Billington, David P.: Der Turm und die Brücke - Die neue Kunst des Ingenieurbaus

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Die zweite Eisenzeit

Die zweite Eisenzeit Bei der Betrachtung der ersten Phase ist die entscheidende Frage, die wir stellen müssen, was genau während der industriellen Revolution passierte und die neue Kunstform bei Bauwerken möglich machte. Ein zentraler Punkt der industriellen Revolution ist ein Material – Eisen. Die neuen Herstellungsverfahren für dieses alte Material waren wesentliche Voraussetzung für die berühmteste technischen Entwicklung des 18. Jahrhunderts in Großbritannien: die Dampfmaschine. Ohne diese neuen Verfahren und das dadurch billige und reichlich verfügbare Eisen wären die Veränderungen in der Industrie nicht so umfassend geworden, dass sie den Begriff „Revolution“ verdient hätten.1 Diese neuen Verfahren ersetzten unter anderem die Holzkohle im Schmelzprozess durch Koks. Dank des Energiekonzentrats Kohle anstelle des weitaus schwächeren Energiespeichers Holz konnten die Gießereien der West Midlands von nun an Eisen für Maschinen und Konstruktionen liefern, die zuvor aus Holz bestanden hatten. Die Kohle verdrängte also bei der Eisenherstellung das Holz, während das Eisen in den Endprodukten ebenfalls das Holz ersetzte. In beiden Fällen verdrängte also das dichtere und festere Material die weichere organische Substanz, die die Grundlage der Technik früherer Kulturen gewesen war. Anders gesagt ersetzte ein nicht erneuerbarer Rohstoff einen nachwachsenden – das ist die entscheidende ökologische Tatsache der industriellen Revolution. Die Gesellschaft wandte sich dem Abbau ihres geologischen Kapitals zu und somit von einer noch extensiveren Nutzung der Forstwirtschaft ab. Gleichzeitig erhöhte sich die verfügbare Leistung enorm und eine zentralisierte Produktion wurde immer wirtschaftlicher. Auf diese Weise wurde die Entwicklung der Technik und der Gesellschaft als Ganzes ab dem späten 18. Jahrhundert durch die Entwicklung des Industrieeisens geleitet. Das dauerhafteste Symbol des Anstiegs der Eisenproduktion im 18. Jahrhunderts ist die Iron Bridge (Abb. 2.1), die im Jahr 1779 von Abraham Darby III aus gusseisernen Einzelteilen erbaut wurde. Sie war seinerzeit die einzige Brücke in der Region des Severn River, die das katastrophale Flusshochwasser von 1795 überstand. Das war für Thomas Telford, den Gründungspräsidenten der weltweit ersten Gesellschaft für Bauingenieurwesen, der Anlass, sich vom Mauerwerk abund Metallkonstruktionen zuzuwenden. Telford erschuf eine erste Reihe von Eisenbrücken, die eindeutig den persönlichen Stil eines Ingenieur-Künstlers zeigten. Für ihn war klar, dass die Iron Bridge die Flut einzig aufgrund der Schlüsseleigenschaft des Eisens – seiner hohen Festigkeit – unbeschadet überstanden hatte. Das frühe Gusseisen war etwa fünfmal so stabil wie Holz und erforderte daher nur ein Fünftel des Materials, um dieselbe Last zu tragen. Diese drastische Reduktion des erforderlichen Materials ermöglichte Konstruktionen, die während eines Hochwassers mehr Wasser durch die Brücke fließen ließen. Gemauerte Brücken wirkten wie Dämme und bauten einen hohen Wasserdruck auf, der die Konstruktion leicht zerstörte. Auch Holzbrücken hatten eine ähnliche Stauwir24


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