12 minute read

Plötzlich Herr und Millionär

Von Ignaz Pfleger

Die Grenze haben wir zwischen 24 und 1 Uhr überschritten. Es war Anfang Oktober 1989. Weil wir vor dem Grenzstreifen durch einen Wassergraben mussten, war ich nass bis zu den Knien. Losgegangen waren wir um 21 Uhr, in Grenznähe mussten wir bis Mitternacht warten. Es war eine kalte, klare und windige Nacht, Reif ließ sich nieder, und mir war die ganze Zeit kalt. Wir waren zu zwölft, was wir im Vorfeld wohl alle nicht gewusst hatten. Darunter waren der Schlepper-Chef, ein Zigeuner, und seine Geliebte. Der Übertritt erfolgte ohne Zwischenfall. Wir gelangten bis in die Nähe von Werschetz. Ich ging voraus, hatte ein Rufen geIgnatz Pfleger hört, aber nicht reagiert, denn ich fror heftig und war schon müde. Ich stand plötzlich allein da, als neben mir ein Auto hielt, aus dem zwei Männer in blauer Uniform ausstiegen und mich mit „Dobro utro“ (Guten Morgen) begrüßten. So viel Serbisch verstand ich und antwortete auf den Gruß. Sie fragten nach meinen „Papira“, und ich erklärte, dass ich keine hätte und rumänischer Flüchtling sei. Daraufhin musste ich einsteigen, und in wenigen Minuten waren wir auf dem Polizeirevier.

Advertisement

Tasche, Gürtel und Schuhschnüre musste ich abgeben, dann sperrten sie mich unter einer Treppe ein, die zum Stockwerk führte. Es gab ein mattes Licht, einen Holzrost auf dem Boden und Decken. Ich zog die nassen Schuhe und Socken aus und versuchte zu schlafen. Es gelang mir jedoch nicht, es dürfte etwa 5 Uhr gewesen sein. Zu Dienstbeginn, um 8 Uhr, wurde ich herausgeholt und in ein Büro geführt, wo ein älterer Herr mich einlud, Platz zu nehmen. Zuerst fragte er, in welcher Sprache wir uns verständigen könnten, es blieb beim Rumänischen, das er perfekt beherrschte. Dann wollte er genau wissen, wo ich die Grenze überschritten habe. Das konnte ich nicht genau sagen, nur dass ich durch zwei Ortschaften gekommen bin, durch einen Spalier-Weingarten, wo Anhänger standen, die mit Trauben beladen waren. Dort hatten Leute aus unserer Gruppe Spuren hinterlassen, weil sie sich an den Trauben bedient hatten, was der Polizei gemeldet worden ist. Dann wollte er noch wissen, ob ich von jemandem gesehen worden bin und ob ich Leuten begegnet war. Das verneinte ich. Ob er

die Lüge glaubte, weiß ich nicht, aber es war damit erst einmal alles in Ordnung. Zu dem Foto von meiner Tochter, das ich bei mir hatte, wollte der Herr noch wissen, wer sich um sie kümmert. Ich sagte, meine Mutter, weil ich geschieden sei. Daraufhin fragte er, ob ich mir bewusst sei, welches Risiko ich auf mich genommen und dass ich mit meinem Leben gespielt hatte. Ich zog nur die Schultern hoch und blieb die Antwort schuldig. Wissen wollte der Beamte dann, warum ich das getan habe, ob es denn in Rumänien so schlecht sei. Ich sagte, dass es mir nicht schlecht gegangen sei, aber alle Verwandten in Deutschland leben und ich auch dahin wolle. „Warum dann nicht legal?“ fragte er. „Weil ich mehrfach abgewiesen wurde“, antwortete ich aufrichtig. Ob ich denn wisse, was nun kommt, fragte er weiter. Darauf antwortete ich mit nein. Er blickte mich an, meinte: „Seien Sie vernünftig, dann geht alles gut“, packte meine Sachen ein, gab mir Gürtel und Schnürsenkel, reichte mir die Hand und wünschte mir viel Glück. Könnte ich brauchen, dachte ich mir dabei. Nicht gesagt hatte ich ihm, dass ich ein zweites Risiko eingegangen war. Dem Schleuser-Netz, bestehend aus Anwerber, Schleuser und Zigeuner-Boss in dem großen Haus mit Videoanlage in der Temeswarer Elisabethstadt, hatte ich im Vorfeld rund 100.000 Lei bezahlt, die gesamten Ersparnisse meiner Mutter und meine eigenen. Ebenso von Verwandten aus Deutschland geborgte 20.000 Mark.

30 Tage Arrest

Nach der Befragung kam ich in einen großen Wartesaal, in dem etwa ein Dutzend Mädchen und Jungen auf das Verhör wartete. Als ich etwas fragen wollte, war schon ein Polizist neben mir und schrie mich an, Ruhe zu bewahren. Als dann alle verhört waren, stiegen wir in einen Wagen ohne Fenster, wie sie für Häftlinge auch in Rumänien üblich waren, und wurden in ein Gefängnis gebracht. Dort wurden wir einem Richter vorgeführt, der alle unsere Papiere vor sich hatte und Vordrucke, die ausgefüllt werden mussten. Es ging wie automatisch im Schnellverfahren: „Tri deset dana arest!“ – 30 Tage Arrest, mit langgezogener Betonung auf Arrest, so als würde er etwas stottern, der ältere Herr Richter. Im Nu waren wir alle abserviert. In einem anderen Raum wurden die Taschen erneut durchsucht, der Kommandant, mit kurz geschnittenem rotem Haar und einer Visage wie Axel Schulz, nahm mir Ehering und Halskette ab und machte Inventur. Beim Aufschreiben meinte der Kommandant nebenbei, ob ich ihm nicht von meinen Einwegrasierklingen abgeben könnte, auch zwei für seinen Mitarbeiter im Büro nebenan. Ich sagte zu und wusste nicht, dass ich dafür noch belohnt werde.

Im Hinterhof des Hauses mit Gittern an allen Fenstern, oben Eisenstangen und Stacheldraht, mussten wir Männer alle antreten; ein Zivilist mit einer Pumpe sagte „Hose runter“ und pumpte einem nach dem anderen die Hose voll. Dazu

meinte er zwischendurch lachend „Holzkopf auch“. Von uns hat dazu keiner gelacht, denn es war keinem zum Lachen zumute. Nach dieser Entlausung durften wir in die Zimmer, Männer und Frauen getrennt. Ich war in einem großen Raum; auf dem Fußboden lagen Matratzen, darauf Bettlaken und Decken. Es war sauber und warm. Um 22 Uhr musste das Licht gelöscht werden.

Der Arrestalltag begann um 5 Uhr mit Wecken; nach dem Waschen und Frühstück mussten wir in Zweierreihen zum Appell antreten.

Alle wurden am ersten Tag aufgerufen außer mir und zwei Jugendlichen, die aus Lowrin. Zu uns kam einer und sagte auf Deutsch: „Mitkommen“. Draußen stand ein Traktor mit Anhänger, darauf stand eine Bank, daneben lagen Schaufeln, Gabeln und Besen. Damit ging es nach Werschetz durch die Straßen. Ich hatte einen neuen Beruf: Straßenkehrer. Genauer: Die Angestellten der Stadt fegten das Laub in den Straßen und Parks zusammen, wir luden es auf und brachten es auf eine Deponie außerhalb der Stadt.

Zum Frühstück gab es Tee, ein paar Scheiben Brot, dazu Marmelade und Butter oder Margarine. Um 9 Uhr war Brotzeit mit Speck oder Salami, Käse und einer Zwiebel. Die Frauen, die mit uns arbeiteten, gaben uns oft aus Mitleid etwas ab. Wir freuten uns und waren sehr dankbar, denn das Mittagessen gab es für uns erst um 16.30 Uhr. Hunger hatten wir immer, aber das Essen war für uns Sträflinge gut im Vergleich zu dem, was die serbischen Gefangenen bekamen, oder zu dem, was ich während meiner rumänischen Militärzeit vorgesetzt bekommen hatte. Arbeiten mussten wir täglich acht Stunden, auch samstags. Zweimal wurden wir an Sonntagen aufs Feld gebracht, einmal sammelten wir Sonnenblumenrosen hinter der Erntemaschine und das zweite Mal Maiskolben. An diesem Tag geschah etwas, das die Aufsicht für alle strenger werden ließ. Ich war auf dem Anhänger und nahm die Körbe ab, neben mir ein junger Polizist mit Fernglas. Da eine Zigeunergruppe mit der Arbeit nicht nachkam, sprang er zu ihnen hinunter und half mit dem Gummiknüppel nach. Diese Gruppe von zwei Frauen und drei Männern habe ich später nicht mehr gesehen. Es wurde strenge Ordnung und Disziplin verlangt. Wer seine Arbeit machte, bekam ein Päckchen Filterzigaretten und manchmal sogar einen Zuschlag zum Abendessen.

Die Schlafräume wurden gereinigt, Baderaum und Toilette mussten wie beim Militär reihum geputzt werden. Ich war der Älteste und wurde verschont, die Jungen sagten immer Opa zu mir. Unter die Dusche ging es nur einmal in der Woche, und das musste immer schnell gehen.

Die Rache der Aufseher

Einmal türmte eine Zigeunergruppe von der Feldarbeit. Am nächsten Tag war sie wieder da. Die bestraften Aufseher rächten sich, wir hörten die Eingefange-

nen nachts schreien. Unter den Verhafteten zirkulierte das Gerücht, dass der Staat an jene Bürger Prämien vergab, die Flüchtlinge denunzierten. Das war in Rumänien im Grenzgebiet auch so.

Am 30. Tag wurde ich um 8 Uhr zur Polizei bestellt, wo zwei Autos bereitstanden, eines ging in Richtung Belgrad und eines in Richtung Rumänien. Es war für mich schaurig: Die nach Belgrad wurden gebeten einzusteigen, die nach Rumänien dazu gezwungen. Es war für mich unglaublich und unverständlich, dass das westlich orientierte Jugoslawien die Flüchtlinge zurückschickte, wo man doch wusste, was die Leute dort erwartete: Folter und Willkür der Soldaten und Polizei.

Für uns ging alles schnell, ich kam nach Padinska Skela in einen Raum mit 20 Personen: Ein aus Rumänien geflüchteter Ungar machte unter den Häftlingen einen Mitarbeiter des rumänischen Geheimdienstes aus, was er der serbischen Polizei meldete, die ihn sofort nach Rumänien auslieferte. Wie im Werschetzer Gefängnis konnte man hier für Zigaretten alles haben; auch ihre Hemden und Hosen haben Leute dafür hergegeben. Ich habe nicht geraucht und mir immer Essen eingetauscht. Bis 22 Uhr konnten wir fernsehen. Damals war Lambada der große Schlager.

Das Gefängnis in Padinska Skela nördlich von Belgrad war überfüllt. Zweibis dreimal die Woche wurden wir verhört. Für mich waren es immer zwei Sätze: Ich will zu meiner Verwandtschaft nach Deutschland und war mehrfach abgewiesen worden. Politische Gründe oder andere Dinge habe ich nicht angegeben, weil für mich die Serben auch Kommunisten waren. Leute, die seitenlange kriti wurden zurückgeschickt. Von allen wurden Fingerabdrücke genommen und Fotos gemacht, wie von Schwerverbrechern. Nach zwei Wochen erhielt ich ein Blatt Papier als Ausweis, dass ich mich frei bewegen darf im Umkreis von 50 Kilometern um Belgrad. Wer außerhalb erwischt wurde, riskierte, abgeschoben zu werden. Mit diesem Ausweis ausgestattet, machte ich mich mit einer Gruppe von einem Dutzend Jugendlichen auf den Weg nach Belgrad. Eines der Mädchen hatte meinen Namen gehört. Es stellte sich heraus, dass es Schulkameradin meiner Tochter in der Lenau-Schule war. Für Bus und Straßenbahn hatten wir freie Fahrt, kamen so zum Belgrader Bahnhof und mussten uns im Hotel Avala melden. Eine Frau am Bahnhof gab uns auf Deutsch Auskunft: mit der neuner Straßenbahn bis ans Ende, dann links den Berg hinauf. Plätze bekamen wir im Hotelkeller auf Eisenbetten. Am nächsten Tag ging es von einer Behörde zur anderen, nachmittags gab es für uns im Hotel nichts mehr zu essen, nach langem Bitten und Betteln dann doch noch. „Guten Tag, setzen Sie sich, mein Herr.“ Das war der Empfang im deutschen Konsulat in Belgrad. Bis zu diesem Tag hatte mich in 46 Jahren noch keiner mit Sie und Herr angesprochen. Nach der Vorstellung fragte der Beamte, ob ich

eine Einreise beantragt hätte, was ich bestätigte. Ich hatte die Einreisenummer dabei. Er telefonierte kurz und bestätigte mir, dass alles in Ordnung sei. Ich dankte und wollte gehen. Er forderte mich auf, zu warten, holte ein blaues Büchlein heraus, fragte nach Daten, schrieb sie hinein, drückte mir das Büchlein in die Hand und sagte: „Das ist Ihr Pass“. Als unfreier Bürger eines Freiheit predigenden Landes hatte ich einen solchen noch nie gesehen. Dann griff der Mann in eine Schreibtischlade und zählte mir sechs Millionen Dinar auf den Tisch. Am Vortag aus dem Gefängnis entlassen, war ich plötzlich, zum ersten und wohl auch zum letzten Mal, Millionär. Weil ich keine Tasche für so viel Geld bei mir und der Beamte keine Tüte für mich hatte, verstaute ich die Millionen im Hemd. Vor dem Konsulat standen noch einige Leute mit dem gleichen Schicksal; gemeinsam fuhren wir zum Hotel. Das Geld, viele Bündel mit meist 20 Dinar-Scheinen, versteckten wir unter den Bettlaken und legten uns darauf. Hunger hatten wir plötzlich keinen mehr, aber Angst vor Dieben.

Die Abreise erfolgte über den Belgrader Bahnhof. Auf der Fahrt standen oft serbische und später österreichische Mitreisende vor dem Abteil und staunten über die Gruppe Jugendlicher, die einem Schul- oder Kirchenchor angehört hatten und jetzt schöne Heimatlieder sangen.

Die Ankunft in München: eine andere Welt. Jetzt fragten die Jungen: „Opa, was nun?“ Die Information suchen, fragen, wann ein Zug nach Nürnberg fährt. In acht oder neun Minuten, er steht schon da. Ein Rennen, wie wir das gewohnt waren. Nur hier drängte sich keiner. Dann kam der Schaffner. Was wir da vorzeigten, reichte nicht, wir hätten einen Zuschlag gebraucht. Hatten wir alle nicht, Geld auch nicht. Der Mann hatte Verständnis und erstattete keine Anzeige.

Die Ankunft in Nürnberg war von Anfang an ein Erlebnis: Der Zug fuhr unterirdisch. Das hatte noch keiner aus der Gruppe erlebt. Opa musste wieder fragen gehen, wie es mit dem Bus weitergeht. Schließlich waren wir am 10. November 1989 in der Aufnahmestelle in Nürnberg. Es war ein Freitag, Dienstzeit bis 14 Uhr. Mit zwei Kameraden erhielt ich das Zimmer 4510, die weiteren aus der Gruppe wurden andernorts untergebracht. Zufällig fragte ein Herr, ob seine Familie auch eingetroffen sei; weil das nicht der Fall war, hätte er allein zurück nach Ingolstadt fahren müssen. Nach einem kurzen Gespräch nahm er mich mit nach Ingolstadt zu meiner Cousine Anna Wendling.

Nach längerem Suchen fanden wir ihre Adresse. Auf mein Klingeln kam Anna heraus und war sprachlos, rief ihren Mann, er solle mal schauen, wer da ist. Ich verstand das Staunen nicht, denn die ganze Verwandtschaft wusste doch, dass ich nach Deutschland unterwegs war. Was ich nicht wusste: Ein Nachbar hatte in Jahrmarkt meiner Tochter erzählt, dass ich an der Grenze erschossen worden wäre. Sie war dann zur Polizei gegangen, wo ihr lachend berichtet wurde, dass ihr Vater nach Deutschland unterwegs sei. Die Polizei in Jahrmarkt (Giarmata) wusste es genau, denn ich hatte in Belgrad vor der Abfahrt eine

Postkarte mit Briefmarke und einen Kugelschreiber für 24.000 Dinar gekauft und nach Hause geschrieben, dass ich nach Deutschland unterwegs bin. Diese Karte ist bei meiner Familie nie angekommen.

Ich hatte Deutschland und einen Teil meiner Verwandten erreicht, aber was eine auseinandergerissene Familie bedeutet, spürt man erst später. Ich wünsche es niemandem. Wenig später musste ich am Fernseher zusehen, was in Temeswar während des Sturzes des kommunistischen Regimes geschah, wo meine Tochter die Lenau-Schule besuchte. So etwas hinterlässt Spuren, die man nicht wegwischen kann. In München wurde eine Demonstration veranstaltet unter der Losung „Nieder mit dem Vampir“. Ich wünsche der jungen Generation und denen nach uns, dass sie vor Diktaturen verschont bleiben. Ich hatte mir oft genug anhören müssen: „Geh' zu Hitler!“ Bis ich alle Formalitäten in Deutschland erledigt hatte, waren viele von denen, die mir das gesagt hatten, schon hier. Ich konnte es kaum glauben.

Aufgezeichnet im November und Dezember 2009

Ignaz Pfleger, geboren 1943 in Jahrmarkt, beginnt 1958 nach dem Besuch der Volksschule in seinem Geburtsort im 14 Kilometer entfernten Temeswar eine Zimmermannslehre, pendelt mit der Eisenbahn bis zu seiner Flucht werktags und oft auch an Sonntagen in die Kreishauptstadt. Zuletzt war Pfleger Vorarbeiter auf verschiedenen Baustellen. Nach der Ankunft in Deutschland ist Pfleger zweieinhalb Monate lang arbeitslos, danach arbeitet er ununterbrochen bis zum Eintritt in den Ruhestand (2003) in derselben Firma als geschätzter Zimmerer und „treuer Hund“ (Selbstbekenntnis). Seine Bilanz: 30 Jahre auf Großbaustellen in Rumänien und rund 13 vorwiegend auf Wohnungsbaustellen im legal aus Rumänien aus und lassen sich in Ingolstadt nieder.

This article is from: