Billington, David P.: Der Turm und die Brücke - Die neue Kunst des Ingenieurbaus

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»Dieses Buch ist ›Pflichtlektüre‹ und Hochgenuss für den ›Ingenieurbaukünstler‹, bei dessen Bauten der Zusammenhang von Form und Kraftfluss ablesbar ist und die sich durch die Ideale Effizienz, Wirtschaftlichkeit und Eleganz auszeichnen.« Jörg Schlaich

ISBN 978-3-433-03077-6

9 783433 030776

www.ernst-und-sohn.de

Der Turm und die Brücke

Prof. em. David P. Billington lehrte über 50 Jahre lang an der Fakultät für Bauingenieurwesen der Universität Princeton, New Jersey, USA .

D. P. Billington

Billington begründet in diesem Buch die neue, eigenständige Kunstform des Ingenieurbaus (Structural Art), die er als gleichberechtigt neben der Architektur stehend proklamiert. Nicht zufällig nennt der Titel die klassischen Domänen des Bauingenieurs, wobei Billington konkret die epochalen Bauwerke Eiffelturm und Brooklyn Bridge im Sinn hat. In leicht lesbarem Stil und auf unterhaltsame Weise stellt Billington die Ideale, Prinzipien und Methoden der Kunst des Ingenieurbaus dar. Er verdeutlicht ihre historische Entwicklung anhand der Bauwerke herausragender Ingenieure wie Telford, Maillart, Freyssinet und Menn. Durch die Erläuterung der Ideale der Structural Art gibt Billington dem Leser gut begründete Argumente für eine ästhetische Diskussion im Bereich der Ingenieurbauwerke an die Hand. So hat dieses zeitlose Buch das Potenzial, der Debatte um Baukultur und insbesondere um gestalterische Aspekte im Ingenieurbau im deutschsprachigen Raum neue Impulse zu verleihen.

David P. Billington

Der Turm und die Brücke Die neue Kunst des Ingenieurbaus


Inhaltsverzeichnis Geleitwort zur deutschen Ausgabe Vorwort 1

Eine neue Tradition: Kunst im Ingenieurbau Eine neue Kunstform Die Ideale der Structural Art Die Geschichte der Structural Art Ingenieurbau und Wissenschaft Bauwerke und Maschinen Ingenieurbau und Architektur Die drei Dimensionen von Bauwerken Structural Art und die Gesellschaft

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Teil 1 Das Zeitalter des Eisens 2

Thomas Telford und die neue Kunstform Die zweite Eisenzeit Thomas Telford und die Kunst der Brücke Telford und die Grenzen des konstruktiv Machbaren Kunst und Politik Telfords Ästhetik Wissenschaft und Ingenieurbau 3 Brunel, Stephenson und die Eisenbahn Das Problem der Form Robert Stephenson Isambard Kingdom Brunel Die Spannung zwischen Structural Art und Wirtschaft Brunel und Stephenson 4 Gustave Eiffel und der Sichelbogen Ein Turm und eine Ausstellung Ingenieurbauwerk und Architektur Gustave Eiffel Der Crystal Palace von 1851 und die Pariser Weltausstellung 1867 Große Weiten, große Höhen

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Inhaltsverzeichnis

Die erste Sichelbogenbrücke: Douro Die zweite Sichelbogenbrücke: Garabit 5 John Roebling und die Hängebrücke Brunel und Roebling Immigrant und Ingenieur Roebling und die Grenzen des konstruktiv Machbaren Die Ohio River Bridge Roeblings Ideale 6 Die Brücke und der Turm Höhepunkt und Aufklärung Die Funktion folgt der Form Die Kostenunsicherheit Wirtschaftlichkeit und Kreativität Structural Art und der Künstler Vorläufige Gedanken zu Structural Art

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Teil 2 Das neue Zeitalter von Stahl und Beton 7

Jenney und Root: Die erste Chicagoer Schule Bürotürme Gotik als Nostalgie Wolkenkratzer und Kathedralen Die erste Chicagoer Schule William Le Baron Jenney John Wellborn Root Root und Sullivan 8 Große Stahlbrücken von Eads bis Ammann Wolkenkratzer und Brücken Chicago gegen St. Louis: Die Eads Bridge Die Brücke über den Firth of Forth Der Übergang: Gustav Lindenthal Die Hell Gate Bridge Moderne Formen aus Stahl: Othmar Ammann Die George Washington Bridge Wissenschaft und Konstruktion Hell Gate und Bayonne Zwei Visionen: Ammann und Steinman 9 Robert Maillart und neue Formen in Stahlbeton Der Werkstoff des 20. Jahrhunderts Deutsche Wissenschaft, französische Industrie

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Inhaltsverzeichnis

Die Schweizer Synthese Robert Maillart Neue Formen für Brücken Neue Formen für Gebäude 10 Dachgewölbe und nationale Stile Die Vorstellungskraft des Ingenieurs und lokale Traditionen Dischinger, Finsterwalder und die deutsche Schule Nervi und die italienische Tradition Die spanische Schule: Gaudí, Torroja und Candela Candela und die Tugend der Schlankheit 11 Eugène Freyssinets Leitgedanke Ein neues Material Eugène Freyssinet Die Anfänge der Vorspannung in der freien Natur Le Veurdre und die Ästhetik von Bögen Dünne Gewölbeschalen: Orly und Bagneux Freyssinet und Maillart 12 Arbeit und Spiel: Neue Betongewölbe Formen und Formeln Candela, Maillart und die Aversion gegen die Hässlichkeit Die neue schweizerische Synthese Heinz Islers Schalen Isler und die wissenschaftliche Theorie 13 Neue Türme, neue Brücken Wettbewerb und Spiel Fazlur Khan und die Zweite Chicagoer Schule Der Ausdruck des Tragwerks in hohen Gebäuden Türme aus Beton Türme aus Stahl Khan und Teamarbeit Der explosionsartige Ausbau der Fernstraßen Christian Menn Vom Felsenauviadukt zur Ganterbrücke Die Konstruktion der Ganterbrücke Demokratie und Konstruktion Epilog: Ingenieurbau als Kunst Konstruieren und Kunst Konstrukteure und Künstler Anmerkungen Abbildungsverzeichnis Stichwortverzeichnis

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Kapitel 2

Thomas Telford und die neue Kunstform Wir sahen in Kapitel 1, dass es zwei wesentliche Phasen der Structural Art gibt. Die erste folgte direkt auf die industrielle Revolution. Sie begann im späten 18. Jahrhundert und verbreitete sich im Laufe der nächsten 100 Jahre über die ganze Welt. Die zweite Phase begann im späten 19. Jahrhundert und dauert bis heute an. Der wesentliche Unterschied zwischen beiden liegt in den verwendeten Materialien und den errichteten Bauwerken. In der ersten Phase ist das Material Eisen und die Konstruktionen sind meist optisch komplex. In der zweiten kommen Stahl und Beton zum Einsatz und die Konstruktionen sind in der Regel optisch einfacher. Der Eiffelturm und die Brooklyn Bridge sind Bauwerke, die zwischen beiden Zeiträumen stehen. Sie waren keine technischen Durchbrüche, sondern – als die letzten Konstruktionen der beiden berühmtesten Brückenbauer des 19. Jahrhunderts – Höhepunkte und Verheißungen. Ihr Hauptzweck war in beiden Fällen, zuvor nie gesehene Dimensionen mit Eisen zu überspannen, dem Material der industriellen Revolution. Eiffels und Roeblings Werke prägen die moderne Welt, weil sie neue Formen in Eisen, in neuen Dimensionen und an bleibenden Standorten erschufen. Obwohl es natürlich auch wichtig – wenngleich offensichtlich – ist, dass solche Strukturen nicht vor der industriellen Revolution entstehen konnten, weil zuvor noch kein Industrieeisen existierte. Der Turm und die Brücke waren daher in den 1880er Jahren nicht nur Vorboten der Zukunft, sie waren auch Gipfelpunkte der Vergangenheit. Der Eiffelturm war aus Eisen, nicht aus Stahl, sodass er in dieser Hinsicht in die erste Phase gehört, aber seine Form gab die Richtung für neue Formen in Stahl vor. Umgekehrt war Roeblings Brücke die erste große Brücke, in der Stahl für die Tragseile verwendet wurde, aber ihre senkrechten Pylone und ihre Schrägseile spiegeln die komplexeren Formen der Vergangenheit wider. Beide Bauwerke werden in den Kapiteln 4 bis 6 ausführlicher diskutiert, vor allem im Hinblick darauf, inwiefern sie aus den hier betrachteten Entwicklungen folgen, inwieweit sie auf die im zweiten Teil dieses Buches beschriebenen Entwicklungen hinführen und inwiefern sie die Ideale der Structural Art versinnbildlichen, denen im Laufe des gesamten Buches unser Hauptaugenmerk gilt. Der Turm und die Brücke. 1. Auflage. David P. Billington. © 2014 Ernst & Sohn GmbH & Co. KG. Published 2014 by Ernst & Sohn GmbH & Co. KG

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Die zweite Eisenzeit

Die zweite Eisenzeit Bei der Betrachtung der ersten Phase ist die entscheidende Frage, die wir stellen müssen, was genau während der industriellen Revolution passierte und die neue Kunstform bei Bauwerken möglich machte. Ein zentraler Punkt der industriellen Revolution ist ein Material – Eisen. Die neuen Herstellungsverfahren für dieses alte Material waren wesentliche Voraussetzung für die berühmteste technischen Entwicklung des 18. Jahrhunderts in Großbritannien: die Dampfmaschine. Ohne diese neuen Verfahren und das dadurch billige und reichlich verfügbare Eisen wären die Veränderungen in der Industrie nicht so umfassend geworden, dass sie den Begriff „Revolution“ verdient hätten.1 Diese neuen Verfahren ersetzten unter anderem die Holzkohle im Schmelzprozess durch Koks. Dank des Energiekonzentrats Kohle anstelle des weitaus schwächeren Energiespeichers Holz konnten die Gießereien der West Midlands von nun an Eisen für Maschinen und Konstruktionen liefern, die zuvor aus Holz bestanden hatten. Die Kohle verdrängte also bei der Eisenherstellung das Holz, während das Eisen in den Endprodukten ebenfalls das Holz ersetzte. In beiden Fällen verdrängte also das dichtere und festere Material die weichere organische Substanz, die die Grundlage der Technik früherer Kulturen gewesen war. Anders gesagt ersetzte ein nicht erneuerbarer Rohstoff einen nachwachsenden – das ist die entscheidende ökologische Tatsache der industriellen Revolution. Die Gesellschaft wandte sich dem Abbau ihres geologischen Kapitals zu und somit von einer noch extensiveren Nutzung der Forstwirtschaft ab. Gleichzeitig erhöhte sich die verfügbare Leistung enorm und eine zentralisierte Produktion wurde immer wirtschaftlicher. Auf diese Weise wurde die Entwicklung der Technik und der Gesellschaft als Ganzes ab dem späten 18. Jahrhundert durch die Entwicklung des Industrieeisens geleitet. Das dauerhafteste Symbol des Anstiegs der Eisenproduktion im 18. Jahrhunderts ist die Iron Bridge (Abb. 2.1), die im Jahr 1779 von Abraham Darby III aus gusseisernen Einzelteilen erbaut wurde. Sie war seinerzeit die einzige Brücke in der Region des Severn River, die das katastrophale Flusshochwasser von 1795 überstand. Das war für Thomas Telford, den Gründungspräsidenten der weltweit ersten Gesellschaft für Bauingenieurwesen, der Anlass, sich vom Mauerwerk abund Metallkonstruktionen zuzuwenden. Telford erschuf eine erste Reihe von Eisenbrücken, die eindeutig den persönlichen Stil eines Ingenieur-Künstlers zeigten. Für ihn war klar, dass die Iron Bridge die Flut einzig aufgrund der Schlüsseleigenschaft des Eisens – seiner hohen Festigkeit – unbeschadet überstanden hatte. Das frühe Gusseisen war etwa fünfmal so stabil wie Holz und erforderte daher nur ein Fünftel des Materials, um dieselbe Last zu tragen. Diese drastische Reduktion des erforderlichen Materials ermöglichte Konstruktionen, die während eines Hochwassers mehr Wasser durch die Brücke fließen ließen. Gemauerte Brücken wirkten wie Dämme und bauten einen hohen Wasserdruck auf, der die Konstruktion leicht zerstörte. Auch Holzbrücken hatten eine ähnliche Stauwir24


Thomas Telford und die neue Kunstform

Abb. 2.1 Die Iron Bridge über den Severn (Coalbrookdale/England, 1779) von Abraham Darby III. Diese gusseiserne Bogenbrücke war das erste bedeutende aus Eisen erbaute Bauwerk. Mit ihrer Spannweite von 30 m und ihren halbkreisförmigen Bögen ähnelt sie in Form und Details früheren Bogenkonstruktionen aus Mauerwerk. Zwei der Bogenstreben sind unvollständig; sie enden dort, wo sie auf die Fahrbahnplatte treffen.

kung und waren darüber hinaus auch anfällig für Brüche an den Fugen und schwammen leicht auf. Die visuelle Leichtigkeit und die bewiesene Stabilität der Iron Bridge brachten Telford und andere um die Jahrhundertwende dazu, über das neue Material und neue Konstruktionsformen nachzudenken. Anfänglich dachten sie verständlicherweise immer noch in den Kategorien von Konstruktionen aus Stein oder Holz, und viele Konstrukteure versucht lediglich, die bekannten Konstruktionen mit dem neuen Material umzusetzen. Die Iron Bridge selbst hat noch die halbrunde Form, die für Steinbögen typisch war, und ihre aneinandergefügten Einzelteile erinnern an Holzkonstruktionen.2 Telford erkannte jedoch, dass das neue Material auch eine veränderte Denkweise verlangte. Er sah klarer als seine Zeitgenossen die Möglichkeiten einer neuen visuellen Welt aus Eisen voraus, weil er sein Denken stets auf konkrete Objekte anstelle von Theorien richtete, auf die Praxis des Bauens anstelle der Planungsarbeit und auf große öffentliche Bauwerke anstelle von privater Architektur für die Aristokratie.

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Thomas Telford und die Kunst der Brücke

Thomas Telford und die Kunst der Brücke Telford wurde 1757 in Glendinning in Schottland geboren. Er begann seine Karriere als Steinmetz und arbeitete 1778 am Bau einer Dreifeld-Steinbogenbrücke bei Langhold mit. 1782 verließ er Schottland und ging nach London, um ein größeres Betätigungsfeld zu finden. Dort arbeitete er als Zeichner in einem Architekturbüro und von 1784 bis 1787 war er mit Umbauten am Shrewsbury Castle in Shropshire beschäftigt. Neben diesen architektonischen Arbeiten plante er 1787 als technischer Sachverständiger des Kreises seine erste Brücke, bestehend aus drei Steinbögen, die 1792 in Montford fertiggestellt wurde. Zu dieser Zeit zeichnete sich sein Talent für große Bauwerke ab, und als die Direktoren des geplanten Ellesmere-Kanals ihm die Durchführung dieses gewaltigen Projekts anboten, akzeptierte Telford. Später schrieb er darüber: Ich fühlte in mir eine stärkere Neigung, Bauwerke von Bedeutung und Größe auszuführen, als architektonische Details von Häusern auszuarbeiten, daher zögerte ich nicht, ihr Angebot zu akzeptieren, und ab dieser Zeit richtete ich meine Aufmerksamkeit ausschließlich auf das Bauingenieurwesen.3 Diesen Gedanken könnte man als erste bewusste Manifestation des neuen Ingenieurberufs ansehen, komplett von der Architektur getrennt und untrennbar mit der industriellen Revolution verbunden. Telfords Entscheidung führte in direkter Folge zu dem eindrucksvollsten metallenen Monument im Stil des 18. Jahrhunderts, das heute noch erhalten ist: das Pontcysyllte-Aquädukt für den EllesmereKanal bei Llangollen, das 1805 fertiggestellt wurde und bis heute mit der ursprünglichen Konstruktion aus Gusseisen in Betrieb ist. Ab 1795 arbeitete Telford mit gusseisernen Konstruktionen, aber erst mit der Konstruktion der Bonar Bridge im Jahr 1810 waren seine Ideen bis zu dem Punkt gereift, an dem eine neue Form entstehen konnte.4 Für diese Brücke über den Dornoch Firth in Schottland schlug Telford einen gusseisernen Bogen mit einer Spannweite von 46 m vor. Teilweise bevorzugte er diese große Spannweite gegenüber der normalen Lösung aus früheren Zeiten mit zwei Steinbögen wegen der Gefahren durch Hochwasser und Eis. Noch wichtiger waren ihm jedoch seine Konstruktionsprinzipien: „... die Konstruktion von Eisenbrücken und ihre äußere Erscheinung zu verbessern ... [und] einen beträchtlichen Teil des Eisens und somit Gewicht einzusparen“.5 Auf diese Weise legte Telford die zentralen Gedanken dieses neuen Paradigmas dar – effiziente Nutzung von Materialien, wirtschaftliche Bauweise und Erscheinungsbild der resultierenden Konstruktion –, die seither für alle Ingenieur-Künstler gelten. Telfords eiserne Bogenbrücken waren weder die einzigen derartigen Bauwerke dieser Zeit noch die mit den größten Spannweiten. Die Sunderland-Brücke (oder Wearmouth-Brücke) von 1796 hatte eine Spannweite von 72 m und John 26


Thomas Telford und die neue Kunstform

Rennie – der zu dieser Zeit als einziger Telford den Titel als bester Brückenkonstrukteur Großbritanniens streitig machen konnte – erbaute 1819 die Southwark Bridge mit einem zentralen gusseisernen Bogen mit einer Spannweite von 73 m.6 Was Telford von seinen Mitstreitern unterscheidet, ist sein klarer persönlicher Stil – seine Eisenbögen sind optisch ansprechender als die seiner Zeitgenossen und auch technisch überlegen. Eine aktuelle Zusammenstellung von gusseisernen Brücken aus der Zeit zwischen 1779 und 1871 führt die Brücken in der Reihenfolge ihrer technischen Qualität auf. Von den neun besten genannten Brücken stammen acht von Telford.7 Von diesen acht stehen heute noch fünf. Die älteste erhaltene Brücke im Stil der Bonar Bridge ist die Craigellachie Bridge von 1814 (Abb. 2.2). Ihr Bogen besitzt ein flaches, kreisförmiges Profil mit konstanter Dicke und besteht aus zwei gebogenen Elementen, die durch gekreuzte und radiale Streben miteinander verbunden sind. Die dünne Fahrbahn ist leicht nach oben gekrümmt und durch dünne Diagonalstreben, die im Wesentlichen radial verlaufen, mit dem Bogen verbunden. Die ganze Konstruktion ist leicht und offen, die Eisenkonstruktion entspricht dem sichtbaren Tragwerk und der Bogen besteht über seine gesamte Länge aus Standardelementen. Obwohl

Abb. 2.2 Die Craigellachie Bridge über den Spey (Elgin/Schottland, 1814) von Thomas Telford. Diese flache, gusseiserne Brücke mit einer Spannweite von 46 m ist das älteste noch erhaltene Exemplar eines Typs, der die ersten modernen Metallbrücken repräsentiert. Der aus Fachwerkelementen bestehende Bogen läuft mit konstanter Dicke zwischen den beiden Widerlagern durch.

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Telford und die Grenzen des konstruktiv Machbaren

einzelne visuelle Elemente von Holzbrücken abgeleitet sind, ist die von Telford im Jahr 1810 entworfene Gesamtkonstruktion etwas Neues, eine dem Gusseisen angemessene Form. Über Telfords ästhetische Absichten gibt es keinen Zweifel. Er äußerte sich feinfühlig über die schottischen Landschaften und die schöne Umgebung von Llangollen in Wales.8 Er war eng genug mit den Architekten seiner Zeit verbunden, um ihre Liebe zum Pittoresken zu teilen und sich der Bedeutung der Umgebung für ein Bauwerk bewusst zu sein. Aber er war auch der erste Bauingenieur, der sich bewusst von den alten Regeln des architektonischen Geschmacks entfernte. Er wollte nicht über die alten architektonischen Vorstellungen von Proportion, Symmetrie und Rhythmus schreiben, sondern über die neuen technischen Fragestellungen Konstruktion, Gewicht und Gründung. Seine Gedanken galten stets dem Aussehen, der Landschaft und der Form, aber für Telford musste die Schönheit von innen kommen, aus den technischen und wirtschaftlichen Randbedingungen, und nicht von außen aus den über Jahrhunderte in der Architektur der Steinbauten tradierten Bildern und Rezepten.

Telford und die Grenzen des konstruktiv Machbaren Gusseisen beflügelte die Phantasie Telfords und anderer. Es begründete im tiefsten Sinn des Wortes den modernen Ingenieurberuf, indem es die Konstrukteure dazu zwang, über Tragwerke in einem ganz neuen Maßstab nachzudenken. Als das britische Parlament 1799 einen Ausschuss einsetzte, der zahlreiche Vorschläge für die dringend benötigte neue London Bridge sichten sollte9, war das für Telford der Anlass, sich mit Brücken mit sehr großer Spannweite zu befassen. Eine Idee war, die Themse in einem einzigen großen Bogen zu überspannen, um dem Schiffsverkehr eine einfache Passage zu ermöglichen. Das geringe Gewicht und die Festigkeit von Gusseisen zeichneten den Weg zu einer möglichen Lösung vor. Von den vielen eingereichten Vorschlägen fand der Ausschuss Thomas Telfords Entwurf aus dem Jahre 1800 am beeindruckendsten, der einen gusseisernen Bogen mit einer Spannweite von 180 m vorsah. Es folgte eine umfangreiche Untersuchung der Machbarkeit einer solchen Konstruktion, an der praktisch alle wichtigen Anwender von Gusseisen aus dem aufstrebenden Ingenieurwesen beteiligt waren. Zu den Befragten zählten zahlreiche Universitätsprofessoren, James Watt, der berühmte Eisengießer John Wilkinson und John Rennie. Obwohl es Konsens war, dass Telfords gewaltige und elegante Konstruktion realisierbar war, setzte das Parlament sie nie um. Dieser Entwurf war der früheste Vorläufer des Eiffelturms und der Brooklyn Bridge. Ihr vorgeschlagenes Eisenfachwerk und ihre enorme Höhe hätten London visuell ähnlich dominiert wie Eiffels Werk Paris fast ein Jahrhundert später, und der zweifellos beeindruckende Blick auf die Stadt, der sich beim Überqueren einer Brücke bieten sollte, nahm 28


Thomas Telford und die neue Kunstform

die visuelle Spannung von Roeblings zentralem erhöhten Fußweg nach Brooklyn vorweg. Ausgerechnet diese Höhe, die Telfords Phantasie so angeregt hatte, führte aber zu großen Kosten der Zufahrten zu der Brücke und vermutlich dadurch zu ihrer Ablehnung durch das Parlament. Schließlich wurde John Rennie mit dem Bau der Waterloo Bridge (1817) und der London Bridge (1831) betraut. Er griff dabei auf ältere Pariser Beispiele von mehrbögigen Steinbrücken zurück und verstärkte so die vorherrschende Meinung, dass Stein das angemessene Material für eine Stadt sei. Es muss kaum angemerkt werden, dass diese steinerne Selbstdarstellung nicht Telfords Sache war. Trotz seiner Bedeutung war Telfords Entwurf für die London Bridge nicht wirklich modern. Vielleicht durch die Sunderland-Brücke von 1796 beeinflusst (die wiederum auf Ideen von Thomas Paine zurückging), schlug Telford eine Reihe von parallelen bogenförmigen Elementen vor, ähnlich den drei parallelen Bögen der Iron Bridge, nur sehr flach. Obwohl seine kühne Konstruktion andere zu Bögen mit großen Spannweiten inspirierte, entfernte sich Telford selbst bald von dem Vorläufer Iron Bridge und entwickelte 1810 die neue Form der Bonar Bridge. In seiner Autobiographie erwähnte Telford den Entwurf für die London Bridge nicht, und auch in seinem Atlas of Works war er nicht enthalten. In seinem Artikel „Bridge“ von 1812 erwähnte er ihn kurz, ohne aber eine Zeichnung beizufügen, und sprach stattdessen lieber ausführlich über die Bonar Bridge und seinen Vorschlag für einen 150-m-Bogen über die Menaistraße, ebenfalls im Stil der Bonar Bridge. Nach 1800 wandte Telford seine Energien mehr der Provinz zu, wo er als Antwort auf die neuen Anforderungen der Industrie neue Formen entwickeln konnte. 1803 wurde er Ingenieur des Beauftragten für Straßen- und Brückenbau in den schottischen Highlands. In dieser Position begann er – mit der Bonar Bridge und der Craigellachie Bridge – die ersten Eisenbrücken zu entwerfen, die aus heutiger Sicht technische Qualität mit einem ansprechenden Äußeren verbinden. Telford zog es nicht nur von den schottischen Highlands zu den Hügeln von Wales, sondern auch an die Grenzen des konstruktiv Machbaren – allerdings nicht bei Bögen, sondern bei Hängebrücken und nicht mit Gusseisen als Material, sondern mit Schmiedeeisen. Die zweite Eisenzeit begann in der Gießerei und manifestierte sich erstmals in Form von Bögen aus gusseisernen Einzelteilen, die ähnlich wie Steinbögen konstruiert und zusammengesetzt wurden. Schmiedeeisen entstammt dagegen der Schmiede und wurde im Bauwesen erstmals in den Ketten der Hängebrücken des frühen 19. Jahrhunderts im großen Maßstab verwendet. Gusseisen kann wie Stein Druck weit besser aufnehmen als Zug und ist wetterfester als Schmiedeeisen. Daher war Gusseisen der offensichtliche Ersatz für Stein in Bogenbrücken, während Schmiedeeisen das naheliegende Material für die Ketten der neuen Hängebrücken war. 29


Telford und die Grenzen des konstruktiv Machbaren

Abb. 2.3 Die Menai Bridge über die Menaistraße (Wales, 1826) von Thomas Telford. Diese schmiedeeiserne Ketten-Hängebrücke mit einer Spannweite von 180 m war bei ihrer Fertigstellung die Brücke mit der größten Spannweite der Welt.

Die ersten drei Jahrzehnte des neuen Jahrhunderts erlebten den Vormarsch der Hängebrücke von exotischen Seilkonstruktionen aus Südamerika und China bis ins Herz der industriellen Revolution. Großbritannien bereitete den Weg. Das großartigste Bauwerk dieser Periode war Telfords Brücke über die Menaistraße im Nordwesten von Wales (Abb. 2.3) mit ihrer Spannweite von 180 m, die 1826 fertiggestellt wurde. Sie war die erste britische Brücke, die unbestritten die größte Spannweite der Welt besaß.10 Sie ist das wichtigste Bauwerk in Telfords bemerkenswerter Karriere und symbolisiert heute noch den Aufbruch im vorviktorianischen Großbritannien. Ihre Konstruktion und ihre spätere Geschichte zeigen sowohl die Verheißung als auch die Gefahren der industrialisierten Welt. Die Brücke verlief über den schwierigsten Abschnitt der Straße zwischen London und der Fähre nach Dublin in Holyhead auf der Insel Anglesey. Telford erhielt 1810 den Auftrag für das Gesamtprojekt einer besseren Verbindung zwischen London und Dublin, das durch die Vereinigung von Irland und Großbritannien im Jahr 1800 in Gang gesetzt worden war, und sein Entwurf für die Brücke wurde 1817 vom Parlament akzeptiert. Neun Jahre später, am 30. Januar 1826, galoppierte die Londoner Postkutsche über die erste Brücke, die direkt über einen Streifen offenen Meeres führte.11 30


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