch internationale Befunde ergänzt. Abschnitt 2.4 beschäftigt sich insbesondere mit der Berufsmaturität. Es wird deren Einführung und Etablierung als Ausbildungsalternative erläutert, und es werden Studien, welche die Berufsmaturität zum Gegenstand haben, zusammengefasst. Das dritte Kapitel befasst sich mit theoretischen Erklärungsmodellen. Nach einer Einführung in die Grundsätze der soziologischen Bildungsforschung und in das Prinzip mechanismenbasierter Erklärungsmodelle werden theoretische Modelle aus dem Bereich der Rational-Choice-Theorie und ergänzende Überlegungen vorgestellt und diskutiert. Es werden zudem die Hypothesen abgeleitet, die im weiteren Verlauf dieser Arbeit überprüft werden. Die Kapitel 4 und 5 enthalten den empirischen Teil der Arbeit. Zunächst wird die DAB-Panelstudie vorgestellt, ihre Konzeption und die verwendeten Daten beschrieben. Daran anschliessend werden die verwendeten Variablen und deren Operationalisierungen, einige deskriptive Befunde sowie die Ergebnisse multivariater Analysen vorgestellt und zusammengefasst. In den verschiedenen, aufeinander aufbauenden Analyseschritten werden die Daten der DAB-Panelstudie untersucht und Determinanten der Wahl einer Berufsausbildung mit oder ohne Berufsmaturität sowie der gymnasialen Maturität herausgearbeitet und einander gegenübergestellt. Die Grundlage für die Analysestrategie bilden die Annahmen der RC-Theorie. Zusätzlich zu den Kosten-Nutzen-Modellen werden Persönlichkeitsmerkmale und individuelle Berufspräferenzen auf deren Erklärungskraft hin untersucht. Das Abschlusskapitel enthält eine Zusammenfassung und die Diskussion der Ergebnisse.



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