Ernst von Siemens Musikpreis 2024
Verleihung des Ernst von Siemens Musikpreises 2024 an
Unsuk Chin
Verleihung der Förderpreise Komposition an
Daniele Ghisi, Bára Gísladóttir und Yiqing Zhu
Verleihung der Förderpreise Ensemble an
Broken Frames Syndicate und Frames Percussion
Herkulessaal der Münchner Residenz
Samstag | 18. Mai 2024 | 19 Uhr
Ernst von Siemens Musikstiftung
Bayerische Akademie der Schönen Künste
Die Preisverleihung wird vom Bayerischen Rundfunk aufgezeichnet und am 18. und 20. Juni 2024 jeweils um 22.05 Uhr auf BR-KLASSIK gesendet.
Programm
Begrüßung
Tabea Zimmermann
Vorsitzende des Stiftungsrates der Ernst von Siemens Musikstiftung
Förderpreise 2024
Daniele Ghisi
Porträtfilm
3 Stücke aus Weltliche (2020) für Klavier und Elektronik
Joseph Houston, Klavier
Bára Gísladóttir
Porträtfilm
RÓL (2023) für Tuba und Elektronik
Jack Adler-McKean, Tuba
Yiqing Zhu
Porträtfilm
The Aether and Nether (2023) für Pipa, Flöte und Elektronik
Liyi Lu, Pipa; Rafał Zolkos, Flöte
Verleihung der Förderpeise Komposition
Thomas Angyan
Vorsitzender des Kuratoriums der Ernst von Siemens Musikstiftung
Gespräch
Thomas Angyan im Gespräch mit Annekatrin Hentschel
Filmclips
Broken Frames Syndicate und Frames Percussion
Verleihung der Förderpreise Ensemble
Thomas Angyan
Ernst von Siemens Musikpreis 2024
Unsuk Chin
Gran Cadenza (2018) für zwei Violinen
Hae-Sun Kang und Diégo Tosi, Violine
Laudatio auf Unsuk Chin
Louwrens Langevoort
Intendant der Kölner Philharmonie
Verleihung des Ernst von Siemens Musikpreises 2024 an Unsuk Chin
Tabea Zimmermann
Unsuk Chin
Doppelkonzert (2002)
Ensemble intercontemporain
Dimitri Vassilakis, Klavier
Samuel Favre, Schlagzeug
Pierre Bleuse, Leitung
Annekatrin Hentschel, Moderation
Zoro Babel, Klangregie
Porträtfilme und Filmclips von Johannes List
Im Anschluss lädt Sie die Ernst von Siemens Musikstiftung zu einem Empfang im Foyer des Herkulessaals ein.
Förderpreise Komposition
Ghisi3 Stücke aus Weltliche (2020)
Blumen nach J.S. Bach Weichet nur, betrübte Schatten (BWV 202)
Schlafe nach J.S. Bach Wieget euch, ihr satten Schafe (BWV 249a)
August nach J.S. Bach Jede Woge meiner Wellen (BWV 206)
für Klavier und Elektronik
Jede Transkription ist eine Verschränkung: Es geht nicht nur um die Etymologie des Wortes, sondern um das tiefe Gefühl, sich synchron mit der Musik von gestern und heute zu verbinden. Aus dem richtigen Blickwinkel steht jeder Komponist hinter der nächsten Ecke.
Die Stücke aus Weltliche sind Verschränkungen von Abschnitten aus fünf verschiedenen weltlichen Bach-Kantaten. Von den Originalen behalten sie einige konkrete Elemente bei (die harmonische Struktur, die melodischen Zellen...), aber sie entfernen sich von ihnen durch Überblendungen, Abbrüche, Explosionen, Kanons – aber vor allem durch die elektronischen Klänge.
Die Elektronik ist der den Blick erweiternde Hebel: Sie verbindet die Abstraktheit einer Sinuswelle mit der Konkretheit von Geplauder in einer Bar; sie entweiht die Heiligkeit von Bach mit der Leichtigkeit eines unbekümmerten Liedes. Die Elektronik wird größtenteils durch Schallwandler gestreut, die das Holz des laviers als Lautsprecher benutzen: Das Klavier selbst, wird so zur Emanation eines anderen Ortes, einer Welt außerhalb der Zeit, wo jede Begegnung möglich ist, wo jede Begegnung „weltlich“ ist.
Weltliche ist weder eine Hommage noch eine Bearbeitung: Es ist ein Körper, der versucht, Bach zu durchschreiten, und dabei leicht und transformiert herauskommt.
Daniele Ghisi

Poetische Räume
von Michael RebhahnEins, eins, zwei, drei, fünf, acht, dreizehn. Nicht erst seit die Fibonacci-Reihe im 20. Jahrhundert zum beliebten Topos zeitgenössischer Kompositionspraxis wurde, liegt die enge Verflechtung von Musik und Mathematik auf der Hand. Mehr noch: Das Phänomen, das wir heute Musik nennen, hat einen seiner Ursprünge in der pythagoräischen Zahlenlehre. Aristoteles nannte die Musik die „Wissenschaft des Hörbaren“ und spätestens seit Boethius zählte sie – neben Arithmetik, Geometrie und Astronomie – zu dem am numerischen Denken orientierten Quadrivium der sieben freien Künste.
Dass also Komponistinnen und Komponisten eine Affinität zur Mathematik haben mögen, ist nichts Außergewöhnliches; dass sie hingegen Mathematiker sind, schon eher. Daniele Ghisi, 1984 bei Bergamo geboren, ist ein solcher. Parallel zu seiner Kompositionsausbildung absolvierte er an der Mailänder Universität ein Masterstudium der Mathematik. In seinen Abschlussarbeiten beschäftigte er sich mit sogenannten „Shearlets“, Darstellungssystemen zur Signal- und Bildverarbeitung und erarbeitete eine Studie über Eigenschaften von Intervallvektoren in der Musical Set Theory – einer Art musikalischer Mengenlehre.
„Die Mathematik“, sagt Daniele Ghisi, „hilft mir beim Komponieren nicht in einer konkret anwendungsbezogenen Form, sondern als eine Art des Denkens.“ Dementsprechend bedeutet Komponieren für ihn immer eine Erforschung von Musik, Klang und Technologie. Dass er von 2008 bis 2011 seine Studien am IRCAM – dem Pariser Institut für Klangrecherche – fortsetzte, ist dabei nur folgerichtig. „Die Verbindung von musikalischer Produktion und Forschung“, so Ghisi, „hat mich sehr interessiert: Forschung über Technologie, immer verbunden mit Forschung
über musikalisches Denken. Am IRCAM begann für mich ein Weg, der dazu führte, viel mehr mit Elektronik zu arbeiten und eine Musik zu entwerfen, in der Instrumente und Elektronik zusammenspielen“.
Fast alle seiner jüngeren Kompositionen hat Ghisi für akustische Klanggeber plus Elektronik entworfen. Nicht selten findet dabei die explizite Hör- und Sichtbarmachung des technischen Settings der Komposition statt. Ghisi betont die Potenziale gegenwärtiger Technologien, verwendet sie als integralen Bestandteil aktueller ästhetischer Praxis und befreit sie damit vom Image der „Beigabe“. „Elektronische Musik“, sagt Ghisi, „hat immer auch mit Präsenz und Performance zu tun“.
Ein weiteres methodisches Moment, das Daniele Ghisis Arbeit grundiert, ist das der Analyse musikalischer Materialien, nicht zuletzt mit Blick auf deren „Tauglichkeit“ in möglichen Rekontextualisierungen. Statt sich der Illusion zu verschreiben, eine neuartige Musik ex nihilo zu schaffen, erforscht er das bereits Vorhandene, spielt mit traditionellen Bedeutungen in neuen Umgebungen, vermischt im besten Sinne respektlos Klänge und Formen, dekonstruiert ihre ursprünglichen Botschaften und setzt sie neu zusammen. Dementsprechend tauchen in seinen Kompositionen immer wieder Allusionen und Zitate aus der Musikgeschichte auf: von Guillaume de Machaut und Johannes Ockeghem über Bach, Chopin und Wagner bis hin zu Gérard Grisey oder Tom Johnson. Insbesondere die Musik von Johann Sebastian Bach hat es Ghisi angetan, wobei sie bei ihm keineswegs als Objekt der ergebenen Hommage erscheint. Im Gegenteil: Ghisi setzt Bach an einen anderen, gegenwärtigen Ort und begegnet dessen Ideen aus der Warte des technologisch versierten „Millennials“.

Neben den Anleihen aus der musikalischen Historie spielen auch Rekurse auf die Literatur in der Arbeit von Daniele Ghisi eine Rolle. Nicht wenige seiner Stücke sind textbasiert oder nehmen zumindest ein literarisches „Objekt“ zum Ausgangspunkt. Auch hier spannt die Wahl der Texte einen weiten Bogen, der von Gustavo Adolfo Bécquer oder Fernando Pessoa bis zu zeitgenössischen Autor*innen wie Bernard-Marie Koltès und Maylis de Kerangal reicht. Ähnlich, wie die elektronischen Klänge und Effekte in Ghisis Musik integral sind, ist auch der Text – oder konkreter: die Sprache – nicht von der musikalischen Gestalt zu trennen. Mit der sprachlichen Sinnstiftung wird ein Narrativ hergestellt, dem die Musik ebenso folgt wie sie es kommentiert. In diesem Sinn „vertont“ Ghisi nicht, sondern erzeugt eine „immersive“ Umgebung, in der sich die semantischen Ebenen überlagern und in eins gesetzt werden: „Sobald Klänge zu Sprache werden, verlieren die Wörter ihren Sinn und werden zu Meta-Wörtern, die wie ein schwacher Schatten eine Spur ihrer früheren Bedeutung tragen“ (Ghisi).

Die Kompositionen von Daniele Ghisi interdisziplinär oder intermedial zu nennen, beschreibt nur eine Äußerlichkeit; letztlich geht es ihm um deutlich mehr als die schiere Kombination. Ghisi prüft mit jedem Stück von neuem die Wechselbeziehung von Form und Wahrnehmung und entwirft poetische Räume, in denen die Vorstellung, dass jede Kunstform ihrer definierten Kategorie bedarf, zu überwinden versucht wird.

Daniele Ghisi wurde 1984 in Italien geboren und studierte Komposition bei Stefano Gervasoni und Mathematik an der Universität Mailand-Bicocca. Zwischen 2008 und 2011 besuchte er den „Cursus de composition et d’informatique musicale“ des IRCAM in Paris. Für ein Jahr ging er als Composer in Residence nach Berlin an die Akademie der Künste (2009 –2010). Von 2011–2012 war er Mitglied der Académie de France à Madrid – Casa de Velázquez und kehrte 2012 ans IRCAM zurück.
Anschließend ging Daniele Ghisi von 2013 bis 2014 als Forschungsassistent an die Haute Ècole de Musique de Genève und wurde dort 2019 künstlerisch-wissenschaftlicher Berater. Seine Zusammenarbeit mit dem Divertimento Ensemble mündete 2015 in seine erste CD (Geografie). Im Jahr 2017 promovierte Ghisi in Komposition und Musikforschung an der Sorbonne und erhielt Lehraufträge für elektroakustische Komposition an den Konservatorien von Genua und Piacenza. 2020 ging er für ein Jahr als wissenschaftlicher Mitarbeiter ans Berkeley Center for New Music and Audio Technologies der University of California. Derzeit unterrichtet er elektroakustische Komposition am Konservatorium von Turin.
Daniele Ghisi arbeitete mit diversen Ensembles und Orchestern zusammen, so u. a. mit dem Ensemble intercontemporain, Ensemble Musikfabrik, Ensemble Modern, Divertimento Ensemble, Orchestra del Teatro La Fenice, Orchestre des Pays de Savoie, FontanaMix Ensemble, Quartetto di Cremona, Orchestra Regionale della Toscana und Ulysses ensemble. Seine Werke wurden u. a. bei Festivals wie ManiFeste, Milano Musica, RSMAD Glasgow Piano Festival, GRAME, MiTo Settembre und Festival Archipel aufgeführt. Neben seiner Arbeit als Komponist ist Daniele Ghisi auch Wissenschaftler. Er beschäftigte sich in seiner Dissertation mit Techniken für computergestützte Komposition und ist an der Entwicklung entsprechender Software beteiligt. So entstanden die Online-Bibliotheken „bach“, „cage“ und „dada“.
Er ist Mitbegründer des Kollektivs /nu/thing. Seine Musik wird von Ricordi verlegt.
danieleghisi.com
Bára Gísladóttir
RÓL (2023) für Tuba und Elektronik
RÓL (og gól (roll and goal)) wurde 2023 für Jack Adler-McKean geschrieben und im selben Jahr bei den Darmstädter Ferienkursen uraufgeführt. Ein Werk für Solo-Tuba und Live-Elektronik, das auf der Idee von Rauch und Metal, Rock und Roll basiert.
Bára Gísladóttir


“Home bass.”von Tim Rutherford-Johnson
Nahaufnahme: Das erste Mal, als Bára Gísladóttir einen Kontrabass in die Hand nahm, war sie bei einem Schüleraustausch in Neuseeland. Sie hatte als Kind Geige gespielt, es einige Jahre zuvor aber wieder aufgegeben, da ihre Leidenschaft für Fußball größer war als die für die Musik. Das Schulorchester brauchte aber jemanden, der Kontrabass spielt, und so wurde Gísladóttir mit ihrer Erfahrung als Streicherin ermutigt, es zu versuchen. Da war es hilfreich, dass die Teenagerin ihr Lampenfieber hinter dem voluminösen Instrument verbergen konnte. Aber was noch wichtiger war: Gísladóttir fühlte sofort eine Verbundenheit mit den langen, dicken Saiten und dem großen Resonanzraum des Instruments. Sie entdeckte, wie kleinste Veränderungen des Fingerdrucks oder der Bogengeschwindigkeit neue, verlockende Klangwelten hervorrufen konnten: an jedem Punkt Millionen neuer Universen. Als sie lernte, diese Welten zu kontrollieren –die feinen Justierungen ihrer Hände, die es ihr ermöglichten, diese Welten nach Belieben zu betreten und zwischen ihnen hin und her zu wechseln – fühlte sich ihr Bass nicht mehr wie ein eigenständiges Objekt an, sondern wie eine Erweiterung ihres eigenen Körpers. Seither hat er sie kaum jemals mehr verlassen.


Als sie einige Jahre später mit dem Komponieren begann – sie studierte an der Iceland Academy of the Arts in Reykjavík, am Conservatorio di Musica „Giuseppe Verdi“ in Mailand und an der Royal Danish Academy of Music in Kopenhagen – behandelte sie Momente gesteigerter Emotionen in ihrer Musik, wie die Saiten ihres Basses: wie winzige Klingen, die in den Lebensfaden hineinschneiden und ihn zum Klingen bringen.
So verwandelte sie in Suzuki Baleno (2016) einen beunruhigten Kinderblick ins Erwachsen-Sein in ein ausgedünntes Wiegenlied. In Music to accompany your sweet splatter dreams (2019) wurde der Nervenkitzel einer rasanten Bergabfahrt auf der Ladefläche eines Pick-Ups zu einem Kaleidoskop aus Schreien und atemloser Stille. Im selbsterklärenden Rage against reply guy (2021) zerschellen die Wogen der Abscheu, mit denen jede Frau online zu kämpfen hat, an einem von Doom-Metal inspiriertem Drone. Durch subtiles Komprimieren und wieder Loslassen errichtet Gísladóttir Wände aus Geräuschen und rohen Klängen –ineinander verschachtelte Erinnerungs- und Wirkungswelten –jede mit dem Potenzial, unsere unmittelbare Wahrnehmung zu überwältigen. „Der Bass ist für mich zu einem Zuhause geworden“, erklärt sie heute. „Und von der Haustür aus kann man alles sehen.“

Porträt. In Kopenhagen, wo sie seit 2015 lebt, pinnt Gísladóttir Bögen von Manuskriptpapier an die Wände ihres Arbeitszimmers. In der Mitte sitzend, will sie ihre Musik nicht aus der Vogelperspektive betrachten, sondern sich mit ihr umgeben, um ganz in ihr aufzugehen. So wie ihre Arme ihren Bass umschlingen, möchte sie, dass sich ihre Musik um sie wickelt; eine Spirale in der Spirale.
Gísladóttirs Musik zu hören, bedeutet, sich in einen sich windenden Organismus zu versetzen und von innen zu beobachten, wie er sich ausbreitet, verzehrt, tanzt und reproduziert. „Die Idee, Klang als etwas Lebendiges zu behandeln, ist mir sehr wichtig“, sagt Gísladóttir in ihrem Arbeitszimmer. „Das Verständnis von Klang als etwas Sterilem, finde ich sehr deprimierend; es ist so wichtig, sich darauf zu besinnen, dass in allem Leben steckt, nicht nur in uns Menschen. In Animals of your pasture (2021) stellt sie sich eine Herde von Tieren vor, die sie aus verschiedenen Kameraperspektiven und in unterschiedlichen Geschwindigkeiten betrachtet. Dennoch ist die Musik viszeral und nicht pastoral: Die Herde rennt, schläft und singt, und ihre Lebendigkeit spiegelt sich im metallischen Knistern von Fingerhüten auf Cembalosaiten, im Heulen und Dröhnen von Holzbläsern und im Chaos von E-Gitarren-Improvisationen wider. Auf ähnliche Weise stellt sich
Gísladóttir in SILVA (2022), einem einstündigen Solo für Bass und Elektronik, das geheime unterirdische Leben der Bäume vor: eine Welt der Techno-Raves und Heavy-Metal-Partys tief im Untergrund. Doch so humorvoll dieses Bild auch sein mag, führen die Schichtungen der elektronischen Prozesse (und die Macht tiefer Frequenzen zu verflüssigen und zu verschlingen) es doch über den Organismus, über das Sein hinaus. Ihr Bass wird, durch seine Resonanzen und seinen Widerhall reflektiert und verzerrt, weniger zum Objekt als zum Hyperobjekt: etwas, das so massiv und diffus ist, dass es nicht mehr direkt wahrgenommen werden kann; wie der Klimawandel oder das Patriarchat.
Weitwinkel. In ihrem Kokon dehnt sich Gísladóttir aus. Im Februar 2020 saß sie in der Mitte der großen und klangvollen Grundtvig-Kirche in Kopenhagen. Der Anlass war ihr Studienabschluss und die Uraufführung ihres Werkes VÍDDIR (2019), zu der sich viele Menschen versammelt hatten. Neben ihr standen die drei Schlagzeuger von NEKO3 und ihr Duopartner, der renommierte Jazzbassist Skúli Sverisson. Um sie herum saß das Publikum in stiller Erwartung, wiederum umgeben von einem Kreis aus neun Flöten: ein silberner Ereignishorizont. Vom Schrei, mit dem das Stück beginnt, bis zum langen Bassflötensolo, mit

dem es endet, durch tiefe Bass-Sümpfe und das kohleartige Glitzern und Glänzen metallischer Perkussion, durchläuft die Musik in VÍDDIR diesen Kreis vom äußeren Rand zur Mitte und zurück, wie Schallwellen über einen riesigen Gong. Über den Rand von Flöten hinaus entzieht sie sich der Kontrolle der Spieler und gibt sich den Wänden der Kirche hin, wo sie sich auflöst und als tieftönendes Grollen und statisches Knistern zurückgeworfen wird. Klangrelikte des Urknalls. Vom Rande des Universums blickt Gísladóttir zurück, um uns zu berühren. Wir sind weit entfernt von unserer Haustür.
Bára Gísladóttir ist eine isländische Komponistin und Kontrabassistin. Sie studierte Komposition an der Iceland Academy of the Arts in Reykjavík, am Conservatorio di Musica „Giuseppe Verdi“ in Mailand und an der Royal Danish Academy of Music in Kopenhagen. Sie ist eine aktive Performerin und spielt regelmäßig ihre eigene Musik, solo oder mit ihrem langjährigen Duo-Partner Skúli Sverrisson. Darüber hinaus ist sie Kontrabassistin des Elja Ensemble. Gelegentlich tritt sie auch als Solistin mit Ensembles und Orchestern auf, zuletzt mit ihrem eigenen Kontrabasskonzert Hringla mit Copenhagen Phil und dem Iceland Symphony Orchestra. In den letzten Jahren hat sich Gísladóttir immer mehr auf interdisziplinäre Produktionen verlegt und arbeitet dabei vor allem mit Ben J. Riepe zusammen.
Ihre Musik wurde von Ensembles und Orchestern aufgeführt wie Athelas Sinfonietta, Collectif Love Music, Copenhagen Phil, Danish National Symphony Orchestra, Danish National Vocal Ensemble, Elektra Ensemble, Ensemble Adapter, Ensemble intercontemporain, Ensemble New Babylon, Ensemble Recherche, Esbjerg Ensemble, hr-Sinfonieorchester, Helsingborg Symphony Orchestra, Iceland Symphony Orchestra, loadbang, Marco Fusi, Mimitabu, NJYD, Nordic Affect, Polish National Radio Symphony Orchestra, Riot Ensemble, Siggi String Quartet, Solistenensemble Kaleidoskop und dem WDR Sinfonieorchester.
Gísladóttirs Stücke wurden für Festivals wie das CPH Jazz Festival, die Dark Music Days, die Darmstädter Ferienkurse, das Festival Musica, das Huddersfield Contemporary Music Festival, das International Rostrum of Composers, das KLANG Festival, MaerzMusik, die Nordic Music Days, das SPOR Festival, das TRANSIT Festival, den Warschauer Herbst und die Wittener Tage für neue Kammermusik ausgewählt.

Sie wurde mit den Talentpreisen der Carl-Nielsen- und AnneMarie-Carl-Nielsen-Stiftung, dem Gladsaxe-Musikpreis, dem Léonie-Sonning-Talentpreis und den Musikpreisen der Reykjavík Grapevine ausgezeichnet. Im Jahr 2021 war sie eine von drei Künstler*innen, die von der Danish Arts Foundation ein Arbeitsstipendium für drei Jahre erhielten.
Gísladóttir hat mehrere Alben veröffentlicht, zuletzt die Orchesterwerke beim dänischen Label Dacapo Records mit dem Iceland Symphony Orchestra. Ihre Werke sind bei Edition-S erschienen. Sie lebt in Kopenhagen.
baragisladottir.com
The Aether and Nether 千嶂九幽 (2023) für Pipa, Flöte und Elektronik
Der chinesische Titel 千嶂九幽 bedeutet „Tausend Gipfel, Myriaden von Abgeschiedenheit“, während der englische Titel The Aether and Nether eine Paarung von Welten suggeriert – die eine steht für höhere, mystische Ebenen, die andere für niedrigere, möglicherweise dunklere Dimensionen. Das Werk ist eine „spirituelle Mischung“ aus ostasiatischer Musik, ägyptischer Musik, Blues, Rock, Techno, Glitch und Popmusik. Der Komponist nutzt diese Kollisionen, um die subjektive Natur der künstlerischen Interpretation und die Schönheit kultureller Missverständnisse auszudrücken. Neben dem kulturellen Aspekt ist das Werk auch technisch von der Fehlerästhetik angezogen, indem es Technologien wie Echtzeit-Audioverarbeitung, Wavetable-Synthesizer und taktile Sensoren verwendet. Die Parameter des gesamten chaotischen Teils werden durch lineare Regressionsalgorithmen in Echtzeit berechnet.
Yiqing ZhuBeständige Unbeständigkeit von Mingyue Li
Das tägliche Bemühen, im Denken zwischen verschiedenen Wissensbereichen hin und her zu pendeln, kommt in Yiqing Zhus Musik genauso zum Ausdruck wie in seinen Notizen, die er in seinen Arbeitspausen anfertigt. Gedichte, Reisetagebücher und Essays stehen beispielhaft für die verschiedenen Kanäle seines sprachlichen Ausdrucks. In den Notizen werden Glossen zu oft typologisch formalisierten Begriffen aus Mathematik, Mikroökonomie und kognitiver Psychologie, die die Entfaltung seines musikalischen Werks in mehreren Serien spiegeln, mit spontanen Bemerkungen zu künstlerischen, philosophischen und sozialen



Gegenwartsfragen verflochten. Der Grundgedanke hinter dieser Praxis? Die Überzeugung, dass eine heuristische Übertragung wissenschaftlicher Konzepte auf musikalisches Wissen hilfreich sein kann bei der Entwicklung neuer Wege, Musik zu imaginieren. Eine Art Neugier, wie weit sich zwei scheinbar nicht vergleichbare Dinge einander annähern können, ist zunehmend zu einer treibenden Kraft in Yiqing Zhus Komponieren geworden.
Während das Interesse an Tontechnologie und KI zunimmt, schwelgt Yiqing Zhu in einem überschäumenden Soundscape: Flüchtige Mikrogesten breiten sich in einem verdichteten Zeitrahmen aus, flitzen, prallen ab und zucken in den größtmöglichen räumlichen und dynamischen Spielräumen. Eine janusköpfige Intensität nimmt Gestalt an. Einerseits ist dies hier hyper-energetische Musik und so konkret, dass Klänge zu greifbaren Objekten werden. Diese Sensibilität strahlt puren Überschwang aus – Beweis für die Befriedigung und Stimulation, die Yiqing Zhu in der Computerkomposition gefunden hat, einem Bereich, von dem er sich jetzt wünscht, dass er ihn schon früher betreten hätte. Andererseits vereinnahmt diese Musik auch durch ihre handwerkliche Raffinesse, die interessanterweise in beinahe anachronistischem Gegensatz zur Welt der Codes steht und Yiqing Zhus Begeisterung in kristalline Filigrangebilde, wasserdichte Strukturen und fein proportionierte Formen hineinwebt. Die eingehende Beschäftigung mit algorithmus-basierter Klangsynthese und Live-Bearbeitung in Stuttgart hat sich als Wendepunkt erwiesen (Yiqing Zhu studierte bei Marco Stroppa). Der digitale Ansatz regte ihn dazu an, Klang, Zeit, Natur und die Endlichkeit menschlicher Wahrnehmung in einem neuen Licht zu sehen, und brachte ihn zu dem besonderen Modus Operandi, sich ständig zwischen zwei Milieus zu bewegen, nämlich dem eines vitalen qualitativen Materialismus und dem der digitalen quantitativen Simulacra, um es in Jean Baudrillards Worten zu formulieren. Ein solches Oszillieren führt schließlich dazu, dass eins der ursprünglichen Milieus ständig mit Mustern des anderen überflutet wird. Die
Idee des Übersetzens und Transkodierens ist zweifellos der Kern digitaler Technologien. Als besonders fruchtbar erwiesen hat sich diese Idee auch in Yiqings Zhu kompositorischem Ansatz, der immer darauf aus ist, Grenzen zu sprengen – Grenzen zwischen dem Künstlichen und dem Natürlichen, dem technologisch Manipulierten und dem körperlich Verwurzelten, zwischen Instrumentalität und Vokalität und zwischen menschlicher Handlungsfähigkeit und einem Netz gemischter Kräfte, die Situationen und Ereignisse beeinflussen.
In dieser Orientierung ist eine Serie elektroakustischer Werke verankert, die Yiqing Zhu in einer Phase komponierte, als er auf der Suche nach einer „von Granulation inspirierten” Ästhetik war. Das Erbe der Granularsynthese, die den Weg ebnete, Klang als unendlich spaltbare und formbare Partikel darzustellen, und das Universum dessen weit öffnete, was Xenakis einmal als „Mikrokomposition“ bezeichnete, floss in Yiqing Zhus klassische Ensemble- und Orchesterwerke ein. Der Kern dieser Musik deutet sich im Titel eines jeden Werks an: verschiedene Flexionen, zusammengehalten durch das chinesische Schriftzeichen „碎”, das so viel wie zertrümmert, zerbrochen, pulverisiert bedeutet. Dieses semantische Bild und das entsprechende Phonem – „sui”, ein inhaltsloser Zischlaut – versinnbildlichen zusammen den Klangarchetypus, der diese Musik definiert: „Geräusch“-Splitter oder -Tröpfchen, Spucken, Spritzen, Streuen. Anomal im Spektrum, explosiv in den Bewegungsabläufen. So wie Pixel immer dichter werden, stellt uns die granulare Verarbeitung mit ihrem quantitativen Realismus-Ansatz vor das Rätsel der Auflösungen von Wahrnehmung. Doch so sehr die Berechnung der Wahrnehmungsdifferenz – die „Kleinheit“ – Yiqing Zhu faszinieren mag, so bleibt doch die biologische Grundlage der Wahrnehmung ein entscheidender Faktor. So erfährt man im Kreislauf und in den Mikromutationen winziger Klangscheibchen eine Art modulierter Differenz, die sich nicht in quantitativen Unterteilungen oder einer Negation von Identität manifestiert, sondern in qualitativen
Ähnlichkeiten, die einer Nicht-Identität nahekommen. Erfrischend wirkt ein auf diese Weise gesättigter Minimalismus sowie eine Intermittenz, die sich unablässig verjüngt. In Le ciel écrasé 碎穹 (2018) wird der rastlose Fluss von Klangscherben behutsam durch Bojen gesteuert, die gewissermaßen als kognitive „Brücken“ dienen: ein kurzes, krampfhaftes, morsecodeähnliches Ostinato zum Beispiel oder Verdopplungen einer Oktave in Clustern, deren Reinheit und Einfachheit denen eines Sinustons ähneln.
Ein beiderseitiges Werden ist hier ein zentrales Gestaltungsmittel. Während die grobkörnigen und federnden Klänge des Tenorsaxophons in L’oeil brisé 碎瞳 (2017) die durchbrochenen Klänge der Elektronik widerspiegeln, ist auch ein „InstrumentalWerden“ der Elektronik im Gange: synthetische Cut-Ups, in Notenschrift festgehalten, als wären sie Perkussion ohne Tonhöhe, füllen leere Risse und bilden eine mikrokontrapunktische Linie zum Soloinstrument. Wenn, wie im Fall von Le visage déchiré 碎脸 (2017), dieses duale Werden bearbeitete und nicht bearbeitete menschliche Stimmen einbezieht, stellt sich etwas Beunruhigendes ein: Andeutungen von stimmlicher Wärme und das Haspeln zerbrochener Silben rücken eine zutiefst polemische Stimme






in den Vordergrund. Ob es sich hier um ein schäumendes Subjekt am Rande des völligen Zusammenbruchs handelt oder eher um einen „Geist in der Maschine“, bleibt rätselhaft bis zum Epilog, in dem ein Cyborg-Sopran, der nun ins Rampenlicht gerückt wird, eine unbeschwerte, aber energische Schlusskadenz singt.
Vanishing Chant (2019) bringt dies auf die nächste Ebene. Sechs Stimmen agieren als allmächtiger menschlicher Synthesizer –eine kompromisslose Simulation (stimmlich) der Simulation (digital). Zur Menschlichkeit des Stücks trägt ein Text aus einem Krimi von Agatha Christie bei, den Yiqing Zhu möglicherweise gewählt hat, um mithilfe der außergewöhnlichen stimmlichen Plastizität und Theatralik ein Markenzeichen von Christie wieder aufleben zu lassen: In einem Spiel mit dem Schein ist nichts ganz so, wie es zu sein scheint.
Während Verwandlung und Rückverwandlung zwischen den Medien Yiqing Zhus Inspiration auch weiterhin vorantreiben, reift zunehmend eine kulturelle Sensibilität heran. Die Jahre, als Yiqing Zhu an der Musikhochschule Shanghai Komposition studierte, bekunden eine ästhetische Realität, in der standardisierte Idiome, die auf historischen Modellen der europäischen




Neuen Musik beruhen, mit zwei weiteren Tendenzen einhergingen: Widerstand gegen einen abgehobenen Akademismus und das neu empfundene Bedürfnis, eine chinesische kulturelle Identität zu artikulieren. Yiqing Zhus Pluralismus zeichnete sich schon in seinen frühesten Werken ab und beinhaltet sowohl die Akzeptanz als auch die Negation einer solchen Realität. The Silence of Borobudur (2014) mäandert durch ein Labyrinth, in dem sich musikalische Altertümer aus Japan, Indonesien und China miteinander mischen. Das Stück nahm eine fortlaufende Serie („Chinese Poetry“) vorweg, die sich mit dem chinesischen und ostasiatischen Erbe des Komponisten auseinandersetzt und dabei die stilistischen Klischees vermeidet, die so oft mit einer essentialistischen Sichtweise kultureller Identität verbunden sind. So gesehen lassen sich wohl auch die raffinierte polyphone Technik und die Inhalte der Formenlehre für Yiqing Zhus kulturelle Selbstverortung betrachten. Diese kommen deutlich zur Geltung in DeepGrey (2020) für Orchester, Gewinner des Ersten Preises des Basler Kompositionswettbewerbs, sowie in einer Reihe weiterer Werke, die die barocke Suite neu interpretieren, darunter Partita (2019), eine Serie von fünf virtuosen Concertini. In letzter Zeit sickerte eine ständig zunehmende Vielfalt von Einflüssen in seine Musik ein, darunter Metal, Techno und Glitch. Diese Elemente scheinen sich jedoch weder zu konsolidieren, noch scheinen sie sich gegenseitig die Vormachtstellung streitig zu machen. Dies zeigt sich bei DeepBlue (2020) und DeepVoid (2022). Ersteres, ein Capriccio für großes Ensemble und Elektronik, ist gekennzeichnet durch ein poröses Milieu, in dem Jazzfetzen, elektronisches Pochen, Knistern, Fiepen und Alltagsgeräusche wie Herzschlag und Radiosprache frei ein- und ausgehen, während sie sich gegenseitig filtern und formen. In letzterem durchziehen atmosphärische Anspielungen auf Gamelan und alte volkstümliche Gesänge ein durch und durch westliches und kanonisches Genre – das Streich-
quartett. Die chamäleonartige Anpassungsfähigkeit hinter einer derartig kapriziösen musikalischen Assemblage, die ständig „auf dem Weg zur Deterritorialisierung“ ist, um mit Deleuze zu sprechen, geht eher auf einen ausgeprägten Hang zu Fluidität und Wandel zurück als auf Yiqing Zhus tatsächlicher transkontinentaler oder interkultureller Erfahrung.
Es überrascht nicht, dass das vorangestellte „Deep“ in Yiqings Arbeitstiteln auf das zurückgeht, was dem Aufstieg des Deep Learning vorausging: Deep Blue, der ersten Schachroboter, der einen menschlichen Experten schlug. Yiqing Zhu sieht darin ein Zeichen der Kreativität, die ihn ins Unbekannte und Unvorhersehbare führen würde. In diesem Sinn verweist er auch auf die Idee der Faltung, womit ursprünglich eine mathematische Operation bezeichnet wird, die eine Funktion mit einer anderen koppelt. Bei der digitalen Bildverarbeitung entsteht durch Faltung beispielsweise eine Informationsvermengung, die das rein Numerische in etwas „Wahrnehmbares“ verwandelt. Und genau diese Schwellen überschreitende Transformation macht hier den Reiz aus. Yiqing Zhus jüngstes Experimentieren bezieht Berührungsund Bewegungssensoren sowie die Visualisierung akustischer Daten/Messwerte ein. Das Gestalten, Verformen und Schmelzen von Klängen wird somit in der sensorischen und physischen Dimension noch realer (oder surrealer). Und was folgt dann? Wir wissen es noch nicht. Sicher ist jedoch, dass hier ein wagemutiger, vorbehaltloser und zärtlicher Geist am Werk ist. Um zu unserem Ausgangspunkt zurückzukommen, an dem wir begonnen haben, nämlich Yiqing Zhu als leidenschaftlichen Autor zu betrachten: Wie die Reisetagebücher bezeugen, hat er sich auf seinen Streifzügen durch die verschiedenen Ecken Europas nie zurückgehalten zu staunen, Sympathie und Rührung zu empfinden, sich zu verausgaben und vor allem seine Fühler in unbekannte Richtungen auszustrecken.
Yiqing Zhu (*1989) ist ein chinesischer Komponist und Pianist. Schon als Kind erlernte er eine Reihe von Instrumenten, darunter Klavier, Akkordeon und Geige. 2008 begann er sein Studium der Komposition am Shanghai Conservatory of Music. Im Rahmen des Erasmus-Programms setzte er seine Studien an der Königlich Dänischen Musikakademie fort. Anschließend ging er an die Staatliche Hochschule für Musik und Darstellende Kunst nach Stuttgart, wo er 2019 sein Studium abschloss. Zu seinen Lehrern zählen Huang Lv, Niels Rosing-Schow und Marco Stroppa. Derzeit ist Zhu Lehrer für Komposition am Shanghai Conservatory of Music.
Yiqing Zhu beschäftigt sich nicht nur mit der zeitgenössischen Musik. Er setzt sich auch mit traditioneller östlicher Musik, elektronischer Musik, Jazz, Weltmusik sowie populärer Musik auseinander. In seinen Werken strebt er danach, die Grenzen zwischen dem Künstlichen und dem Natürlichen, dem technologisch Manipulierten und dem körperlich Verwurzelten, der Instrumentalität und der Vokalität zu durchbrechen.
Er arbeitet international mit Ensembles und Orchestern zusammen wie dem Ensemble intercontemporain, Ensemble Musikfabrik, Klangforum Wien, Neue Vocalsolisten Stuttgart, Moskauer Ensemble für zeitgenössische Musik, Mivos Quartett, Quatour Diotima, Ensemble Cikada, Ensemble Soundstreams, Ensemble Suono Giallo, Han String Quartet, Ensemble Novel, Copenhagen Piano Quartet, China-Asean Contemporary Orchestra, Shanghai Symphony Orchestra, Shanghai Philharmonic Orchestra und dem Singapore Chinese Orchestra.

Seine Werke werden bei verschiedenen Musikfestivals aufgeführt, wie z. B. bei Manifeste, ilSuono Contemporary Music Week, Lucerne Festival, Shanghai New Music Week, Festival Archipel, Dyce Project und dem Impuls Festival.
Für sein Orchesterwerk DeepGrey gewann Yiqing Zhu den ersten Preis des Basler Kompositionswettbewerbs 2021. Er ist auch der Gewinner des Impuls-Wettbewerbs (Graz) 2019, des Dyce Wettbewerb (Mailand) 2019 und Gewinner des 3. Preises des Singapore Chinese Orchestra Wettbewerbs 2011
Förderpreise Ensemble
Broken Frames Syndicate
„Wir brennen für zeitgenössische Musik. Mit kritischem Blick und offenen Ohren formen wir Klänge, beziehen Stellung und widmen uns gesellschaftsrelevanten Themen.“
Das Broken Frames Syndicate spielt zeitgenössische Musik und bringt ganzheitliche Konzerterlebnisse auf die Bühne. Zu zehnt wollen sie Alternativen zum Gewohnten aufzeigen und stehen ein für die kritische Auseinandersetzung mit gesellschaftsrelevanten Themen.
Sie präsentieren aktuelle Positionen junger Musik und Kunst und bieten zeitgenössische Interpretationen von Schlüsselwerken der neueren Musikgeschichte. Oft bieten ihre Produktionen einen multidisziplinären Blick auf außermusikalische Themen. Besonders gerne arbeiten sie mit jungen Komponist*innen zusammen, wobei ihr Fokus auf der Diversifizierung von Programmen sowie des klassischen Konzertbetriebs liegt. Wichtig ist ihnen dabei die konzeptionelle Durchdringung ihrer Programme. Sie nutzen Musik, um Geschichten zu erzählen, zum Diskurs anzuregen, um die Ecke zu denken und um zu neuen Überzeugungen beizutragen.
Ihnen liegt besonders viel daran, eigene experimentelle Formate zu entwickeln, um diese selbstgewählten Themen sowie ihre eigenen Werte transportieren zu können.

Bei der Entwicklung ihrer Formate macht sich das Ensemble frei von veralteten Strukturen und Ritualen des Musikbetriebs. Da der Klassikbetrieb allzu oft sehr museal erscheint, wollen sie das „Konzert“ neu denken. Besonders durch den inhaltlich-konzeptionellen Diskurs sowie mit Liebe zu kreativen Details wollen sie als Musiker*innen Haltung zeigen und gleichzeitig Musikerlebnisse auf höchstem Niveau schaffen.
brokenframessyndicate.com
Mitglieder
Lola Rubio, Violine
William Overcash, Violine
Laura Hovestadt, Viola
Nathan Watts, Violoncello
Katrin Szamatulski, Flöte
Moritz Schneidewendt, Klarinette
Peng-Hui Wang, Fagott
Vitaliy Kyianytsia, Klavier
Yu-Ling Chiu, Percussion
Lautaro Mura Fuentealba, Dirigent
„Teil des BFS zu sein, ist eine höchst inspirierende Erfahrung. Es ist schwer zu beschreiben, was es bedeutet, dass diese kleine Familie nach der Ensemble Modern Akademie zusammenhält und sich dank der unermüdlichen Kreativität einiger Leute zu diesem ständig wachsenden, jungen, professionellen Ensemble entwickelt... ohne den Funken zu verlieren, der uns überhaupt erst dazu gebracht hat, dies zu tun. Irgendwie magisch .“
Lola Rubio, Violine

„Mit dem EvS Ensemblepreis ausgezeichnet zu werden, empfinde ich als eine große Ehre und gleichzeitig als eine Bestätigung unserer vergangenen Arbeit. Dass auch außerhalb unserer Gruppe Menschen an uns glauben, macht mir Mut. Dadurch haben wir nun die Möglichkeit erhalten, noch weiter an uns zu arbeiten und zu wachsen. Während der letzten Jahre ist das Syndicate zu meiner Familie geworden. Ich bin wahnsinnig dankbar, dass ich mit so unglaublich tollen Musiker*innen spielen darf, und ich freue mich riesig, dass wir dank des Preises den nächsten Schritt gehen können.“
Katrin Szamatulski, Flöte / Künstlerisches Leitungsteam
Frames Percussion
Frames Percussion aus Barcelona besticht durch seine außergewöhnliche Besetzung. Acht Percussionist*innen und ein Klangregisseur haben sich 2014 zu einem Ensemble zusammengeschlossen. Seither arbeiten die Ensemblemusiker*innen eng mit Komponist*innen zusammen und erweitern das Repertoire für zeitgenössisches Percussion-Ensemble. Darüber hinaus zeichnet das Ensemble für die Gestaltung und Interpretation von Musiktheaterwerken verantwortlich.
Das Repertoire des Ensembles umfasst neben stilbildenden Standardwerken aus dem Repertoire für Schlagzeugensembles auch Uraufführungen von bekannten Komponist*innen wie Meriel Price, Yukiko Watanabe, Cathy van Eck, Ruud Roelofsen, Montserrat Lladó, Manuel Rodríguez-Valenzuela, Pablo Carrascosa, Luis Codera Puzo, Núria Giménez-Comas, Sirah Martínez, Alberto Bernal und Helena Cánovas. Frames Percussion ist es ein Anliegen, mit vielversprechenden jungen Komponist*innen zusammenzuarbeiten und ihnen so eine Bühne für ihre Werke zu geben. Seit seiner Gründung hat sich das Ensemble schnell zu einer der aktivsten Gruppen für Neue Musik in Südeuropa entwickelt und gibt jede Saison über 25 Konzerte.

Regelmäßig gastieren die Musiker mit ihren Programmen im L’Auditori in Barcelona. Frames Percussion spielt auf Festivals und in Veranstaltungsorten in ganz Spanien und Europa, darunter das Mixtur Festival, Fundación Juan March, VANG Madrid, Festival Riverrun of Albi, Festival GREC, CNDM und andere. Die Gruppe spielte eine entscheidende Rolle bei der Gründung der Konzertreihe Difraccions (früher bekannt als OUT-SIDE). 2022 veröffentlichten Frames Percussion ihr Debütalbum mit der Aufnahme von David Langs The so-called laws of nature beim Label Neu Records und ihre erste EP mit Silenced von Elena Rykova beim Phonos Netlabel.
framespercussion.com
Mitglieder
Miquel Vich Vila, Percussion, Künstlerische Leitung
Ruben Orio, Percussion, Produktion und Künstlerische Assistenz
Feliu Ribera Riera, Percussion
Ferran Carceller Amorós, Percussion
Sabela Castro Rodríguez, Percussion
Daniel Munarriz Senosiain, Percussion
Javier Delgado Pérez, Percussion
Núria Carbó Vives, Percussion
Itziar Viloria Céspedes, Live-Elektronik

„Wir freuen uns, dass Frames Percussion von der Ernst von Siemens Musikstiftung ausgezeichnet wurde. Wir sind sehr dankbar für die Anerkennung all der Arbeit, die wir im Laufe der Jahre geleistet haben. Denn all die Anstrengungen, die wir unternehmen, um in der spanischen Musikszene präsent zu sein, entspringen der Liebe zur Kunst und dem Glauben an ihre Kraft zur sozialen Transformation.“
Ruben Orio, Schlagzeuger
„Für jemanden, der Frames Percussion seit seinen Anfängen hat wachsen sehen, ist es faszinierend, wie sich das Projekt im Laufe seiner unaufhaltsamen professionellen Entwicklung nicht entpersönlicht hat, sondern eher menschlicher geworden ist, mit exquisiter Aufmerksamkeit für ethische Arbeitsbeziehungen und einem sorgsamen Umgang mit jeder Musik, Musiker*in, Mitarbeiter*in und Zuhörer*in.“
Luis Codera Puzo, Komponist und Kulturmanager
„Frames Percussion würdigt die neue Musik: interpretatorische Strenge, tadellose Technik, künstlerische Vision und vor allem eine Menge Neugier!“
Santi Barguñó




Unsuk Chin
Gran Cadenza (2018) für zwei Violinen

von Maris Gothoni
Gran Cadenza, von Anne-Sophie Mutter in Auftrag gegeben, ist ein virtuoses Duo für zwei Violinen. Der Titel spielt an auf die Tradition virtuoser Solopassagen im Verlauf einer Arie, eines Instrumentalkonzerts oder eines Kammermusikstückes, die entweder vom Solisten improvisiert wurden oder bereits vom Komponisten ausgeschrieben worden waren, und die in der Regel mit ornamentalen, rhapsodischen und rhythmisch freien Elementen aufwarteten. Kadenzen standen ursprünglich in engem Zusammenhang mit einer Interpretationskultur, die starke Elemente von Improvisation aufwies und gegenüber freier Umgestaltung oft tolerant gesinnt war, einer Tradition, die von den neuen Idealen der Werktreue und des Copyrights im 19. und spätestens im 20. Jahrhundert verdrängt wurde.
Gran Cadenza ist ein in sich abgeschlossenes, ausnotiertes Werk, und auch deutlich länger als die Solokadenz eines Instrumentalkonzerts. Dennoch reflektiert es Elemente freier traditioneller musikalischer Formen wie die einer Kadenz, eines Capriccio oder einer Fantasie. Der Bezug auf die Kadenz wird auch deutlich durch die Zurschaustellung virtuoser Fähigkeiten zweier Solist*innen, welche ganz im Sinne des lateinischen „concertare“ auf Wettkampf und Disput aber auch auf Ausgleich und Zusammenwirken hinweist. Gran Cadenza kostet verschiedenste Arten der Interaktion – Konflikt, Dialog und Verschmelzung – aus; seine Form entsteht fließend durch Kontraste und verschiedenartige Übergänge zwischen diesen verschiedenen Zuständen.
Eröffnet wird das Stück von markanten und schroffen Gesten der zweiten Geige, denen – im völligen Kontrast – gleichsam improvisatorisch wirkende, ätherisch-ornamentale Figuren der ersten Geige zugesellt werden. Nach einer Weile „greift“ unversehens die erste Geige die zweite an, und kommt es zu virtuosen musikalischen Gefechten und Schlagabtauschen verschiedener Art, wobei alle möglichen kadenzartigen Floskeln als Fragment aufblitzen.
Schließlich kommen die beiden Solist*innen zusammen, mit Folgen abwärtsgerichteter Akkorde; die ganze Bewegungsenergie kommt quasi zum Stillstand und mündet in klanglich verfremdeten dreiklangartigen Harmonien, die von den beiden Geigen abwechselnd und miteinander konkurrierend dargeboten werden. Es folgt eine plötzliche Aufballung von Energie, samt ornamentaler Einwürfe, in der kurze Fragmente, als Nachhall früherer Motive oder als Vorwegnahme späterer Entwicklungen, auftauchen. Über ein jähes Crescendo kommt es anschließend zu einem kontrastierenden mittleren Abschnitt, einer längeren Passage absichtslosen Innehaltens, in der die beiden Geigen zu einem „Superinstrument“ verschmelzen. Die zweite Geige bietet eine Melodie dar, die von der ersten harmonisch durch Obertöne umspielt wird; allmählich verflüssigt sich das Tempo und spielen beide Geigen zwei verschiedene sich ergänzende melodische Linien.

Immer wieder wird der Ablauf durch Reminiszenzen an den Anfang, an markante Akkorde wie auch an improvisatorischvirtuose Fragmente, unterbrochen; schließlich münden beide Linien in eine rasche und dichte Bewegung in der mittleren Lage, die einer Art Klangteppich gleicht. Dieses Gewebe, wenn auch unterbrochen durch jäh aufblitzende Fragmente, breitet sich unaufhaltsam in verschiedenen Lagen auf und in immer virtuoseren Formen, bis es abrupt von Pizzicati unterbrochen wird und die gesamte Bewegung unvermittelt zum Stillstand kommt.

Skizze zu Doppelkonzert (2002)
Unsuk Chin
Doppelkonzert (2002)
Dieses Doppelkonzert für Klavier, Schlagzeug und Ensemble ist mein drittes Auftragswerk für das Ensemble intercontemporain. Die Idee dazu kam mir nach den Erfahrungen mit meinen früheren Werken, in denen ich Klavier und Schlagzeug einsetzte: die Etudes für Klavier, die beiden Konzerte (für Klavier, für Violine), Fantaisie mécanique, Allegro ma non troppo. In diesem neuen Stück versuche ich, die beiden Instrumentalteile (Solisten und Ensemble) in völliger Homogenität zu verschmelzen, so dass ein einziger, neuer Klangkörper entsteht. Das Klavier wird mit kleinen Metallklötzen „präpariert“, die einen leicht gedämpften, metallischen Klang in den mittleren Lagen und einen perkussiven Klang in den tiefen Lagen erzeugen. Der Klang der präparierten Saiten erzeugt einen Kontrast zum Klang der unpräparierten Saiten. Das aus 19 Musikern bestehende Ensemble stellt gewissermaßen den Schatten der solistischen Partien dar. Diese senden ihnen Impulse, um die „Keime“ des Materials zu entwickeln.
Diese Impulse können aber ebenso gut jedes der 19 Instrumente dazu anregen, seine eigene Geschichte zu erzählen. Das Ensemble wird durch ein Schlagwerk verstärkt, das den Soloparts durch ganz besondere Effekte eine zusätzliche Färbung verleiht. So entsteht eine Klangwelt, deren Bezugspunkte sowohl in der westlichen als auch in der außereuropäischen Musik zu finden sind. Davon ausgehend versuche ich, eine Musik mit einer sehr bunten Gangart und Ausdrucksweise zu schreiben, die frei und beweglich ist und deren Verlauf manchmal völlig unvorhersehbar ist.
Unsuk Chin
Down the Rabbit Hole
Die Musik Unsuk Chins: Transkulturelles KlangKaleidoskop und orchestrale Illusionsmaschine von Dirk Wieschollek
Kaum eine Besprechung der Musik Unsuk Chins, die nicht gleich in den ersten Zeilen eine ihrer eindrucksvollsten Qualitäten in den Vordergrund rückt: die unmittelbare Sinnlichkeit und Farbintensität der klanglichen Wirkung: Es glitzert und funkelt, leuchtet und irrlichtert in Transformationen und Metamorphosen vielstimmiger Instrumental-Gewebe, die immer wieder verblüffende Klang-Konstellationen hervorbringen. Das allein nötigt nach 300 Jahren Orchestergeschichte Bewunderung ab. Dasjenige aber, was Unsuk Chins Kompositionen so besonders macht, lässt sich nicht auf schillernde Oberflächen und Verführungen der Instrumentationskunst herunterbrechen. Es hat mit der Vielschichtigkeit und Mehrdimensionalität ihrer Mittel zu tun: ihren Doppelbödigkeiten und imaginären Potentialen im Wechselspiel von Konstruktion und expressiver Dynamik, von Objekthaftigkeit und Bewegung, von offensichtlicher Schönheit und verborgener Abgründigkeit. Erst recht, weil in Chins Klangdenken Farbe und Struktur zwei Seiten einer kompositorischen Medaille sind. Es ist unüberhörbar, dass das Medium, in dem sich die Komponistin am liebsten und wirkungsvollsten bewegt, der große Orchesterapparat ist. Unbeeindruckt von der zwischenzeitlichen Neigung der Neuen Musik zum Fragment, entlockt Chin dem Orchester seit Jahrzehnten eine Energie und einen Klangreichtum, wie es momentan nur wenige Komponist*innen vermögen. Es ist eine große Qualität ihrer Musik, dass sie sich von ästhetischen Trends und kommerziellen Oberflächen gleichermaßen fernhalten konnte. In Unsuk Chins Rede zur Verleihung des Arnold-Schönberg-Preises 2005 in Wien finden wir eine ihrer wesentlichen künstlerischen Prämissen formuliert: dass „Komplexität und Kommunikation keine inkommensurablen Größen sein müssen.“
„Begin at the beginning,” the King said, very gravely, „and go on till you come to the end: then stop.”
— Lewis Carroll, Alice in WonderlandSeit über 30 Jahren wahrt Unsuk Chin eine merkliche Distanz zum Musikbetrieb und seinen Institutionen. Die Gründe dafür sind auch in ihrer Arbeitsweise zu suchen. Chin ist keine Vielschreiberin, sondern nimmt sich Zeit, arbeitet gewissenhaft am kleinsten Klangzusammenhang, um ihre Imaginationen möglichst genau auf eine sinnlich erfahrbare Ebene zu bringen. Das steht den Anforderungen zahlreicher Aufträge im alljährlichen Festivalkarussell spürbar entgegen. Chins internationalem Erfolg hat das keinen Abbruch getan, der nicht in Deutschland, sondern in England und Frankreich seinen Durchbruch erlebte und eng mit den Dirigenten George Benjamin und Kent Nagano verknüpft ist. Als die frisch gebackene Absolventin der Seoul National University 1985 mit einem DAAD-Stipendium und dem unbedingten Willen, die zeitgenössische Musik Europas kennenzulernen, aus Südkorea nach Hamburg kam, war an Erfolg noch lange nicht zu denken. Drei Jahre war Unsuk Chin Teil der Kompositionsklasse György Ligetis, ein rückblickend so traumatisches wie wegweisendes Erlebnis für die unerfahrene Komponistin, die mit dem postseriellen Handwerkszeug ihres koreanischen Lehrers Sukhi Kang nach Deutschland kam: „Ligeti stürzte mich in eine schöpferische und existenzielle Krise, weil er mir zu verstehen gab, dass ich mich aus den Traditionen der Zweiten Wiener Schule, des Serialismus und des Postserialismus befreien müsse, wenn ich zu mir selbst kommen wolle. Wichtig für mich wurde daher nicht nur das Studium der ‚westlichen‘ Moderne, sondern auch das der traditionellen Musik verschiedener Kulturen. Wichtig wurden mir der Gedanke über das Wesen und das ‚Innere‘ des Klangs und die Suche nach einer organischen Entwicklung von Form aus den natürlichen Gegebenheiten der klanglichen Materie.“
Diese Suche nach den Grundbedingungen des Klingenden führte Unsuk Chin nach einer mehrjährigen Schaffenskrise zunächst ins Elektronische Studio der TU Berlin. Anfang der 1990 er-Jahre erkundete Chin dort intensiv die Möglichkeiten elektronischer Musik. Zunächst experimentierte sie mit reinen Tonbandstücken, Grundlage waren jedoch immer instrumentale oder konkrete, nie rein synthetische Klänge: Gradus ad infinitum (1989) war inspiriert von Conlon Nancarrows Stücken für Selbstspielklaviere und schickte sich an, dessen menschenunmögliche Polyphonie in der achtstimmigen Überlagerung verschiedener Temposchichten noch zu übersteigern; in Allegro ma non troppo (1993/94) bildeten zuvor aufgenommene Perkussions- und Realklänge die Basis für elektronische Transformationen, die auf fließende Übergänge der Klangfarben aus waren. 1998 ist Xi für Ensemble der vorläufige Höhepunkt einer Reihe von Werken, die eine Amalgamierung elektronischer und instrumentaler Klangwelten im Sinn hatten. Auch wenn die elektronische Musik im Werk Chins insgesamt nur eine untergeordnete Rolle spielt, waren die anfänglichen Erfahrungen im elektronischen Studio (ähnlich wie bei Ligeti Mitte der 1950 er-Jahre) von nicht zu unterschätzender Bedeutung für die Entwicklung differenziertester Klangwirkungen im vielstimmigen Instrumentalapparat. Sie waren wichtig für ein tiefenperspektivisches Verständnis des Klangraumes, der von einem Denken in Schichten und mehrdimensionalen Vernetzungen bestimmt ist. Auch klangfarblich spiegeln sich diese Erfahrungen in Klangphysiognomien wieder, die auch im rein instrumentalen Zusammenhang eine verblüffende Nähe zur elektroakustischen Musik zeigen können. Rückblickend stellen die 1990 er-Jahre das experimentelle Jahrzehnt in Unsuk Chins Komponieren dar, wo die Komponistin technisch, strukturell und ästhetisch in ganz unterschiedlichen Settings unterwegs war: Tonbandstücke und elektroakustische Mischformen stehen neben Vokalkompositionen, Kammermusikwerken mit improvisatorischen (Fantaisie mécanique für fünf Instrumentalisten, 1994) und szenisch performativen Elementen (Allegro ma non troppo für Schlagzeug und Zuspielband, 1993/94; 1998), dann plötzlich Klavieretüden (ab 1995) und ein Klavierkonzert (1996/97). Bewältigung des Ligeti-Traumas?
Bei einer Komponistin, die in den 1980 er-Jahren aus Korea nach Deutschland kam, liegt die Frage nahe, welche Rolle die Herkunft bei der künstlerischen Identitätsfindung gespielt hat. Sie hat im Falle Unsuk Chins erstaunlicherweise nur eine untergeordnete Rolle gespielt. Unsuk Chin hat es nie darauf angelegt, Klangvorstellungen asiatischer Musiktraditionen in ihr Komponieren zu integrieren: „Ich verstehe mich nicht als koreanische Komponistin, sondern als Komponistin, die Teil einer internationalen Musikkultur ist (...)“.1 Um darüber hinaus dem Eindruck musikalischer Exotismen vorzubeugen, hat Chin auch asiatisches Instrumentarium weitestgehend gemieden. Gewichtige Ausnahme: Šu (2009), ein Konzert für Sheng und Orchester. Doch auch hier wird die chinesische Mundorgel nicht zur Herstellung einer Aura des Asiatischen genutzt, sondern auf ihre ganz besonderen klangphysiologischen Kapazitäten hin abgeklopft.
Ungeachtet Chins Distanzierung von einer vermeintlich koreanischen Klangsprache existieren naturgemäß vielfältige Bezüge zu musikalischen Traditionen Asiens in ihrem Werk. Sie werden jedoch – wie alle anderen kulturellen Bezugspunkte – eher als Allusionen und Illusionen wirksam und nicht unter der Prämisse der Synthese. Auch in der Komposition mit der offensichtlichsten Nähe zu koreanischer Musik, die in sechs suggestiven Episoden auf musikalische Kindheitserinnerungen der Komponistin zurückgeht, erscheint die Bezugnahme nur scheinbar original. Gougalon (2009/12) beschwört die Darbietungen fahrender Amateur-Theater ihrer Heimat herauf mit einer betont schrägen Instrumentation und einem sehr erzählfreudigen Schlagzeugapparat. Dennoch ist Chins Ensemblekomposition (trotz narrativer Satztitel) kein Versuch authentisches Material mit europäischen Techniken zu verschmelzen: „Gougalon bezieht sich nicht direkt auf die dilettantische und schäbige Musik des Straßentheaters. (...) In diesem Stück geht es um eine ‚imaginäre Volksmusik‘, die stilisiert, in sich gebrochen und nur scheinbar primitiv ist.“ Chins Äußerungen über den Charakter von Gougalon können als beispielhaft für ihre Ästhetik betrachtet werden: Die Materialen ihrer Musik sind nicht ge-funden, sondern er-funden, nicht „authentisch“, sondern imaginär.
1 Zit. n. Hanno Ehrler: Ordnung, Chaos und Computer. Betrachtungen zur Musik Unsuk Chins, in: Stefan Drees (Hg.), Im Spiegel der Zeit – Die Komponistin Unsuk Chin, Mainz 2011, S. 32.
Bei aller Faszination, die der Klangreichtum von Chins Instrumentalkompositionen hervorruft, ließe sich leicht übersehen, dass ihr Schaffen ein bedeutendes Vokalwerk beinhaltet. Ja, Chins internationale Karriere begann mit der Uraufführung einer Vokalkomposition, woran der letztjährige Ernst von Siemens Musikpreisträger George Benjamin nicht ganz unschuldig war. Das Akrostichon-Wortspiel für Sopran und Ensemble sorgte 1993 (in der UA seiner endgültigen Form) für beträchtliches Aufsehen in London, was Chin nach lebhafter Berichterstattung in den einschlägigen Zeitungen schlagartig bekannt machte. Sieben musikalische Szenen nach Motiven aus Michael Endes Die unendliche Geschichte und Lewis Carrolls Alice hinter den Spiegeln exponierten erstmals in größerem Rahmen Chins vom Märchenhaften und Grotesken angetriebene Klangfantasie. Vor allem aber offenbarten sie eine kompositorische Auffassung von Sprache, die ihre Semantik in den Hintergrund rückte und vor einer Neuordnung ihrer Bestandteile nicht Halt machte. In Kalá für Sopran- und Bass-Solo, Chor und Orchester (2000) ist es ein Mix aus Gedichten von Gerhard Rühm, Inger Christensen, Unica Zürn, Gunnar Ekelöf, Arthur Rimbaud und Paavo Haavikko, die ihrerseits elementare Laborsituationen von Sprache austesten. Diese wiederum wurden von der Komponistin nochmal bewusst fragmentarisiert und zur Basis für strukturelle Äquivalente des Klangs. Chins Wahl der Textvorlagen und ihr grundsätzlich asemantisch ausgerichteter Umgang damit spricht Bände: „Gedichte in Musik zu setzen, die konkrete Inhalte oder Gefühle transportieren, behagt mir nicht sonderlich. Musik und Literatur sind stark eigengesetzliche ‚Sprachen‘ die sich in ihrer Verbindung nicht selten gegenseitig im Wege stehen. Der Vorteil der Kombinatorik experimenteller Lyrik ist in meinen Augen (und Ohren) nicht nur ihr Mangel an konkretem Sinn und ‚Botschaften‘, sondern vor allem ihre Nähe zu kompositorischen Verfahrensweisen.“ Die darin wirksamen Aspekte der Selbstreferentialität und Ironie haben Chin besonders angezogen und motivierten in Cantatrix Sopranica (2004/05) neben Textvorlagen unterschiedlicher Epochen die Verwendung auch eigener Texte. In den acht Sätzen für zwei
Soprane, Countertenor und Ensemble dreht sich alles um das Singen selbst und seine selbstdarstellerischen Klischees zwischen Barock-Oper, italienischem Belcanto und avantgardistischem Lautexperiment. Das musikalische „Rollenspiel“ mit Sprachen der Vergangenheit, das Jonglieren mit idiomatischen Sprechweisen, Stereotypen und Stilparodien tritt hier besonders markant in Erscheinung. Das kann in komödiantischer Überzeichnung opernhafter Arien-Pathetik geschehen wie im 5. Satz Con tutti i Fantasmi oder gar als Persiflage von „Chinoiserie“ in Yue Guang –Clair de Lune. Die Idee einer polystilistischen „Musik über Musik“, die in Chins Instrumentalkompositionen eine eher untergeordnete Rolle spielt, wird im Vokalwerk mit hörbarer Lust an der musikalischen Eulenspiegelei inszeniert.
All das läuft in den Nullerjahren geradezu folgerichtig über den „Testlauf“ von Snags & Snarls für Sopran und Orchester (2003/04) auf Chins erste große Oper Alice in Wonderland (2007) zu. Die „Uraufführung des Jahres“ (Opernwelt) an der Bayerischen Staatsoper wurde unter Kent Nagano und der minimalistisch-surrealen Regie/Bühne von Achim Freyer ein großer Erfolg, dem Inszenierungen in London und Los Angeles folgten. Schon in Korea war Unsuk Chin fasziniert von Lewis Carolls „Alice“-Stoff und fühlte sich der irrationalen Traumsphäre mit seinen absurden Realitätsverschiebungen, Sprachspielen, Vieldeutigkeiten und skurrilen Situationen wesensverwandt. Aber erst nach dem Tod György Ligetis 2006, dessen eigene „Alice“-Oper ein unerfüllter Traum blieb, wagte sich Chin an eine Adaption eines Stoffes, wo konventionelle Koordinaten von Logik, Kausalität und Vernunft außer Kraft gesetzt werden. Dem Anspielungsreichtum Carrolls wird auf musikalischer Ebene mit vielfältigen Referenzen und Stilparodien existierender Musikformen entsprochen: „Der skurrile Humor und auch die Intertextualität der Buchvorlage reizten mich dazu, eine Musik zu schreiben, die mit musikalischen Bedeutungen spielerisch umgeht und sie hinterfragt – ein musikalisches Spiegellabyrinth sozusagen. Ich suchte nach einer musikalischen Entsprechung für den schwarzen Humor. So etwas hatte ich vorher noch nie gemacht.“2 Insofern ist die Musik von
2 „...Zusammenprall verschiedener Arten unserer Kommunikation und unserer Erfahrung der Wirklichkeit...“, Unsuk Chin im Gespräch mit David Allenby über ihre Oper Alice in Wonderland (2004–2007), in: Ebd., S. 132.


Alice in Wonderland für Chins sonstige Verhältnisse ungewohnt bildhaft und narrativ, steht somit durchaus in der Tradition von Oper. Auch deren vokales Formenrepertoire wird spielerisch und augenzwinkernd heraufbeschworen.
Chins Musik ist selten kontemplativ, keine „Klangkalligrafie“ am Rande der Stille, sondern bestimmt von ruhelosen Bewegungsenergien, die oft parallel in verschiedene Richtungen drängen. Paradebeispiele für diese polyperspektivische, farbintensive Energetik im Orchester sind die einsätzigen Klangströme von Rocaná (2008) und Chóros cordón (2017) oder das rastlos vorwärtsdrängende „Palimpsest“ aus Graffiti (2012/13).
Fast alle Stücke Chins, entwickeln ihren klanglichen Reichtum jedoch aus einem reduzierten Anfangszustand, einer Art klanglichen Urzelle, aus der das Geschehen sich quasi organisch entwickelt: Im Cellokonzert ist das der Ton gis, der fast den kompletten Kopfsatz bestimmt; im 1. Violinkonzert das Quintintervall, in Xi ein tonloses Rauschen (respektive der menschliche Atem), die die Keime bilden für vielschichtige Klangprozesse, die nicht selten wieder in den Anfangszustand zurückkehren – ein Werden und Vergehen von Klang. Bei allen kulinarischen Reizen der Musik Unsuk Chins wird gern übersehen, dass ihr verschwenderischer Reichtum des Klingenden selten rein affirmativ ist, sondern jederzeit ein Ventil des Schreckens sein kann. Einer der Wenigen, die auf diesen existentiellen Aspekt hingewiesen haben, ist Kent Nagano: „Sie [die Musik Chins] kennt aber auch die anderen, die dunklen und tiefen Zonen sowie das insistierende Ausloten und Hineinstoßen ins Ungemütliche. Hinter einer glänzenden, oft berückend schönen Fassade scheint immer der Abgrund hindurch.“3 Dieses Abgründige manifestiert sich in den großen Orchesterstücken nicht selten in katastrophischen Eruptionen, Entladungen und Zusammenbrüchen massiver Tutti, die schmerzhaft grell instrumentiert sind. Oft steht dabei ein vehementer Einsatz des Schlagzeugs im Blickpunkt.
Ein zentrales Medium in Chins die Potentiale des großen Orchesters ausschöpfenden Klangsprache ist die Form des Konzertes, die sich wie ein roter Faden durch ihren Werkkatalog zieht.
3 Kent Nagano, Unsuk Chin zu Ehren, in: Ebd., S. 11.
So entstanden im Laufe von 25 Jahren herausragende Gattungsbeiträge für Klavier (1996/97), Violine (2001 und 2021), Klavier und Schlagzeug (2002), Violoncello (2006 –08), Sheng (2009) und Klarinette (2014). Darin wird die Beziehung von Solist*in und Orchesterapparat aber ganz unterschiedlich interpretiert. Während die Konzerte für Violine und Klarinette dem klassischen Antagonismus von Individuum und Kollektiv in entsprechend dramatischen Auseinandersetzungen frönen und für Chin eher ungewöhnlich elegische Anteile haben, werden im Klavierkonzert oder im Doppelkonzert die Soloinstrumente zu einem zentralen Teil des Klanggewebes, mit der Intention, dass Soloinstrument und Orchester zu einem „Superinstrument“ verschmelzen. Besonders sprechend wird in den Konzerten Chins doppelbödiges Verhältnis zur instrumentalen Virtuosität. Sie ist, auch wenn sie Extremformen ausprägt, nie Selbstzweck. Eng verschwistert mit dem konstruktiven Aspekt der Musik, ist sie untrennbares Medium der Darstellung komplexer Strukturen. „Was mich an Komplexität und Manierismus musikalisch interessiert, ist die Gratwanderung zwischen Ordnung und Caos und das Umkippen vom einen ins andere“,4 bekannte die Komponistin. Hierbei führt Chin die Musiker*innen bewusst in Bereiche jenseits der spieltechnischen Komfortzone, um aus diesen Zonen der Unsicherheit und potentiellen Überforderung eine besondere Intensität zu gewinnen. Stets hat Unsuk Chin betont, dass ihre Musik keinen programmusikalischen Erzählfäden folgt, dennoch sind die außermusikalischen Inspirationen ihres Werks vielfältig und transkulturell. Sie entstammen der Kunst und Literatur ebenso wie der Natur und den Naturwissenschaften und dienen vor allem als strukturelle Impulsgeber komplexer Klangprozesse. Der lichtdurchflutete Klangraum von Rocaná (2008) wurde angeregt durch die auf physikalische Phänomene gründenden Installationen The Weather Project und Notion Motion von Ólafur Eliasson; Cosmigimmicks (2012) bezieht sich auf verschiedene Formen minimalistischer Theatralik zwischen asiatischem Schattentheater und Becketts geometrischen TV-Stücken; Graffiti (2013) reflektiert Aspekte von Urbanität und Street Art; Mannequin (2014/15)
4 Unsuk Chin, Gradus ad infinitum für Tonband (1989), in: Ebd., S. 57.
wurde inspiriert durch die Phantastik der Dichtung E.T.A. Hoffmanns; die orchestralen Massenbewegungen von Spira (2019) gründen auf der Idee der Wachstumsspirale des Mathematikers Jacob Bernoulli; Les Chants des Enfants des Étoiles für Chor und Orchester (2019) reflektiert mit abendfüllender Transzendierung Chins leidenschaftliches Interesse für die Astronomie. All diese Stücke mit außermusikalischen Berührungspunkten sind aber keine Stück über Themen und Inhalte, sondern verwandeln ihre Anregungen in letztlich autarke Formgefüge. Die Gestaltung von Musik betrachtet Chin prinzipiell als eine Wirklichkeit, die sich jenseits der konventionellen Gegebenheiten der Realität vermittelt und bei ihr ganz dezidiert mit der Sphäre des Traumes und ihren unbegrenzten Vorstellungswelten zu tun hat: „Ich habe eine große Affinität zur abstrakt-surrealistischen Gedankenwelt. Schon als Kind erlebte ich sie in meinen Träumen, in von Licht- und Farbphänomenen durchwirkten Traumzuständen, in denen die Gesetze der Physik und der Logik auf den Kopf gestellt werden. Sie waren und sind für mich eine existentielle Erfahrung und eine wesentliche Anregung beim Komponieren.“5 Nicht minder vielfältig aber zeigen sich die musikalischen Anregungen in Chins Werk, die sich unterschiedlichsten Epochen und Kulturkreisen verdanken. Sie treten selten als eklektizistisches Referenz-Spiel mit konkreten Zitaten, sondern in der Regel als Allusion oder strukturelle Transformation auf den Plan. Die Anknüpfungspunkte offenbaren ein breit gefächertes, transkulturelles Interessenfeld: Chins Faszination für die Musik des Gamelan lässt sich in einem vielfarbig schillernden Aktionsreichtum perkussiver Klänge ebenso ausmachen, wie eine Affinität zum Jazz, nicht nur im Klarinettenkonzert (2015) und seinem Schlusssatz „Improvisation on a groove“. Chins Interesse für die Vokalpolyphonie des Spätmittelalters hat sich am deutlichsten in Miroirs des temps für Solostimmen und Orchester (1999) niedergeschlagen. Dort geistern Machaut und Perotin durch eine Partitur, die zwischen hypertropher Polyphonie oder an die Satztechnik des Organums angelehnte Homophonie schwankt. Dabei werden Ideen der Spiegelung und des Palindroms weiter-
5 „Gemischte Identität“ und „Sprachspiele“. Unsuk Chin im Gespräch mit Patrick Hahn, in: Ebd., S. 178.
gesponnen, die in Machauts Rondeau Ma fin est mon commencement vorgeprägt waren. Eine Achterbahnfahrt durch spätromantische Orchesterrhetorik, wo „Musikgeschichte wie im Zeitraffer zusammengeballt wird“ (Chin) und Schlüsselwerke der europäischen Orchestermusik zwischen Brahms, Strauss und Strawinskys Sacre anklingen, verkörpert Frontispiece (2019). Für Sekunden blitzen dort vertraute Versatzstücke orchestraler Dramatik auf und auch die karikierte Schlussapotheose lässt sich Chin nicht nehmen.
Dass Chins Komponieren wenig von seiner Energie und soghaften Intensität eingebüßt hat, beweisen aktuelle Stücke wie Alaraph – Ritus des Herzschlags (2022). Inspiriert von den Pulsierungen von Doppelsternen und den perkussiven Aspekten koreanischer Hofmusik wird der Orchesterapparat mit gewaltigen Massierungen in ein Kraftwerk des Elementaren verwandelt, mit einem Schlagzeug, dessen Wucht einen imaginären Ritus zu befeuern scheint.
Momentan ist die Komponistin wieder in einer ganz anderen Sphäre unterwegs: Sie schreibt im Auftrag der Hamburger Staatsoper an ihrer zweiten Oper. Diesmal hat Chin das Libretto selbst verfasst, inspiriert von zwei Geistesgrößen der frühen Moderne: dem österreichischen Quantenphysiker Wolfgang Pauli und dem Psychologen C. G. Jung. Sie dienten als Vorbilder für zwei fiktive Figuren, aus deren Verhältnis Chin eine komplexe faustische Geschichte entwickelt hat, wo alle Protagonisten schicksalhaft miteinander verbunden sind. Die Idee einer Wirklichkeit jenseits der konventionellen Alltagserfahrung wird das Leitmotiv auch dieser Oper sein. Ihr Titel liest sich wie eine Metapher für Chins Musik und ihre irrationalen Ambivalenzen zwischen Licht und Schatten, Wirklichkeit und Traum: Die dunkle Seite des Mondes ...
Unsuk Chin wurde 1961 in Seoul, Korea, geboren. Schon früh begann sie, sich selbst Klavier und Musiktheorie beizubringen und studierte anschließend Komposition an der Seoul National University bei Sukhi Kang. 1985 zog sie mit einem akademischen Austauschstipendium nach Europa, um in Deutschland zu studieren, und nahm bis 1988 an der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg Kompositionsunterricht bei György Ligeti. Er ermutigte sie, über die Ästhetik der aktuellen Avantgarde hinauszuschauen. Nach Abschluss ihres Studiums bei Ligeti zog Unsuk Chin nach Berlin. Sie arbeitete als freischaffende Komponistin im Studio für Elektronische Musik der Technischen Universität Berlin. Bis heute ist ihr Lebensmittelpunkt in Berlin.
Schon in Trojan Women (1986) für drei Sängerinnen, Frauenchor und Orchester zeigte sich Chins originärer Stil: eine Musik, die in ihrer Sprache modern, in ihrer Aussagekraft aber lyrisch und nicht doktrinär ist. Es war jedoch das Akrostichon-Wortspiel (1991–93) für Sopran solo und Ensemble, das Chins internationalen Durchbruch markierte. Es wurde bis heute in über 20 Ländern von führenden internationalen Ensembles programmiert. 1992 wurde Unsuk Chin vom Reading Panel des Ensemble intercontemporain in Paris ausgewählt, um 1994 Fantaisie mécanique zu schreiben. Es ist das erste von bisher sechs Werken, die von diesem Ensemble in Auftrag gegeben wurden. Bis heute hat die Komponistin eine enge Verbindung zu diesem Ensemble. Die Uraufführung von Miroirs des temps im Auftrag der BBC für das Hilliard Ensemble und das London Philharmonic Orchestra im Jahr 2000 markierte den Beginn der Zusammenarbeit mit Kent Nagano, einem der wichtigsten Förderer von Chins Musik. Des Weiteren arbeitete sie mehrfach mit Sir Simon Rattle sowie Esa-Pekka Salonen, Gustavo Dudamel, Mirga Gražinyte-Tyla, Myung-Whun Chung und weiteren namhaften Dirigent*innen zusammen.


Ihre erste Oper Alice in Wonderland wurde im Juni 2007 an der Bayerischen Staatsoper in München als Eröffnungsstück der Münchner Opernfestspiele uraufgeführt. Die Inszenierung unter der Regie von Achim Freyer und dem Dirigat von Kent Nagano wurde im Jahrbuch der Opernwelt als Uraufführung des Jahres ausgezeichnet und stand auf der Liste der „Best of 2007 “ der Los Angeles Times.
Von 2009 an entstanden wichtige Solokonzerte, so unter anderem ihr Violinkonzert, das bisher in 16 Ländern aufgeführt wurde. Die Uraufführung fand mit Viviane Hagner und dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin unter der Leitung von Kent Nagano statt. Weitere Werke folgten wie Šu für Sheng und Orchester mit Wu Wei, ein Klarinettenkonzert für Kari Kriikku, ein Cellokonzert für Alban Gerhardt sowie Le Silence des Sirènes für
Barbara Hannigan und das Lucerne Festival Academy Orchestra. Mehrere Festivals für zeitgenössische Musik widmeten sich ihrer Musik: MITO Settembre Musica in Italien, Festival Musica Strasbourg, MADE Festival in Schweden, das Festival des Royal Northern College of Music in Manchester sowie Lucerne Festival. Unsuk Chin hat zu vielen Orchestern eine enge Verbindung. Sie arbeitet regelmäßig u. a. mit dem Los Angeles Philharmonic, dem London Symphony Orchestra und den Berliner Philharmonikern zusammen. Beim Deutschen Symphonie-Orchester Berlin (2001/2002) und in der Philharmonie Essen (2009) war sie Composer-in-Residence. Von 2009 an arbeitete sie elf Jahre mit dem Seoul Philharmonic Orchestra zusammen. Hier gründete und leitete sie eine Reihe für zeitgenössische Musik. Esa-Pekka Salonen holte sie für neun Spielzeiten als Künstlerische Leiterin der Reihe „Music of Today“ zum Philharmonia Orchestra nach London. Eine Position, die sie bis 2020 innehatte. 2022 begann Unsuk Chin eine fünfjährige Amtszeit als Künstlerische Leiterin des Tongyeong International Festival in Südkorea und des Weiwuying International Music Festival in Taiwan. Viele ihrer Werke sind auf CD erschienen. Hervorzuheben ist ihre erste Portrait-CD bei der Deutschen Grammophon in der Reihe 20/21, mit der sie die zehnjährige Zusammenarbeit mit dem Ensemble intercontemporain feierte. Neben Einspielungen ihrer Orchesterwerke Rocaná und Chorós Chordón sind auch Ensemblewerke wie Fantaisie mécanique und Gougalon sowie ihre Klavieretüden auf CD erhältlich. Ein Mitschnitt ihrer Oper Alice in Wonderland ist auf DVD erschienen.
Die Werke von Unsuk Chin werden seit 1994 exklusiv bei Boosey & Hawkes verlegt.
Laudator
Louwrens Langevoort
Intendant der Kölner Philharmonie
Seit 2005 ist Louwrens Langevoort Intendant der Kölner Philharmonie. Sein beruflicher Weg führte den studierten Juristen und gebürtigen Niederländer Langevoort von den Opernhäusern und Festivals in Brüssel über Salzburg und Leipzig nach Köln. Als Intendant war Langevoort tätig in den Niederlanden und an der Staatsoper Hamburg.
An allen Stationen kreierte er Neues: neues Repertoire, neue Strukturen, neue Formate. Dafür wurde er nicht nur ausgezeichnet (Kölner Kulturpreis „Kulturmanager des Jahres 2014“), sondern auch geschätzt und zum Mitglied vieler Gremien ernannt, so in der Liz Mohn Kultur- und Musikstiftung, beim Forum Dirigieren des Deutschen Musikrats, oder als Stiftungsrat Mitglied der Stiftung Oper in Berlin. Seit 2017 ist er Vorsitzender der European Concert Hall Organisation (ECHO).
Exemplarisch sind seine Errungenschaften als Intendant für die Staatsoper Hamburg und die Kölner Philharmonie, die er 2025 nach 20 Jahren verlassen wird. Modernes Musiktheater zu fördern und alte Werke immer wieder aufleben zu lassen, waren programmatische Schwerpunkte seiner Opernleitung in Hamburg. Neben der Repertoirepflege gehörten dazu für Louwrens Langevoort aber auch der überaus erfolgreiche Zyklus mit Barockopern, den er 2001 initiierte, der Aufbau der Kinderopernreihe „Opera piccola“, die Nachwuchsförderung mit dem Internationalen Opernstudio und die Förderung junger Komponistinnen und Komponisten im Rahmen der von ihm 2001 ins Leben gerufenen „Komponistenwerkstatt“.

Louwrens Langevoort hat das Profil der Kölner Philharmonie durch viele neue erfolgreiche Reihen, Formate und Festivals geprägt: Das Festival ACHT BRÜCKEN | Musik für Köln widmet sich seit 2011 jeweils Anfang Mai der Musik der Moderne. Dieses hat Langevoort ebenso initiiert und erfolgreich im Kölner Kulturleben etabliert, wie seit 2019 das Originalklang-Festival FEL!X. Mit Projekten wie PhilharmonieLunch, PhilharmonieVeedel und philharmonie.tv gelang es ihm, Publikumskreise wie junge Berufstätige und junge Familien anzusprechen, die in speziellen Veranstaltungen innerhalb und außerhalb des Konzertsaals auf sie zugeschnittene Angebote finden. Das Konzerthaus für alle Menschen zu öffnen und Musik allen zugänglich zu machen, ist sein steter Antrieb. Darüber hinaus setzt er sich in seinem internationalen Netzwerk dafür ein, dass Musik eine länder- und gesellschaftsübergreifende Bedeutung erlangt.
Interpret*innen

Joseph Houston, Klavier
Joseph Houston ist ein britischer Pianist, der in Berlin lebt. Seine Aufführungspraxis umfasst ein breites Spektrum an Musik, darunter neue und experimentelle Musik, Klaviermusik des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, Musik für Synthesizer und eigene Kompositionen.
Houston entwickelt einzigartige und mitreißende Programme, die Musik aus verschiedenen Genres miteinander verbinden und so ein Ganzes schaffen, das das Verständnis jedes einzelnen Werks herausfordert und bereichert. Er setzt sich dafür ein, neue Werke zu beauftragen und arbeitet mit den Komponist*innen im Entstehungsprozess eng zusammen.
Zu den jüngsten Auftritten gehören Solokonzerte in der Wigmore Hall und bei den Donaueschinger Musiktagen; Duoauftritte mit dem Saviet/Houston Duo bei den Wittener Tagen für neue Kammermusik, dem Ultraschall Festival und dem AFEKT Festival (Estland) sowie größere Kooperationen mit dem Quatuor Diotima, dem Harmonic Space Orchestra, dem Ensemble KNM Berlin und dem Ensemble PianoPercussion Berlin. In den letzten 10 Jahren hat er mit vielen Komponist*innen intensiv an neuer Musik gearbeitet, darunter Rebecca Saunders, Catherine Lamb, Chiyoko Szlavnics, Ernstalbrecht Stiebler, Clara Iannotta, Enno Poppe, Mark Barden und Christian Wolff.

Jack Adler-McKean, Tuba
Jack Adler-McKean arbeitet mit international anerkannten Ensembles, Komponist*innen und akademischen Institutionen zusammen, um das Renommée der und das Verständnis für die Tuba-Familie zu fördern. Zu seinen jüngsten Projekten gehören Konzerte mit dem Ensemble Resonanz und dem Ensemble Modern, Musiktheaterwerke auf der Bühne der Deutschen Oper Berlin und der Philharmonie de Luxembourg, die Zusammenarbeit bei Solowerken mit Georges Aperghis und Michael Finnissy, Uraufführungen bei den Darmstädter Ferienkursen und den BBC Proms. Darüber hinaus gibt er Solokonzerte in New York und Buenos Aires, Tuba-Meisterkurse in Ankara und Oslo und bietet Seminare für Komponist*innen in London und Boston an. Orchesterauftritte reichen von denjenigen mit der Kontrabasstuba beim WDR Sinfonieorchester und dem BBC Scottish Symphony Orchestra bis hin zu solchen mit Serpent und Ophikleide bei der Kammerakademie Potsdam und dem Ensemble Spira Mirabilis. Er ist Verfasser des im Bärenreiter-Verlag erschienen Werkes Die Spieltechnik der Tuba und Herausgeber der Reihe Contemporary Music for Tuba bei der Edition Gravis. Seine eigenen Kompositionen und Bearbeitungen sind bei Potenza Music veröffentlicht. Nach dem Studium in Manchester und Hannover und als Stipendiat u. a. des DAAD und des Leverhulme Trust hat er seine Promotion 2023 abgeschlossen und ist seit Februar 2024 Postdoktorand an der Lunds Universitet / Musikhochschule in Malmö in Schweden.

Liyi Lu, ist Komponistin und Solistin und wohnt in Shanghai. Sie begann schon in jungen Jahren das Instrumentalspiel zu erlernen und wurde im Alter von 10 Jahren an dem am Konservatorium von Shanghai angeschlossenen Gymnasium mit dem Hauptfach Pipa aufgenommen. Sie schloss dieses mit Auszeichnung ab und gewann mehrfach Stipendien des Konservatoriums und der Stadt Shanghai. Anschließend begann sie Musik zu studieren und schloss ihr Bachelor-Studium mit den Hauptfächern Komposition und Pipa-Spiel am Shanghai Conservatory of Music ab. Sie erwarb ihren Master-Abschluss in Komposition und belegte außerdem die Fächer Harfe und Guqin. Liyi Lu gewann zahlreiche Preise und Stipendien sowohl als Komponistin als auch als Solistin, darunter den ersten Preis des serbischen Kompositionswettbewerbs „Smederevo“, den zweiten Preis des italienischen Kompositionswettbewerbs „Don Vincenzo Vitti“, den Excellence Award des internationalen Kompositionswettbewerbs „7th Rivers Awards“, den ersten Preis des Kompositionswettbewerbs „JSFest 2022“, den Goldpreis des internationalen Pipa-Wettbewerbs „QingYue“, den Goldpreis des internationalen Instrumentalwettbewerbs in Singapur usw. Sie arbeitete bereits mit vielen Orchestern und Dirigent*innen zusammen, wie dem Shanghai Opera Symphony Orchestra, dem Shanghai Philharmonic Orchestra und dem Shanghai Chamber Orchestra.
Liyi Lu, PipaRafał Zolkos, Flöte

Rafał Zolkos studierte u. a. bei Philippe Racine, Benoît Fromanger, Mario Caroli, Martin Fahlenbock und Jadwiga Kotnowska. Er erhielt Diplome mit Auszeichnung von der Zürcher Hochschule der Künste, der Hochschule für Musik Hanns Eisler in Berlin, der Hochschule der Künste Bern, dem Conservatoire de Strasbourg, dem Conservatoire National Supérieur de Musique et Danse de Paris, der Hochschule für Musik Basel und der Academy of Music in Bydgoszcz. Er ist Preisträger zahlreicher Musikwettbewerbe, darunter NICATI in Bern, ISCM Wettbewerb in Warschau, TWIYCA in England und Kiefer-Hablitzel in Bern. Rafał erhielt Preise und Stipendien wie den Fritz-Gerber-Preis 2015, den Prix Société Générale Paris und den Young Poland-Ministry of Culture and National Heritage.
Als Solist und Kammermusiker trat Zolkos bei internationalen Festivals auf, darunter Tage für Neue Musik Zürich, Menuhin Festival Gstaad, Lucerne Festival, ManiFeste Paris, Warschauer Herbst, Musica Polonica Nova, Donaueschinger Musiktage. Seine Interpretationen sind in Konzertsälen auf der ganzen Welt zu hören, darunter die Tonhalle Zürich, die Hagia Irene Istanbul, der Smetana-Saal Prag, das Konzerthaus Berlin, das KKL Luzern, die Philharmonie de Paris, das Wiener Konzerthaus, die Munetsugu Hall Nagoya, das Daejeon Arts Center, die Lotte Concert Hall und das Seoul Arts Center.

Hae-Sun Kang , Violine
Die in Südkorea geborene Hae-Sun Kang begann im Alter von drei Jahren mit dem Geigenspiel. Mit 15 Jahren begann sie ihr Studium am Conservatoire de Paris (CNSMDP) in der Klasse von Christian Ferras. Sie gewann mehrere internationale Preise und wurde 1993 erste Solovioline im Orchestre de Paris, wo sie Pierre Boulez kennenlernte, bevor sie 1994 Mitglied des Ensemble intercontemporain wurde. Hae-Sun Kang hat zahlreiche Referenzwerke für Violine uraufgeführt, darunter Pierre Boulez’ Anthèmes II für Violine und Elektronik (Donaueschingen, 1997), das sie bei der Deutschen Grammophon aufgenommen hat. Außerdem brachte sie Werke von Georges Aperghis, Pascal Dusapin, Michael Jarrell, Ivan Fedele, Marco Stroppa, Matthias Pintscher, Yan Maresz und Philippe Manoury und vielen mehr zur Uraufführung. Am Conservatoire de Paris ist Hae-Sun Kang Referentin für Studierende des Artist Diploma und des Ensemble Next und unterrichtet außerdem Kammermusik und zeitgenössische Musik. Sie wurde 2014 zum Chevalier des Arts et des Lettres ernannt und erhielt 2022 den Grand Prix In Honorem der Akademie Charles Cros für ihre musikalische Karriere.
Diégo Tosi, Violine

Diégo Tosi ist seit Oktober 2006 Violinist des Ensemble intercontemporain. Er tritt als Solist in den renommiertesten Konzertsälen der Welt auf und spielt aus dem Repertoire aller Epochen. Er hat mehrere CDs mit Werken u.a. von Ravel, Scelsi, Berio und Boulez beim Label Solstice aufgenommen, die mit bedeutenden Preisen ausgezeichnet wurden. Er hat das gesamte Œuvre des Geigenvirtuosen Pablo de Sarasate aufgenommen und wurde mit dem Del Duca-Preis der französischen Akademie der Schönen Künste und dem Enesco-Preis der SACEM ausgezeichnet. Nachdem er am Pariser Konservatorium, wo er bei Jean-Jacques Kantorow und Jean Lenert studierte, den ersten Preis erhalten hatte, bildete er sich in Bloomington (USA) bei Miriam Fried weiter, bevor er am Pariser Konservatorium den Concours des Avant-scènes für Postgraduierte gewann. Während seiner Ausbildung gewann Diégo Tosi den Paganini-Wettbewerb in Genua, den Rodrigo-Wettbewerb in Madrid und den Valentino Bucchi-Wettbewerb in Rom. Desweiteren war er Preisträger bei verschiedenen internationalen Wettbewerben, darunter die von Wattrelos, Germans Claret und Moskau. Seit 2010 ist er der künstlerische Leiter des Festivals Tautavel en musique.

Dimitri Vassilakis, Klavier
Dimitri Vassilakis begann seine musikalische Ausbildung in Athen, wo er 1967 geboren wurde, und setzte sie am Pariser Conservatoire National Supérieur de Musique fort, insbesondere bei Gérard Frémy. Er studierte auch bei Monique Deschaussées und György Sebok. Seit 1992 ist er Solist des Ensemble intercontemporain. Weitere Komponisten, mit denen er zusammengearbeitet hat, sind Iannis Xenakis, Luciano Berio, Karlheinz Stockhausen und György Kurtàg. Seine Aufnahme Le Scorpion mit den Percussions de Strasbourg gewann den Grand Prix du Disque der Akademie Charles Cros in der Kategorie „Beste Aufnahme zeitgenössischer Musik 2004“. Zu seinen Festivalauftritten gehören Salzburg, Edinburgh, Luzern, der Maggio Musicale in Florenz, der Warschauer Herbst, das Ottawa Chamber Music Festival und die London Proms. Er konzertierte in Konzertsälen wie der Berliner Philharmonie, der New Yorker Carnegie Hall, der Londoner Royal Festival Hall, dem Concertgebouw Amsterdam und dem Teatro Colón in Buenos Aires. Als Solist ist er mit verschiedenen Orchestern aufgetreten, darunter die Philharmonie von Seoul, die Philharmonie von Buenos Aires und das Orchestre de la SuisseRomande. Sein Repertoire reicht von Bach bis zu zeitgenössischen Komponisten, darunter das gesamte Klavierwerk von Pierre Boulez und Iannis Xenakis. Zu seinen Alben gehören unter anderem Etüden von György Ligeti und Fabiàn Panisello (Neos) und Boulez’ erstes Gesamtwerk für Klavier (Cybele).

Samuel Favre, Schlagzeug
Samuel Favre wurde 1979 in Lyon geboren und studierte Schlagzeug bei Alain Londeix am Regionalen Konservatorium von Lyon, wo er 1996 mit Gold ausgezeichnet wurde. Im selben Jahr wechselte er an das Conservatoire National Supérieur de Musique et de la Danse in Lyon in die Klasse von Georges Van Gucht und Jean Geoffroy, wo er im Jahr 2000 sein Musikstudium mit Auszeichnung und einstimmigem Urteil der Jury abschloss.
Parallel dazu studierte Samuel Favre an der Académie du Festival d’Aix-en-Provence und am Centre Acanthes. Er arbeitete mit dem Komponisten und Perkussionisten Camille Rocailleux zusammen, der ihn im Jahr 2000 in das Ensemble ARCOSM einlud, um das Stück Echoa uraufzuführen, eine Mischung aus Musik und Tanz, das bereits fast 400 Mal in Frankreich und im Ausland aufgeführt wurde.
Seit 2001 ist Samuel Favre Mitglied des Ensemble intercontemporain und hat in zahlreichen Uraufführungen mitgewirkt, darunter Isabel Mundrys Noli Me Tangere, oder Werken von François Sarhan und Alexander Schubert. Mit dem EIC hat er mehrere Werke aufgenommen, darunter Le Marteau sans maître von Pierre Boulez.
Ensemble intercontemporain
1976 gründete Pierre Boulez das Ensemble intercontemporain mit der Unterstützung des damaligen Kulturministers Michel Guy und der Mitarbeit von Nicholas Snowman. Die 31 Solist*innen des Ensembles teilen die Leidenschaft für die Musik des 20. bis 21 Jahrhunderts und formulieren einen gemeinsamen Auftrag: Aufführung, künstlerische Gestaltung und Vermittlung für junge Musiker*innen und das breite Publikum. Unter der künstlerischen Leitung von Pierre Bleuse arbeiten die Musiker*innen eng mit Komponist*innen zusammen, experimentieren mit Instrumentaltechniken und entwickeln Projekte, die Musik, Tanz, Theater, Film, Video und Bildende Kunst miteinander verbinden. In Zusammenarbeit mit dem IRCAM (Institut de Recherche et Coordination Acoustique/Musique) ist das Ensemble intercontemporain auch auf dem Gebiet der synthetischen Klangerzeugung tätig. Mit der Unterstützung der Fondation Meyer werden regelmäßig neue Stücke in Auftrag gegeben und aufgeführt. Das Ensemble ist bekannt für seinen starken Fokus auf die Musikvermittlung: Konzerte für Kinder, kreative Workshops für Studierende, Ausbildungsprogramme für zukünftige Dirigent*innen, Komponist*innen, etc. Seit 2004 unterrichten die Solist*innen des Ensembles junge Instrumentalist*innen im Bereich des zeitgenössischen Repertoires im Rahmen der Lucerne Festival Academy, einem mehrwöchigen Bildungsprojekt von Lucerne Festival. Das Ensemble

residiert in der Philharmonie de Paris, tritt in Frankreich und im Ausland auf und nimmt an den wichtigsten Festivals weltweit teil. Vom Ministerium für Kultur finanziert, erhält das Ensemble zusätzliche Unterstützung von der Stadt Paris. Im Jahr 2022 wurde das Ensemble intercontemporain mit dem renommierten Polar Music Prize ausgezeichnet.
Besetzung
Sophie Cherrier, Emmanuelle Ophèle, Flöte
Thibaud Rezzouk, Oboe
Martin Adamek, Klarinette
Paul Riveaux, Fagott
Jean-Christophe Vervoitte, Pierre Remondiere*, Horn
Clement Saunier, Trompete
Lucas Ounissi, Posaune
Jeremie Dufort , Tuba
Gilles Durot, Samuel Favre, Percussion
Valeria Kafelnikov, Harfe
Dimitri Vassilakis, Klavier
Hae-Sun Kang, Diégo Tosi, Violine
Odile Auboin, Elsa Balas*, Viola
Eric-Maria Couturier, Vlorent Xhafaj*, Violoncello
Nicolas Crosse, Kontrabass
* Gastmusiker*innen

Pierre Bleuse studierte Dirigieren bei Jorma Panula in Finnland und Laurent Gay an der Haute École de Genève. Ursprünglich als Geiger ausgebildet, war er Konzertmeister und stellvertretender Dirigent des Kammerorchesters Toulouse (2000 –2010) und Mitglied des Satie Quartetts. Seit 2023 ist Bleuse Musikalischer Leiter des Ensemble intercontemporain. Seit 2021 ist er außerdem Chefdirigent des Odense Symphony Orchestra und Künstlerischer Leiter des Pablo Casals Festival in Prades, Frankreich. Zu den jüngsten Höhepunkten zählen Einladungen zu Orchestern wie dem Royal Concertgebouw Amsterdam, dem Royal Stockholm Philharmonic Orchestra, dem MDR Sinfonieorchester, dem Tonkünstler-Orchester, dem Orchestre de la Suisse Romande, dem Berner Symphonieorchester, dem Brussels Philharmonic, dem Belgium National Orchestra, dem Antwerp Symphony Orchestra, dem China National Symphony Orchestra, der National Philharmonic of Russia, dem São Paulo State Symphony Orchestra und dem Utah Symphony Orchestra. In Frankreich tritt er regelmäßig mit dem Orchestre National du Capitole de Toulouse, dem Orchestre National de France, der Opéra National de Lyon, dem Orchestre Philharmonique de Strasbourg, dem Orchestre National d’Île-deFrance und dem Orchestre National Bordeaux Aquitaine auf.
Er arbeitet regelmäßig mit einigen der gefragtesten internationalen Solist*innen wie Sol Gabetta, Bertrand Chamayou, Truls Mørk, Emmanuel Pahud, Renaud und Gautier Capuçon zusammen.
Bleuse gründete 2008 die Musika Orchestra Academy in Toulouse.

Annekatrin Hentschel, Moderation
Als freiberufliche Moderatorin präsentiert Annekatrin Hentschel zahlreiche Kulturveranstaltungen wie Open-Air, Preisträgeroder Gesprächskonzerte und außergewöhnliche Formate wie „Die Lange Nacht des Streichquartetts“. Zu ihren Auftraggebern zählen u. a. die Alfred Töpfer Stiftung, AUDI, MünchenMusik, die Bayerische Staatsoper oder das Bacharchiv Leipzig. Seit 10 Jahren leitet sie bei BR-KLASSIK die junge Redaktion SWEET SPOT, deren Aufgabe es ist, mit neuen Formaten und Präsentationsformen rund um klassische Musik, Filmmusik und Game Musik junge Zielgruppen zu erreichen. Sie ist verantwortlich für die Podcasts „Klassik für Klugscheißer“ und „Levels & Soundtracks“ und realisiert Videoproduktionen für die ARD Mediathek. Darüber hinaus arbeitet Annekatrin Hentschel als Dozentin für die Concerto21 Sommerakademie, wo sie ihr Fachwissen und ihre Erfahrung mit jungen aufstrebenden Künstlerinnen und Künstlern teilt. Die Nachwuchsförderung ist ihr ein besonderes Anliegen.
Stiftungsrat und Kuratorium der Ernst von Siemens Musikstiftung
Der Stiftungsrat trägt die Verantwortung für die Ernst von Siemens Musikstiftung. Ihm sitzt seit 2023 die Musikerin Tabea Zimmermann, Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, vor. Weitere Mitglieder des Stiftungsrates sind Ferdinand von Siemens als stellvertretender Vorsitzender, Elisabeth Bourqui, Eric Fellhauer, Elisabeth Oltramare, Herbert Scheidt, Christoph von Seidel und Christian Wildmoser sowie die Ehrenvorsitzende Bettina von Siemens.
Die Auswahl der Preisträger*innen sowie der Förderprojekte obliegt dem derzeit neunköpfigen Kuratorium der Musikstiftung. Ihm gehören Thomas Angyan als Vorsitzender sowie Nikolaus Brass, Winrich Hopp, Clara Iannotta, Ulrich Mosch, Enno Poppe, Wolfgang Rihm, Ilona Schmiel und Tamara Stefanovich an.

Presentation of the Ernst von Siemens Music Prize 2024 to
Unsuk Chin
Presentation of the Composer Prizes to Daniele Ghisi
Bára Gísladóttir and Yiqing Zhu
Presentation of the Ensemble Prizes to Broken Frames Syndicate and Frames Percussion
Hercules Hall, Munich Residence | 18 May 2024 | 7 pm
Ernst von Siemens Music Foundation
Bavarian Academy of Fine Arts
The award ceremony will be recorded by Bayerischer Rundfunk and broadcasted on June 18 and June 20, 2024, at 10.05 p.m. on BR-KLASSIK.
Program
Word of welcome
Tabea Zimmermann
Chairwoman of the Foundation Board
Composer Prizes
Daniele Ghisi
Portrait film
3 pieces from Weltliche (2020) for piano and electronics
Joseph Houston, piano
Bára Gísladóttir
Portrait film
RÓL (2023) for tuba and electronics
Jack Adler-McKean, tuba
Zhu Yiqing
Portrait film
The Aether and Nether (2023) for pipa, flute and electronics
Liyi Lu, pipa; Rafał Zolkos, flute
Presentation of the Composer Prizes
Thomas Angyan
Chairman of the Board of Trustees
Conversation
Thomas Angyan in a conversation with Annekatrin Hentschel
Film Clips Ensemble Prizes
Broken Frames Syndicate and Frames Percussion
Presentation of the Ensemble Prizes
Thomas Angyan
Ernst von Siemens Music Prize 2024
Unsuk Chin
Gran Cadenza (2018) for two violins
Hae-Sun Kang & Diégo Tosi, violin
Laudatory Speech on Unsuk Chin
Louwrens Langevoort
Artistic and Managing Director of the Kölner Philharmonie
Presentation of the Ernst von Siemens Music Prize 2024 to Unsuk Chin
Tabea Zimmermann
Unsuk Chin
Doppelkonzert (2002)
Ensemble intercontemporain
Dimitri Vassilakis, piano
Samuel Favre, percussion
Pierre Bleuse, conductor
Annekatrin Hentschel, host
Zoro Babel, electronics
Portrait films and Filmclips by Johannes List
Afterwards, the Ernst von Siemens Music Foundation has the honour of inviting you to a reception in the foyer of the Hercules Hall.