Die Gräber schweigen - von Johann Steiner

Page 277

Norbert Koch:

Beim Fluchtversuch die Beine verloren Verkehrsunfälle haben das halbe Leben von Norbert Koch beeinflusst und bestimmt. Vor 22 Jahren hat er bei einem Fluchtversuch mit dem Zug beide Beine verloren; kurz vor den Paralympischen Spielen 2008 in Peking hat ihn ein Auto angefahren. Während das erste Unglück sein weiteres Leben entscheidend prägen sollte, war der Unfall, den er mit dem Handbike im Landkreis Karlsruhe hatte, nicht so tragisch; er hat ihn wahrscheinlich um eine Medaille bei den Spielen in China gebracht. Koch, der am 4. Mai 1970 in Lenauheim, dem Geburtsort des großen österreichischen Dichters Nikolaus Lenau (1802-1850), das Licht der Welt erblickt hat, ist heute ein lebensfroher Mensch. Die Schicksalsschläge hat er weggesteckt. Er selbst sagt von sich, er sei ein positiv Denkender. „Das Leben geht weiter, man muss die Wege gehen, wie sie sich einem anbieten“, sagt er heute. Zum vielleicht vollkommenen Glück hat ihm nur eines gefehlt: ein Kind. Das hat er inzwischen: Seit Januar 2009 ist er stolzer Vater eines Töchterchens. Koch beginnt nach dem Fachabitur im Städtchen Hatzfeld an der rumänischserbischen Grenze in der Keramikfabrik zu arbeiten und bekommt Ende der 1980er Jahre mit, wie immer mehr Landsleute die Flucht aus Rumänien antreten. Aus dem Betrieb, in dem er beschäftigt ist, gelingt dem einen oder anderen die Flucht in Güterzügen nach Jugoslawien. Auch Koch entschließt sich, diesen Weg einzuschlagen. Am Abend des 15. November 1988 versteckt er sich im Gebüsch an der Eisenbahnlinie und versucht, auf einen fahrenden Zug aufzuspringen. Der Zug ist zu schnell, Koch gerät unter die Räder und verliert beide Beine. Der Pförtner der Keramikfabrik hört seine Schreie und alarmiert den Rettungsdienst, der auch rasch zur Stelle ist. Koch weiß nicht, wie lange es gedauert hat. Er meint, es könnten fünf, aber auch zehn Minuten vergangen sein, bis der Rettungswagen zur Stelle war. Die kurz darauf eingetroffenen Grenzer wollen den Schwerverletzten festnehmen und verhindern, dass er ins Krankenhaus kommt. Doch der Sanitäter setzt sich durch und nimmt ihn mit ins Krankenhaus, wo Ärzte ihm das Leben retten. Die Geheimpolizei Securitate lässt ihn wegen der schweren Verletzungen in Ruhe; die Haft bleibt ihm erspart. Nach sechs Wochen ist er zu Hause in Lenwürdiges Leben zu führen. Es fehlt die nötige Versorgung, ferner Prothesen und Rollstühle. Norbert Koch hat wieder Glück: Im Dezember 1989 stürzt das kommunistische Regime in Rumänien, im April 1990 kann er nach Deutschland umsiedeln und findet in Karlsruhe eine neue Heimat.

277


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.