Die Gräber schweigen - von Johann Steiner

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Einleitung Flucht ist ein Thema, das viele Schriftsteller beschäftigt, die die kommunistische Diktatur in Rumänien erlebt haben, vor allem solche, die das Land davor legal oder illegal verlassen haben. Aber keiner unter ihnen schildert das tragische Geschehen an der rumänischen Westgrenze so geballt, und trotzdem so vollkommen und treffend wie die Nobelpreisträgerin Herta Müller. Die preisgekrönte Schriftstellerin hat als junge Frau mitbekommen, was an der „blutigsten Grenze Europas“, wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung Ende der 1980er Jahre die rumänische Westgrenze genannt hat, geschehen ist. In ihrem 2007 erschienenen Roman „Herztier“ schreibt sie: „Alle lebten von Fluchtgedanken. Sie wollten durch die Donau schwimmen, bis das Wasser Ausland wird. Dem Mais nachrennen, bis der Boden Ausland wird. Man sah es ihren Augen an: Sie werden sich bald, für alles Geld, das sie haben, Geländekarten von Landvermessern kaufen. Sie hoffen auf Nebeltage im Feld und im Fluss, um den Kugeln und Hunden der Wächter zu entgehen, um wegzulaufen und wegzuschwimmen.“ Welche Stimmung im Rumänien der 1970er und 1980er Jahre herrschte, sagt Herta Müller mit diesen Worten: „Nur der Diktator und seine Wächter wollten nicht fliehen. Man sah es ihren Augen, Händen, Lippen an: Sie werden heute noch und morgen wieder Friedhöfe machen mit Hunden und Kugeln. Aber auch mit dem Gürtel, mit der Nuss, mit dem Fenster und mit dem Strick.“ Wie gefährlich es war, über die Grenze zu gehen, sagen folgende Zeilen: „Jede Flucht war ein Angebot an den Tod… Jede zweite Flucht scheiterte an den Hunden und Kugeln der Wächter. Das fließende Wasser, die fahrenden Güterzüge, die stehenden Felder waren Todesstrecken. Im Maisfeld fanden Bauern beim Ernten zusammengedorrte oder aufgeplatzte, von Krähen leergepickte Leichen. Die Bauern brachen den Mais und ließen die Leichen liegen, weil es besser war, sie nicht zu sehen. Im Spätherbst ackerten die Traktoren.“ In ihrem Buch „Der Fuchs war damals schon der Jäger“ vervollständigt Herta Müller das Bild, wenn sie schreibt: „Was suchen die Polizisten, was suchen die Hunde, fragt Adina… Sie bringen jede Nacht Verletzte von der Grenze, sagt er, die meisten sind tot…“ Etwas weiter fährt sie fort: „Neben der Leichenhalle ist eine Werkstatt, sagt Paul, dort werden die Särge zugeschweißt und mit Polizeiwache nach Hause geschickt. Da schaut niemand mehr rein, sagt Paul.“ Die Aufzählung all dessen, was einen Flüchtenden erwarten konnte, zeigt, wie verzweifelt mancher im kommunistischen Rumänien war. Denn wer geht schon gerne in die Fremde? Das fragt der Banater Schriftsteller Adam Müller Guttenbrunn schon Jahrzehnte vor der Instauration des Kommunismus in senem Werk

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