About Baroque 2021/1

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A B O U T

BAROQUE Das Magazin des Freiburger Barockorchesters

AUSGABE FRÜHJAHR | 2021

8. JAHRGANG

CHRONIK EINER PANDEMIE

EIN UNBEQUEMES MEISTERWERK

REISETIPP FREIBURG

Musizieren mit dem Virus

René Jacobs über die „Missa solemnis“

Das FBO im Merian Magazin


Editorial

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde des Freiburger Barockorchesters, mit dieser Ausgabe unseres Magazins About baroque möchten wir zurückblicken. Zurückblicken auf ein Jahr, von dem niemand von uns glaubte, dass es möglich sein konnte. Eine dystopische Realität, wie man sie aus Katastrophenfilmen kannte, holte uns alle ein. Ungewissheit, Unsicherheit und Resignation präg(t)en die Stimmung in der Kulturbranche und mit dutzenden abgesagten Konzerten und einem immensen finanziellen sowie musikalischen Verlust hat die Pandemie das FBO hart getroffen. Die (vermeintliche) Erkenntnis, nicht „systemrelevant“ zu sein, sorgt in der ganzen Kunstszene für große Besorgnis. Doch Krisenzeiten sind auch Hoffnungszeiten. Die unglaubliche Unterstützung unseres Publikums und die Hilfsgelder aus öffentlicher Hand konnten das Überleben unseres Orchesters sichern, wofür wir tiefsten Dank aussprechen. In musikalischen Aspekten mussten und konnten wir uns mit neuen Konzertformaten beschäftigen, die den Herausforderungen einer Pandemie erfolgreich begegnen: so initiierten wir im Juli und ­August unser Sommerklang-Festival oder gastierten in privaten oder ungewöhnlichen Konzertorten. Auch den digitalen (Konzert-)Raum konnten wir erschließen, mit all seinen Vor- und Nachteilen. Ebenso entwickelten wir uns personell weiter. Mit Corina Golomoz (Viola) und Josep Domènech (Oboe) begrüßen wir zwei Ausnahmekünstler in den Reihen unserer Gesellschafter. Ein Portrait der beiden finden Sie in diesem Heft. Wir freuen uns außerdem sehr, dass Gloria Zganjer im August unsere Marketingstelle übernahm und uns seither mit ihrer Expertise ­bereichert. Ihnen allen wünschen wir viel Freude und Erfolg bei ihrer Arbeit mit dem FBO. In der Hoffnung, Sie baldmöglichst wieder in dem einen oder ­anderen Konzert begrüßen zu können, wünschen wir Ihnen viel Spaß bei der Lektüre unseres Heftes. Bleiben Sie gesund! Ihr Freiburger Barockorchester

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Musikalische Nachrichten 6 | 9 Ein Jahr Corona – Die (musikalische) Chronik einer Pandemie 10 | 21 „Von Herzen – möge es wieder – zu Herzen gehen!“ Martin Bail im Gespräch mit René Jacobs 22 | 25 Frisch gestrichen! Das FBO im Merian Magazin 26 | 27 Neue Gesichter beim Freiburger Barockorchester Wir begrüßen Corina Golomoz und Josep Domènech 28 | 29 Die Instrumente des FBO Kapitel 2: Die Oboe 30 Klangspiegel Die neuen CDs des FBO und des Consorts


Dürfen diese überhaupt ein- bzw. ausreisen? Was geschieht mit den Musikern, die noch länger in Australien bleiben wollten und die Rückreise selbst organsierten. Nach zahl­ losen Behördengesprächen konnten jedoch alle Orchestermitglieder aus Australien in ihre Heimat zurückkehren. Doch was dann?

Ein Jahr Corona – die (musikalische) Chronik einer Pandemie Seit einem Jahr hat uns das Corona-Virus fest im Griff und legt das öffentliche und kulturelle Leben weitestgehend lahm. Mit 70 ausgefallenen Konzerten und einem Verlust von annähernd zwei Millionen Euro trifft die Pandemie ein freies Orchester wie das FBO besonders hart. Doch nicht alles lief schlecht in den letzten Monaten. Nicht zuletzt aufgrund zahlreicher Spenden und Fördermittel konnten wir immer wieder Konzerte durchführen. Lesen Sie auf den folgenden Seiten, wie das letzte Jahr aus unserer Sicht verlief. „Ist es Ihnen nicht aufgefallen?“ fragte eine Konzertbesucherin in der Pause. „Niemand hat bis jetzt gehustet oder sich gar geräuspert. Es ist mucksmäuschen still im Saal.“ Tatsächlich war es so. Während des Konzertes des Freiburger BarockConsorts am 9. März 2020 im Freiburger Konzerthaus herrschte eine Totenstille; immer noch zahlreiche Besucher waren gekommen, wenngleich deutlich weniger als bei den vorangegangenen Abonnementkonzerten. Es lag etwas in der Luft, das noch niemand wahrhaben wollte. Einen Tag später fuhren wir mit dem gleichen Programm nach Stuttgart, die Atmosphäre während des Konzertes, das sich schon beinahe prophetisch der Musik aus der Zeit des 30jährigen Krieges und den Pestepidemien widmete, war noch angespannter. Niemand wagte es erneut nur ein kleines Hüsteln von sich zu geben, eine Gruppe von Studenten der Musikhochschule Trossingen, die das Konzert besuchen wollten, sagte ab. Sie fürchteten sich um ihre Großeltern. Kurz vor unserer Abreise

erreichte uns ein Anruf der Berliner Philharmonie, der letzten Etappe unserer Konzertreise: „Bis auf Weiteres sind alle Konzerte abgesagt.“ Als dann in Stuttgart der letzte Akkord der Zugabe, es war eine dunkel schattierte, melancholische Gagliarde von Johannes Vierdanck, verstummte, war allen klar: „Das war es nun. Das Virus ist da, es breitet sich aus.“ Am anderen Ende der Welt war die Stimmung noch etwas besser. Während das Consort durch Deutschland reiste, gastierte das Orchester zusammen mit Kristian Bezuidenhout in Melbourne. Zwei Konzerte mit Klavierkonzerten und Ouvertüren von Beethoven fanden Down Under statt, die Gastspiele in Korea und Hongkong wurden bereits im Vorfeld abgesagt. Die Orchestermitglieder konnten nach den erfolgreichen Konzerten zusammen feiern oder die Stadt erkunden. Erste Probleme kamen dann beim Abflug. Was geschieht mit Musikern, die nach Italien oder Spanien reisen müssen:

Ratlosigkeit herrschte am Vormittag des 17. März 2020 vor dem Ensemblehaus. Trotz nicht gerade sommerlichen ­Temperaturen trafen sich das Büroteam und einige Orchestermitglieder vor dem Gebäude, um über das weitere Vorgehen nachzudenken. Wie lange kann ein freies Orchester in dieser Situation überleben? Wie können wir mit dem Publikum in Kontakt bleiben? Welche digitalen Angebote können wir bereitstellen? Fragen, die wir zu dem Zeitpunkt noch nicht beantworten konnten. Zunächst mussten wir alle in der Realität ankommen, die Stimmung schwankte zwischen Optimismus und Fatalismus. So gingen wir alle wieder an unsere Arbeit und hofften, dass dieser Spuk bald ein Ende hat. Doch mit jeder verstreichenden Woche wurde klarer, dass wir eine lange Zeit kein Konzert geben werden. Im März nicht mehr, auch nicht im April, auch nicht im Juni … Schon bald wurde die Presse auf die besorgniserregende ­Situation der freien Künstler und Orchester aufmerksam. Zahlreiche Interviewanfragen erreichten uns und in zahlreichen Artikeln, Reportagen und Sendungen wurde an die Politik appelliert, sich dieser Berufsgruppe zu widmen. So kamen bald Hilfsgelder, die allerdings nicht jeden erreichten, vom bürokratischen Dschungel ganz zu schweigen. Mit großer Freude stellten wir jedoch fest, wie treu und verlässlich unser Publikum ist. Die wenigsten verlangten eine Rückerstattung der Eintrittskarten für ausgefallene Konzerte – dadurch und mit weiteren Spenden konnten wir den Orchestermitgliedern wenigstens einen Teil ihrer Gage ausbezahlen. Herzlichen Dank hierfür! Während sich ein Teil des Teams mit den Finanzen oder der Presse beschäftigte, suchten andere nach alternativen Konzertformaten, die sämtliche Hygiene-, Abstands-, und Versammlungsregeln einhalten und dennoch hochqualitativen Musikgenuss versprechen. Am 16. Mai 2020 gab es einen ersten Versuch: Vier Streicher des FBO, darunter Gottfried von der Goltz, spielten in einem Innenhof im Freiburger Stadtteil Stühlinger – ein vorsichtiger Schritt, wieder live zu spielen und dem weitere solcher Innenhofkonzerte in Freiburg folgen sollten. Die gleiche Formation gestaltete auch das erste Streamingkonzert aus dem Ensemblehaus, das mit der Initiative #InFreiburgZuHause realisiert werden konnte. Am 21. Juni gab es ein weiteres Streamingkonzert, diesmal aus dem SlowClub. Hier konnten schon sechs Musikerinnen und Musiker teilnehmen – doch was war mit den anderen Orchestermitgliedern, vor allem denjenigen, die im Ausland leben? Hier hatte unsere Musikvermittlerin Carolina Nees eine pfiffige

Idee. In Form von kurzen Videoclips erzählte sie die Geschichte des „Tierigenten“, wodurch unsere internationale Besetzung online involviert werden konnte. Die Serie war ein voller Erfolg und sogar das baden-württembergische Kultusministerium empfahl die Reihe auf ihren Seiten für Musikerziehung. Zwischendurch ging es nach Berlin, um dort im berühmten Teldex-Studio Beethovens Tripelkonzert mit Isabelle Faust, Jean-Guihen Queyras, Alexander Melnikov und Pablo HerasCasado aufzunehmen. Doch etwas fehlte uns: die direkte Verbundenheit zu unserem Publikum, das wir seit Monaten schwer vermisst hatten. Als im Sommer die Infektionszahlen nachließen und eine kleine Entspannung der Pandemie in Sicht war, veröffentlichte die Bundesbeauftragte für Kultur und Medien das „Förder­ programm für Orchester unter neuen Herausforderungen im Jahr 2020“, welches sich speziell an freie Ensembles richtete. Sogleich setzten wir uns zusammen und überlegten, mit welchem Format wir uns um das Fördergeld bewerben sollten.

Innenhofkonzert in der Egonstraße Freiburg

Unsere Tourmanagerin Elena Bender hatte die zündende Idee: ein Musikparcours durch Freiburg. An drei Wochenenden im Juli und August sollte ganz Freiburg zum Klingen gebracht werden. Verschiedene, kleine Ensembles, bestehend aus Musikern des FBO, spielten an unterschiedlichen, auch ungewöhnlichen Konzertorten – darunter auf der Dachterrasse des Karstadt und sogar in einem Waschsalon! Das Publikum, eingeteilt in Gruppen von maximal 15 Personen, reiste von Ort zu Ort und konnte vier Kurzkonzerte genießen. Abends sollte jeweils ein Orchesterkonzert auf der Wiese vor dem Konzerthaus stattfinden. Nach einigen Wochen zähen ­Wartens kam dann endlich die Nachricht aus Berlin: unser Antrag wurde bewilligt! Jetzt musste es schnell gehen: die Programme zusammenstellen, die Musiker einladen, die Presse informieren, die Marketingkampagne lancieren, Plakate, Flyer, Raummieten – all das galt es zu organisieren. Es kam einer Mammutaufgabe gleich und die Nervosität vor dem ersten

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Parcourswochenende war enorm, aber völlig unbegründet: alles lief nahezu reibungslos ab und sowohl unsere Musiker als auch das Publikum waren über die Maßen glücklich, endlich wieder musizieren bzw. zuhören zu dürfen! Dem Publikum konnten wir drei abwechslungsreiche Konzertwochenenden bieten. Das erste Wochenende stand unter dem Motto „Italien in Freiburg“ und wie der Name schon sagt,

Kammerkonzert im Waschsalon

drehte sich alles um italienische Barockmusik, darunter Werke von G. F. Händel, A. Corelli, A. Vivaldi und J. S. Bach, dessen italienische Kantate Non sa che sia dolore wir zusammen mit Dorothee Mields im PEAC Museum aufführten. Am zweiten Wochenende widmeten wir uns W. A. Mozart und da darf natürlich seine 40. Sinfonie in g-Moll nicht fehlen. Diese erklang als abschließender Höhepunkt nach dem Parcours am Ensemblehaus und aufgrund des Streamings war es uns möglich, die Sinfonie mit knapp 40 Musikern zu besetzen. So konnten wir auch langjährige Partner des FBO einladen und sie an der Förderung teilhaben lassen. Sogar Freiburgs Oberbürgermeister Martin Horn besuchte das Abendkonzert

Festlicher Einzug auf der Karstadt-Dachterrasse

und begrüßte mit motivierenden Worten Publikum und Orchester. Als krönenden Abschluss wählten wir zum dritten Parcourswochenende das Motto „Barocke Highlights“, mit Kompositionen wie Bachs Brandenburgische Konzerte oder Händels prächtige Wassermusik. Als der letzte Akkord erklang und somit das Festival zu Ende war, war die Freude und Erleichterung groß! Wir konnten kaum fassen, was wir in der Kürze der Zeit auf die Beine gestellt hatten und waren überglücklich, dass alles weitestgehend glatt verlaufen war, ohne dass im Publikum oder unter den Musikern Infektionen auftraten. Vielleicht kann ein Zitat einer Zuhörerin die Parcourskonzerte am besten beschreiben: „Und wie soll ich es heute, einen Tag danach, beschreiben? Ich befürchte, da wird nur ein stümperhafter Abklatsch auf dem Papier landen, ein blasser Versuch, etwas festzuhalten, was sich zwischen Himmel und Erde befindet und für mich ein so nahrhaftes Erlebnis wurde, das es möglicherweise einen festen Platz in meinen Erinnerungen behalten wird.“

Isabelle Faust und dem Dirigenten Raphaël Pichon eröffneten wir die Saison, Beethovens Violinkonzert und Mozarts ­Jupiter-Sinfonie standen auf dem Programm. Vor halbem Publikum konnten wir in der Berliner Philharmonie und im Freiburger Konzerthaus mit Erfolg konzertieren, dazwischen gab es Dankkonzerte in Weikersheim und Ludwigsburg. Sogar eine schon lange geplante Konzertreise nach Wien war möglich – dank umfangreichen Tests und enormem organisatorischem Aufwand. Doch die Reise hat sich gelohnt. Der Wiener Kurier jubelte am Tag nach dem Konzert: „Beim Jupiter, war das gut!“

Wenig Verschnaufpause blieb uns nach unserem Festival, denn der Beginn der neuen Konzertsaison stand schon bevor. Gleichzeitig erhielten wir von der Baden-WürttembergStiftung eine Förderung, um Dankkonzerte für Corona-Helfer in ganz Baden-Württemberg zu gestalten. Die Infektions­ zahlen ließen uns positiv in die Zukunft blicken, auch wenn ein normaler Konzertbetrieb noch in weiter Ferne lag. Mit

Das nächste Projekt, Beethovens Leonore unter der Leitung von René Jacobs, war ungleich heikler: Wie stemmt man eine Tour in dieser Zeit mit einem 40 Musiker umfassenden Orchester samt sechs Gesangssolisten? Wie gehen wir damit um, dass wir ohne Chor auftreten müssen? Letztere Frage konnte René Jacobs selbst beantworten: er strich die Teile mit Chor und bündelte die Geschichte zu einer Corona-konformen Kurzoper von etwas mehr als einer Stunde, ohne an Dramatik und Erzählfluss zu verlieren – eine dramatur­gische Meisterleistung. Währenddessen erstellten unsere Tourmanager ausgeklügelte Bühnenpläne, die sämtliche Abstandsregeln einhielten und organisierten unzählige ­Coronatests für alle Beteiligten. Es konnte losgehen: nach Konzerten in Freiburg und Berlin gastierten wir zwei Mal in der Hamburger Elbphilharmonie und konnten somit immerhin knapp 1500 Menschen mit Beethovens Musik erfreuen. Doch in die Freude mischte sich Sorge. Die Infektionszahlen begannen rasant zu steigen und uns allen war klar, dass eine erneute Schließung der Konzerthäuser drohte. Und so kam es dann auch: Die Leonore war das letzte Konzertprojekt vor Livepublikum, unsere Abonnementkonzerte und Tourneen im November, Dezember, Januar und Februar mussten abgesagt werden. Wie es weitergeht, weiß zum jetzigen Zeitpunkt niemand.

Dorothee Mields

Pergolesis „Stabat Mater“ in Innsbruck

Zwischen dem zweiten und dritten Parcours reiste das Freiburger BarockConsort nach Innsbruck, wo im Rahmen der Festwochen für Alte Musik Pergolesis berühmtes Stabat Mater aufgeführt wurde. Es war die erste Auslandsreise unserer Musiker nach einer ungewohnt langen Zeit. Auch für die beiden Solisten, Marianne Beate Kielland und Christophe Dumaux, war die Reise eine höchstwillkommene Abwechslung nach unzähligen Konzertabsagen.

Doch immer wieder gab und gibt es klingendes Licht im musikalischen Dunkel. Am 23. Dezember 2020 konnten wir dank ARTE Concert und unseren Partnern vom SWR unser Weihnachtskonzert „The trumpet shall sound“ live aus dem Konzerthaus Freiburg streamen. Neben der Geigerin Éva Borhi, die das FBO erstmals leitete, war natürlich unser Trompeter Jaroslav Rouček der Star des Abends, der J. W. Hertels virtuoses Trompetenkonzert in D-Dur mit Bravour zum Besten

Oberbürgermeister Martin Horn beim Sommerklang-Festival

gab. Am 15. Februar folgte dann auf SWR 2 ein Live-Radiokonzert, diesmal zusammen mit der Mezzosopranistin Anna Lucia Richter, die weniger bekannte Arien und Kantaten von J. Chr. F. Bach, G. F. Händel und J. A. Hasse sang, garniert mit galanten Instrumentalwerken dieser Komponisten. Selbstverständlich erfolgten beide Projekte unter strengen Hygieneregeln und umfangreichen Testungen. So sei an dieser Stelle vor allem Dr. med. Regina Bestehorn und Prof. Dr. med. Bernhard Richter ein großer Dank ausgesprochen, die uns bei der Durchführung der zahlreichen Tests mit ihrem medizinischen Fachwissen zur Seite standen.

Radio-Konzert „Stolze Frauen“ mit Anna Lucia Richter 8

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Von Herzen – möge es wieder – zu Herzen gehen! Martin Bail, Musikwissenschaftler und Dramaturg des Freiburger Barockorchesters im Gespräch mit René Jacobs.

Réne Jacobs arbeitet akribisch: jedem musikalischen Projekt, das er in Angriff nimmt, geht eine umfangreiche wissenschaftliche und philosophische Auseinandersetzung voraus. Das war bei der Vorbereitung zur Aufnahme von Beethovens Missa solemnis nicht anders. Lesen sie nun im vollständigen Interview, welch erhellende Erkenntnisse der Maestro mit uns teilen kann und auf welche Details wir beim Anhören der Missa achten sollten. Beethoven komponierte seine „Große“ D-Dur-Messe für einen engen Freund: Erzherzog Rudolph von Österreich (den jüngsten Bruder Kaiser Franz’ I.), seinen Schüler und Gönner, der 1819 zum Erzbischof von Ölmütz ernannt wurde. Zum Inthronisierungsgottesdienst wollte Beethoven seinem gesundheitlich labilen Wegbegleiter eine Messe widmen und aufführen. Kann man sagen, dass ohne die Freundschaft zwischen Beethoven und dem Erzherzog eine der bedeutendsten Messvertonungen der Musikge­ schichte gar nicht entstanden wäre? Richtig! Aber Beethoven wurde nicht rechtzeitig fertig! Er plante zunächst eine weniger anspruchsvolle Messe, die innerhalb der Länge einer späten Haydn-Messe bleiben würde. Das sieht man am Kyrie, das eben noch den Stil Haydns pflegt. Aber irgendwann während der Komposition des Gloria muss er den Plan verworfen haben, die Messe rechtzeitig zur Inthronisierung am 9. März 1820 fertigzustellen und nahm sich viel mehr Zeit. Kann man die Gründe hierfür heute noch nachvollziehen? Viel intensiver als beim Komponieren seiner ersten Messe beschäftigte er sich mit dem liturgischen Text und dessen Bedeutung. Die theologischen und historischen Hintergründe der dogmatischen Text-Abschnitte der Messe waren ihm nachweislich besonders wichtig. In der Deutschen Staatsbibliothek Berlin gibt es Beethovens eigene (leider fragmentarische) Abschrift der Ordinariumstexte (lateinischer Text samt deutscher Übersetzung) mit seinen Randnotizen. Subtile Bedeutungsunterschiede zwischen scheinbar synonymen Wörtern wie terra und mundus oder natum und genitum hat der Komponist offensichtlich in einem Wörterbuch nachgeschlagen: um die Texte zu ver­ stehen, gab er sich viel mehr Mühe als damals üblich. Erst am 19. März 1823, gut drei Jahre nach der Inthronisierung Rudolphs, überreichte Beethoven seinem Freund die Widmungspartitur. Kann man musikalische Querverweise innerhalb der Missa entdecken, die auf die Freundschaft zwischen Beethoven und dem Erzherzog zurückzuführen sind?

Im Larghetto des Gloria, bei Qui tollis peccata mundi, miserere nobis („Der du trägst die Sünden der Welt, erbarme dich unser“) wurde das Qui-tollis-Motiv, ein dreitöniger, sanft absteigender Gang von Birgit Lodes als „LebewohlFormel“ entziffert, bekannt aus der Erzherzog Rudolph gewidmeten Lebewohl-Klaviersonate Op. 81a. Es ist denkbar, dass Rudolph in den drei Tönen den gedruckten litur­gischen Text „qui tollis“ als einen privaten von Beethoven für ihn bestimmten Subtext „Lebe wohl“ las und hörte. Das Motiv ist ein Ausdruck des Schmerzens, des für die Sünden der Welt leidenden Jesus. Genau wie das Motto Beethovens am Kopf des Kyrie „Von Herzen – Möge es wieder – zu Herzen gehen!“ scheint auch das Qui tollis ganz persönlich an ­Rudolph gerichtet.

Lieben ohne Glauben Wie verhält sich dies bei Beethovens persönlicher Ausein­ andersetzung mit dem Glauben an sich? Ist seine Missa solemnis ein individuelles Glaubensbekenntnis? Von Beethoven stammt die ironische Aussage: „Über Generalbass und Religion soll man nicht disputieren, beide sind fertige und in sich abgeschlossene Dinge“. Hier und da verrät die Musik des Credo, dass der Komponist die uralten theologischen Dispute um die Orthodoxie (Rechtgläubigkeit), die das Entstehen des Messetextes begleitet haben, kennt und missbilligt. Wenn Jesus Christus als „aus dem Vater geboren, vor aller Zeit …“ bezeichnet wird, und, weiter erklärend, als „Gott von Gott (Deum de Deo), Licht vom Licht, wahrer Gott vom wahren Gott, gezeugt (genitum), nicht erschaffen (non factum), gleichen Wesens (consubstantialem) mit dem Vater, durch den alles erschaffen worden ist“, klingt die Musik gefühllos, ja gar fanatisch, als würden die Theologen des Konzils von Nicäa (325) auch heute noch blindwütig über das Dogma des Wesens Christi herumschreien. Beethoven scheint sich über die Hysterie lustig zu machen, indem er den gelehrten Herren Eselsohren ­aufsetzt: hören Sie, wie die Streichbässe ständig zwischen höchster und tiefster Lage hin-und-herspringen. 11 10


Nun ist das Dogma des Wesens Christi noch verhältnis­ mäßig unproblematisch, der dritte Glaubensartikel aber stellte viele Komponisten jener Zeit vor größere Heraus­ forderungen: „Ich glaube an den heiligen Geist (Et in Spiritum Sanctum), an die eine, heilige, weltweite (catholicam) und apostolische Kirche …“ Diese Zeilen sind wohl die doktrinärsten des ganzen Messetextes. Die Vertonung in der Missa solemnis ist raffiniert: Beethoven lässt sie nur vom halben Chor singen (zuerst nur die Frauen-, nachher nur die Männerstimmen), recto tono (d. h. nur auf einen einzigen Ton: den rechten!), ohne Melodie, ohne Wortwiederholungen, gefühllos. Gleichzeitig aber wiederholt die jeweils zweite Chorhälfte ständig das Wort Credo (ich glaube), dabei das Credo-Ritornell, mit dem der Satz angefangen hat, kontrapunktisch durchführend. Die „orthodoxen“ Kollegen haben kaum eine Chance gehört zu werden. Es gibt aber auch sehr gefühlvolle Teile im Credo … … und Teile, wo wir keine Spur einer Distanzierung bemerken! Beethovens Motto „Von Herzen – möge es wieder – zu Herzen gehen!“ richtet sich nicht nur an seinen Freund, sondern auch an uns. Zwei Dinge sind sicher: Beethoven war zutiefst religiös (d.h. in seinem Denken geprägt vom Glauben an eine göttliche Macht). Und er war ein Agnostiker (d.h. er betrachtete das Göttliche und Übersinnliche als unerkennbar). Dass er ein getaufter Katholik, aber nie ein Kirchgänger war, weil er Priester verachtete, ist irrelevant. Haydns Behauptung, dass er ein Atheist war, ist aus der Luft gegriffen. Menschen können lieben ohne zu glauben, niemals glauben ohne zu lieben. Welche Dogmen hat Beethoven geliebt, ohne an sie zu glauben? Welche kamen aus seinem Herzen und sollen durch seine Musik „wieder zu (unseren) Herzen gehen“? Aus Beethovens Herz kam jede Note, die er für das Credo erfand, um seine Liebe zu den Dogmen der Menschwerdung, der Jungfrauengeburt und der Erlösung durch das Kreuz auszudrücken. In diesen Abschnitten werden die Dogmen durch eine seltsam ergriffene und oft sehr bildhafte Musik liebevoll vermenschlicht. Man könnte sagen, dass Beethoven die Dogmen „de-dogmatisiert“, dass er sie von ihrem Anspruch auf absolute Gültigkeit befreit. Gibt es hierfür konkrete Beispiele? Nach dem schon besprochenen fanatischen Textabschnitt über das Wesen Jesu (Deum de Deo) wechselt schlagartig der Gestus der Musik. Die spitzfindige Wortklauberei der Theologen verstummt und ein neuer meditativer Abschnitt (Qui propter nos homines) fängt an: „Der wegen uns Menschen und wegen unseres Heiles herabgestiegen ist aus den Himmeln.“ Der instrumentale Übergang zum neuen Text klingt sofort

ehrlicher, gefühlvoller, betroffener als das blindwütige Schreien vorher. Ein kurzes, in der Flöte beginnendes Begleitmotiv scheint immer wieder die Worte „für uns, für uns!“ zu ­murmeln. In der Zeile „herabgestiegen ist aus den Himmeln“ (descendit de coelis) illustriert Beethoven das Wort „descendit“ mit einem „Saltus duriusculus“ (grausamer Sprung), ein Terminus aus der musikalischen Figurenlehre, der ausdrückt, dass die Menschwerdung, die Verwandlung Gottes in den Menschen Jesus Christus, seine tiefste Erniedrigung bedeutet. Beethoven gestaltet diese Passage so extrem, dass er, wie Konrad Küster bemerkt, die uralte Gattungskonvention dieser rhetorischen Figur, ins Expressionistische steigert. Ein letzter „grausamer Sprung“ von den Streichbässen (von f 1 bis zum tiefen Cis!) führt zum neuen Textabschnitt, der das Dogma der Jungfrauengeburt reflektiert: „Und der Fleisch ist geworden (Et incarnatus est) durch den Heiligen Geist aus Maria, der Jungfrau, und der Mensch geworden ist.“ Zu dem nächsten Textabschnitt, der das Thema der Jungfrauengeburt reflektiert, komponiert Beethoven, aus Gründen der Rückbesinnung auf die Vergangenheit (stellvertretend für die Ewigkeit!), eine stilistisch vielschichtige Musik, die sich nicht nur an das Herz, sondern auch an den Verstand des Zuhörers wendet. Der gregorianische Choral, den die Chortenöre anstimmen, wirkt wie von mittelalterlichen Mönchen gesungen, einstimmig, aber mit einer „virtuellen“ Orgelbegleitung der tiefsten (d.h. niedrigsten) Streichinstrumente. Sofort danach klingen die vier Solisten, welche die gleichen geheimnisvollen Worte polyphonisch wiederholen, wie Kirchensänger des 16. Jahrhunderts, nicht zuletzt weil Beethoven hier den archaischen dorischen Kirchenton wählt, der seit der Renaissance als „Tonart der Keuschheit“ bezeichnet wird. Ist die Missa solemnis denn als eine rein „rückwärtsge­ wandte“ Komposition zu betrachten? Nein, im gleichen Abschnitt ist sie auch entschieden modern, besonders die programmatische Konzeption der Orchesterbegleitung! Ein Flötensolo symbolisiert den Heiligen Geist, es ist als das „zarte Trillern und Zwitschern“ (Karl Geiringer) einer Nachtigall zu deuten, hier metrisch ungebundener als in der „Szene am Bach“ der Sechsten Sinfonie. Die Nachtigall galt als das Sinnbild der göttlichen Inspiration für Dichter und Sänger. Hierzu kommt, als eine Art Heiligenschein, das ätherische Flimmern (der „feurigen Zungen“ beim Pfingstwunder?) in den tremolierenden Klarinetten und ­Fagotten. Die zwei rational unfassbaren Zeilen werden zum Schluss nochmals als Falsobordone (eine zeitlose chorische Rezitation) vertont: der Chor stammelt das unverstandene Geheimnis sozusagen nach. Nach der als mysteriös empfundenen Kirchentonart stellt die dritte Zeile („und der Mensch geworden ist“) in einem strahlenden D-Dur die sicheren ­tonalen Verhältnisse wieder her – als ein Wechselgesang vom

Tenorsolisten und refrainartig antwortenden Chor. Jetzt kann das nächste Dogma verkündigt werden, das der Erlösung durch das Kreuz: „Der gekreuzigt wurde auch für uns (Crucifixus etiam pro nobis), unter Pontius Pilatus gelitten hat und ­begraben worden ist. Und der auferstand am dritten Tage nach den Schriften.“ Auch hier wird der Zuhörer persönlich angesprochen – dieses Mal weniger sein Verstand als (umso direkter!) sein Herz. Der historische Jesus war eine Identifikationsfigur Beethovens. Moment, Beethoven identifizierte sich mit Jesus?

zu geben, bis eine unbegleitete chorische Rezitation und ein neuer archaischer (d.h. himmlischer) Kirchenton – der „mixolydische“ – trompetenhaft die Auferstehung Christi proklamieren. Ein Trompetensignal als Peripetie der Handlung ... … wie in Fidelio! Die Menschheit wird, wie Florestan, aus den Fesseln des Todes befreit? Das Trompetensignal in Fidelio ist real und irdisch, das a capella gesungene Trompetensignal an dieser Stelle der Missa ist virtuell und himmlisch.

Das ist natürlich überspitzt formuliert, aber in gewisser Weise ja: menschliches Leiden war für ihn in der Gestalt Jesu sublimiert.1 In den scharfen, antizipierten Punktierungen des Crucifixus (Adagio espressivo) sieht und hört der Zuhörer, wie in einer Bach-Passion, die überstürzten Peitschenhiebe; in den heftigen Sforzati erleidet er die bohrenden Nägel, die in den Körper des Gekreuzigten geschlagen werden; in den schwerfälligen Oktaven auf Pontio Pilato spürt er die er­ drückende Autorität des römischen Stadthalters. Die Worte Passus est („gelitten hat“) werden durch Seufzerfiguren in den Solostimmen und mit einer gewaltigen Steigerung von sequenzierenden „Schmerzenswogen“ in den ersten Geigen und im Fagott zum Ausdruck gebracht. Bei der Begräbnismusik zerfällt die Harmonik total, d.h. bricht die Welt zusammen. Nach dem letzten Et sepultus est („und begraben worden ist“) des Chores scheint es keinen harmonischen Ausweg mehr

Sie ist für uns fast genau so mühsam zu erfassen, wie Gott für Beethoven selbst. Der Musiker muss wissen, was Beethoven wollte. Aber auch „seitens des Hörers“, so schreibt der Augsburger Kapellmeister Wilhelm Weber 70 Jahre nach Beethovens Tod in der ersten, wirklich tiefgehenden Analyse dieser Messe, „bedarf kaum ein Werk, um voll gewürdigt zu werden, eine so hingebende Vorbereitung, wie gerade die Missa solemnis.“ 2 Jede Note ist bedeutungsvoll, das Werk ist überfüllt mit Tonsymbolen. Schon gleich zu Beginn des Kyrie setzt das Orchester in vier Oktaven (d.h. das ganze Firmament umfassend) vor der ersten Eins (d.h. vor der Zeit) ein.

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I n den Tagebüchern findet man Bemerkungen wie: „Sokrates und Jesus waren mir Muster.“ Beide Figuren wurden von populistischen Religionsmanipulatoren angeklagt, zu Tode verurteilt und hingerichtet.

Symbolik Lässt sich die Missa solemnis in ihrer ganzen Komplexität erfassen?

Vgl. Wilhelm Weber, Beethovens Missa solemnis: Eine Studie, Schlosser, Augsburg, 1897.

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Gott kennt keine Zeit, er war schon immer da, seine Macht ist unmenschlich. Nur die Trompeten setzen auf der Eins ein (d.h. mit Beginn der irdischen Zeit), sie symbolisieren die Beschränktheit der irdischen Macht. Diese Symbolik spannt eine Brücke, die den Anfang des Kyrie mit dem Schluss des Gloria verbindet: dort „überquillt“ der letzte Gloria-Ruf des (himmlischen) Chores den Schlussakkord des (irdischen) Orchesters. Der Ruf bricht nicht ab, wie ein ratloser Kritiker in 1827 irritiert berichtet. Suggeriert wird, dass die Akklamationen im Himmel weiterklingen, für menschliche Ohren unwahrnehmbar, weil „Gott zu loben kein Ende ist“! Das ist aber noch längst nicht alles, was im Gloria symbo­ lische Bedeutung hat. Nein. Ich gebe noch drei weitere Beispiele: – Am Anfang des Gloria erklingt in den das Gesangsthema nicht verdoppelnden Orchesterstimmen zweimal ein Dreivierteltakt, im übergeordneten Gesangsthema (Gloria in excelsis Deo) selbst ein Dreihalbetakt. Diese Gleichzeitigkeit könnte die Synthese des Vollkommenen (Dreiermetrum als tempus perfectum) und des Unvollkommenen (Zweiermetrum als tempus imperfectum) symbolisieren, d.h. von Göttlichem und Menschlichem in der Engelsbotschaft der Weihnachtsgeschichte: „Ehre sei in der Höhe Gott, und auf Erden Friede den Menschen des guten Willens.“ – In dem Textabschnitt Domine deus, Rex coelestis, Deus pater omnipotens („Herr Gott, König des Himmels, Gott Vater allvermögend“) wird auf dem Wort omnipotens das Unfassbare der zeitlosen Allmacht durch Suspendierung aller metrischen, dynamischen und harmonischen Bindungen ausgedrückt. Haltetöne in allen Chor- und Bläserstimmen, Pauke, Orgel und Kontrabass setzen vor der Eins (d.h. vor der Zeit) ein; ein dreifaches Forte wird vorgeschrieben, das einzige in der ganzen Missa. Ein B-Dur-Septakkord, von den Streichern in metrisch ambivalente Arpeggi zerlegt, zerbricht die herrschende Tonart D-Dur. – In der Schlussfuge auf den Worten In Gloria Dei Patris. Amen. („in der Herrlichkeit Gottes des Vaters. Amen.“) besteht das „Gerüst“ des Themas aus einer sequenzierten Folge von diatonisch aufsteigenden Quarten, einem in der barocken Vokalmusik gängigen Tonsymbol für Ekstase, sowohl erotisch als auch religiös. Als erotisches Beispiel erwähnt Birgit Lodes John Dowlands Lautenlied Come again (1600), wo die Sequenz auf den Text „To see, to hear, to touch, to kiss, to die“ fällt (fünf Quartsprünge), als religiöses Beispiel die Arie „O thou, that tellest good tidings“ aus Händels Messiah auf den Text „Lift up/thy voice/with strength;/lift it up,/be not afraid!“ Wilhelm Weber beschreibt den Affekt des Fugenthemas als „über allem Irdischen dahinstürmende Freude und Glück­ seligkeit“. Das Thema wird, als Achtelkette eingekleidet, in immer neuen Variationen vorgestellt und bildet zum Schluss, in allen Stimmen unisono gespielt und gesungen, den Höhepunkt des religiösen „Außersichseins“.

Der Fachmann kann die geheime Botschaft der Ton­ symbole herausfinden. Aber wie nachvollziehbar ist sie für ein Konzertpublikum? Dass zu Beginn des Kyrie das Orchester vor der Eins anfängt ist doch nur „Augenmusik“, und das Publikum hat nicht das Notenbild vor Augen, sondern das Orchester. Aber es hört zu, und das Orchester kann die verschlüsselte Botschaft fühlbar machen, wenn es weiß, was die Noten bedeuten … … und die Zuhörer wiederum Beethovens Musik nicht einfach wie Weihrauch in der Kirche über sich gehen ­lassen! Sie erwähnten soeben die „grausamen Sprünge“ als musikalisch-rhetorische Figuren im Credo. Wie wichtig war Beethoven die traditionelle Lehre der Affekte? Ohne jedes Gespür für die Bildhaftigkeit der Musik wird die Missa solemnis größtenteils unverständlich bleiben. Sie wurzelt in der Musik und der Musiktheorie der Vergangenheit, weil diese Vergangenheit für Beethoven die Ewigkeit symbolisierte. Nehmen wir den Anfang des Credo. Das ­robuste, viertönige Motiv der Chorbässe (Credo, credo! ) ist ein Merkmal der Standfestigkeit, der Unbeirrbarkeit im Hier und Jetzt. Beethoven hat es 1825 für den Rätselkanon Gott ist eine feste Burg wieder aufgegriffen. Der in den Wolken verschwindende Aufstieg auf „in unum, unum Deum“ – die Abbildungsfigur der Anabasis – symbolisiert schon das ­Jenseits. Beide Motive, das Diesseitige und das Jenseitige, werden schon im 7. Takt simultan eingesetzt, was auch ­wieder seine eigene Bedeutung hat. Und wie verhält es sich mit den Tonarten? Folgt Beethoven der Tonartencharakteristik seiner Epoche? Das immer sehr spekulative Gebiet der Tonarten­ charakteristik interessierte Beethoven sehr. Sie war für ihn so selbstverständlich, schrieb sein Sekretär Anton Schindler 1860, wie die von dem Astronomen Pierre Simon de Laplace bewiesene „Sonnen- und Mondeinwirkung auf Ebbe und Flute des Meeres“. Die Tonart des Agnus Dei, h-Moll, hat er nachweislich als „schwarze“ Tonart charakterisiert. Darum wählt er auch die „schwarze“ Stimme des Basssolisten, um die erste der drei Anrufungen des Lamm Gottes vorzusingen. Es ist, nach dem innigen G-Dur des Benedictus, „als sei alle Wärme dahin, es fröstelt einen.“ (Wilhelm Weber). Das D-Dur des an die drei Anrufungen anschließenden Dona nobis pacem („Gib uns Frieden“), die Grundtonart der Missa, wurde in Ferdinand Gotthelf Hands Ästhetik der Tonkunst (1837) als eine Tonart umschrieben, die als „weiße“ Dur-Paralleltonart vom „schwarzen“ h-Moll „zauberische Lichthelle“ vorführen kann.

D-Dur wurde auch häufig für Triumphmusik, Krieges­ getümmel und große Feierlichkeit verwendet, so auch von Bach und Händel. Während der Komposition der Messe hielt sich Beethoven häufig in der Bibliothek von Erzherzog Rudolph auf, um Partituren dieser beiden Komponisten zu studieren. Lassen sich Reminiszenzen an diese beiden großen Vorbilder in der Missa solemnis klar identifizieren? Es ist fraglich, ob Beethoven je die komplette Musik von J. S. Bachs „großer catholischen Messe“, wie man damals die h-Moll-Messe nannte, vor Augen hatte. Zweimal bemühte er sich vergebens bei Musikverlagen in Berlin (Breitkopf ) und Zürich (Nägeli), mangels einer gedruckten Ausgabe, eine Abschrift zu erwerben. Im Kyrie scheinen mir der Bewegungscharakter (Sarabande-Rhythmus) und die Holzbläserstimmen des Christe eleison vom „Crucifixus“ der h-Moll-Messe inspiriert. Der Hilferuf an Christus als menschgewordener Gottessohn („Christus, erbarme dich“) und der Textabschnitt des Credo „Der gekreuzigt wurde auch für uns“ gehören theologisch eng zusammen. Der Einfluss Georg Friedrich Händels, den Beethoven einst als „den größten Komponisten, der jemals lebte“ bezeichnete, ist konkreter festzustellen. In der Fuge auf den Worten Dona nobis pacem („gib uns Frieden“) am Schluss des Agnus Dei wird nach der ersten unterbrechenden Kriegsepisode total unerwartet der Halleluja-Chor des Messias zitiert („And he shall reign for ever and ever“). Es ist denkbar, dass das Zitat als ein humorvoller Subtext auf die englische Nation als europäischer Friedensbringer anspielt: wir denken an Wellingtons Sieg, Beethovens Siegessinfonie aus dem Jahre 1813! Im Benedictus wiederum verweist der wiegende Zwölfachteltakt auf die Hirtenmusik (Pifa) und die Arie „He shall feed His flock“ im Messiah, dem in Beethovens Zeit populärsten Oratorium überhaupt.

Ein unbequemes Meisterwerk Ich hatte immer den Eindruck, dass die Missa solemnis, je mehr sie sich nach dem Credo ihrem Ende nähert, umso eigenwilliger, rätselhafter und subversiver wird. Wurde Unkonventionalität – der Wille, einen eigenen Weg zu wandeln – Beethoven zum Selbstzweck? Das hat man ihm im 19. Jahrhundert sehr oft vorgeworfen! Die frühen Kritiker konnten von der fixen Idee, eine Messvertonung müsse zwangsläufig liturgisch sein, nicht ­ablassen. Nach der Vertonung des Kyrie hatte Beethoven entschieden, sein ursprünglich liturgisches Konzept aufzu­ geben und den Messtext als ein „poetisches Gebilde“ zu ­betrachten. Die Vorschrift „Mit Andacht“ zu Beginn des von den Solisten (als Darsteller der Engel!) gesungenen Sanctus bedeutet „mit eben derselben Andacht als wenn der Konzertbesucher in der Kirche wäre“. Der Messtext war zu einem Libretto geworden, aber die Andacht sollte authentisch sein:

ein solches Konzept kann nicht von einem eitlen Komponisten ausgehen! Das Sanctus ist ein Gegenentwurf zu dem zum Klischee gewordenen Jubel in den traditionell chorischen Sanctus-Vertonungen von Bach bis Haydn. Stille Andacht (d.h. spirituelle Ergriffenheit, religiöse Versenkung) war Beethoven lieber als das Geschmetter himmlischer Trompetenfanfaren. Ein in den Instrumentalbässen einsetzendes, viertöniges Motiv mit steigender Bewegungsrichtung zeigt uns das scheue, langsame (Adagio) „Hinaufschauen der Engel, betend zu Füßen des Allerhöchsten“ (Wilhelm Weber). Anfangs ist die Harmonik noch unbestimmt. Wie im Agnus Dei fängt das Orchester leise an, im „schwarzen“, irdischen h-Moll. h-Moll ist für eine Sanctus-Vertonung äußerst ungewöhnlich!

Beethoven bleibt nur acht Takte lang in h-Moll. Mit dem Eintritt der Posaunen (d.h. dem Blick auf Gott) erreicht er, ohne lauter zu werden, die traditionelle Jubeltonart D-Dur. Die Altsolistin öffnet das Tersanctus („dreimal Heilig“) mit einem tiefen (d.h. niedrigen) dreitönigen Motiv in fallender Bewegungsrichtung. So wie es die frühe Kirche vorschrieb, singt sie mit demütiger Stimme (supplice voce), und von den drei übrigen Solisten nachgeahmt: „Heilig, heilig, heilig [ist] der Herr Gott Zebaoth.“ Das „Dreimal heilig“ wird dreimal (Sinnbild der Heiligen Dreifaltigkeit, d.h. der Einheit von Gott Vater, Sohn und Heiligem Geist) gesungen – beim dritten Mal als chorische Rezitation, mit halber Stimme (mezza voce). Hier fangen die „demutsvollen“ tiefen Streicher – die „eitlen“ Geigen müssen schweigen – zu tremolieren an: ein Symbol für „die Stimmung, die den Menschen umfängt, wenn er sich dem Heiligen nahe fühlt“ (Weber). Gott ist „dreimal heilig“, d.h. der Heiligste, der Allein-Heilige. Auf den Schlussworten Deus, Deus Sabaoth entsteht ein Septnonakkord (A, Cis, E, G, B), der so unheimlich und abgründig klingt wie das hebräische Wort „Sabaoth“ selbst. Die Pauke donnert bedrohlich in einem gespenstischen Pianissimo, weil mit dem Wort (das „Gott der Heere“ bedeutet) nicht nur ­Gottes Macht über irdische und himmlische Heerscharen, sondern auch die über die ungezählten Sterne des Himmels gemeint ist. Was meint Beethoven mit der Tempo-Vorschrift „Allegro pesante“ für den nächsten Abschnitt? Natürlich nicht ein „schweres Allegro“, sondern ein „Allegro mit Gewicht (d.h. Gewichtigkeit)“. Das schließt ein zu hektisches Tempo aus! Wusste Beethoven, dass das lateinische Wort Gloria eine ungenaue Übersetzung vom ­hebräischen Kabod („Schwere“) ist? „Himmel und Erde sind erfüllt von deiner Herrlichkeit (Gloria).“ Nur in einem ­mäßigen Tempo bekommen die Sechzehntel der Streicher – die Geigen dürfen wieder mitspielen – ihren Symbolgehalt: sie umspielen das Fugenthema wie die Sterne am Himmel, jedes Sechzehntel soll funkeln. 15 14


Das Osanna (Presto) wurde im 19. Jahrhundert als ­„neckisch“ belächelt  … … oft von Seiten des Cäcilianismus, einer katholischen kirchenmusikalischen Reformbewegung, die eine liturgische Vertiefung der Kirchenmusik anstrebte, im Gegensatz zu den säkularisierten Formen und Auffassungen der Zeit. Ein gewisser Paul Krutschek schrieb, dass das Osanna sich „als Scherzo einer Sinfonie gut machen würde“. Was er kritisierte galt aber für den Berliner Musikjournalisten Paul Bekker am Anfang des 20. Jahrhunderts als Beethovens größte Leistung! Er ­bezeichnete die Missa solemnis als „eine geistliche Sinfonie mit Soli und Chören, der dann als entsprechendes Gegen-

stück die weltliche [Neunte Sinfonie] unmittelbar folgt“. 3 Das Osanna ist gewissermaßen ein Turbachor. Im JohannesEvangelium wird erzählt, wie beim Einzug in Jerusalem eine Woche vor seinem Tod eine große Volksmenge, Palmenzweige schwenkend und Osanna in excelsis („Hosianna in der Höhe!“) rufend, Jesus entgegenläuft: ein Zeichen, dass sie in ihm, der nach Jerusalem gepilgert ist, um dort das Osterfest zu feiern, den König von Israel sehen. Einige – oder viele? – von den Hosianna-Rufern werden ein paar Tage später beim Verhör Christi „Kreuzige ihn!“ schreien. Es ist dieses halb aufrichtige, halb bösartige (Sforzandi auf jeder Silbe!) „Hosianna“, das Beethoven hier vertont. Das hebräische Wort Hoscha’na bedeutet übrigens „Rette uns!“, ist also ein Hilferuf. Das hört man sofort in der Musik: das erste Intervall des Fugatothemas ist ein Tritonus, damals „Teufel

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Vgl. Paul Bekker, Beethoven, Schuster & Loeffler, Berlin & Leipzig, 1912, S. 378

in der Musik“ genannt und Ausdruck von Unruhe und ­Instabilität. Beethoven verlangt sowohl Fortissimo als auch Presto, er will keine jubelnde, sondern verzweifelte Ausrufe hören: eine bewusst „unbequeme“ Vertonung! Wenn diese Deutung des Osanna stimmt, wird die idyllische Ruhe des nachfolgenden Benedictus umso wirkungsvoller...

Das Benedictus schöpft seine Ruhe aber aus dem vorangehenden Präludium. Hier sind wir beim heiligsten Moment der Messe angelangt, in dem Brot und Wein durch Sprechen der Konsekrationsworte in Leib und Blut Christi verwandelt werden: die sogenannte „Transsubstantiation“ oder Wand-

lung der Substanz. Hier muss ordnungsgemäß die Musik schweigen, aber diese Regel wurde zu Beethovens Zeit oft außer Acht gelassen: talentierte Organisten verspührten oft das Bedürfnis, zur Elevation (das Emporheben der Hostie und des Kelches) eine kurze Improvisation zu spielen, so auch der junge Ludwig in seiner Bonner Zeit. Das Präludium vor dem Benedictus ist eine „virtuelle“ Orgelimprovisation, „virtuell“, weil die echte Orgel schweigt: wir hören einen „synthetischen“, übernatürlichen, mystischen Orgelklang, entstanden aus der Mischung von tiefen Streichern (geteilte Bratschen, geteilte Celli und Kontrabässe) und Flöten- und Klarinetten (als „virtuelle“ Orgelregister). In der Geschichte der Messvertonung ist diese textlose Meditation eine Einzelerscheinung.

Endlich! Der lang erhoffte und endlich eintretende Ruhe­ punkt der Missa Solemnis ! Der Text ist die Weiterführung des Hosianna der Volksmenge beim Einzug Jesu in Jerusalem: „Gepriesen sei, der kommt im Namen des Herrn. Hosianna in der Höhe!“ Beethovens Musik geht aber weit darüber hinaus, sie erzählt den Einzug Jesu ins Sakrament des Abendmahls, zur Erinnerung an das letzte Mahl Christi mit seinen Jüngern. Die Sologeige symbolisiert – als „König“ des Orchesters – Jesus Christus als gerechten und rettenden König. Im scharfen Kontrast zu der düsteren Klangwelt des Präludiums steht hier für die Sologeige und zwei parallel geführte Flöten (Instrumente aus einer höheren, heilenden Welt) ein langer Abstieg – die ­traditionelle rhetorische Figur der Katabasis als Sinnbild der Menschwerdung Jesu, seiner Erniedrigung für uns Menschen. Wie ein guter Hirte, der Trost bringt, kommt der Sohn Gottes zu uns – wie eine Mutter, die ihr Kind einwiegt. Dies suggeriert der „schaukelnde“ Siciliano-Rhythmus, der so typisch ist für weihnachtliche Musik. Ein paradiesisches Wohlgefühl durchströmt uns: wir sind in G-Dur, der als mütterlich empfundenen Unterdominante der Haupttonart der Messe. Die breit angelegte Sonatenform des Benedictus spiegelt die Vollkommenheit Gottes wider. Nirgends kommt Beethoven in der Missa solemnis so nahe an Mozart heran, hinsichtlich der vollendeten Beherrschung der „göttlichen“ Symmetrie, die der Sonatenform innewohnt. Beide Teile, Exposition und Reprise, bestehen aus übereinstimmenden Abschnitten (Orchesterritornell, Soloquartett, Chor), aber Beethoven vermeidet jede Starrheit, jede Vorhersehbarkeit durch eine Menge überraschender Modifikationen. Der ­Anfang des ersten Vokalquartett-Abschnittes ist eine Hommage an Mozart: er besteht, ähnlich wie das „Recordare, Jesu pie“ im Requiem, aus zwei Kanons (zuerst Alt und Bass, anschließend Sopran und Tenor in der Unterseptime), die ineinander­ fließen. Der Effekt ist mild, demutsvoll und gebetsartig. Weil das zweite Osanna in das zu Ende gehende Benedictus integriert ist – eine Innovation Haydns (Missa in tempore belli, Heiligmesse, Theresienmesse und Schöpfungsmesse) – hat es eine grundverschiedene Stimmung im Vergleich zum ersten. Dieses Osanna ist nach innen gewandt, es erzählt den Einzug Jesu ins Herz der Gläubigen. So ist das zweite Osanna eine Transzendierung des ersten, unter dem heilenden Einfluss des Benedictus. Das Benedictus ist heute wohl die beliebteste „Nummer“ der Missa solemnis , weil Beethoven hier eine Musik komponierte, die dem Publikum leichter zugänglich ist und es über eine längere Zeit (123 Takte) auch bleibt. Ist es nicht schade, dass es in der Missa nur einen solchen Ruhepunkt gibt? Beethoven wollte keine „Nummern“. Die modulierenden, manchmal heiklen instrumentalen Überleitungen

­zwischen den einzelnen Abschnitten der fünf Gesänge des Messordinariums sorgen dafür, dass die Idee einer „Nummernmesse“ nie entsteht. Wenn das Benedictus trotzdem als eine Nummer erfahren wird, dann auf keinen Fall kulinarisch, aber innerlich ergriffen, „mit Andacht“. Leichter zugänglich sind auch das Kyrie und das Agnus Dei (bis zum Dona nobis pacem), die mit dem Benedictus eines gemein haben: sie bieten dem Zuhörer das Erlebnis einer Reprise (in der Formenlehre: Wiederholung eines Formteils). Dieses Erlebnis besteht darin, dass „bereits Vertrautes erneut auftritt, ein Stück Vergangenheit nochmalige Gegenwart wird“ (Clemens Kühn). Die Reprise ist ein Bestandteil der bereits erwähnten ­Sonatensatzform. Ist die Missa solemnis auch eine formale Auseinandersetzung mit den Gattungskonventionen jener Zeit? Im Kyrie, einer Mischung aus Da Capo- und Sonatenform nach dem Schema ABA’, bildet ein erster Hilferuf – an Gott-Vater – die Exposition A eines Sonatensatzes (D-Dur, assai sostenuto, Zweihalbetakt). Ein zweiter Hilferuf – an Christus, dem menschgewordenen Gottessohn – bildet den autonomen Mittelteil B (h-Moll, andante assai, Dreihalbetakt). Das „Erlebnis“ ist der dritte Hilferuf an den Heiligen Geist, die modifizierte Reprise A. Sie stellt sich nach der „erlösenden“ Musik des Mittelteils (h-Moll ist die Tonart der Passion Christi!) anders dar als zu Beginn. Sie fängt in der „mütterlichen“ Subdominante G-Dur an, die als Tonart des Heiligen Geistes, nach F. G. Hands „Ästhetik der Tonkunst“ (1837) „Innigkeit und Treue“ ausdrückt und sie kehrt erst nach einer langen Modulation zur Grundtonart D-Dur zurück. Dreiteilige Formen und Wiederholungsschemata sind also eine Art formale Grundlage der Missa solemnis? Nicht die ganze Missa! Nur Kyrie und Agnus Dei sind auf konventionelle Art dreiteilig. Das Kyrie hat eine Reprise, das Agnus Dei zwei: es ist, mit seinen drei textlich identischen Anrufungen („Lamm Gottes, der du trägst die Sünden der Welt, erbarme dich unser!“) als ein Variationssatz komponiert, nach dem Schema A1 A 2 A 3 – drei thematisch sehr ähnliche, aber besetzungsmäßig unterschiedliche „Strophen“, wobei A 2 als eine erste und A 3 als eine zweite Variation der ersten Strophe A fungieren. Die erste Anrufung (h-Moll) ist in der Missa ein Basssolo mit einem echoartigen Halbchor von vier tiefen Männerstimmen. Die zweite (e-Moll) ist ein Duett für Alt und Tenor, die mittleren Stimmen des Solistenquartetts; auch der Echo-Chor klingt etwas aufgehellt, weil die tiefen Frauenstimmen des Chores hinzutreten. In der letzten Anrufung schließlich sind sowohl das Soloquartett als der Chor vollständig besetzt (e-Moll): als ein abrundender „Abgesang“. Reprisen stiften auch Einheit in den parataktisch (nebenordnend) komponierten Ordinariumsteilen Gloria und Credo. Der Gloria-Anfang (Gloria in excelsis Deo),

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der musikalisch eine Öffnung von Grundton zum Quintton (D-A) herstellt und symbolisch vielleicht eine Sakralhandlung illustriert (das Heben der Arme des Priesters?), kehrt dreimal als Ritornell und ein letztes Mal als Epilog der Schlussfuge zurück. Auch der Credo-Anfang fungiert, wie wir schon sahen, als ein einheitsstiftendes Ritornell.

Friedensfest – Dreimal Krieg Beethoven hat den Schluss des Agnus Dei mit „Bitte um innern und äußern Frieden“ überschrieben. Ist die Missa solemnis eine Messe für den Frieden? Ich glaube, ja. Mit „Frieden“ meint er das Fernbleiben von Krieg zwischen den Menschen (d.h. den äußeren Frieden) und im Menschen selbst (den inneren Frieden). Letzteres kann mit „innere Zerrissenheit“ oder „Gewissenspein“ übersetzt werden. Gefühle, die Beethoven sehr gut kannte. Er komponierte das Bitten viel weniger bildhaft als den Frieden selbst und sogar, nach eigenen Angaben auf einem Skizzenblatt, das „Resultat des Friedens: Ruhe“ (Ausgeglichenheit, Unbeschwertheit) und „Lustigkeit“. Das erklärt, warum er ein Allegretto vivace im Sechsachteltakt vorschreibt, von Leopold Mozart als „artig, tändelnd und scherzhaft“ beschrieben. Viele witzige Begleitfiguren und spielerischleichte Sechzehntelläufe im Orchester verstärken die Idee eines Friedensfestes. Ein schleppendes Tempo würde alle Lustigkeit verschwinden lassen! Was Beethoven hervorzaubert, ist das in der Zauberflöte besungene Himmelreich auf Erden. Er meint durchaus den politischen Frieden! Ignaz von Seyfried, Komponist, Dirigent und langjähriger Beethoven-Freund, schrieb über dieses Allegretto: „Diese Töne sprechen die demutsvolle Bitte einer andächtigen Gemeinde – Herr! Schenk uns den ewigen Frieden – nicht aus.“ Wo steht im lateinischen Text der Messe (Dona nobis pacem) das Wort „ewigen“? Seyfried hat die Texte der Messe und des Requiems verwechselt; dort heißt es: Dona eis requiem sempiternam („gib ihnen Ruhe auf ewig“)!

Das müssen Sie näher erläutern … Der erste Krieg ist ein äußerer Krieg (Allegro assai, Viervierteltakt). Eine feindliche Armee zerstört das Friedensfest. Wir hören einen Paukenwirbel auf einem Ton (F) der mit der herrschenden Tonart (D-Dur) auf härteste Art disharmoniert, die Militärsignale der Kriegstrompeten, die ängstliche Reaktion der Solosänger und das panikartige Zittern der Streicher, kurz, eine dramatische Opernszene. Beethoven vertont seine eigene Erinnerung an das Jahr 1809, als Napoleonische Truppen Wien belagerten und er so erschüttert war, dass er in einem Keller bei seinem Bruder Caspar „den Kopf mit Kissen bedeckte, um ja nicht die Kanonen zu hören“ (Ferdinand Ries). Der zweite Krieg spielt sich im Inneren des Menschen ab (Presto, Zweihalbetakt). Nach einer kurzen modifizierten Reprise der Friedensfesttöne beginnt eine textlose Musik Krieg mit sich selbst zu führen, fortissimo und presto wie im unbequemen Osanna des Sanctus. Der Kampf ist gnadenlos, grausam, unerbittlich. Der Abschnitt ist ein Bravourstück des Kontrapunkts. Es gibt zwei Themen, nennen wir sie A und B, beide dreitaktig. Sie passen sowohl als Oberstimme als auch als Unterstimme zueinander, aber charaktermäßig sind sie Gegenspieler. Thema A (staccato: Terzabstieg + Trillerfigur + Oktavsprung) ist gebieterisch und unnachgiebig; Thema B (legato), abgeleitet aus einem Motiv, das vorher dem Wort pacem („Frieden“) zugeordnet war, ist rastlos und angsterfüllt. Repräsentieren das dominierende Thema A das Böse, und das demütige Thema B das Gute? Der dritte, unmittelbar anschließende Krieg ist der apokalyptische Endkrieg der Menschengeschichte. Die Hörner, Trompeten, Posaunen und Pauken, die während der „inneren“ Kriegsepisode geschwiegen hatten, steigen wieder ein. Ein zweiter Einbruch einer Armee, dieses Mal einer himmlischen. Christus erscheint als siegreicher Anführer der „himmlischen Heerscharen“, die ihm zujubeln (Chor: Agnus, Agnus Dei! ). Bei genügend Imaginationskraft hört man im Orchester dröhnende Kanonenschläge (synkopische sforzando-Akkorde) und einen Galopprhythmus, es ist, als ob Christus, wie der „Reiter auf dem weißen Pferd“ in der Offenbarung des ­Johannes, sein Engelsheer gegen den roten Drachen – das Sinnbild des Teufels – antreiben würde.

Der politische Frieden wird allerdings, nach Haydns Beispiel (Missa in tempore belli, 1797), viel drastischer durch Kriegsepisoden unterbrochen, die zeigen wollen, dass der Friede immer brüchig sein wird …

Das klingt sehr historisch interpretiert. Kannte sich Beethoven denn in der Geschichte des Christentums überhaupt aus?

Die musikalische Heterogenität der drei Kriegsepisoden fällt auf. Darum vermute ich, dass Beethoven drei verschiedenartige Kriege vor Augen hat. Der erste Krieg wäre als „äußerer Krieg“ zu deuten, der zweite als „innerer“ und der dritte als „apokalyptischer“ Krieg.

Die Geschichte der Christenverfolgung faszinierte ihn, er plante zur Zeit der Missa-Komposition ein Oratorium über den Sieg des römischen Kaisers Konstantin an der Milvischen Brücke (312). Am Vorabend der Schlacht hatte der Kaiser eine Vision, die ausschlaggebend wurde für seine Bekehrung zum

Christentum. Eine Deutung der dritten Kriegsepisode als Endzeitvision gewinnt an Plausibilität, wenn man bedenkt, dass eschatologische Oratorien mit Titeln wie „Die letzten Dinge“ im Umfeld Beethovens beliebt waren (Joseph Eybler, Louis Spohr). Trotz der Brutalität der furchterregenden Kriegseinbrüche kehrt das „lustige“ Allegro vivace in neuen Variationen wie­ der. Ist der Schluss des Agnus Dei nicht eine Antiklimax? Er ist humorvoll! Ein schüchterner Versuch der Pauke, das Friedensfest ein letztes Mal zu stören, scheitert kläglich. Sie klingt jetzt eher schlecht gestimmt als bewusst disharmonierend. Ihr überraschendes B irritiert nur noch, weil die Tonart D-Dur definitiv unanfechtbar ist. Sie findet keine Unterstützung der anderen Kriegsinstrumente mehr und muss sich in den Sechsachteltakt integrieren, was sie natürlich nicht schafft. Statt furchterregend wirkt die Passage wie ein musikalischer Spaß, nicht wie ein letztes, ominöses Kriegsgrollen. Die vier letzten Orchestertakte sind nicht einfallslos, wie manchmal behauptet wird. So wie der große Theologe Karl Barth in der Nacht seines Todes scheint Beethoven hier zu sagen: „Gott ist kein Gott der Toten, aber der Lebendigen!“ Ein optimistischer Schluss – mit Ausrufezeichen.

Demut Die Musikkritik hat bis heute einhellig Beethovens Will­ kür in den Anforderungen an die Singstimmen angeklagt. Wenn wir Anton Schindler glauben dürfen, nannte Caroline Unger, die Altistin der (Teil-) Uraufführung der Missa ­ olemnis in Wien, den Komponisten einen „Tyrannen aller s Singorgane“. Ihre Kollegin, die Sopranistin Henriette Sontag, sagte, „sie habe im Leben so was Schweres nicht gesungen“. Wie sehen Sie, als Sänger, das Problem mit der extrem hohen Sopranpartie der Missa ? Was heißt „im Leben?“ Die Sontag war 18 Jahre alt! Sie hatte eine leichte, instrumental geführte Stimme mit brillanten Koloraturen, Spitzentöne, die als „Silberglöckchen“ beschrieben wurden, und ein perfektes, von Berlioz bewundertes Sotto voce. Als Anführerin des „Engelchores“ der vier Solostimmen muss sie eine Idealbesetzung gewesen sein. Aber sie war zu jung, schon zu berühmt und zu sehr mit den Noten beschäftigt, sodass sie kein Bedürfnis hatte, darüber nachzudenken, was dieser exzentrische Komponist mit seinem exzentrischen Schreibstil ausdrücken wollte. Der Stress für alle Ausführenden des Konzerts im Theater am Kärntnertor (7. Mai 1824) war kolossal: zusammen mit der Uraufführung dreier „Hymnen“ aus der Missa solemnis (Kyrie, Credo, Agnus Dei) stand auch die Uraufführung der Neunten Sinfonie

auf dem Programm! Ich glaube, dass bei Beethoven keine Willkür im Spiel war. Sie glauben, die Missa ist von Beethoven ganz bewusst so „schwer singbar“ komponiert worden? Der hohe Ambitus der Sopran(chor)stimme war ein Symbol für die Unerreichbarkeit des Göttlichen. Der Himmel ist unfassbar weit weg von uns Menschen. Wir können versuchen, ihm nahe zu kommen, aber wir scheitern daran. Generell kann der extreme Schwierigkeitsgrad der Missa, wie Sven Hiemke schreibt, als Kalkül Beethovens gedeutet werden: „als gelte es bei dem (kompositorischen und aufführungspraktischen) Versuch einer Hinwendung zu Gott menschliche Mühe hörbar zu machen“. 4 Haben sie ein konkretes Beispiel, das illustriert, wie ­Beethoven diese Mühe, Gott nahe zu kommen, ausdrückt? Die Schlussfuge des Credo! Sie ist eine lange Meditation (166 Takte) über den letzten, sehr kurzen Text-Abschnitt (vier Worte) Et vitam venturi saeculi („und das Leben in der zukünftigen Weltzeit“). Nach der Auferstehung der Toten (resurrectionem mortuorum) wird die zukünftige Weltzeit (venturi saeculi) im Vergleich zum irdischen Leben nicht „anders“ (aliter) sein, auch nicht „vollkommener“ (totaliter), aber „vollkommen anders“ (totaliter aliter); dort wo Gott wohnt, ist die Schöpfung neu. Wilhelm Weber hat 1897 das Fugenthema als „Höhenflug der schwebenden Seligen zum Himmel“ gedeutet. Und tatsächlich: der erste Abschnitt der Fuge (Allegretto ma non troppo) scheint in seinem ruhigen Sarabande-Tempo zu schweben und erklingt überwiegend leise. Nach 67 Takten passiert etwas Verwirrendes: das Tempo beschleunigt sich von Allegretto zu Allegro und die Doppelfuge (zwei Themen) wird zu einem Tripelfugato (drei Themen), in dem das Hauptthema modifiziert wird und zwei neue Themen hinzukommen. Das auffallendste der beiden ist eine virtuose Achtelkette. Sie wird in den Instrumenten sehr regelmäßig betont (jedes erste von vier Achteln hat ein A ­ kzent), während sie in den Chorstimmen auseinderzufallen droht! Beethoven scheint ausdrücken zu wollen, dass Gott noch nicht greifbar ist. Man hat das Gefühl, bei den Sängern herrscht Atemnot wie im Hochgebirge: bizarre, synkopische Überbindungen sorgen dafür, dass dieselbe regelmäßig betonte Achtelkette gleichzeitig unregelmäßig betont klingt, was in Webers Fantasie einen Schwindelanfall der „schwebenden Seligen“ suggeriert. Die Ausführenden haben die heikle ­Aufgabe, das Unkoordinierbare zu koordinieren. Im abschließenden, feierlichen Grave öffnet sich für die „schwebenden Seligen“ endlich der Himmel. Die vier Solosänger scheinen schon in der jenseitigen Welt angekommen zu sein. Sie sind zu „himmlischen Geistern“ geworden. Die Schwindelanfall4

Sven Hiemke, Ludwig van Beethoven. Missa Solemnis, 2003

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Passage ließ den entzückten Komponisten, laut Anton Schindler, seine eigene Menschlichkeit fühlen, „denn im Schweiße seines Angesichts schlug er sich Takt für Takt mit Händ’ und Füßen die Taktteile, eher er die Noten zu Papier brachte, bei welcher Gelegenheit ihm sein Hauswirt die Wohnung kündete“. Wenn man die Partitur betrachtet, fällt sogleich die kontrastreiche Dynamik auf, in der Pianissimo und ­Fortissimo ständig abwechseln. Pochen zwei Herzen in der Brust der Missa solemnis, basiert die Messe überspitzt formuliert auf Kontrasten? Beethovens schreiende, oft übertrieben anmutende Kontraste in der Abstufung der Tonstärke des Orchesters sind ein Teil seines Konzepts einer zukunftsweisenden expressio­ nistischen „Inhaltsdynamik“. Mit Expressionismus sei hier nicht die musikhistorische Stilrichtung dieses Namens gemeint sondern die kunsthistorische. Nehmen wir die Stelle im Gloria, wo im Textabschnitt Qui sedes ad dexteram patris, miserere nobis („Der du sitzt zur Rechten des Vaters, erbarme dich unser“) beim Einsatz der Posaunen der radikalste harmonische Bruch der ganzen Komposition auftritt, ohrenbetäubend laut und schockierend grell. (F-Dur/Fis-Moll!), ein „grausiger, das Blut erstarren machender Anprall“ (Weber). Ich denke bei dieser Passage an Edvard Munchs erschütterndes Bild Der Schrei (1893), das eine menschliche Figur unter einem roten Himmel zeigt, die ihre Hände gegen den Kopf presst, während sie Mund und Augen angstvoll aufreißt. August Strindberg deutete das Bild als einen „Schrei des Entsetzens vor der Natur, die vor Zorn errötet und sich anschickt, durch Sturm und Donner zu den tödlichen kleinen Wesen zu sprechen, die sich einbilden, Götter zu sein, ohne ihnen zu gleichen“. Genauso haarscharf kommentiert Birgit Lodes die „grausige“ Stelle im Gloria: „Der Mensch fühlt sich nicht mehr nur niedergedrückt angesichts der Größe und Herrlichkeit Gottes, sondern stellt sich ihm entgegen in übermenschlicher Anstrengung.“ In einer letzten Wiederholung des „Miserere nobis“ verlässt Beethoven bei extrem unruhiger Dynamik die objektive Ebene des liturgischen Textes total. Die Sänger (Soli + Chor) „tragen selbst in dem heiligen Text die schmerzliche Interjektion ihres persönlichen Gefühls hinein“ (Weber), was von den Cäcilianern selbstverständlich als subjektivistisch-willkürliche Manipulation des Textes (Ah! Miserere nobis) angeprangert wurde. Sie vergleichen anachronistisch die Missa solemnis nun mit Edward Munchs Der Schrei. Allerdings bleiben Sie gleichzeitig der historisch informierten Aufführungs­ praxis treu: Sie haben die historische Choraufstellung links und rechts des Orchesters wiederhergestellt.

Das war aufregend! Bis Ende des 19. Jahrhunderts war bei Oratorien der Chor seitlich oder sogar an der Vorderseite des Orchesters postiert, niemals dahinter, unter der Bedingung, dass das Orchester amphitheatrisch aufgebaut werden konnte. Die Vorteile in der Missa solemnis sind erheblich: erstens wird ein Spitzenchor sogar in den exponiertesten Stellen noch unangestrengt singen können und zweitens wird das Publikum den für Beethoven so wichtigen und persönlich durchlebten Text besser verstehen. Als ein Engelchor, hinter dem Orchester, wirkt das Solistenquartett am sinnvollsten. So, vermute ich, hat Beethoven es geträumt: vier entfernte Himmelsstimmen im Dialog mit einem irdischen Chor vorne, wie aus der scharf kontrastierenden Dynamik für Chor (laut) und Soli (piano, echoartig) im Kyrie hervorgeht. Inwieweit haben Beethovens Frustrationen, seine Musik nie mehr hören zu können, bei seiner extremen Dynamik eine Rolle gespielt? Ohne seine Taubheit hätte Beethoven die Missa einstudieren und dirigieren können. Vielleicht hätte er einige dynamische Angaben korrigiert. Wer weiß? Manchmal ist die vorgeschriebene Dynamik kaum praktisch umsetzbar, ohne die Balance zwischen Bläser- und Streicherstimmen zu erschweren. Behutsame Retuschen sind ab und zu unumgänglich. Sie sollen aber nie Beethovens Intentionen mit seiner Dynamik verraten, und schon gar nicht seine Instrumentierung ändern! Vor seinem Kollegen Adrian Boult gab Arturo Toscanini zu, er habe „entsetzliche Angst, dass die Sologeige im Benedictus nicht deutlich genug zu hören sei. Er fragte mich sogar, ob er nicht die Sforzandi in den Blechbläsern und den Pauken weglassen solle“. Der Maestro änderte nichts.

welcher alles Erschaffene strömt und aus welcher ewig neue Schöpfungen entströmen werden. Wenn ich dann und wann versuche, meinen aufgeregten Gefühlen in Tönen eine Form zu geben – ach, dann finde ich mich schrecklich getäuscht: Ich werfe mein besudeltes Blatt auf die Erde und fühle mich fest überzeugt, dass kein Erdgeborener je die himmlischen Bilder, die seiner aufgeregten Fantasie in glücklicher Stunde vorschwebten, durch Töne, Worte, Farbe oder Meißel darzustellen imstande sein wird.“

» Ohne seine Taubheit hätte Beethoven die Missa einstudieren und dirigieren können. Vielleicht hätte er einige dynamische Angaben korrigiert. Wer weiß? «

Vergleicht man die Missa solemnis mit anderen Mess­ kompositionen ihrer Zeit fällt auf, dass sie keine Soloarie enthält, ganz anders als z. B. in Mozarts c-Moll-Messe. Weil Beethovens Konzept keinen Raum für sängerische Selbstdarstellung bietet. Trotz ihrer kompositorischen Brillanz und ihrer Monumentalität ist die Missa voller Demut. Für die Ausführenden – und das Publikum! – ist sie ein anstrengendes, unbequemes Werk. Das war sie auch für Beethoven! Im gleichen Jahr wie die Uraufführung der Missa solemnis (7. April 1824 in St. Petersburg) machte der Komponist wohl eine Anspielung auf seine mühsame Kompositionsarbeit, als er dem Harfenisten Johann Andreas Stumpff während eines gemeinsamen Ausflugs erklärte: „Wenn ich am Abend den Himmel staunend betrachte und das Heer der ewig in seinen Grenzen schwingenden Lichtkörper, Sonnen und Erden genannt, dann schwingt sich mein Geist über diese soviel Millionen Meilen entfernten Gestirne hin zur Urquelle, aus

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Frisch gestrichen! Seit Jahrzehnten spielt das Freiburger Barockorchester Musik, die jahrhundertealt ist. Darüber hat es Weltruhm erlangt – ohne den Geist und den Elan der Anfangsjahre zu verlieren.

Das war ein Spaß! Burkhard Zimmermann und Volker Renner, ein Journalist und ein Fotograf des Merian-Magazins, besuchten das FBO für eine Reportage. Einen ganzen Tag lang begleiteten die beiden das Orchester während der Proben zum Sommerklang Festival. Zahllose Gespräche wurden geführt, viele tolle Bilder geschossen und alle Beteiligten hatten sichtlich Spaß. Wir bedanken uns nochmals für den ungewöhnlichen Besuch und dass wir den Artikel, der in der FreiburgAusgabe des Heftes erschien, abdrucken dürfen.

Nee. Also, es wird schon besser, aber ganz richtig klingt’s immer noch nicht. »Könnt ihr das Ta-ta-ta-ta etwas stärker spielen, vielleicht mit etwas mehr Betonung auf der Eins?«, fragt Gottfried von der Goltz. Der 56-Jährige ist einer der musikalischen Leiter beim Freiburger Barockorchester, gerade probt er mit seinem Ensemble die Ouvertüre aus Mozarts »Schauspieldirektor«. Es ist ein heißer Sommertag, von der Goltz steht in langärmeligem T-Shirt, Shorts und Sneakers vor dem Ensemble, einige der Geigerinnen haben die Sandalen ausgezogen. Sie wiederholen es ein paar Mal, bis es rund klingt, dann geht’s weiter zur nächsten Stelle. »Ab Takt 43 habe ich das Gefühl, es könnte ein bisschen verrückter sein«, sagt von der Goltz. »Können wir das etwas frecher spielen?« Klar können sie, und natürlich schwingt mit, dass sie es eigentlich sollen. Das Besondere an diesem Leiter aber ist: Er kriegt es hin, dass sie es wollen. Das Freiburger Barockorchester ist mit seinen 29 Musikern eines der großen musikalischen Aushängeschilder der Stadt, fast kann man es als ein großes Team aus Kulturbotschaftern bezeichnen: Es ist ein Reiseorchester, zuletzt spielte man in Melbourne, danach waren Hongkong und Seoul geplant – für gewöhnlich ist es auf der ganzen Welt unterwegs, aber weil durch das CoronaVirus gerade nichts gewöhnlich ist, wird der Aktionsradius sich bis auf Weiteres verkleinern. Entstanden ist es in der Silvesternacht des Jahres 1985, als fünf Streicher sich entschlossen, ein Orchester zu gründen und sich dabei auf Musikaus Barock und Klassik zu beschränken – unter ihnen Thomas Hengelbrock, der bis 2017 das NDR Elbphilharmonie

Orchester dirigierte. Die jungen Freiburger Musiker spielten nach einigen Monaten ihr erstes Konzert, der Erfolg hielt an, und das Ensemble wuchs. Seit 2012 hat man ein eigenes modernes Ensemblehaus mit einem großen Probensaal und kleineren Übungsräumen, heute stehen acht Echo-Trophäen im Büro im Obergeschoss. Von der schwerfälligen Gediegenheit, die staatlichen Orchestern mitunter nachgesagt wird, ist hier nichts zu spüren, was wohl viel mit der Organisation des Ensembles zu tun hat: Das Orchester ist eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts, es gehört den Musikern, Entscheidungen werden gemeinsam getragen. Die Proben und Aufführungen werden von von der Goltz oder dem Pianisten Kristian Bezuidenhout geleitet, das kommt immer ein bisschen auf Repertoire und Kalender an, mal so, mal so. Den Gemeinschaftsgeist merkt man der Probe an diesem Nachmittag an: Während des Spiels tauschen sich alle untereinander aus, mal durch ein Lächeln, mal durch einen Blick, mal lehnt sich von der Goltz mit seinem Oberkörper weit in sein Orchester, um es zu führen, sein Körper ein Teil eines größeren Ganzen. Und natürlich zeigt seine Wortwahl eine behutsame Entschlossenheit, die dem Gegenüber einen Spielraum lässt: Wenn er fragt, »Können wir das etwas frecher spielen?«, dann geht es nicht um das Können. Es geht um das Wir. Zu den Zielen, die dieses musizierende Wir anstrebt, gehört eine Art des Spielens, die nah ist am historischen Original. Das mag vielleicht etwas kühn erscheinen: Woher will man denn wissen, wie Musik vor Hunderten von Jahren geklungen hat? 23 22


Daniela Lieb ist seit zwanzig Jahren beim Orchester und spielt eine Traversflöte, eine Vorgängerin der heutigen Querflöte. Jetzt hat sie gerade eine Pause zwischen den Proben, sie setzt sich für einen Moment in den hellen Raum, in dem das Orchester seine Sitzungen abhält. »Zur Flötenmusik haben wir Überlieferungen wie Briefe und Flötenschulen, und wir versuchen, uns dadurch dem Klang der Epochen anzunähern«, sagt die 45-Jährige. Sie trägt eine dunkle Brillenfassung und ein helles ärmelloses Shirt, ihre langen blonden Haare sind zu einem Dutt hochgesteckt. »Die Flöte wurde oft in Verbindung gebracht mit dem Göttlichen oder Himmlischen oder der Nachahmung von Vögeln. Man ließ häufig den Atem beben, dieses Vibrato verwenden wir aber als Ausdrucksmittel – nicht wie in der modernen Klassik, wo es als wünschenswert gilt, wenn die Flöte durchgehend ein Vibrato hat.« Vor Daniela Lieb auf dem Tisch liegt ihre Flöte des Herstellers Grenser, der Nachbau eines Modells aus dem 18. Jahrhundert. »Das Holz schwingt nicht so wie das Metall heutiger Flöten, es reagiert anders auf Schwankungen in der Temperatur und in der Luftfeuchtigkeit«, erklärt sie. »Da ist es manchmal eine Herausforderung, den Ton zu kontrollieren.« Braucht so ein Instrument eine besondere Pflege? »Man muss das Holz regelmäßig ölen«, sagt Lieb. »Dafür nehme ich die Klappen ab, baue die Flöte auseinander und lege sie in Mandelöl und gebe etwas Orangenöl hinzu, damit es besser duftet. An den

Stellen, an denen man die Teile der Flöte zusammensteckt, wird der schmalere Teil mit Bindfaden umwickelt, und der wird mit Wachs verdichtet.« Daniela Lieb zieht das Instrument auseinander – heraus fällt ein Stück Papier mit ein paar Noten drauf. »Das mit dem Papierschnipsel ist eigentlich nicht erlaubt, aber das muss ich jetzt so machen, weil ich kein Wachs dabei habe«, sagt sie lächelnd. »Ich bin sicher nicht die Erste und nicht die Letzte, die das so macht.« Die schönen Noten, einfach ein Stück abgerissen! Wobei man sagen muss, dass es an Noten nicht mangelt – im Archiv im Obergeschoss stehen ungefähr drei Tonnen davon auf 60 Meter Länge der Regalfläche verteilt: Ganz vorne in den Regalmeter-Charts liegt Mozart mit 7,20 Meter, etwas abgeschlagen folgen Bach und Händel mit jeweils 5,20 Meter. Die Originale sind häufig digitalisiert und leicht zu finden, müssen aber abgeschrieben und zu einem lesbaren Schriftbild aufgearbeitet werden, damit sie verwendet werden können. Doch auch ordentliche Noten sind nicht immer ganz leicht zu spielen, wie James Munro regelmäßig feststellt. Der 52-jährige Australier ist schon ohne sein Instrument eine beeindruckende Erscheinung: Über sein weißes Hemd spannen sich hellbraune Hosenträger, sein Gesicht zieren ein elegant gedrehter Oberlippenbart und ein feines Kinnbärtchen, von ihm selbstironisch als »facial furniture« bezeichnet. Munro spielt Kontrabass, das Instrument ist größer als er selbst, und davon hat er gleich mehrere, für unterschiedliche Musikstile. »Der Bass, den ich heute verwende, stammt aus Österreich, wahrscheinlich aus dem 19. Jahrhundert«, sagt Munro. »Das passt gut, denn wir spielen Mozart, also Musik aus dem späten 18. Jahrhundert, und dieser Bass ist in dem Stil gebaut, den man damals hatte: Er hat fünf Saiten, heute hat ein Standardbass vier Saiten. In Wien war ein Bass damals auf eine besondere Art gestimmt, das bleibt eine Herausforderung für mich, denn darum muss ich jede Note auf dem Blatt anders greifen – es ist, als würde man ein Instrument komplett neu lernen.« Gibt es noch andere Unterschiede zu modernen Kontrabässen? »Der Bogen war stärker gewölbt, heute ist er eher gerade«, sagt Munro. »Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts spielt man auf Saiten aus Stahl, damals verwendete man Därme von Schafen oder Ziegen, die klingen viel wärmer und weicher.« Besitzt er auch ein Instrument speziell für die Barockmusik? »Ich habe einen Bass, der schon existierte, als Bach noch lebte, das ist unglaublich inspirierend«, sagt Munro. »Diesen Klang kriegst du mit einem modernen Instrument niemals hin. Das Holz hat ein Gedächtnis: So ein altes Instrument hat eine eigene Stimme; es zeigt dir, wie du es zu spielen hast. Du kannst stur sein und versuchen, ihm deinen Klang aufzubürden, dann wird das nix. Oder du kannst offen sein und sagen, okay, ich will mal schauen, wie du klingst – dann kann es sehr schön werden.« Bei Menschen soll es vorkommen, dass sie im Laufe des Lebens gewisse Empfindlichkeiten ansammeln – gibt es das bei einem Kontrabass auch? »Ein Instrument, das 300 Jahre alt ist, hat natürlich viel erlebt«, sagt Munro.

»Es hat ein paar Risse, die wurden repariert, aber im Winter brechen sie manchmal auf, wenn die Luft sehr trocken ist. Mir ist das mal passiert, während einer Aufführung – das klingt, als würde der Bass explodieren, ich habe mich furchtbar erschreckt! Aber es ist nicht so schlimm, der Riss ändert zum Glück die Tonlage nicht, nur die Resonanz. Du bringst es zum Geigenbauer, und der klebt es wieder zu.« Warum spielt ein Orchester, das den Begriff »Barock« im Titel trägt, überhaupt Werke von Mozart? Nun, der Schwerpunkt schließt ja andere Epochen nicht aus, außerdem ist die Barockmusik zeitlich gar nicht so einfach zu umgrenzen: »Was genau ist Barock? Kein Musikwissenschaftler kann dir darauf eine Antwort geben«, sagt Martin Bail. Der 36-Jährige würde mit seiner sportlichen Jungenhaftigkeit auch als Musikstudent durchgehen, ist aber der Dramaturg des Orchesters. »Das Freiburger Barockorchester interpretiert Alte Musik, und es gibt eine Art ungeschriebenes Gesetz, dass Alte Musik alles vom Mittelalter bis zu Mozart abdeckt.« Man kann ein Ensemble, das seine Musik liebt, vielleicht vom Fliegen abhalten. Aber nicht vom Spielen. Und ein Austarieren von Hautkontakt und Sicherheitsabstand gab es schon im Barock. »Wenn Händel zu seiner Zeit in London gespielt wurde, dann war das ein Fest für die reiche Oberschicht – das Publikum trank, es unterhielt sich, es buhte oder applaudierte«, schildert Martin Bail. »In den Vorräumen der Opernhäuser standen Billardtische, man hatte Spaß, Mätressen ließen sich dort auch blicken. Diese Vorstellung finde ich großartig, aber vielleicht sollte man bedenken, dass man sich damals selten wusch, denn man hatte Angst, dass das Wasser die Pest übertrug. Deodorants gab’s nicht, man hat sich nur parfümiert und gepudert, die Menschen rochen also wahrscheinlich nicht besonders gut. Für Social Distancing wären das vielleicht gute Rahmenbedingungen gewesen.« Die Leute, die an diesem Sommerabend vor der elegant gerundeten, mit dunklem Holz verkleideten Fassade des Ensemblehauses ihre Plätze eingenommen haben, sehen alle aus, als würden sie gut riechen, und auch sonst ist es eine angenehm sinnliche Veranstaltung. Auf der Wiese vor dem Gebäude steht eine große Leinwand, das Orchester spielt drinnen und die Musik wird nach draußen übertragen. Das Publikum sitzt auf Klappstühlen und auf Sofas aus Holz­ paletten mit dicken Sitzpolstern, alle schön auf Abstand, man kennt das ja jetzt. Während Mozarts Sinfonie Nr. 40 in g-Moll erklingt, schleicht sich unter den Besuchern eine ungezwungene Picknickatmosphäre ein: Einige haben sich an der Pop-up-Bar ein Gläschen Grauburgunder geholt, andere ziehen Frischhaltedosen mit gestiftelten Möhren und geschmierten Broten aus der Tasche. Hinter der Wiese verläuft ein Fußweg, dort sind einige Leute spontan stehen geblieben und hören zu, eine Familie hat ihre Fahrräder abgestellt und sich in die Böschung gesetzt – die Eltern und ihre Kinder sind von der Darbietung so überrascht und entzückt, dass sie vergessen, ihre Fahrradhelme abzunehmen. All das ist weit

weg von der akademischen Andacht, mit der Zuhörer in Konzertsälen mitunter ausharren, und vielleicht ist es damit ein bisschen näher an der quirligen Lebendigkeit, die Händels Publikum einst erlebt hat. Text: Burkhard Maria Zimmermann Fotos: Volker Renner

Zu beziehen über www.merian-shop.de oder in der Buchhandlung Rombach Bertoldstr. 10 | 79098 Freiburg 25 24


Neue Gesichter beim Freiburger Barockorchester

Das Freiburger Barockorchester ist einem stetigen Wandel unterworfen. Immer wieder verlassen Musiker das Orchester, um sich neuen Aufgaben oder dem Ruhestand zu widmen und immer wieder kommen frische Gesichter hinzu, die das Erscheinungsbild des Ensembles verändern und die Gesellschaftsform prägen. Neu im Orchester sind seit kurzer Zeit Corina Golomoz und Josep Domènech. Wir freuen uns sehr, dass diese beiden herausragenden Künstlerpersönlichkeiten nun fest zu unserer Orchesterfamilie gehören und stellen sie Ihnen hiermit vor.

Corina Golomoz | Viola

Josep Domènech | Oboe

Corina Golomoz stammt aus Moldawien und studierte ­zunächst Violine am Konservatorium von Chișinău, bevor sie nach Rostock übersiedelte und in der Klasse von Petru Munteanu weiter ausgebildet wurde. Immer mehr entdeckte sie ihre Leidenschaft für die Bratsche und entschloss sich zu einem Aufbaustudium im Fach Viola an der Musikhochschule Mannheim. Schon bald konnte sie große Erfolge an der Bratsche verbuchen und erhielt einen Praktikumsplatz im SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg. Gleichzeitig widmete sie sich intensiv der historisch informierten Aufführungspraxis. Als „historische“ Bratschistin erhielt sie Engagements bei führenden Orchestern der Alten Musik, darunter bei Concerto Köln, beim Balthasar-NeumannEnsemble und beim Collegium Vocale Gent. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis das Freiburger Barockorchester auf das junge Talent aufmerksam wurde und sie zu gemeinsamen Konzerten und Tourneen einlud. Viele Jahre war Corina Golomoz dem Orchester musikalisch und freundschaftlich verbunden. Es war für das Orchester selbstverständlich, dass Corina die vakante Bratschen-Position nach der Pensionierung von Christian Goosses erhalten würde und die Freude über ihre Zusage war groß.

Für die Mitglieder des FBO ist der Oboist Josep Domènech schlicht „Pepo“ und schon das zeigt die tiefe und langjährige Freundschaft, die das Orchester mit Pepo verbindet. Er trat 2020 die Nachfolge von Katharina Arfken an, nachdem er bereits auf eine äußerst erfolgreiche Karriere als Oboist zurückblicken konnte. Seine professionelle Ausbildung erhielt er zunächst in seiner Heimatstadt Barcelona und anschließend in Basel, bevor er in Amsterdam bei Alfredo Bernardini, einem der bedeutendsten Oboisten im Bereich der historisch informierten Aufführungspraxis, studierte. Nachdem Alfredo sich in den Ruhestand verabschiedet hatte, übernahm Pepo seine Klasse. Ferner unterrichtet er an der Musikhochschule in Bremen. Neben seiner umfangreichen und erfolgreichen ­Tätigkeit als Pädagoge ist er wie Corina ein gern gesehener Gast in internationalen Alte-Musik-Ensembles, z. B. bei Il Giardino Armonico, beim Orchestra of the Age of Enlightenment oder dem Orchestre des Champs-Elysées. Mit Pepo und Corina gewinnen wir zwei Ausnahmekünstler für unser Orchester und freuen uns sehr auf viele gemeinsame Konzerte, Projekte und Tourneen. Wir alle wissen, wie sehr sie unser Orchester bereichern.

Neben ihrer Tätigkeit als Musikerin unterrichtet sie als ­Assistentin von Karin Wolf Bratsche an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Mannheim.

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Die Instrumente des Freiburger Barockorchesters Kapitel 2

Die Oboe In der Ausgabe 2019-1 stellten wir unsere neue Rubrik „Die Instrumente des FBO“ mit der Traversflöte vor. In diesem Heft widmen wir uns der Geschichte, der Entwicklung und der Verwendung der Oboe, dem „Sopran“ der Doppelrohrblattinstrumente. Zur Familie der Doppelrohrblattinstrumente zählen die­ jenigen Instrumente, deren Töne durch das Schwingen zweier gegenüberliegender Rohrblätter erzeugt wird. Neben den Oboen zählen hierzu das Fagott sowie historische, heute nur noch im Bereich der historisch informierten Aufführungspraxis gespielte Instrumente wie Schalmeien, Pommern, Rankette und Dulziane. Älteste Spuren von Instrumenten mit Rohrblatt sind in Ägypten zu finden und werden von Archäologen auf ca. 2450 v. Chr. datiert. Allerdings ist davon auszugehen, dass dieser Instrumententypus bereits früher gebräuchlich war, jedoch aufgrund der Fragilität der Rohrblätter nichts davon erhalten blieb. Ab der frühen Babylonischen Zeit (zu Beginn des 2. Jahrtausend v. Chr.) avancierten Doppelrohrblattinstrumente zu den führenden Blasinstrumenten im Orient und erste Bildnachweise existieren seit 1500 v. Chr. In einer thebanischen Grabmalerei ist erstmals das heller gefärbte Mundstück aus Stroh deutlich zu erkennen. Feststellbar ist ebenfalls, dass die Vorläufer der heu­tigen Oboeninstrumente überwiegend für Tanzmusik gebraucht wurden; andere Blasinstrumente dieser Zeit ­wurden für andere Zwecke verwendet: Trompeten/Posaunen

für Kriegs- und Signalmusik, Flöten für kultische Zwecke. Aller Wahrscheinlichkeit nach gelangten Doppelrohrblattinstrumente über die Türkei nach Südwesteuropa und waren auch im antiken Rom und im antiken Griechenland beliebt. Instrumente aus dieser Zeit besitzen dann auch bereits vier Grifflöcher und ein doppelförmiges Ansatzstück (Holmos), das in den Korpus gesteckt werden konnte. Auch die heute noch typische schalltrichterförmige Erweiterung am unteren Ende des Instruments hatte sich bereits damals etabliert. Die Verbreitung der Doppelrohrblattinstrumente bis nach Ostasien und Mittelafrika geschah wohl über die Expansionen des Persischen Reiches. Während es für die folgenden Jahrhunderte kaum Quellen zur Bauweise und Verwendung von Doppelrohrblattinstrumenten gibt, wird im Rahmen der Kreuzzüge die Schalmei als Vorläufer der heutigen Oboe in Mitteleuropa bekannt. Die Diversifizierung von Instrumentenfamilien in der frühen Neuzeit brachte dann mannigfaltige Formen von Doppelrohrblattinstrumenten hervor, die zu Beginn des Artikels bereits erwähnt wurden. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts taucht in englischen und französischen Quellen erstmals der Begriff

„Hautboy“ auf, was hohes (haut) Holz (boy) bedeutet und auf die Sopranlage des Instrumentes hinweist. Allerdings gibt es Belege, dass dieser Begriff in Frankreich auch auf Schalmeien angewandt wurde, wodurch eine genaue Unterscheidung der beiden Instrumente schwierig ist. In den enzyklopädischen Büchern von Michael Praetorius in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts sind noch ausschließlich Schalmeiinstrumente dargestellt, vermutlich konnte sich die Hautboy noch nicht etablieren. Auf einem französischen Wandteppich aus den königlichen Gobelinwerkstätten sind um 1670 erstmals Doppelrohrblattinstrumente dargestellt, die sich nun grundlegend von der Schalmei unterschieden: die Grifflöcher sind weiter unten, das Instrument besteht aus drei Teilen und die Bohrung ist deutlich schlanker als die des Vorgänger­instrumentes. In Frankreich wurde die Hautboy erstmals von Jean-Baptiste Lully ins Orchester eingeführt und trat somit ihren Siegeszug an. Die Beliebtheit der Oboe stieg schlagartig an und bald wurde sie zum festen Bestandteil im französischen Orchesterklang, wo sie überwiegend für dramatische Szenen vor pastoralem Hintergrund oder als klingendes Symbol für den Frieden und somit als Antagonist zur Trompete eingesetzt wurde. Es dauerte nur wenige Jahre, bis sich die Oboe in ganz Europa verbreitete. 1674 spielte eine Oboengruppe aus Frankreich in England und erlangte große Aufmerksamkeit, 1678 hatte sie sich bereits in der Militärmusik auf dem Inselkönigreich etabliert. Zeitgleich entstand in Amsterdam eine Reihe an Oboenwerkstätten, Johann Christoph Denner und Johann Schnell baten 1697 um die Erlaubnis, Oboeninstrumente nach französischem Vorbild in Deutschland zum Verkauf herstellen zu dürfen. Es war der frische, lebendige Klang der Oboe, der Komponisten inspirierte. So lautet ein Textabschnitt in Henry ­Purcells Geburtstagsode für Queen Mary „On the sprightly hautboy play, all the instruments of joy, that skillful numbers can employ, to celebrate the glory of the day.“ („Die muntere Oboe lasst erklingen, sämtliche Freudeninstrumente, die mit Geschick ihr anzuwenden wisst, die Herrlichkeit dieses Tags zu feiern.“). Auch in Italien, entstand eine florierende Oboisten-Zunft, unter denen besonders Ignazio Rion hervorstach. Seine Kunst war europaweit bekannt und Händel verfasste in Rom eine Reihe an Solowerken für ihn. Bei Händel war die Oboe später auch fester Bestandteil in seinen Opern- und Oratorienaufführungen, ganz im Gegensatz zu anderen Blasinstrumenten, die immer nur einzelne Nummern spielten. Dennoch blieb das Instrument stets im Orchesterklang verhaftet, da es traditionell „nur“ eine Klangfarbe zum übrigen Streicherapparat lieferte. In Deutschland gab es eine Reihe begabter Oboisten, darunter Denners Sohn Jacob oder ­Johann Michael Böhm, ein Kollege Telemanns. In die Musikgeschichte ging der Leipziger „Stadtpfeiffer“ Johann Caspar Gleditsch ein. Dessen herausragendes Können dokumentieren die Solonummern in den Kantaten und Oratorien von Bach, die bis heute als die schwersten ihrer Zeit gelten.

Im Barockzeitalter waren diese solistischen Einlagen im Vergleich zum Spiel im Orchester (wie erwähnt) selten. Dies sollte sich jedoch ab ca. 1740 grundlegend ändern. Die Rolle im Orchester erfuhr eine Verschiebung wie bei allen Blas­ instrumenten. Während die Oboen bis dahin meistens die Violinstimme mitgespielt hatten, wurden in der Klassik die Stimmen selbstständiger. Die Violinen erklangen verspielter und erhielten komplexere Figurationen. Diese konnten aufgrund ihrer Bauweise von den Oboen nicht bewältigt werden, weswegen ihnen eine harmonische Funktion zukam; dadurch wurden sie zum festen Bestandteil von Harmoniemusiken. Ab 1770 wurde die Bauweise von Oboen weiterent­wickelt: die Bohrung wurde verengt, ebenso wie die Tonlöcher und die Wandung verdünnt. Hierdurch kam es zu einer Veränderung des Klanges, der besonders in den oberen Registern weicher wurde – Ideal für den aufkommenden „empfindsamen Stil“. Besonders in der Hofkapelle von Kurfürst Carl Theodor in Mannheim wurde das Oboenspiel durch Jacob Alexander Lebrun und dessen Sohn Ludwig August perfektioniert. Somit kam auch Mozart in intensiveren Kontakt mit der Oboe und verfasste (angeregt durch seinen Mannheimaufenthalt) eine Reihe an Werken für Oboe, darunter das Quartett KV 370 und ein bis heute verschollenes Konzert. Dennoch waren es häufig die Oboisten selbst, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Werke für ihr Instrument schufen. Da ihnen die einfache Harmonie-Stimme zu simpel erschien, komponierten sie kurzerhand selbst hochvirtuose Bravourstücke, die seither fest im Repertoire von modernen und historisch-informierten Oboisten verankert sind. Die Oboen im Freiburger Barockorchester spielen: Ann-Kathrin Brüggemann und Josep Domènech.

Ann-Kathrin Brüggemann

Josep Domènech 29 28


Klangspiegel: Die neuen CDs des FBO und des Consorts Ludwig van Beethoven: Missa solemnis Polina Pastirchak, Sopran Sophie Harmsen, Alt Steve Davislim, Tenor Johannes Weisser, Bass Freiburger Barockorchester RIAS Kammerchor Berlin René Jacobs, Leitung harmonia mundi (HMM 902427)

„Die einen besitzen und verinnerlichen ihren Glauben als sicheres, Halt gebendes Gut; andere müssen ihn atemlos erjagen, alle Kräfte aufbietend bei Gefahr existentieller Erschöpfung. Auf dieser Seite stehen René Jacobs, das Freiburger Barockorchester und der Berliner Rias-Kammerchor, wenn sie sich zum Medium des inneren Glaubenskampfes in Ludwig van Beethovens ‚Missa solemnis‘ machen.“ Frankfurter Allgemeine Zeitung

Ludwig van Beethoven: Triple Concerto Isabelle Faust, Violine Jean-Guihen Queyras, Cello Alexander Melnikov, Klavier Freiburger Barockorchester Pablo Heras-Casado, Leitung harmonia mundi (HMM 902419)

„Das Orchester-Intro macht schon überdeutlich: Hier soll mit dem Tripelkonzert ein weiterhin eher dem „schwachen“ Beethoven zugeschlagenes Werk endlich mit enormem Furor rehabilitiert werden. Aus dem berühmten Dunkel ins Grelle geht es denn daher auch radikal akzentuiert und pointiert. So wie man es vom Freiburger Barockorchester gewohnt ist.“ Rondo Magazin

IMPRESSUM Herausgeber: Freiburger Barockorchester GbR

Ludwig van Beethoven: Symphony no. 7 & Die Geschöpfe des Prometheus Freiburger Barockorchester Gottfried von der Goltz, Violine und Leitung harmonia mundi (HMM 902446.47)

Heinrich Ignaz Franz Biber: Requiem Freiburger BarockConsort Vox Luminis Lionel Meunier, Bass und Leitung (Alpha 665)

Redaktion: Martin Bail Lektorat: Uwe Schlottermüller, Gloria Zganjer, Andreas Bräunig Telefon: +49 761 7 05 76-0 Telefax: +49 761 7 05 76-50 info@barockorchester.de www.barockorchester.de Layout und Satz: Herbert P. Löhle | www.triathlondesign.com

„A really persuasive recording by the Freiburger Baroque Orchestra led by Gottfried von der Goltz. (Eine wirklich überzeugende Aufnahme des Freiburger Barockorchesters unter der Leitung von Gottfried von der Goltz.“ BBC

„Das Gesamtbild ist ein sehr nuancierter, feiner, transparenter Klang in wunderbar homogener Abstimmung zwischen dem solistisch hervorragend besetzten Vox Luminis und dem ebenso blendend disponierten Freiburger BarockConsort.“ Pizzicato

Fotos: Britt Schilling (Titelbild, S. 29 rechts); Volker Renner (S. 4 – 5, S. 22 – 25); Martin Bail (S. 7, S. 9 unten rechts); Ben Schilling (S. 8 unten links, S. 9 oben); Annelies van der Vegt (S. 8 oben und unten rechts); Michael Venier (S. 9 unten links); RIAS Kammerchor Berlin (S. 10 – 21); Privat (S. 26 links); Molina Visuals (S. 26 rechts); Foppe Schut (S. 29 links). Druck: schwarz auf weiss, Freiburg, www.sawdruck.de

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Freiburger Barockorchester Ensemblehaus Schützenallee 72 79102 Freiburg Telefon: +49 761 7 05 76-0 Telefax: +49 761 7 05 76-50 info@barockorchester.de www.barockorchester.de


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