Kein Ort, sondern ein Zustand

Page 1

AUSSTELLUNG – PUBLIKATION – RAHMENPROGRAMM Mit ARBEITEN von

ANNE QUIRYNEN WERMKE / LEINKAUF AMOL K PATIL CRISTIAN FORTE BRUNNER & ENDEWARDT Mit TEXTBEITRÄGEN von

HEINZ BUDE, DANIELA DÖRING, WINFRIED GERLING, SASKIA OIDTMANN, MAX OTT, STEFANIE SCHULTE STRATHAUS, FRAUKE SURMANN

KEIN ORT, SONDERN EIN ZUSTAND

RAHMENPR0GRAMM in KOOPERATION mit VISION & FEAR STATION – Klasse Expanded Cinema / Clemens von Wedemeyer, Galerie für zeitgenössische Kunst, Leipzig PRALINE OFFSPACE, Leipzig SANDRA HETTMANN, GINÉS OLIVARES

Kuratiert von LENA VON GEYSO und ELISABETH PICHLER

15.05.–24.05.2015, Kunstraum D21, Demmeringstr. 21, Leipzig


Kein Ort, sondern ein Zustand Vorwort [1] Nancy, Jean-Luc: Ausdehnung der Seele. Texte zu Körper, Kunst und Tanz, Berlin, 2010, Klappentext.

Der Körper ist die Ausdehnung der Seele bis ans Ende der Welt.[1] Was bedeutet es, mit dem Körper zu denken? Dem Körper als Handlungsträger und Medium kommt seit der performativen Wende eine ungebrochene Aufmerksamkeit zu, die sich von Objekten hin zu Handlungs- und Wirkungszusammenhängen verlagert. Von Flüchtigkeit und Unmittelbarkeit gekennzeichnete Interventionen stellen sowohl normative Räume als auch Stabilität und Seinsgewissheiten in Frage und reflektieren internalisierte Reproduktionen von Strukturen: Die direkte oder immanente körperliche Präsenz Anderer überträgt sich auf Vorstellungen des eigenen Körpers und seine Handlungsmöglichkeiten. Neue Perspektiven auf körperliche Begrenzungen und Begrenztheit, Instabilitäten und Vergänglichkeit verhandeln auch die räumlichen, ökonomischen und politischen Strukturen, in die diese Körper eingebunden sind. Welchen Logiken und Regeln folgen wir? Können und wollen wir mit diesen brechen? Was bedeutet es, den Körper zu denken? Im Sinne eines Korpus bildet der Körper über seine physische Gestalt hinaus einen Resonanzraum, in dem verschiedene Räumlichkeiten und Zeitlichkeiten zum Tragen kommen. „Kein Ort, sondern ein Zustand“ zeigt das ambivalente Verhältnis des Körpers als Instrument und Instrumentalisierungen des Körpers in Bezug auf räumliche, ästhetische und gesellschaftliche Strukturen. Im Ausstellungsraum und im Raum der Publikation, in Künstler_innengesprächen und Performances werden diese Fragen in unterschiedlichen Disziplinen und Formaten kontextualisiert und erweitert. Die Ausstellung versammelt Objekte, Film-, Video- und Soundarbeiten von internationalen Künstler_innen, die sich mit körperlichen Handlungsspielräumen und Begrenzungen, Normalität und Abweichung, Normierungen und Optimierungen, Zurschaustellung und Schaulust auseinandersetzen. Die Publikation verändert die Rezeptionsbedingungen und stellt die Frage nach Körperlichkeit in einem anderen Zusammenhang: In einer experimentellen Erweiterung, Kontextualisierung und Übertragung werden weitere Arbeiten der ausstellenden Künstler_innen gezeigt und miteinander in Beziehung gebracht. Dies geschieht mittels unterschiedlicher Formen der schreibenden Praxis und durch die Ergänzung um assoziatives Bild- und Recherchematerial.

[2] Quirynen, Anne: Stell dir vor – die temporäre Form einer Oberfläche, die durch Unterströmungen gebildet wird. In: Quirynen, Anne; Geyso, Lena von (Hg.): Reflections into a Thousand Pieces. Videos und Installationen von Anne Quirynen, Berlin, 2015, S. VIII–XIV, hier S. VIII. [3] Aufgrund ähnlicher Bodenbeschaffenheit nutze das MARTE-Team der NASA das Gebiet der stillgelegten Kupfermine Río Tinto, um Bohrelemente zu testen, die zu Bodenuntersuchungen auf dem Mars eingesetzt werden.

Bilder und Körper „Digitale Bilder sind keine Imitation der Realität. Stattdessen befragen sie die Prozesse von Erkennen und Wahrnehmung. In diesem Sinne ist es mein Ziel, die Grenzen des Bildes zu verschieben, um Gedankenbilder zu erschaffen, die vom Auge nicht gesehen werden können“,[2] beschreibt Anne Quirynen ihre künstlerische Praxis. Auf alchimistische Art und Weise spiegelt die 2-Kanalinstallation „Venus Mission“ Bilder des stillgelegten Kupfer-Tagebaus Río Tinto und der astronomischen Erforschung des Planeten Mars ineinander:[3] In den Ähnlichkeiten und in den Differenzen dieser Bilder – ein Ort des menschlichen und landschaftlichen Raubbaus und ein Ort, der als Projektionsfläche für neue Besiedelungsszenarien gilt – eröffnen sich mediale und ästhetische, vergangene und zukünftige Vorstellungen von Landschaft. Anne Quirynen filmt mit dem Körper: In den Bildern nicht ‚sichtbar‘, schreibt er sich durch ein Einbeinstativ, das die Künstlerin eng an ihren Körper bindet, als Möglichkeitsbedingung und als Spur wieder in die ‚verlassenen‘ Landschaftsbilder ein. Angelehnt an die Panoramafotografien aus dem Archiv von Río Tinto und an die Fotos aktueller Marsforschung überträgt die Installation die Bilder in eine panorama-ähnliche installative Anordnung. Die Publikation hält die Raum-Zeitlichkeit der Installation in einer Momentaufnahme fest.


Matthias Wermke und Mischa Leinkauf brechen in ihren Videoarbeiten mit konventionellen Verhaltensweisen und verbinden dabei Unmittelbarkeit mit Formalisierung. Die beiden Künstler machen Lücken, Spalten, Auf-, Ab- und Ausstiege in der Stadtstruktur sichtbar, an denen sie ihre eigen- und widersinnigen, manchmal subtilen und häufig spektakulären Interventionen planen und ausführen. Wermke ist dabei meist vor der Kamera: Ein Körper, der ebenso artistisch wie subversiv – auf Dächern, Brücken, Türmen oder in Tunnelsystemen – erstaunt, verwundert, verstört oder zum Lachen bringt. Leinkauf übersetzt dies in ruhige und präzise Bilder. Ihre Ideen bestechen durch Einfachheit und stellen doch existenzielle Fragen. Handlungen, Bewegungsabläufe und serielle Aneignungen auf ungesichertem Terrain widersetzen sich nicht den Gesetzen der Physik, sondern erweitern die Grenzen des Vorstellbaren. In der Nacht vom 21. auf den 22. Juli 2014 hissten sie auf den Türmen der Brooklyn Bridge in New York zwei „White American Flags“. Der Intervention folgten enorme Ermittlungen des NYPD und eine breite Medien-Diskussion. Die Abbildung in der Publikation ist eine der ersten Fotografien des Künstlerduos, die ihr öffentliches Bekennen zu der Aktion begleitete. Als Gründungsmitglied des interdisziplinären, künstlerischen und politischen Kollektivs Grupo Etcétera ist Cristian Forte stark vom Surrrealismus, konkreter Poesie und der Bewegung International Errorista beeinflusst. Die zahlreichen in kollektiven und autonomen Prozessen entstandenen Arbeiten zeichnen sich durch eine besondere Interpretationsoffenheit, oft widerspenstige Logik und Humor aus. „Nützliche Anwendung zur Vermessung des Kopfumfanges“ ist der Auszug einer Publikation von Cristian Forte.[4] Auf spielerische Weise fordert die Arbeit die Vermessung des Körpers und der Stadt heraus: Ein Rundgang, bei dem Ausmaß und Wegeführung vom Umfang des Kopfes bestimmt werden. Die Abbildung in der vorliegenden Publikation zeigt die „Nützliche Anwendung zur Vermessung des Kopfumfanges“ während eines Spaziergangs mit der „Nützlichen Anwendung zur Vermessung des Kopfumfanges“. Einer Familientradition folgend, beschäftigt sich Amol K Patil in seinen Performances einerseits mit dem Erbe seines früh verstobenen Vaters Kisan, der als Avantgarde-Theaterautor in Bombay tätig war, andererseits mit aktuellen Entwicklungen der von Massenmedien, Bollywood und der Mall- und Markenkultur geprägten Gesellschaft Indiens. Dabei greift Patil immer wieder das Motiv der Haut auf, die als Indikator sozialer Zugehörigkeit gilt und einen wichtigen Bereich der indischen Kosmetikindustrie darstellt. „Impression“ ist das Produkt einer Performance vor der Kamera, in der Patil eine Henna-Zeichnung auf seiner Haut mit Hilfe des Kunstharz-Klebstoffs Fevicol fixiert und wie eine zweite Haut abstreift. „My body becomes a machine and heat from it helps the Fevicol dry over a period of 24 hours, which is then peeled off. The peeled layer then contains the textures and wrinkles of my skin. They merge and create a surface of their own; to peel the so called ‚dead skin‘ from my body.“ Screenshots aus Patils Videoarbeit werden in der Publikation in eine Einzelbildabfolge rückübertragen. Stefan Endewardt und Julia Brunner untersuchen in ihren neueren Projekten, die sie „Psychogramme der Gesellschaft“ nennen, mit künstlerischen Medien das Spannungsfeld Raum-Gesellschaft-Psychologie. Ihr Repertoire umfasst künstlerische Arbeiten mit oder ohne partizipativen Ansatz, die sich in raumgreifenden, multimedialen Installationen zusammenfügen. Für die Publikation gestaltet Stefan Endewardt eine Bildwelt zu der Geräuschwelt der 24-Kanalinstallation „Das Gefängnis in mir“, in der die begehbare Kopfarchitektur bildlich abgetastet wird. Entstanden ist eine Anschauungstafel, in der sich die Klassifizierung und Kontrollierbarkeit klinischer und psychologischer Forschungsmethoden mit individuellen und kollektiven Erfahrungen verbinden: Gefangensein zwischen Individualisierung und Zugehörigkeit, zwischen Selbsterfüllung und Pflichtbewusstsein, zwischen unbegrenzten Möglichkeiten und daraus resultierenden (Angst)Zuständen.

[4] Forte, Cristian; Zíngano, Érica (Hg.): KM.0. Poetry Project, Berlin, 2014.


Körper-Sprachen Im Spannungsverhältnis zwischen Einverleibung und Ausdruck, Innenwelt und Umwelt, Freiheit und Begrenzung widmen sich die Textbeiträge in der vorliegenden Publikation Potenzialen von Bewegung und verschiedenen Sichtbarkeiten und Ausprägungen von Körperlichkeit. Anhand zweier in(ter)ventionistischer Aufführungspraktiken im öffentlichen Raum führt Frauke Surmann in „Appetizer. Kulinarische In(ter)ventionen im öffentlichen Raum oder Über die Politik des Essens“ das politische und ästhetische Potenzial des Essens als identitäts- und zugehörigkeitsstiftendes Politikum aus: „Im Akt des Essens manifestiert sich ein besonderes Verhältnis zum eigenen Körper, ebenso wie zur Welt und zum Anderen. Wesentlich geprägt ist dieses Verhältnis von einer temporären Durchlässigkeit, in der sich Innen und Außen, Ich und Welt auf einmalige Art und Weise miteinander verschränken.“ Die von Surmann beschriebenen öffentlichen In(ter)ventionen, die Dîner en blanc und die Secret Dinner werden als Praxis der aktiven Aneignung, Nutzbarmachung und Einverleibung der räumlichen Umgebung bzw. sinnliche Manifestation eines demokratischen Dispositivs gelesen, die ein über sich selbst hinausweisendes kreatives und sozio-politisches Potential freisetzen können. Die Stadtutopisten der 1960er und 1970er Jahre versuchten räumliche Systemgrenzen der Architektur und des Städtebaus zu verschieben, zu sprengen oder neu zu definieren und gesellschaftlichen Forschritt und soziale Umwälzungen anzustoßen. In seinem Text „GRENZ E N L O S E ARCHITEKTUR – Stadtutopien der 1960er/1970er Jahre“ widmet sich Max Ott dem Verhältnis von physischer Umwelt und gesellschaftlichem Raum. Ott beschreibt, wie Architektur und Städtebau zur räumlichen Strukturierung urbaner Lebenszusammenhänge beitragen und den sozialen Raum der Stadt ästhetisch wahrnehmbar und körperlich erfahrbar machen. Als besonderes Merkmal der Architektur hebt er die strukturelle Besonderheit hervor, mit baulichen Mitteln Innen-Außen-Beziehungen zu strukturieren.

[5] Schulte Strathaus, Stefanie: Maximilian’s Darkroom. In: Make up Productions. Essays and Texts, Berlin, 2005; http://www.make-up-productions. net/pages/essays-and-texts.php (Stand 1.05.15).

Stefanie Schulte Strathaus widmet sich der Kinoarchitektur. In Auszügen aus einem Text zur Installation „Maximilian’s Darkroom“ von Anne Quirynen werden auf assoziative Art und Weise Bilder und Protagonist_innen der Kinogeschichte und des Expanded Cinema aufgerufen.[5] Schulte Strathaus deutet an, wie räumliche Bildkadrierungen die Bewegungen des Körpers auf der Leinwand bestimmen. Techniken der Vermessung des Körpers, die Daniela Döring in „Körper nach Maß, zur Kulturtechnik des Messens“ nachzeichnet, beschreiben das Verhältnis von Zahlen und Körpern. Mathematische Quantifizierungs- und Formalisierungsprozesse – nach denen Körper vermessen, in verschiedene Einheiten zerlegt und ein ‚ideales Maß‘ bestimmt werden sollte – beanspruchen seit dem 19. Jahrhundert eine Universalität und vermeintliche Neutralität. „In der Verkoppelung von Wahrnehmungstheorie, Statistiken von Soldatenregimentern und dem Ideal einer antiken Statue wird [...] ein Maßstab am männlichen Körper generiert, der gleichsam die Bezugsgröße für das ‚Weibliche‘ abgeben wird.“ Das Messen als eine kulturelle Praxis konstituiert Maßstäbe des Körpers, die als Bezugsgrößen für Geschlechterbilder und Selbstbilder bis heute wirksam sind. „Wenn man seine Position bestimmen will, entgleiten einem die Ausmaße des Raums – und wenn man den Raum vermessen will, verliert man die Parameter für die eigene Position in diesem Raum“, beschreibt Heinz Bude in „Räume der Angst“ die Orientierungslosigkeit des Subjekts zwischen Anpassung und Individualität. Das Ich als eines, das sich als sich und in Bezug auf Andere konstituiert, verliert sich in der Angst, etwas zu verpassen, eine falsche Wahl zu treffen oder seiner (Selbst)Verwirklichung entgegenzustehen.


Saskia Oidtmann beschreibt den Verlust der körperlichen Organisation. Das Stolpern als eine temporäre körperliche Ausnahmesituation markiert eine unmittelbare Reaktion im Moment der Ungewissheit zwischen Stabilität und Kontrollverlust. In dem Augenblick, der sich zwischen dem Stolpern und dem Sturz auftut, kommt aber, so Oitdmann, nicht nur etwas Unkontrolliertes und Unbewusstes, sondern auch etwas Authentisches zum Vorschein. In „Stolpern als Schlupfloch für körperlichen Freiraum“ fragt sie nach dem künstlerischen Potenzial eines unerwarteten Bewegungsereignisses, wenn es in eine tänzerische Notation übertragen wird. Während sich Oidtmann mit einem kurzzeitigen Stabilitäts- und Kontrollverlust des Körpers beschäftigt, stellt das Springen und Fallen eine körperliche Ausnahmeerfahrung dar, in der menschliche und technische Wahrnehmungsperspektiven ins Schwanken geraten. In „The Man Who Fell to Earth“ beschreibt Winfried Gerling verschiedene Formgebungen des Falls anhand von Vor-Bildern, Abbildern und Abdrücken. Im Spannungsfeld von Perspektivierung durch mediale Aufnahmeinstrumente und subjektiver Wahrnehmung eröffnet sich die Paradoxalität des Falls zwischen Schönheit des Schwebezustands und Schmerz des Aufpralls. Wie erweitert sich der Körper einer Ausstellung? „Wenn zwei Bilder aufeinandertreffen, entsteht ein Drittes“,[6] hat Jean-Luc Godard einmal gesagt. Diese Idee eines dritten Bildes war einer der Ausgangspunkte für die Verbindung von theoretischer Reflexion, assoziativem Bildmaterial und künstlerischem Ausdruck in der vorliegenden Publikation. Während sich in der Ausstellung ein temporärer und ortsgebundener Zustand manifestiert, nimmt die Publikation vergangene und zukünftige, utopische und spekulative Vorstellungen von Möglichkeits- und Handlungsräumen in den Blick: das Motiv der Raumfahrt, das mit dem Hissen der Flagge auf dem Mond ikonographisch für das Begehren nach Erschließung neuer Territorien und einer Auslagerung von Kampfgebieten steht; Luftschlösser utopischer und anarchischer Architektur, die Vorstellungen einer engen Verbindung von äußeren Strukturen mit inneren Seinszuständen nachzeichnen; feministische Science-Fiction, die alternative Realitäten, Subjekt-Objekt-Konstellationen und ein Leben jenseits patriarchaler Gesellschaftsstrukturen vorhersieht … Lena von Geyso und Elisabeth Pichler, Berlin 2015

[6] Nicodemus, Katja: Jean-Luc Godard: ‚Es kommt mir obszön vor‘. Warum Jean-Luc Godard den Technikwahn des Kapitalismus für unanständig hält. Ein Gespräch über Geld, Europa, seinen Hund und sein neues Werk ‚Film Socialisme‘. In: DIE ZEIT Nº 41/2011, 6. Oktober 2011; http://www.zeit. de/2011/41/Interview-Godard (Stand 1.05.2015).


Stay in the Frame.

Auszßge aus: Maximilian’s Darkroom. Erschienen in: make up productions. Essays and Texts (2015)

Stefanie Schulte Strathaus

Stay in the Costume.


I sometimes have the suspicion that cinema, when seen as art, has again become narrative; as if nothing had happened, as if there were no cinema history; or as if it had progressed in a linear fashion. Installations that deal with cinema often have a nostalgic flavor and thus create an unusual contradiction: by focusing on ‘back then’, they try not to strip courses of history of their linearity by spacialization, as one might expect from an installation; rather they try to represent them. The difference between contemporary installations and the concept of expanded cinema as it existed in the 1960s and ‘70s is that one comes from the art world, the other from cinema. One tells something about cinema, while the other is cinema and speaks about itself.

In the anniversary issue of the magazine “Frauen und Film”[1], Heide Schlüpmann describes how the silent-movie star Asta Nielsen acted beyond cinematic narration: “Nielsen acts frontally and energetically and often positions herself in the foreground. With her posture in the film, she is already thinking about her appearance in the space of the movie theater, and, in a mixture of isolation and vigorous revelation, she empathetically addresses an audience that also tends toward isolation at the same time as its yearning for closeness drives it into the cinema: an audience that, arrived there, lets itself fall into a darkness whose joys are governed by the apparatus, the projector.”[2]

Nielsen, “coming from gender-politically progressive Denmark—and yet with her self-confidence unprotected in life and in the theater”[3]—is successful at a time when private life, says Schlüpmann, is detached from the life of the state. It finds asylum in the cinema, the place where body and soul, especially those of women, are permitted to be. At the same time, the cinema arises as an architectural site, as a building positioned in both the urban space and the cultural landscape—though it has difficulties finding its place in the latter.

If film originates in the head of the viewer, as Alexander Kluge says, then that head is a structural component of film, a piece of architecture.


Schlüpmann describes how Nielsen’s appearance meets a longing for closeness that the star cannot fulfill. Still, her work is not deceitful (like that of advertisements) since cinema, as an institution of the private within the public, allows intimacy.

In the catalog “X-Screen – Filmische Installationen und Aktionen der Sechziger- und Siebziger Jahren”[4], Birgit Hein describes in a similar way, but somewhat more pointedly (and thus shifting from the realm of the erotic to that of the sexual), Tapp- und Tastfilm by Valie Export, in which passers-by/viewers could stick not their heads, but their hands, into a box. By feeling the filmmaker’s naked breasts, they could experience not a sham satisfaction, but a genuine one, albeit limited by the fact that they were being observed.

In the 1960s and ‘70s, expanded cinema actions, performances, and multiple projections served to reinvent a cinema that takes body and space into account. Like the actress Asta Nielsen, who made the coordinates of film her own by appearing, the expanded cinema artists made the body a component of the technical recording and projection apparatus.

In this lies the genuine queerness of cinema and its installation: its stories have never proceeded linearly and have always happened in places that could also be situated at the rear of the movie house.


[1] Brauehoch, Annette; Klippel, Heike; Koch, Gertrud; Lippert, Renate; Schlüpmann, Heide (Hg.): Frauen und Film, Heft 62 : 25 Jahre Frauen und Film, Frankfurt am Main, 2000. [2] Schlüpmann, Heide; Preschl, Claudia; Bergstrom, Janet; Behrens, Franz Richard; Courths-Mahler, Hedwig: Asta Nielsen (Engelein, Die Filmprimadonna, Der Totentanz). In: Frauen und Film, Heft 62 : 25 Jahre Frauen und Film, Frankfurt am Main, 2000, S. 37. [3] Ebd. [4] Michalka, Matthias; Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig (Hg.): X-Screen. Filmische Installationen und Aktionen der Sechziger- und Siebzigerjahre, Berlin, 2004.

Stefanie Schulte Strahaus arbeitet als Film- und Videokuratorin in Berlin. Sie ist Ko-Direktorin des Arsenal – Institut für Film- und Videokunst (mit Milena Gregor und Birgit Kohler), Mitglied des Auswahlkomitees des Berlinale Forums, sowie Gründerin und Leiterin des Berlinaleprogramms Forum Expanded. Sie hat zahlreiche Filmprogramme, Retrospektiven und Ausstellungen kuratiert und war Leiterin des Projekts „Living Archive – Archivarbeit als künstlerische und kuratorische Praxis der Gegenwart“.


Anne Quirynen, Venus Mission, 2012


Solaris (nach dem Roman von Stanislav Lem), UdSSR, 1968. Regie: Boris Nirenburg, Lidija Ischimbajewa

Darstellung der Pioneer Plakette der interstellaren Raumsonden Pioneer 10 und Pioneer 11, NASA, 1972.

Jane Daly (Jacqueline Gadsden) wird für eine Szene in The Mysterious Island vorbereitet, USA, 1929. Regie: Benjamin Christensen, Lucien Hubbard, Maurice Tourneur

Veronika Lukasova: Mars: Dreams and Shemes. Der Marsonaut Daniel Schildhammer wird mit einem AOUDA X Anzug ausgestattet, Österreichisches Weltraumforum, Innsbruck, 2013.

Unbekannte Fotograf_in: Portrait of three women, 19. Jahrhundert.

Voyager Golden Record #71: Bildüberlagerung einer gymnastischen Übung am Schwebebalken, 1977. Voyager Golden Record #57: Auf dem Rücken liegendes Krokodil, 1977.

Voyager Golden Record #82: Demonstration des Leckens von Eis, des Essens und des Trinkens, 1977.

Jess Dixon in his flying automobile, um 1940.

Le Voyage dans la Lune, Frankreich, 1902. Regie: Georges Méliès

Lady Hercules, 19. Jahrhundert.

Kosmosflug UdSSR/DDR. Die beiden Kosmonauten Waleri Bykowski und Sigmund Jähn während des Trainings im Kosmonautenausbildungszentrum ›Juri Gagarin‹, UdSSR, 1978.

Haus-Rucker-Co: Haus-Rucker-Co tragen Environment Transformers; Prototypen von sogenannten Umwelttransformern zur Schärfung der Wahrnehmung, Wien, 1968.


Man Who Fell to Earth

Winfried Gerling


Irgendwie sah ich gut aus hier, der Zufall hatte es so gewollt.

seltsamer Ort der Erinnerung.

Die auf Dauer gestellte Pose der Fotografie war ein anderer,

Es sollte nicht mein letzter Fall gewesen sein.

Der Ort wurde eine Pilgerstätte ...

dass mein Körper das ohne großen Schaden überstanden hatte.

Der Boden war nachhaltig verformt, und ich konnte kaum glauben,

er wurde zu einem Objekt der Erinnerung und zeigte mir und Anderen die ganze Härte des Ereignisses.

Ich hatte genau diesen Boden berührt,

Mein Körper hatte diesen Abdruck geformt, nicht irgendein Apparat.

da der Abdruck mir meine körperliche Verbundenheit mit dem Ereignis vor Augen führte.

Ich suchte diesen Ort immer wieder auf,

Der entstandene Abdruck dagegen sollte von einer anderen Dauer sein als die bildlichen Erinnerungen.

und war dabei wohl selbst leicht zu Schaden gekommen.

Der Körper hatte den Boden verformt

Das Ende war abrupt und sah einigermaßen erbärmlich aus.

ein Sturz, der ängstlich taumelnd mit einem harten Aufprall endet.

Ich sah mir die Videoaufzeichnung des Sturzes an. Sie offenbarte einen vollkommen anderen Eindruck:

Der Fall war kurz und schnell, aber sicherlich nicht graziös.

ließ sich aber kaum verbinden mit dem Gefühl, welches das Fallen ausgelöst hatte.

Die Pose des Fallenden wirkte entspannt und konzentriert zugleich, sie war eigentümlich elegant,

das fotografisch festgehaltene Bild dieses rasenden Sturzes, ohne dessen fatale Dringlichkeit.

Es war das Bild eines in der Luft hängenden Menschen:

was geschehen war, erschien ein Schnappschuss vor meinem inneren Auge.

Bei dem Versuch mich aufzurichten und in meiner Erinnerung durchzugehen,

Ein Abdruck im Boden zeugte von diesem Ereignis.

Ich war wohl aus großer Höhe gefallen.

Der Schmerz, den ich verspürte, war allerdings real.

Ich schlug die Augen auf und fragte mich, ob ich geträumt hatte.


allerdings stellte sich auch eine Routine ein, die zur Langeweile verkam.

und sogar die Videoaufzeichnung strahlte inzwischen eine gewisse Eleganz aus,

Meine Haltung während des Falls verbesserte sich zügig, das Tollpatschige verging,

Alles auf Dauer stellen und live mit anderen verbunden sein ... Ich lernte beim Ansehen der Bilder viel.

Überhaupt schien mir hier ein gänzlich neues Betätigungsfeld aufzugehen:

„keep it up“, „that’s amazing“, „take care“ oder wenigstens „great shot“.

Meine Züge aber etwas ängstlich verzerrt. Aufbauend immerhin die erste Resonanz aus den Netzwerken:

Ich montierte die Bilder und konnte so abwechselnd mich im Fallen und den Boden näher kommen sehen.

Dieses Mal war das Ergebnis einigermaßen befriedigend.

Mit Kamera an Kopf und Bauch wurde ich wieder zum Fallenden.

den ich auf meinem Bauch befestigte und die Kamera so auf mein Gesicht richten konnte.

Also kaufte ich eine zweite Actioncam und einen langen biegsamen Haltearm für die Kamera,

die Kamera taumelte ohne die bevorzugte Ausrichtung des fotografischen Bildes.

Das Verhältnis des Bildes zur Welt konnte hier nicht mehr als horizontal oder vertikal beschrieben werden,

das wäre sicher weniger schmerzhaft gewesen.

Ich hätte ebenso gut nur die Kamera zu Boden werfen können,

Sehr nah an dem, was ich gesehen hatte; mich und meinen unglücklichen Fall sah man nicht.

einen rasenden Sturz, die Kamera war einfach nur nach vorn gerichtet.

Die Aufnahmen waren überraschend, sie zeigten wieder ein ganz neues Bild:

und fiel mehrmals mit der Kamera am Kopf auf den Boden.

Ich ging ins nächste Fachgeschäft, kaufte eine Actioncam

Was musste ich tun, um beim nächsten Mal eine bessere Performance hinzulegen?

schon vor dem Aufprall beschädigt, zumindest in der Würde ...

ein Zombie, ein Wiedergänger aus einem anderen Universum,

Plötzlich war ich ein Anderer, ein fremdes Wesen:

dass ich mir die Sequenz im Loop immer wieder ansehen musste, und ich war verblüfft über den Effekt.

Das Video hingegen in seiner Armseligkeit führte dazu,

Der Widerstand meines Körpers gegen die Zeit und die Elemente wirkte grenzenlos.


Prof. Winfried Gerling ist Professor für ‚Konzeption und Ästhetik der Neuen Medien‘ im Studiengang Europäische Medienwissenschaft – eine Kooperation der Universität Potsdam und der Fachhochschule Potsdam. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen die praktische und theoretische Reflexion fotografischer Medien, die Ästhetik des Digitalen, intermediale Gestaltung, Formatentwicklung im nichtlinearen Bereich und die Interaktion von analogen und digitalen Medien.

Ich hatte sie alle schon gesehen,

Also ging ich und besorgte mir einen dieser Fallschirme und wachte auf.

es fehlte ein wichtiger Aspekt des Falls, der Aufprall, aber dafür auch der Schmerz.

Das erschien mir äußerst unbefriedigend,

nur der zu erwartende Aufprall kam nicht zustande.

Die Bilder waren vertraut.

sah ich auf meinem Laptop einen dieser populär gewordenen Stratosphärensprünge.

Als ich abends von einem dieser Ausflüge nach Hause kam,

zumal wir beständig versuchten auf einem anderen Fleck aufzuschlagen.

Der Boden war inzwischen übersät davon,

Was aber blieb, waren der Schmerz und die bizarren Abdrücke.

was das Erlebte auch mithilfe von Zeitlupen spannungsreich nacherzählte.

In der Aufzeichnung wurde es möglich, dynamisch zwischen den Perspektiven und zeitlichen Ordnungen zu wechseln,

so dass jeweils mindestens drei bis vier Perspektiven des Falls zustande kamen.

Wir begannen uns auch gegenseitig aufzunehmen,

immer skurriler sollten die letzten Verrenkungen vor dem Aufprall sein.

und besonders im Aufprall versuchten wir uns immer wieder in außerordentlichen idiotischen Haltungen;

Diese Abgüsse erreichten schnell den Status von Trophäen, die wir sammelten,

formten wir sie ab wie Prähistoriker die Fußabdrücke des Australopithecus.

Um sie zu konservieren und länger sichtbar zu machen,

Die Abdrücke wurden immer tiefer.

und das Hinfällige zumindest ins Unbestimmte zu vertagen.

sondern durch irgendeine Kraft in der Luft zu bleiben wie ein Satellit

immer auch in der vagen Hoffnung einmal nicht zu fallen,

und uns gegenseitig zu überbieten im Wagnis,

und so zog ich mit meinen Freunden Joseph und Yves aus, um gemeinsam zu fallen

Der einfache Fall war mir bald nicht mehr genug,


Wermke / Leinkauf, White American Flags, 2014


Voyager Golden Record #112: Astronaut Edward White beim Weltraumausstieg, 1977.

factfeed: All the American flags placed on the Moon are now white due to radiation from the sun, 2014.

The NeverEnding Story II: The Next Chapter, USA / D, 1990. Regie: George Trumbull Miller

Gizmodo: All the American Flags on the Moon Are Now White, 2012.

Yves Klein: Le Saut dans le Vide, Rue Gentil-Bernard, Fontenay-aux-Roses, 1960.

Russel Sorgi: Genesee Hotel Suicide, Buffalo, 7. Mai 1942.

Richard Drew: The Falling Man, New York, 11.09.2001, 9:41 Uhr.

Victor Ash: Astronaut / Cosmonaut, Berlin, 2007.

Nobody Needs to Know, Niederlande, 2003. Regie: Azazel Jacobs


A map of the world that does not include Utopia is not worth even glancing at, for it leaves out the one country at which Humanity is always landing. Oscar Wilde: The Soul of Man Under Socialism

Max Ott

GRENZ E N L O S E ARCHITEKTUR

Stadtutopien der 1960er /1970er Jahre Architektur und Städtebau tragen zur räumlichen Strukturierung urbaner Lebenszusammenhänge bei: Sie verfügen über Mittel, den sozialen Raum der Stadt ästhetisch wahrnehmbar zu artikulieren und körperlich erfahrbar zu gestalten. Gleichzeitig entstehen ihre Projekte niemals außerhalb der gesellschaftlichen Kraftfelder, auf die sie Einfluss nehmen. Spezifische Haltungen und Ideen, die letztlich jedem architektonischen und städtebaulichen Konzept zugrunde liegen, werden in der Auseinandersetzung mit komplexen gesellschaftlichen Realitäten entwickelt. Selbst die radikalste Theoriebildung erfolgt nicht autonom, sondern ist immer auch der Versuch, die Welt zu erklären, eventuell zu verändern – oder sie als Gegenwelt gleich gänzlich neu zu denken.

innen-aussen / grenzen – das spezifische der architektur Wie lässt sich der Beitrag von Architektur und Städtebau zur „räumlichen Strukturierung urbaner Lebenszusammenhänge“ systemisch beschreiben? Und wie, wenn dafür Regeln gefunden wären, werden diese herausgefordert? Wann betritt die Architektur Neuland, wechselt von einer Arbeit in der Welt zu einer Arbeit an deren Gegenwelt, an einem Utopia? In seinem Aufsatz Die Dekonstruktion der Schachtel [1] bezeichnet der Soziologe Dirk Baecker die Architektur als „ein Wissen und ein Handwerk ohne zentralen Leitgedanken“; an dessen Stelle tritt ein „Überfluss an Erklärungen, Mythen und imaginären Gründen“.[2] Jenseits der vertrau-

ten Kategorien Raum, Funktion, siert unsere Bewegungen, schafft Form, Konstruktion und Ereignis, Zonierungen durch Übergänge mit denen sich auch andere Wis- und Grenzziehungen. Übertragen sensbereiche intensiv auseinan- auf den sozialen Raum einer Gedersetzen, findet Baecker jedoch sellschaft bedeutet das: Sie wirkt ein Merkmal, das nur die Archi- an der Verteilung von Zugehörigtektur auszeichnet: In der Planung keiten und Ausschlüssen mit, sie und Realisierung der Be-bauung erzeugt Nähe und Distanz, artikuund Um-bauung physischen Raums liert Privates und Öffentliches, als einer gleichzeitigen Auseinan- verkörpert Hierarchien – und redersetzung mit materialisierbaren produziert so immer auch gesellInnen- und Außenzuständen liegt schaftliche Machtverhältnisse.[4] das Spezifische der Architektur Dabei bleiben die Erzeugnisse arbegründet – sie beschäftigt sich chitektonischer Produktion im mit der „Einheit der Differenz von Regelfall feste, unbewegliche ArteInnen und Außen“[3]. Übertragen fakte. Um uns Architektur als auf den menschlichen Körper Wirklichkeitsform erschließen zu heißt das: Die Architektur struktu- können, müssen wir uns schon riert mit baulichen Mitteln Innen- selbst in ihr bewegen.[5] Außen-Beziehungen – sie organi-


Stoffwechsel

Urban Radicals

Diesen immobilen Charakter der Architektur, mit ihren lesbaren und spürbaren Grenzziehungen, haben die urbanen Utopisten der 1960er und 1970er Jahre auf radikale Art und Weise thematisiert; sie haben ihn in seiner Relevanz für ihre Imaginationen zukünftiger Gesellschaften befragt und sich daran gemacht, die räumlichen Systemgrenzen der Architektur und des Städtebaus zu verschieben, zu sprengen oder neu zu definieren. Geprägt von den verheerenden Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs und den folgenden geopolitischen und gesellschaftlichen Umwälzungen beginnen gegen Ende der 1950er Jahre Architekt_innen weltweit an einer konzeptionellen Neubestimmung von Stadtstruktur, Stadtraum und Stadtgesellschaft zu arbeiten. Sie bilden Gruppen und Kollektive, vernetzen und tauschen sich aus, verfassen programmatische Schriften und Manifeste, diskutieren über Gegenwart und Zukunft der Stadt, stehen politisch aktiv, sozial engagiert und kulturkritisch informiert in ständiger Auseinandersetzung mit den Bedingungen einer sich rasant verändernden Welt.

Nach zwei Atombombenabwürfen, schweren Kriegszerstörungen und der folgenden Kapitulation seines totalitären Regimes steht Japan 1945 vor einem kompletten politischen und gesellschaftlichen Neuanfang. Gestützt von umfassenden staatlichen Modernisierungsabsichten erarbeitet eine Gruppe von Architekten um Kenzo Tange ein architektonisch-stadtplanerisches Programm, das sie erstmals auf der World Design Conference in Tokyo 1960 präsentieren.[6] Ihre Vision: die Stadt als ein Riesenorganismus im stetigen Wandel; dafür eine metabolistische Architektur, bestehend aus festen und austauschbaren Elementen, in der Lage sich immer wieder zu verändern, an wechselnde Bedürfnisse anzupassen, zu wachsen oder zu schrumpfen. Projekte wie Tanges Tokyo Bay Plan (1960), Kisho Kurokawas Helix City (1961) oder Arata Isozakis Clusters in the Air (1962) bleiben unverwirklicht, wirken jedoch weit über Japan hinaus inspirierend. In Großbritannien proben derweil Architekturstudenten den Aufstand gegen ihre konservativen Lehrmeister und deren Heiligsprechung starrer Prinzipien der funktionalistischen Moderne. Die Entwürfe der Gruppe Archigram sind Stadtphantasien mit einer Liebe zur Ästhetik von Popkultur und Konsumgesellschaft, einzelne Zeichnungen erinnern an das Cover von Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band.[7] Archigrams Plug In City (1964) oder auch Cedric Prices Fun Palace (1961) erscheinen als situative Versorgungsapparate und räumliche Stoffwechselmaschinen – hier erfüllt der Raum jederzeit die Wünsche und Sehnsüchte seiner Benutzer_innen, er kann flexibel gestaltet und immer wieder neu zusammengesetzt werden.

Beweglichkeit

Noch im selben Jahr, in dem Archigram Plug In City veröffentlicht, geht die Gruppe einen konzeptionellen Schritt weiter: Walking City heißt ihre Utopie, in der die Stadt selbst das Laufen gelernt hat. Raumschiffähnliche Gebilde mit langen Beinen aus riesigen Teleskopstangen transportieren mobile Zivilisationen über den gesamten Globus. Die Stadt und ihre Bewohner_innen haben sich von den klimatischen und topografischen Gegebenheiten eines Ortes emanzipiert – stimmungsvolle Collagen zeigen die Walking Cities zwischen Wüstendünen, auf dem Ozean oder vor der Skyline von New York City. Mal in psychedelischer Farbigkeit, mal monochrom und düster, werfen einige dieser Bilder die Frage auf, ob wir hier nicht ein postatomares Szenario betrachten, in dem bewegliche Städte einen unbewohnbar gewordenen Planeten durchwandern und zwischen den Ruinen einer untergegangenen Epoche kurze Pausen einlegen.


Atmosphäre

Mobilität ist auch ein bestimmendes Thema von Gestaltern, die sich in den 1960er Jahren im Umfeld der Wiener Aktionskunst bewegen. Der junge Hans Hollein, später einer der wichtigsten Architekten der Postmoderne, stellt 1967 in seinem Manifest Alles ist Architektur die Gültigkeit von „begrenzte[n] Begriffsbestimmungen [...] der Architektur“[8] in Frage. Inspiriert vom technischen Fortschritt seiner Zeit und neuen Materialentwicklungen im Luftund Raumfahrtsektor entwirft er mobile Umgebungen und versucht ein statisches Verständnis von städtischem Kontext auszuhebeln. Auf dem Flugfeld Aspern präsentiert Hollein sein aufblasbares Mobiles Büro als ironisches Happening: Er sitzt im ‚futuristischen‘ Ambiente und zeichnet ein ‚klassisches‘ Haus.[9] Diese Erzeugung künstlicher, temporärer und transportabler Atmosphären steht auch bei seinen Kollegen von Haus-Rucker-Co im Mittelpunkt. Ihre pneumatische Raumkapsel Gelbes Herz (1968) lässt sich überall aufbauen und dient einer bewusstseinsverändernden ‚Entortung‘ der Insassen. Den gleichen Zweck soll auch der Environment-Transformer (1968) erfüllen: Er besteht allerdings nur noch aus einem schnittigen Helm, so dass die Bewusstseinsveränderung während der Bewegung des Körpers erfolgen kann – eine doppelte Entgrenzung. Der Amerikaner Richard Buckminster Fuller untersucht die Möglichkeiten von künstlichen Atmosphären in größerem Maßstab und als ökologische Fragestellung. Sein Projekt einer geodätischen Kuppel über Midtown Manhattan (1960) verspricht allen Eingesperrten die perfekte Klimakontrolle: Die schlechte Luft über der Millionenmetropole bleibt einfach draußen und auch der Aufwand für Heizung und Kühlung der Bürohochhäuser unter der Kuppel entfällt dank dieser Zukunftsutopie.

Befreiung

Kontinuum

Eine weitaus größere räumliche Ausdehnung, als sie die Stadtentwürfe der Metabolisten, die Plug In City von Archigram oder die utopischen Kuppelprojekte von Fuller besitzen, wird in diesen radikalen Jahrzehnten in Italien und den Niederlanden zum entwurfsbestimmenden Thema. In Florenz gründen Adolfo Natalini und Cristiano Toraldo di Francia 1966 die Gruppe Superstudio.[10] Drei Jahre später tragen sie sich mit ihrem Projekt Continuous Monument, An Architectural Model For Total Urbanisation in das große Buch der Stadtutopien ein. Basierend auf der modularen Zusammensetzung einer architektonischen Idealfigur, dem Quadrat, entwickeln sie eine Superstruktur, die den gesamten Erdball umspannt und jegliche weitere Architektur überflüssig zu machen scheint. Superstudios endloses Monument ist vor allem eine ironische Auseinandersetzung mit der Objektbesessenheit der Moderne und den Homogenisierungstendenzen der Konsumgesellschaft. Wie die Gruppe sagen würde, eine ‚negative Utopie‘, die sich nicht um die tatsächlichen Bedürfnisse von Menschen kümmert, sondern sich einfach nur als autonomes Artefakt aus weißen Flächen durch die Landschaften der Erde fräst.

Der Niederländer Constant Nieuwenhuys, eigentlich ein Maler und Bildhauer, beginnt Mitte der 1950er Jahre ebenfalls eine weltumspannende Megastruktur zu entwerfen; ein Projekt, das ihn fast zwanzig Jahre seines Lebens beschäftigen wird. Constants Utopie trägt den Namen New Babylon und ist weder ironisch noch skeptisch gemeint, sondern als optimistische Stadtarchitektur für eine vom Arbeitszwang befreite Menschheit.[11] Der Sozialist Constant glaubt an die Revolution, und er glaubt, dass sie bald kommen wird: Dank des technischen Fortschritts sei es endlich möglich, Menschen nicht mehr als Produktivkräfte im Räderwerk kapitalistisch organisierter Arbeit auszubeuten – produktiv wären die Maschinen schon bald ohne zusätzliche Unterstützung. Der freie Mensch – homo ludens – kann nun seinen wahren Bedürfnissen nachgehen: dem spielerischen Erschaffen von immer neuen Situationen im Zuge eines nomadischen, neugierigen Umherschweifens. Dafür stehen ihm die endlosen Sektoren von New Babylon zur Verfügung, die sich über der Erdoberfläche zu einem Netzwerk inspirierender, kreativ gestaltbarer Raumabfolgen und Raumatmosphären zusammenfügen und die alte Welt der funktionalräumlichen Verteilung hinter sich gelassen haben. Die Utopie als radikales Experiment einer grenzenlosen Architektur, aber auch als Vision einer besseren, humaneren Gesellschaft – in Constants Zeichnungen, Plänen, Modellen und Schriften wird sie sichtbar.


Utopia heute

Was ist von den utopischen Architekturen der 1960er und 1970er Jahre geblieben? In aktuellen urbanistischen Diskurs leben sie fort: Sie werden – motiviert durch einfache Neugier, pragmatische Historisierungsabsichten oder leidenschaftliche Begeisterung –, wiederholt in den Mittelpunkt von Symposien, Monografien und Ausstellungen gerückt.[12] Das anhaltende Interesse für ihre Stadtvisionen ist dabei vielleicht auch ein nostalgisches Zurückblicken in eine Zeit, in der Wünsche zur radikalen Veränderung von Stadt und Gesellschaft mit einem revolutionären Glauben an die konkrete Realisierbarkeit von Utopien zusammenfielen. Die urban radicals von damals waren Kinder der Moderne. Bei aller Kritik am Architektur- und Stadtverständnis ihrer Elterngeneration und der Ironie, die ihre Projekte teilweise kennzeichnet: Wenige von ihnen zweifelten an der Notwendigkeit des großen stadträumlichen Projekts als Grundvoraussetzung sozialräumlicher Beziehungen und prognostizierten dabei einen kontinuierlichen gesellschaftlichen Fortschritt bedingt durch technische Innovation. Dieser totale Anspruch kann heute noch faszinieren; er irritiert aber auch in Zeiten zweifelhafter Heilsversprechen durch Big Data und der kompletten Vermessung des menschlichen Körpers und seiner räumlichen Umgebung. Gleichzeitig bleibt eine Auseinandersetzung mit den radikalen Denkansätzen der Utopisten zu physischer Umwelt und gesellschaftlichem Raum wichtig. Es ist gerade die umfassende Verknüpfung von Fragen sozialer Wirklichkeiten und ihren Möglichkeiten mit Konzepten städtischen Raums, die es lohnenswert macht, ihre Projekte weiter zu diskutieren – vor allem vor dem Hintergrund zunehmender Fragmentierungen urbaner Zusammenhänge durch neoliberale Stadtentwicklungsstrategien.

Max Ott ist Urbanist und Architekt. Während und nach seinem Studium an der Technischen Universität München war er u.a. für David Chipperfield Architects (Berlin), 03 München - Büro für Städtebau und Architektur, und Meili Peter Architekten, Projektbüro München tätig. Seit 2011 arbeitet er als wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Städtebau und Regionalplanung bei Prof. Sophie Wolfrum an der TU München. 2011 gewann er der städtebaulichen Ideenwettbewerb ‚EUROPAN 11 – Ingolstadt‘ gemeinsam mit Francesca Formatier und Sebastian Ballauf, mit denen er im Anschluss das STUDIO CNSTNT gründete. Seit 2012 ist Ott Mitglied des interdisziplinären Forschungsverbandes ‚Urbane Ethiken‘. Sein Forschungsschwerpunkt stellt in diesem Zusammenhang „Berlin im Spannungsfeld zwischen homogenisierenden Leitbildern von Stadt und Postulaten heterogener Raum- und Aneignungskonzepte“ dar.

[1] Baecker, Dirk: Die Dekonstruktion der Schachtel. Innen und Außen in der Architektur. In: Luhmann, Niklas; Bunsen, Frederick D.; Baecker, Dirk: Unbeobachtbare Welt. Über Kunst und Architektur, Bielefeld, 1990, S. 67–104, hier: S. 67. [2] Ebd. [3] Ebd., S. 84. [4] Vgl. dazu: de Carlo, Giancarlo: Die Öffentlichkeit der Architektur [1970]. In: Hauser, Susanne; Kamleithner, Christa; Meyer, Roland (Hg.): Architekturwissen. Grundlagentexte aus den Kulturwissenschaften. Bd. 2: Zur Logistik des sozialen Raumes, Bielefeld, 2013, S. 410–422. [5] Dabei spielt es keine Rolle, ob wir uns in einem Gebäude oder auf einem Platz oder einer Straße bewegen. Die Räume eines Hauses oder die Räume einer Stadt – sie sind beide Architektur. [6] Zu den Metabolisten siehe: Koolhaas, Rem; Obrist, Hans Ulrich: Project Japan: Metabolism Talks ..., Köln, 2011. [7] Zu Archigram siehe: Cook, Peter; Chalk, Warren; Crompton, Dennis; Greene, David; Herron, Ron; Webb, Mike (Hg.): Archigramm, Basel/Boston/Berlin, 1991. [8] http://www.hollein.com/ger/Schriften/Texte/ Alles-ist-Architektur (aufgerufen am 21.03.2015). [9] https://www.youtube.com/watch?v=2hkgJtpXumU (aufgerufen am 21.03.2015). [10] Superstudio und das Continuous Monument siehe: Schaik, Martin v.; Macel, Otakar (Hg.): Exit Utopia. Architectural Provocations 1956–76, München/Berlin/London/New York, 2005. [11] Constant und New Babyon siehe: Ebd. [12] So zuletzt allein zweimal in Berlin: Megastructure Reloaded, Symposium und Ausstellung am 18./19. Oktober 2008, in der ehemaligen Staatlichen Münze am Molkenmarkt; Haus-Rucker-Co. Architekturutopie Reloaded, Ausstellung vom 22.11.2014 bis 22.2.2015 im Haus am Waldsee.


Stefan Endewardt, Buy a new Brain, 2015


Die Mädchen aus dem Weltall, GB/D, 1976/1977. Die Serie basiert auf dem Grundgedanken einer außerirdischen Gesellschaft, die das Matriarchat zur Staatsdoktrin erhoben hat.

Gordon Matta-Clark: Conical Intersect, Paris, 1975.

Jeremy Bentham: Panopticon- Skizze, 1791.

Haus-Rucker-Co: Oase No. 7, Installation am Fridericianum zur documenta 5, Kassel, 1972.

Richard Buckminster Fuller, Shoji Sadao: Dome over Manhattan; das geplante Projekt einer geodätischen Kuppel, die sich zwei Meilen über Midtown Manhattan ausdehnt, sollte das Wetter regulieren und Luftverschmutzung verringern; um 1960.

Luftiger Laufstall, um 1937.

Abhöranlage auf dem Teufelsberg, Berlin, 2007.

Archigram: Walking City, EACH WALKING UNIT HOUSES NOT ONLY A KEY ELEMENT OF THE CAPITAL, BUT ALSO A LARGE POPULATION OF WORLD TRAVELLER-WORKERS! , 1964.

Cedric Price: Fun Palace, um 1964.

Tomás Saraceno: Galaxies Forming along Filaments, Like Droplets along the Strands of a Spider’s Web, 53. Biennale Venedig, 2009.


Heinz Bude

Räume der Angst Die Stimmung der Angst gehört heute zur Wende vom Korsett des Dürfens zur Mobilisierung des Könnens. Angst macht weniger, dass einem etwas vorenthalten wird, sondern viel mehr noch, dass man etwas verpasst. Nicht die neurotische Angst vor der Einschneidung, sondern die depressive vor der Auslassung trifft bei den jungen Kadern des Ichvermögens die Stimmung des Augenblicks. Bildlich gesprochen handelt es sich um die Umstellung vom Riss auf den Sog.


Kierkegaard hatte schon 1844 in seinem Traktat „Der Begriff der Angst“[1] von der „Wirklichkeit der Freiheit als Möglichkeit für die Möglichkeit“[2] gesprochen. Angst ist dann nichts Äußerliches, Bedauerliches oder gar Vermeidbares, sondern Ausdruck einer Existenz, die sich vor ihrer eigenen Richtungslosigkeit und Unbestimmtheit ängstigt. Es ist, wie Heidegger dann 1927 in „Sein und Zeit“[3] hervorhebt, die Erfahrung eines Verlassenseins von einer führenden Instanz und eines Entrinnens der Welt insgesamt, in der sich einem das Nichts eines Nicht-mehr-Könnens offenbart. Im O-Ton der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen: „Alle Dinge und wir selbst versinken in eine Gleichgültigkeit. Dies jedoch nicht im Sinne eines bloßen Verschwindens, sondern in ihrem Wegrücken als solchem kehren sie sich uns zu. Dieses Wegrücken des Seienden im Ganzen, das uns in der Angst umdrängt, bedrängt uns. Es bleibt kein Halt. Es bleibt nur und kommt über uns – im Entgleiten des Seienden – dieses ‚kein‘. Die Angst offenbart das Nichts.“[4] So Heidegger 1929 in seinem Vortrag „Was ist Metaphysik?“ Im Raum der Angst gilt die von Werner Heisenberg in ganz anderem Zusammenhang herausgestellte Unschärferelation. Wenn man seine Position bestimmen will, entgleiten einem die Ausmaße des Raums – und wenn man den Raum vermessen will, verliert man die Parameter für die eigene Position in diesem Raum. Im Raum der Angst wird man halt- und ziellos, weil kein äußerer Bezugspunkt existiert, der eine Positionsbestimmung möglich machen würde. Es ist eine absolute Immanenz, die einen auf sich selbst zurückwirft. Allerdings fehlt diesem Treiben, notiert Otto Friedrich Bollnow 1941 in seiner Schrift „Das Wesen der Stimmungen“[5], das sanfte und gleichmäßige Durchströmtsein, das auch der schlimmsten Trauer noch einen gewissen Halt gibt. Im Raum der Angst wird einem deshalb so unheimlich, weil nichts und niemand einen da rausführen kann. Man irrt herum und findet keinen Ausgang. Angst hat auch kein Gegengefühl. Fröhlichkeit und Traurigkeit sind Stimmungspole, auch Ernst und Scherz oder Vertrauen und


Misstrauen. Was aber soll das Andere der Angst sein? Die Gelassenheit, die Gleichmut oder gar die Naivität? In der Angst bricht die Welt insgesamt aus den Fugen, und daher kann die Angst auch durch keine Gegen-Angst in Schach gehalten werden. Man kann sich vor der Angst zudem nicht schützen, weil sie in jedem Akt der Wahl aufzubrechen droht. Zum einen weil die Wahl für eine Option zugleich den Ausschluss einer ganzen Reihe anderer Optionen bedeutet. Das nennt man in der Alltagssprache ziemlich treffend die Qual der Wahl. Man weiß daher nie, ob man richtig liegt. Hätte ich vielleicht nicht doch das andere Studienfach, den fordernden Partner, die kleinere Stadt oder das feste Beschäftigungsverhältnis wählen sollen? In diesen Fragen steckt die Angst, eine Chance, eine Herausforderung oder einen verborgenen Aspekt meiner selbst zu verfehlen und damit womöglich mich selbst zu verfehlen. Je mehr Möglichkeiten sich mir bieten, umso größer ist die Gefahr, etwas falsch zu machen. Deshalb ist die Versuchung groß, den Kopf in den Sand zu stecken, damit man nichts mehr von weiteren Möglichkeiten hört, oder sich an jemanden zu halten, den man sich als führendes Objekt auswählt. So versucht man, seiner Daseinslast durch Ignoranz oder Hörigkeit zu entfliehen. Aber die Angst wird noch unausweichlicher, wenn mir mit einem Mal die existentielle Dialektik der Wahl klar wird. Die besteht in der Erkenntnis, dass ich zwar wählen und mir die Welt als Kaufhaus vorstellen kann, aber, um als Ich überhaupt über die Runden zu kommen, auch von jemandem gewählt werden muss. In den Prozessen der Ichwerdung bin ich von anderen abhängig, die ich nicht wählen kann, sondern die mich wählen. An der Einsicht in diese unauflösbare Dialektik der Wahl zerschellt das neoliberale Ich, das sich in seinen Wahlakten als Herrin seiner Welt wähnt. Der Preis für diese Überwindung narzisstischer Selbsttäuschung ist allerdings die Angst um einen selbst. Denn die andere, von der ich abhängig bin, kann mir Himmel und Hölle zugleich bedeuten.


Hier kreuzt sich die Linie von Kierkegaards Idee der Angst durch die Freiheit zum Selbstsein mit der Sartres von der Angst durch die kommunikative Bezogenheit auf die Anderen. „Die Hölle, das sind die Anderen“, heißt es in dem Stück „Huis clos“, auf deutsch „Geschlossene Gesellschaft“[6], das 1944 noch unter deutscher Besatzung uraufgeführt wurde. In der geschlossenen Welt der Gesellschaft, die jede Transzendenz nur noch als gesellschaftliche Konstruktion erkennen kann, sind wir bedingungslos aufeinander angewiesen, müssen aber erkennen, dass der Andere aus derselben Freiheit, die wir für uns selbst in Anspruch nehmen, sich plötzlich umdrehen und abwenden kann. „Man kann nicht nicht kommunizieren“,[7] stellt Paul Watzlawick 1967 zu Beginn der Studentenbewegung im ersten seiner fünf Axiome über die Kommunikation fest. Aber jede Beziehung ist aus freien Stücken kündbar. Nichts garantiert in Systemen der Kommunikation irgendwas. Deshalb steckt in der Kommunikation selbst, die uns so nah und unentrinnbar zueinander bringt, das Nichts der Angst. [1] Kierkegaard, Søren (Vigilius Haufniensis): Der Begriff Angst. Eine schlichte psychologisch-andeutende Überlegung in Richtung auf das dogmatische Problem der Erbsünde, Kopenhagen, 1844. In: Hirsch, Emanuel; Gerdes, Hayo (Hg.): Gesammelte Werke, Abt. 11/12, München, 1991. [2] Ebd., S.40. [3] Heidegger, Martin: Sein und Zeit. In: Husserl, Edmund; Becka, Oskar; Geiger, Moritz u.a (Hg.): Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, Band VIII, Halle a. S., 1927. [4] Ders.: Was ist Metaphysik? [1929], Frankfurt a. M., 2006, S. 17. [5] Bollnow, Otto Friedrich: Schriften Band 1, Das Wesen der Stimmungen [1941], Würzburg, 2009. [6] Sartre, Jean-Paul: Geschlossene Gesellschaft [1945], Hamburg, 1991, S. 59. [7] Watzlawick, Paul (Hg.): Man kann nicht nicht kommunizieren, Bern, 2011.

Prof. Dr. Heinz Bude ist Professor für Makrosoziologie an der Universität Kassel. Von 1992–2014 arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung. Er promovierte mit einer Dissertation zur Wirkungsgeschichte der Flakhelfer-Generation an der Freien Universität Berlin zum Dr. phil. und wurde 1994 für das Fach Soziologie mit einer Studie zur Herkunftsgeschichte der 68er-Generation habilitiert. In verschieden Büchern hat er sich in den letzten Jahren mit dem gegenwärtigen Wandel des Regimes sozialer Ungleichheit beschäftigt.


Cristian Forte, N端tzliche Anwendung ausgehend von der Vermessung des Kopfumfangs, 2014


Guy Debord: The Naked City, Illustration de l’hypothése des plaques tournantes en psychogeo graphique, Paris, 1957.

Kollektiv 4TH: Trainhopping in Europe, Frankreich, 2011.

Qu‘ils reposent en révolte, Frankreich, 2010. Regie: Sylvain George

Urheber_in unbekannt: Tappen im Dunkeln, um 1940.

Edwin ›Buzz‹ Aldrin: First Footprint on the Moon, 20. Juli 1969.

Unheber_in unbekannt: Merkmale der Papillarlinien.

Sammelbilder der Schokoladen-Fabrik Gebr. Stollwerck: Im Jahre 2000, 1898.

Veronika Lukasova: Mars: Dreams and Shemes. Simulierte Marslandschaft für Test mit Mars Rovern, European Space Research and Technology Centre, Noordwijk, 2013.

Tuffis Wuppersprung, Wuppertal, 21. Juli 1950.


Unachtsamkeit

Verlust der Konzentration, der Organisation, der Synchronisation

ein Aussetzer,

der Körper für einen kurzen Moment desorientiert,

er stolpert, schwebt.

Saskia Oidtmann

Stolpern als Schlupfloch für körperlichen Freiraum Alltägliche und routinierte Bewegungen wie das Gehen und Laufen geschehen häufig unbewusst. Wir denken nicht darüber nach, wann sich der rechte Fuß vor den linken setzt, denn unser Körper ist geübt in der Umsetzung der Bewegung und organisiert die Abläufe selbstständig. Der Körper bildet eine Einheit, eine Form, die wir als Ganzes wahrnehmen. Die verschiedenen Organismen in ihm funktionieren selbst-organisiert, er ist quasi mit sich selbst synchronisiert. Diese herkömmlichen Vorgänge laufen häufig nebenbei und mit relativ geringem Energieaufwand ab. Erst wenn der Fluss der Bewegung unterbrochen wird, ändert sich die gewohnte Bewegungsqualität. Ein Bordstein, der höher ist als erwartet, eine Stufe, die tiefer heruntergeht als geschätzt, ein Zusammenstoß mit einem anderen Menschen. Stolpern ist ein kurzzeitiger Verlust der körperlichen Organisation. Es überrumpelt den Körper und eine unmittelbare Reaktion wird schnell und reflexartig hervorgerufen. Während die Füße Grund zum Auftreten suchen, gibt es einen Moment der Ungewissheit: Schafft der Körper es, sich aufzufangen, oder verliert er den Kampf um die Balance und wird fallen?


Ein Zwischenraum entsteht, in dem der stolpernde Körper auf sich selbst zurückgeworfen wird. Er versucht den Sturz noch rechtzeitig abzuwenden, wenigstens zu mildern. Der sich eröffnende Raum birgt die Möglichkeit, dass sich die Bewegung in die eine oder andere Richtung entwickelt. Im Gesicht des Betroffenen wird die Bestürzung über den Verlust des Gleichgewichts sichtbar – eine unkontrollierte Reaktion auf die Entgleisung des Körpers. Der verfehlte Tritt zwingt den Körper, aus seiner Bewegungsgewohnheit herauszubrechen. Der de-synchronisierte Körper versucht seinen Schritt wiederzufinden. Jeder Mensch hat seinen eigenen Rhythmus, seine eigene Atmung, seine eigene Reaktionszeit, seine eigene körperliche Wahrnehmung und Auffassungsgabe. Fällt der Körper unbeabsichtigt, kann sich aber geschickt auffangen? Oder rudern die Arme haltlos in der Luft umher, vergeblich nach Ausgleich suchend? Überwiegt der Schrecken im Gesicht des Fallenden, oder ist eine Heiterkeit über die eigene Tollpatschigkeit darauf abzulesen? Durch den Entzug des Gleichgewichts und die Unterbrechung der automatisierten Abläufe tritt für einen kurzen Augenblick das Wesen der fallenden Person an die Oberfläche. In dem Moment, der sich zwischen dem Stolpern und dem Sturz auftut, kommt demnach nicht nur etwas Unkontrolliertes und Unbewusstes, sondern auch etwas Authentisches zum Vorschein. Ein Augenblick vergeht bis die Realisierung des Geschehenen eintritt. Dann findet der Körper hastig zurück in antrainierte Verhaltensweisen. Die eigene Ungeschicktheit ist dem Stolpernden meist unangenehm, denn er lenkt Aufmerksamkeit auf sich, die Augen der Stehen-Gebliebenen verunsichern ihn. Stolpern geschieht unvorhersehbar. Es tritt mit einer Plötzlichkeit auf, bricht heraus und lässt den Körper taumeln. Was kaum mehr als ein kurzer Kontrollverlust ist, ein Lapsus, der dem Moment entspringt, wird durch die unkontrollierte Reaktion des Stolpernden zum Ausbrechen aus einer Bewegungsstruktur, aus einer synchronisierten Bewegung, aus einer Kontinuität der Schrittfolge. Die Unterbrechung im Fluss der Körperbewegung erzeugt ein unerwartetes Bewegungsereignis. Das Ausmaß ist häufig ungewiss, da mehrere unkalkulierbare Elemente wie die Schnelligkeit des Schritts, die Körpermasse und die Schwerkraft beteiligt sind. Der Körper ist für einen Moment keine funktionierende Einheit mehr, die Organisation ist gestört. Auch inszenierte Bewegungen existieren selten isoliert, sondern folgen aufeinander wie die Glieder einer Kette. Sie werden, wie beim Gehen, Schritt für Schritt aneinandergereiht. In einer Choreografie begibt sich jede Bewegung in die Rahmung anderer.


Die feste Setzung von Bewegungen ist innerhalb eines inszenierten Kontexts elementar. Durch sie wird eine Bewegungsabfolge wiederholbar und abrufbar. Der Setzung kommt demnach die Rolle der Instrumentalisierung von Bewegung zu. Es stellt sich die Frage, ob ein unkontrolliertes Moment der Brechung – wie das Stolpern – als gestalterisches Element in der Choreografie genutzt werden kann. Kann die Kontrolle des Körpers nicht nur im Alltag, sondern auch innerhalb der künstlerisch gesetzten Bewegung im Tanz verloren gehen, um eine unkalkulierbare Reaktion zu provozieren? In diesem Sinne könnten erst der Vollzug und die gleichzeitige Brechung der Choreografie ein Bewegungsereignis auslösen. Ist es möglich, das unmittelbare Stolpern auf der Straße innerhalb einer Inszenierung sowohl in seiner Unkalkulierbarkeit als auch in seiner Ästhetik zu wiederholen? Kann die ästhetische Struktur alltäglicher unbewusster Bewegungen und ihrer Unterbrechungen für den choreografischen Prozess nutzbar gemacht werden? Kann ein derart spontanes wie unbeabsichtigtes Ereignis in eine inszenierte Bewegungsfolge, eine Choreografie, übertragen werden? Oder liegt genau hier das Paradox, das Unmögliche, die natürliche Bewegung in einer inszenierten Struktur zu erhalten bzw. auszustellen und damit das singuläre Ereignis zu wiederholen? Die kontinuierliche Setzung von Bewegungsabläufen muss, um Spontaneität zu wahren, aufgebrochen werden. Das Stolpern in eine Choreografie zu übertragen, bedeutet demnach, die Regeln der Kontinuität außer Kraft zu setzen, sobald Bewegungen Gestalt annehmen, um ein Ent-Setzen hervorzurufen. Zwei Tänzerinnen stehen sich gegenüber, ihre Hände vor dem Bauch mit den Handflächen zusammengelegt. Ihre Fingerspitzen berühren sich fast. Ihre Augen sind aufeinander geheftet. Ein leichtes Lächeln huscht über das Gesicht der rechten Performerin. Plötzlich öffnet die auf der linken Seite Stehende die Hände, holt mit dem Arm in einer schnellen und gezielten Bewegung aus und erwischt die Hand der anderen Tänzerin, knapp bevor diese ausweichen kann. Beim Aufeinandertreffen der Hände entsteht ein klatschendes Geräusch. Die Getroffene verzieht leicht das Gesicht, legt dann beide Hände aneinander und streckt ihre Hände erneut der Schlägerin entgegen. Dieses allseits bekannte Spiel bietet sowohl im Probenraum als auch auf der Bühne einen strikt abgesteckten Rahmen. Die Regeln sind eindeutig, jeder versucht aus der Anfangsposition heraus, in der sich die Fingerspitzen der Spieler berühren müssen, die Hand des anderen Spielers zu treffen, bevor dieser die eigenen Hände wegzieht.


Die Spannung entsteht im Antäuschen des Schlags, so dass der Gegner versehentlich seine Hände entzieht. In dem Moment, wo der Getäuschte sich wieder neu ausrichtet, ist ein Überraschungsmoment gut platziert. Die Aktionen wiederholen sich. Bei jeder unvermittelten Bewegung, einer unvorhersehbaren Heftigkeit des Schlags oder einer unkalkulierbaren Richtung, von der aus geschlagen wird, fällt die Reaktion der Spielerinnen anders aus. Im Bewegungsablauf entstehen Pausen, in denen mit einem Lachen, einem Aufschrei oder einem schnellen Gegenangriff gekontert wird. Blitzartiges reagieren zwingt die Performerinnen ihre Rolle kurzzeitig zu verlassen. Bei ersten praktischen Experimenten zum Ereignis innerhalb meiner choreografischen Arbeit erwies sich der Raum des Spiels als Raum des Möglichen, in dem Bewegungsereignisse in Form von Reaktionen nach gewissen Regeln in Erscheinung treten können. In ihrer spontanen Reaktion sind die Performer, anders als bei herkömmlichen Spielweisen, quasi ohne ihre Maske zu erleben. Der Moment, in dem sie überrascht werden und reagieren müssen, erweist sich oftmals als ungeplante Bewegung und lässt die Frage der Authentizität neu denken. Je mehr Performer an diesem oder ähnlichen choreografischen Spielen beteiligt sind, um so mehr unvorhersehbare Entscheidungen sind zu treffen und um so mehr unkalkulierbare Ereignisse treten ein. Es entsteht eine Spannung zwischen möglichen und tatsächlich ausgeführter Bewegung. Durch die Augenblicklichkeit der Hervorbringung von Bewegung innerhalb einer choreografischen Struktur tritt eine Unkalkulierbarkeit auf den Plan. Bewegungsgenerierung und Formgebung fallen zusammen. Die Implementierung eines choreografischen Stolperns bietet die Chance, die Diskrepanz zwischen stilisierter inszenierter Bewegung und vertrauter Authentizität zu überbrücken. Damit wird eine Echtheit und Individualität zu Tage gefördert, die im Zuge von Probenprozessen und statischer Festlegung üblicherweise verloren geht. Ein stilisiertes Stolpermoment innerhalb eines choreografischen Bewegungsflusses eröffnet zudem die Möglichkeit unterschiedlicher Weiterführung der Bewegung. Das kurze Aussetzen der Struktur Einen-Schritt-vor-denanderen hält den Bewegungsfluss auf. Der Körper befindet sich in der Schwebe, wodurch ein Spannungsmoment entsteht. Die bloße Potentialität verschiedener Bewegungen eröffnet einen Moment der Überraschung und des Ungewissen, des Unvorhersehbaren – für Performer und Zuschauer gleichermaßen.

Saskia Oidtmann begann ihr Studium der Film- und Fernsehwissenschaft, Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte an der Ruhr-Universität Bochum. Im Anschluss studierte sie Bühnentanz und Choreografie am Laban Center London (BA Hons 2005) und setzte ihr Studium der Film- und Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin fort (Magistra Artium 2011). Seit 2005 arbeitet sie als Tänzerin, Choreografin und Filmschaffende. Der Fokus ihres Ansatzes liegt zum einen auf der Verbindung zwischen theoretischem und praktischem Arbeiten, zum anderen auf dem Austausch zwischen Tanz, Bewegung und anderen Ausdrucksformen. Seit 2014 ist sie Stipendiatin im DFG-Graduiertenkolleg ‚Sichtbarkeit und Sichtbarmachung. Hybride Formen des Bildwissens‘ in Potsdam.


Frauke Surmann

Appetizer.

Kulinarische In(ter)ventionen im öffentlichen Raum oder Über die Politik des Essens Mehr denn als reine Nahrungsaufnahme, erweist sich die kulturelle Praxis des Essens in unserem gegenwärtigen Zustand der Übersättigung als Identität und damit gleichsam Zugehörigkeit stiftendes Politikum: Ob vegan, regional, bio, convenient, glutenoder laktosefrei – nach wie vor oder sogar mehr denn je gilt: Du bist, was du (nicht) isst. Der Markt antwortet auf die sich immer weiter ausdifferenzierenden Bedürfnisse unserer Körper mit einer zunehmenden Spezialisierung seines Angebots. BioSupermärkte, laktosefreie Eisdielen und vegane Restaurants offenbaren sich als Orte für exklusive Zielgruppen, die einer Logik der Absonderung folgend eine soziopolitische (Hack)Ordnung konstituieren, in der jeder Spielform des Essens ein exklusiver Platz zugewiesen wird. Neben dieser neokapitalistisch motivierten Instrumentalisierung des auf Nahrungsaufnahme angewiesenen Körpers als kaufkräftiges Objekt boomen mit urbanen Gemeinschaftsnutzgärten, Lebensmittelkooperativen und auf Containern basierendem Foodsharing zur selben Zeit aber auch Initiativen der vermeintlich autonomen Nahrungsmittelproduktion, -verteilung und -aufnahme, die den Körper in seiner genuinen Dependenz als Ort und Mittel des Politischen inszenieren. Worin aber besteht, so möchte ich im Folgenden fragen, die politische Kraft des essenden Körpers, was sind ihre Inhalte und unter welchen Bedingungen wird sie wirksam?

Eine Antwort hierauf vermag uns eine ästhetische Praxis zu vermitteln, die sich im Grenzbereich zwischen Installation, Happening und Party der spektakulären Aufführung des gemeinsamen Essens an einem dafür nicht vorgesehenen Ort verschrieben hat. Ausgehend vom futuristischen Entwurf einer revolutionären Koch- und Speisekunst über die Eat-Art-Happenings der 1960er und 70er Jahre bis hin zu den in den 1990er Jahren entstandenen temporären Kücheninstallationen Rirkrit Tiravanijas lässt sich die Spur dieser interventionistischen Aufführungspraxis verfolgen, die im öffentlichen Akt des gemeinsamen Zubereitens und Verzehrens von Nahrungsmitteln ihr ästhetisches ebenso wie soziopolitisches Experimentierfeld gefunden hat. Grundlegend ist dieser Praxis in all ihren heterogenen Erscheinungsformen das wesentlich politische Motiv nicht nur der Aneignung, sondern nachgerade Einverleibung öffentlicher Räume sowie die Konstitution temporärer Tischgesellschaften. Beide Aspekte sollen im Folgenden anhand zweier aktueller Fallbeispiele – den Secret Dinners des in Brooklyn lebenden Künstlers Jeff Starks sowie den ursprünglich aus Paris stammenden und nunmehr weltweit stattfindenden Dîners en blanc – näher bestimmt und auf ihre konkreten politischen Implikationen hin untersucht werden.


1. Mund auf!

Während wir essen, treten wir mit all unseren Sinnen der Welt gegenüber. Wir begegnen ihr sowohl in Form einer aisthetischen Erfahrung als auch durch den Vollzug einer körperlichen Handlung, die sich ebenso auf die Welt wie auf uns selbst richtet und beide nachhaltig transformiert. Im Akt des Essens manifestiert sich folglich ein besonderes Verhältnis zum eigenen Körper, ebenso wie zur Welt und zum Anderen. Wesentlich geprägt ist dieses Verhältnis von einer temporären Durchlässigkeit, in der sich Innen und Außen, Ich und Welt auf einmalige Art und Weise miteinander verschränken. Essend erfahren wir die Unzulänglichkeit unserer Autonomie als Körper – ein Körper, der ohne Lebensmittel nicht zu existieren vermag. Wir öffnen unseren Mund und damit zugleich eine der Grenzen, die uns gemeinhin nach außen hin abschließt. So treten wir ein in einen materiellen Austausch mit der Welt. Wir nehmen sie in uns auf. Insofern konstituiert sich im Akt des Essens nicht nur eine sinnliche Öffnung auf die Welt, sondern auch die Möglichkeit der Berührung und des Austauschs mit ihr. Entsprechend konstatiert Georg Simmel in der Soziologie der Sinne: Indem wir etwas riechen, ziehen wir diesen Eindruck oder dieses ausstrahlende Objekt so tief in uns ein, in unser Zentrum, assimilieren es sozusagen durch den vitalen Prozess des Atmens so eng mit uns, wie es durch keinen andern Sinn einem Objekt gegenüber möglich ist – es sei denn, dass wir es essen.[1]

In dieser einzigartigen Berührung mit der Welt aber setzen wir uns gleichsam selbst aufs Spiel. Die Welt kommt uns nah. Ihr Eindringen ist ebenso bedrohlich wie Genuss verheißend. Während der Akt des Essens einerseits die Autonomie des Subjekts in Frage stellt, wird in ihm zugleich die Relationalität, auf der die Welt gründet, als dem Körper wesentlicher Existenzmodus erfahrbar. Und genau hierin besteht die spezifische Politik des Essens. Wenn Georg Simmel im Kontext seiner Ausführungen über den Geruchssinn weiter schreibt, dass „die soziale Frage [...] nicht nur eine ethische, sondern auch eine Nasenfrage“sei,[2] so gilt dies umso mehr für den Akt der Nahrungsaufnahme. Essend erfahren und verhandeln wir unseren Bezug zur Welt.

2. Die Einverleibung vergessener Orte

Aus seiner Liebe zu verlassenen Gebäudekomplexen, mehrstöckigen Brückenkonstellationen, verwaisten Autokinos und Industriebrachen hat der auf ortsspezifische Performances spezialisierte Künstler Jeff Stark[3] das Format des Secret Dinners entwickelt, um ebendiese Orte für die Dauer eines Abends auf spektakuläre Weise begeh- und erfahrbar zu machen.

Am Veranstaltungstag erhalten die im Vorfeld ausgewählten, maximal 40 Gäste eines Secret Dinners via Email eine Adresse. Zum verabredeten Zeitpunkt finden sie sich hier in festlicher Abendgarderobe sowie mit festem Schuhwerk und Taschenlampen ausgestattet ein. Außerdem führt jede Teilnehmerin eine Picknickdecke sowie eine vorher von Stark festgelegte Auswahl regionaler, selbst zubereiteter Speisen mit sich. Von hier aus begeben sich die Gäste unter Starks Führung zum Veranstaltungsort. Hierzu müssen mitunter U-Bahn-Schächte durchquert, Mauern überwunden, sumpfige Wiesen durchwatet und Brückenpfeiler erklommen werden. Vor Ort breiten die Teilnehmerinnen ihre Decken aus und richten die mitgebrachten Speisen zu einem Buffet an. Dann wird – im Kerzenschein und auf dem Boden sitzend – gegessen, untermalt zuweilen von für den Ort typischer Live-Musik und anderen künstlerischen Darbietungen von regionalhistorischem Kolorit. Jedes Secret Dinner beginnt mit der Einladung zur ebenso konvivialen wie genussvollen Einnahme mehr oder minder verlassener Orte ebenso wie der Geschichten, die diese Orte erzählen. Als Gastgeber verschafft Stark seinen Gästen nicht nur Zugang zu diesen Orten, sondern öffnet sie vielmehr im Sinne einmaliger Erfahrungs- und Begegnungsräume, an denen sich die individuelle sinnliche Erfahrung des Verzehrs regionaler Lebensmittel unmittelbar mit einer außergewöhnlichen Raum- und Gemeinschaftserfahrung verbindet. Bedingt wird diese einzigartige Möglichkeit der Begegnung durch eine destabilisierende Differenzerfahrung. Die zu Beginn eines Secret Dinners inszenierte Passage, wie sie sich sowohl im für jene Orte ungewöhnlichen Dress Code als auch in der Grenzüberschreitung, die notwendig ist, um überhaupt an diese Orte zu gelangen, manifestiert, versetzt die Teilnehmerinnen in einen liminalen Schwellenzustand, in dem vertraute Rezeptions- und Verhaltensstrategien nicht mehr greifen, während alternative Strategien erst noch entwickelt werden müssen. Fundamental in Frage gestellt werden dadurch nicht nur die den öffentlichen Raum herkömmlicherweise bestimmenden sozialen Konventionen, sondern auch die je individuelle, subjektrelative Position sowie die Konfiguration des intersubjektiven Miteinanders innerhalb jenes Raums. Die einzelne Teilnehmerin erfährt sich so in eine Situation jenseits ihres gewohnten Wahrnehmungs- und Verhaltensdispositivs und damit gleichsam in eine Distanz zu sich selbst und ihrer Umwelt versetzt. Mit dieser Differenzerfahrung aber geht zugleich die Einladung zur praktischen Reflexion der eigenen Position einher. Handlungs- und Verhaltensoptionen müssen angesichts der veränderten raumzeitlichen Situation individuell erschlossen und in Ermangelung eines verbindlichen Referenzrah-


mens als potentielle (Tisch)Ordnung bestimmt und verhandelt werden. Die Secret Dinners implizieren folglich ein Tun, welches sich keineswegs in der vorprogrammierten und vereinheitlichten Rezeption eines bereits Gegebenen erschöpft. Stattdessen laden sie zur aktiven Aneignung, Nutzbarmachung und Einverleibung ihres jeweiligen Veranstaltungsortes ein. Die kulinarische Erfahrung des gemeinsamen Essens selbstzubereiteter und aus der Region stammender Lebensmittel offenbart sich dabei als integraler Bestandteil jener selbstbestimmten Aneignungspraxis. Im gemeinsamen Essen begegnen die Teilnehmerinnen dem Ort, an dem sie sich befinden, und nehmen ihn gleichsam in sich auf. Während sie einerseits den Augenblick der kollektiven Raumnahme feiern, halten sie, ebenso [w]ie die Griechen und Römer bei ihren Gastmahlen und Trinkgelagen auch ihrer abwesenden Wohltäter, Freunde und Freundinnen gedachten, ihnen eine Lebe hoch oder Lebe wohl! zutranken, um trotz der räumlichen Geschiedenheit die herzliche Gemeinschaft und Anwesenheit zu versinnlichen [...],[4]

zugleich einen Leichenschmaus ab. Durch die regionale Spezifik und historische Referentialität der mitgebrachten Speisen wird eine Zugehörigkeit zur Geschichte des jeweiligen Ortes und der Menschen, die einst in ihm arbeiteten und lebten, nicht nur erzählt, sondern es besteht überdies die Möglichkeit, sie sich unmittelbar körperlich einzuverleiben, mit ihr zu sein und dieses Mit-Sein im Vollzug des Essens gleichsam am und im eigenen Leib zu erleben.

3. Tischgesellschaften als Manifestationen des Politischen „Essen und Trinken hält Ich und Du zusammen.“[5] Beim seit 1988 regelmäßig in Paris stattfindenden Dîner en blanc handelt es sich um ein nicht angemeldetes und ursprünglich dezidiert nicht kommerzielles Massenpicknick an einem zentralen Ort im städtischen Raum. Die namengebende Kleiderordnung sieht vor, dass alle Teilnehmerinnen in weißer Kleidung erscheinen. Einladungen ergehen ausschließlich über Mundpropaganda. Ähnlich wie beim Secret Dinner wird der jährlich wechselnde Veranstaltungsort bis zuletzt geheim gehalten. Erst am Veranstaltungstag selbst erhalten die Teilnehmerinnen via SMS eine Adresse, an der sie sich zum verabredeten Zeitpunkt einfinden. Die von ihnen mitgebrachten Tische und Stühle werden zu langen Tafeln zusammengestellt. Das kollektive Kreisen weißer Servietten über dem Kopf gibt den Auftakt zum Öffnen der von den einzelnen Teilnehmerinnen individuell zusammengestellten Picknickkörbe.

In seiner räumlichen und dramaturgischen Anordnung etabliert das Dîner en blanc einen Ort der Versammlung, der Begegnung und der Teilhabe sowie die Möglichkeit, einander ebenso wie dem Raum, in dem es statthat, neu und anders zu begegnen. An den langen Tafeln konstituieren sich frei von einem vorherbestimmten Protokoll temporäre Tischgesellschaften. Fremde kommen nicht nur miteinander ins Gespräch, sondern probieren einander regelrecht in Form des Austauschs mitgebrachter Delikatessen. Was die hier zusammenkommenden Menschen über das gemeinsame Essen und Trinken hinaus miteinander verbindet, ist zum einen das im Vorfeld geteilte Geheimnis über den Veranstaltungsort, zum anderen die gemeinsame Übertretung der für den Ort spezifischen Wahrnehmungs- und Verhaltenstopologie. Im Juni 2009 fand das Pariser Dîner en blanc auf der Place de la Concorde statt. Bei der Place de la Concorde handelt es sich nicht nur um den größten, sondern auch um einen der geschichtsträchtigsten Orte von Paris. Bereits während der Französischen Revolution diente er als Schauplatz spektakulärer Hinrichtungen durch die Guillotine. Und noch heute dient die Place de la Concorde der nunmehr wieder staatlich konzentrierten Macht zu Repräsentationszwecken. Sarkozy feierte hier 2007 wie einstmals Jacques Chirac seinen Wahlsieg, und auch die Feiern zum französischen Nationalfeiertag werden regelmäßig hier abgehalten. In diesem Sinne offenbart sich die Place de la Concorde als Schauplatz des Übergangs von einer monarchischen in eine demokratische Gesellschaftsordnung. Claude Lefort zufolge vollzieht sich in diesem Übergang ein Wandel des Politischen, welches er als mise-en-scène und damit als „Weise, in der die Einheit von Gesellschaft inszeniert wird“, begreift.[6] Während im monarchischen Dispositiv noch die Person des Herrschers die form- und sinngebende Instanz inkorporierte, bleibt diese Position in demokratischen Gesellschaftsordnungen Lefort zufolge vakant, was eine permanente Aktualisierung und Neuinstituierung des Politischen notwendig macht.[7] Vor diesem Hintergrund lässt sich das Dîner en blanc als sinnliche Manifestation jenes demokratischen Dispositivs verstehen. Entgegen dem höfischen Tafelzeremoniell, dessen minutiös durchgestaltete Dramaturgie in erster Linie der Affirmation und Stabilisierung einer absolutistisch geprägten Gesellschaftsordnung diente, fungieren die Tischgesellschaften des Dîner en blanc selbst als sinn- und formgebende und damit wesentlich politische Instanz, deren instituierende Kraft nicht aus einer Ermächtigung durch eine übergeordnete Macht, sondern allein aus der Begegnung im Hier und Jetzt resultiert, die sich in einem permanenten Wechsel aus unvorhersehbaren Setzungen und Entsetzungen realisiert. So setzen sie nicht nur die materielle und


symbolische Ordnung ihres Erscheinungsraums aufs Spiel, sondern führen sie zugleich auf das Moment ihrer Kontingenz und damit Gestaltbarkeit zurück. An den übrigen Tagen des Jahres herrscht rund um die Place de la Concorde ein sehr hohes Verkehrsaufkommen, während der Platz selbst vornehmlich von Touristen passiert wird. Sitzmöglichkeiten gibt es kaum an diesem Ort, der nicht gerade zum Verweilen einlädt. Hunderte weiß gekleideter Menschen, die sich hier für mehrere Stunden an reich gedeckten Tafeln niederlassen, um gemeinsam zu essen und zu trinken, stellen einen Widerspruch zu dieser sonst als selbstverständlich geltenden, räumlichen Disposition dar. An ihre Stelle rückt der performative Entwurf einer alternativen Öffentlichkeitsformation, die sich im Akt des gemeinsamen Essens als spezifische Form der Sinnlichkeit und Soziabilität in den Raum einschreibt. Die Formation dieser auf Begegnungen mit dem eigenen Körper ebenso wie der Umwelt basierenden Form von Öffentlichkeit ist ebenso unvorhersehbar wie unabschließbar. In diesem Sinne erweist sich das Dîner en blanc als demokratische Praxis, in der sich das Politische immer wieder neu aktualisiert.

Dr. Frauke Surmann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin des Internationalen Graduiertenkollegs InterArt und Lehrbeauftragte am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin. Sie hat Theater-, Musik- und Kulturwissenschaft in Berlin, London und Paris studiert. Ihre Dissertation „Ästhetische In(ter)ventionen im öffentlichen Raum. Grundzüge einer politischen Ästhetik“ ist 2014 bei Wilhelm Fink erschienen. Surmanns Forschungsinteressen umfassen das Verhältnis von Ästhetik und Politik, die Rolle des Körpers in zeitgenössischer Medienkunst sowie theatrale und politische Inszenierungen von Gemeinschaft. Ihr aktuelles Forschungsprojekt „(T)Räume des Politischen. Theatrale Inszenierungen von Gemeinschaft zwischen Kunst, Politik und Urbanismus“ widmet sich in einer Verschränkung von historiographischer und Gegenwartsanalyse politikphilosophischen sowie ästhetischen Manifestationen einer Theatralität des Politischen. Als Regieund Produktionsassistentin hat sie darüber hinaus unter anderem für die spielzeit’europa, Royal de Luxe, die Neuköllner Oper und das Podewil-Zentrum für aktuelle Künste gearbeitet.

4. Stoffwechsel

Essen setzt einen Stoffwechsel zwischen Innen und Außen, zwischen uns und der Welt in Gang. Dieser Stoffwechsel wirkt sich transformierend sowohl auf uns als auch auf die Welt aus. Indem das Secret Dinner und das Dîner en blanc den Einzelnen dazu einladen, sich den erlebten Augenblick einzuverleiben, ihn zu verdauen und dadurch gleichsam zu be- und verarbeiten, begünstigen sie einen Stoffwechsel, der sowohl das Erfahrene als auch den Erfahrenden selbst verändert und setzen dadurch gleichsam ein über sie selbst hinausweisendes kreatives Potential frei. In Anlehnung an Roland Barthes, der den Appetit als „vorausschauende Imagination der Erinnerung vergangener Freuden“ definiert, lassen sich beide In(ter)ventionen deshalb auch als Appetizer charakterisieren.[8] Als Appetizer macht das gemeinsame Essen im öffentlichen Raum Appetit – Appetit darauf, selbst tätig zu werden, Appetit darauf, die eigene Geschichte in Form sinnlicher Erinnerungen selbst tätig mitzugestalten. Hierin aber, so möchte ich behaupten, besteht die politische Kraft der Inszenierung essender Körper im öffentlichen Raum.

[1 ] Simmel, Georg: Soziologie der Sinne. In: Ders.: Soziologische Ästhetik. Hrsg. v. Klaus Lichtblau, VS Verlag für Sozialwissenschaft, Wiesbaden, 2009, S. 115–127, hier S. 126. [2] Ebd., S. 125. [3] http://jeffstark.org/ [4] Feuerbach, Ludwig: Gottheit, Freiheit und Unsterblichkeit vom Standpunkte der Anthropologie. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 10., Otto Wigand, Leipzig, 1890, S. 21f. [5] Vgl. ebd. [6] Marchart, Oliver: Claude Lefort: Demokratie und die doppelte Teilung der Gesellschaft. In: Bröckling, Ulrich; Feustel, Robert (Hg.): Das Politische denken. Zeitgenössische Positionen.,Transcript, Bielefeld, 2010, S. 19–32, hier S. 23. [7] Vgl. hierzu Lefort, Claude: Democracy and Political Theory, University of Minnesota Press, Minneapolis, 1988, S. 17f. [8] Vgl. Barthes, Roland: Reading Brillat-Savarin. In: Blonsky, Marshall (Hg.): On Signs, John Hopkins University Press, Baltimore, 1985, S. 61–75, hier S. 71.


Amol K Patil, Impression, 2012


Grübchenmacher. Patentiert von Isabel Gilbert of Rochester, 1936.

Anita Page and ›The Ideal Screen Type‹, 1928.

William James Herschel: Finger- & Handabdrücke, 1859/60.

Valie Export: Tapp- und Tastkino, München, 1968.

Sycamore yearbook of Indiana State Normal School, 1927. Im Team (und wahrscheinlich im Bild): Herschell Lammey, James Chestnut, Obert Piety, Lloyd Reece, Oran Brown, John Teany, Joseph Gray, Harold Albright, Ray Sparks, Piercy Masten und ihr Trainer David Glascock.

Toronto Police Service: Destruction of Adult Fingerprints, Photographs and Records of Disposition, 2015. Online abrufbar unter: http://www.torontopolice.on.ca/publications/files/forms/fingerprint_destruction.pdf

Voyager Golden Record #99: Röngtenbild einer Hand, 1977.


„Willst du denn deine Geschenke nicht aufmachen?“, sagte Erica. Er nickte zu den Stapeln hin, sah wieder zu uns herüber und sagte mit klarer, lauter Stimme: „Wie kommt die Zahl in mich rein?“ „Die Zahl?“, sagte ich. „Vier.“ Seine braunen Augen weiteten sich. Erica streckte die Hand über den Tisch und legte sie auf seinen Arm. „Tut mir Leid, Matty“, sagte sie, „aber wir verstehen nicht, was du meinst.“ „Vier werden“, sagte er. Ich hörte ihm die Dringlichkeit an.[2] Siri Hustvedt: Was ich liebte

Wann immer einen die Dinge erschrecken, sei es eine gute Idee, sie zu messen.[3] Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt

Daniela Döring

Körper nach MaSS. Zur Kulturtechnik des Messens

[1]

In Siri Hustvedts Roman Was ich liebte stellt der meintlichen Neutralität. Diese Aufwertung des Sohn einer der Protagonistinnen anlässlich abstrakten und absoluten Zahlkonzepts wurseines vierten Geburtstags die Frage „Wie zelt im 19. Jahrhundert: dort wird sie gewiskommt die Zahl im mich rein?“[4]. Die Erwach- sermaßen ‚erwachsen‘. Während sich das senen reagieren verständnislos. Zu selbstver- Zahlzeichen von seiner materiellen Grundlage ständlich ist ihnen die Beschreibbarkeit des – wie Finger, Kerbholz oder Rechenstein – löst, Alters durch Zahlen geworden. Wenn Kinder wird es zum Garanten von Objektivität mit Liedern oder Reimen zählen lernen, neh- schlechthin.[6] men sie die Hände zur Hilfe. Im Laufe des Zahlen und Körper gehen historisch wie Erwachsenwerdens verschwindet diese Verbin- gegenwärtig spannungsreiche Beziehungen dung, die Fähigkeit des abstrahierenden Zäh- ein. Seit jeher gibt es Versuche, den menschlens wird verinnerlicht und einverleibt. Damit lichen Körper zu vermessen, ihn in verschiegeht eine merkwürdige Abwertung des hapti- dene Einheiten zu zerlegen und die idealen schen Zählens einher, das in das kindliche Maße zu bestimmen. Das 19. Jahrhundert aber löst eine regelrechte Zahlenlawine aus,[7] es ist Reich verwiesen wird. So wie das Zählen ist auch die Kulturtech- von umfassenden Quantifizierungs- und Fornik des Messens ein habitualisierter und allge- malisierungsprozessen geprägt.[8] Nicht mehr genwärtiger Vorgang.[5] Wir messen Blutdruck, nur in der Kunst- und Proportionstheorie Fieber, Erfolge, Kompetenzen, Zeiten und wird der Mensch vermessen, sondern auch in Leistungen, Intelligenzquotienten, Risiken zahlreichen anderen Disziplinen; die Statistik entsteht und erhebt Fruchtbarkeits- und Tound vieles mehr. Die Zahl erscheint dabei als Maß der Dinge, sie erfreut sich einer erstaun- desraten, sie macht Aussagen über Krankheit, lich unantastbaren Universalität und ver- Kriminalität, fremde Ethnien und Nationen,


ja sie versucht sogar, Alkoholismus oder das literarische Talent zu bestimmen. Zum einen werden die Wissenschaften von einem Datennetz überzogen, zum anderen rückt der Körper ins Zentrum der Forschung und erscheint nunmehr als vorgeblich mess- und berechenbares Objekt. Die veränderten Ordnungs- und Wissensstrukturen sind davon gekennzeichnet, dass der Begriff der mathematischen Erkenntnis zum epistemologischen Instrument und Ideal wird.[9] Es entsteht Wissen, das ‚zählt‘. Doch was passiert, wenn der Körper vermessen, in Zahlzeichen übersetzt und formalisiert wird? Wie funktionieren derartige Abstraktionsprozesse? Und wie erhalten die (Zahl-)Zeichen ihre Aussagekraft und Wirkungsmacht? Wenn Daten erhoben werden, so müssen sie ausgewählt und kategorisiert, verworfen und schließlich neu zusammengesetzt und interpretiert werden. Das 19. Jahrhundert bringt Unmengen von diffusen Daten, Lücken und Brüchen hervor. Sie erzeugen eine Unruhe, ein unersättliches Begehren nach immer größeren und umfassenderen Datensätzen, die zugleich Evidenz und Eindeutigkeit versprechen.[10] Die Praktiken der Vermessung und Verdatung des Körpers generieren ein arbiträres Zahlenwissen, das neue Ordnungskategorien nötig macht. Dabei wird das Ideal der ‚mittleren Größe‘ erfunden, das sich einerseits aus dem ästhetisch-künstlerischen Bild des Mittelmaßes speist und andererseits als statistische Größe konzipiert wird. Über die Techniken des Messens, Berechnens und Visualisierens wird der Körper nicht mehr in relationalen Maßen bestimmt, sondern zunehmend absolut, mit konkreten Zahlwerten, erfasst. Die Idee einer ‚mittleren Größe‘ formuliert Immanuel Kant in seiner Kritik der Urteilskraft wie folgt: Jemand hat tausend erwachsene Mannspersonen gesehen. Will er nun über die vergleichsweise zu schätzende Normalgröße urteilen, so läßt (meiner Meinung nach) die Einbildungskraft eine große Zahl der Bilder (vielleicht alle jene tausend) aufeinanderfallen, und, wenn es mir erlaubt ist, hiebei die Analogie der optischen Darstellung anzuwenden, der Raum,

wo die meisten sich vereinigen, und innerhalb der Umrisse, wo der Platz mit der am schärfsten aufgetragenen Farbe illuminiert ist, da wird die mittlere Größe kenntlich, die sowohl der Höhe als Breite nach von den äußersten Grenzen der größten und kleinsten Staturen gleich weit entfernt ist; und dies ist die Statur für einen schönen Mann. (Man könnte ebendaselbe mechanisch herausbekommen, wenn man alle tausend mäße, ihre Höhen unter sich und Breiten (und Dicken) für sich zusammen addierte, und die Summe durch tausend dividierte. […] Wenn nun auf ähnliche Art für diesen mittlern Mann der mittlere Kopf, für diesen die mittlere Nase usw. gesucht wird, so ist diese Gestalt die Normalidee des schönen Mannes, in dem Lande, da diese Vergleichung angestellt wird […].[11]

Kant verortet das Konzept der mittleren Größe noch in der menschlichen Einbildungskraft und rekurriert zugleich auf zwei Formen der Datenverarbeitung.[12] Zum einen schlägt er ein visuelles Verfahren vor, das eintausend Bilder übereinander legt. Zum anderen weist er das mechanische Messverfahren als statistische Mittelwertsbildung aus. Das Messen aller Strecken des männlichen Körpers und die Berechnung der Durchschnitte mache – zieht man nun beide Verfahren zusammen – die mittlere Form vorstellbar, nämlich dort, wo sie sich als häufige Mitte abzeichne. Kant braucht – vereinfacht gesagt – zweierlei für sein Konzept: die Zahl und das Bild. Die Datensätze werden zu einer ästhetischen Formel hochgerechnet: dem Mann mit den gemittelten Eigenschaften.[13] Aus der optischen und mathematischen Operation gerinnt jene ‚Normalgröße‘, die als Effekt der Datenverfahren den idealen Typus mit dem männlichen Körper verkoppelt. Dieses Konzept der ‚mittleren Größe‘ situiert Kant im Imaginationsvermögen. Als automatische und selbsttätige Handlung zeigt sie bereits einen Paradigmenwechsel an. Was hier eine Fähigkeit der Einbildungskraft ist, wird im 19. Jahrhundert zu einer Leistung der Technologie. An Kants ästhetischen Entwurf schließen proportions- und kunsttheoretische Formulie-


rungen etwa Johann Gottfried Schadows an, die gleichwohl weder die Technik der Durchschnittsberechnung gebrauchen, noch den Begriff des ‚Normalen‘ enthalten, jedoch die Idee der ‚mittleren Gestalt‘ am männlichen Körper wirksam installieren. Schadow entwirft für die akademische Kunstlehre ein Mappenwerk, in dem auf mehreren Tafeln das menschliche Wachstum am individuell vermessenen Körper dargestellt ist. Dabei steht die ‚mittlere Größe‘ des ausgewachsenen Mannes als Höhepunkt dieser Entwicklung.[14] An diese idealtypische Konzeption sind quasi als Nachtrag einige wenige Vermessungen des ‚Weiblichen‘ sowie Darstellungen des ‚Anderen‘ (wie etwa übergroße Personen) angeschlossen. Zwar sammelt Schadow über 30 Jahre lang Messdaten und repräsentative Maße, doch schließt er sein Lebenswerk mit der Erkenntnis, dass der Mannigfaltigkeit der Natur kaum beizukommen sei. Das Anliegen, den ästhetischen Kanon in ein ‚Naturgesetz‘ zu überführen, wird sich die Statistik – insbesondere einer ihrer Protagonisten, Adolphe Quételet – zur Aufgabe machen. Aus dem erhobenen Zahlenmaterial verschiedener körperlicher wie auch sozialer Phänomene gewinnt der belgische Mathematiker und Astronom jeweils einen Mittelwert, der zu einem „Normalzustande“[15] schematisiert und in der Kurve der Normalverteilung visualisiert wird. Quételets Theorem des homme moyen, also des ‚mittleren Menschen‘[16], inkorporiert nicht nur die ideale Größe auf der Verteilungskurve, sondern verändert auch das Prinzip des Messens selbst: Es tritt zunehmend im Verbund mit Techniken der Berechnung auf. In der Verkopplung von Wahrscheinlichkeitstheorie, Statistiken von Soldatenregimentern und dem Ideal einer antiken Statue wird wiederum ein Maßstab am männlichen Körper generiert, der gleichsam die Bezugsgröße für das ‚Weibliche‘ abgeben wird. So werden etwa in seiner Anthropomètrie die Größenunterschiede der Geschlechter tabellarisch derart dargestellt, dass die Körpermaße des männlichen Geschlechts als Bezugsgröße 1 gesetzt und jene des weiblichen Geschlechts im Verhältnis dazu errechnet werden.[17]

Wie solch ideale Maßstäbe in Alltagspraktiken dringen, zeigt ein Blick auf die Entwicklung der Konfektionsgrößen. Analog zu Quételets Statistiken werden auch im entstehenden Konfektionsgewerbe ungeheure Datenmassen ermittelt. Ebenso werden die wissenstheoretischen Grundlagen der Konfektionsgrößen zunächst am männlichen Körper entwickelt. Dafür ist die Uniformherstellung wegbereitend, die bereits Ende des 18. Jahrhunderts nach Grundmodellen arbeitet. Für die industrielle Kleiderproduktion ist es jedoch kennzeichnend, dass keine übergreifenden, statistischen Messungen (erst in 1960er Jahren) erhoben werden, sondern jedes Konfektionsgeschäft eigene Zuschnitts- und Maßsysteme entwickelt. Diese rekurrieren teilweise auf die Technik der Durchschnittsberechnung, vornehmlich aber auf individuelle Erfahrungen, und erzeugen so eine immense Diversifizierung der Systeme. Die idealen (männlichen) ‚Normalmaße‘ geraten spätestens hier, (aber nicht nur) am weiblichen, zu bekleidenden Körper in Widerspruch. Analog zum Schadow’schen Diskurs der Proportion und dem Quételet’schen der Statistik, die sich antiker und idealisierter Referenzen bedienen, tritt auch für die männliche Konfektionskleidung das kriegerische und ästhetische Bild des Apoll von Belvedere in Kraft.[18] Für die weiblichen Konfektionsgrößen wird hingegen eine ambivalente Figur erfunden: „Fräulein Gelbstern“. Eines der ersten Größensysteme markiert verschieden große Konfektionskleidung durch farbige Sterne.[19] „Gelbstern“ steht hier für die ideal-normalen, weiblichen Körpermaße. In dem Moment jedoch, in dem eine weibliche Figur den idealen Maßstab inkorporiert, wird sie zugleich als das ‚Andere‘ und ‚Abweichende‘ markiert. So entstehen um die Jahrhundertwende eine Vielzahl literarischer Geschichten über die Vorführ- und Probierdame „Fräulein Gelbstern“, in denen sich oftmals maskierte Prostitution, Krankheit oder Laster hinter der idealisierten Zeichnung verbergen.[20] Damit steht diese Konzeption den männlichen Entwürfen eines ‚mittleren Menschen‘ nahezu konträr gegenüber.


Das Messen als mediale Praktik konstituiert nicht nur verschiedene Geschlechterbilder, sondern kulturelle Vorstellungen und Maßstäbe schlechthin. „Das Maß ist der Anfang und das Ende“[21], parodiert der Künstler und Direktor des Museums der unerhörten Dinge Roland Albrecht den Vorgang des Vermessens in seinem Drama Wenn der Vermesser in Vermessenheit auf einen zu Vermessenden trifft. In seinem zynischen Wortspiel kommen ein Handbuch „Der Vermesser“, ein vorgesetzter „Obervermesser“ und schließlich die pure Gewalt [22] – durch das „Eindreschen“ mit dem Messstock auf den zu Vermessenden – zum Einsatz, um jenen Widerstand zu brechen.[23] Doch kommt er zu dem hoffnungsfrohen Schluss, „daß bis heute das Maß aller Dinge noch nicht gefunden und ein unermeßlicher Rest geblieben ist“.[24]

[8] Einen guten Überblick liefert: Krause, Markus: Messen. In: Griesecke, Birgit (Hg.): Menschenversuche. Eine Anthologie; 1750–2000, Frankfurt a. M., 2008, S. 355–390. [9] Vgl. Krämer, Sybille: Berechenbare Vernunft. Kalkül und Rationalismus im 17. Jahrhundert, Berlin/New York, 1991, S. 3. [10] Christine Hanke hat diese Dynamik in ihrer Studie herausgearbeitet: Während anthropologische Messwerte auf das Bestimmen eindeutiger Kategorien abzielen, drohen sie gleichermaßen zu verwischen. Vgl. Hanke, Christine: Zwischen Auflösung und Fixierung. Zur Konstitution von „Rasse“ und „Geschlecht“ in der physischen Anthropologie um 1900, Bielefeld, 2007. [11] Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft [1790], Leipzig, 1930, S. 103. [12] Vgl. Rieger, Stefan: Experimentelle Bilddatenverarbeitung. Anmerkungen zur technischen Konstruktion von Allegorien in den Wissenschaften vom Menschen. In: Horn, Eva; Weinberg, Manfred: Allegorie. Konfigurationen von Text, Bild und Lektüre, Wiesbaden, 1998, S. 274–291, hier S. 276. [13] Vgl. ebd. S. 276. [14] Vgl. Tafel XIV. In: Schadow, Gottfried: Polyklet oder von den Maassen des Menschen nach dem Geschlechte und Alter, mit Angabe der wirklichen Naturgröße nach dem Rheinländischen Zollstocke und Abhandlungen von dem Unterschiede der Gesichtszüge und Kopfbildungen der Völker des Erdboden, als Fortsetzung des hierüber von Peter Camper ausgegangenen, Berlin, 1834. [15] Quételet, Adolphe: Ueber den Menschen und die Entwicklung seiner Fähigkeit oder Versuch einer Physik der Gesellschaft, Stuttgart, 1838, S. 571. [16] Das Theorem steht im Mittelpunkt seines Buches Ueber den Menschen und die Entwicklung seiner Fähigkeit oder Versuch einer Physik der Gesellschaft [Stuttgart 1838] und wird von Quételet in seiner Publikation Anthropométrie ou mesure des différentes facultés de l‘homme [Brüssel 1870] weiterentwickelt. [17] Vgl.: Quételet, Adolphe: Anthropométrie ou mesure des différentes facultés de l‘homme, 1870, S. 179.

[1] Der Artikel basiert auf meiner Dissertation  „Zeugende Zahlen. Mittelmaß und Durchschnittstypen in Proportion, Statistik und Konfektion“ und dem Seminar „Körper nach Maß“ am Studiengang der Europäischen Medienwissenschaft (WS 2012/13). Ich danke allen Studierenden für die produktiven Diskussionen.

Dr. Daniela Döring ist Kulturwissenschaftlerin und lehrt seit 2010 am Studiengang Europäische Medienwissenschaft am Institut für Künste und Medien der Universität Potsdam. Sie war Stipendiatin des Graduiertenkollegs ‚Geschlecht als Wissenskategorie‘ an der Humboldt-Universität zu Berlin, arbeitete am Braunschweiger Zentrum für Gender Studies und an der Stiftung Stadtmuseum Berlin. Aktuell erscheinen mehrere Beiträge in der von ihr gemeinsam mit Jennifer John herausgegebenen 58. Ausgabe der FKW // Zeitschrift für Geschlechterforschung und visuelle Kultur mit dem Titel „Re-Visionen des Museums? Praktiken der Sichtbarmachung im Feld des Politischen“.

[2] Hustvedt, Siri: Was ich liebte, Reinbek bei Hamburg, 2003, S. 77. [3] Kehlmann, Daniel: Die Vermessung der Welt, Reinbek bei Hamburg, 2005, S. 22. [4] Hustvedt, Siri: Was ich liebte, Reinbek bei Hamburg, 2003, S. 77. [5] Kulturtechniken lassen sich grob gesagt zum Ersten als operationale Praktiken bezeichnen, die mit Dingen und Zeichen umgehen, zum Zweiten treten sie als körperlich habitualisiertes und routiniertes Wissen in alltäglichen Umwelten auf, und zum Dritten konstituieren sie historisch variable Kulturen und Wirklichkeiten. Ausführlicher hierzu vgl. u.a. Maye, Harun: Was ist eine Kulturtechnik? In: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung (1), 2012, S. 121–135, oder Eberhard Schüttpelz: Die medienanthropologische Kehre der Kulturtechniken. In: Engell, Lorenz; Siegert, Bernard; Vogl, Joseph: Kulturgeschichte als Mediengeschichte (oder vice versa?), 2006, S. 87–110. [6] Genauer siehe: Döring, Daniela: Zeugende Zahlen. Mittelmaß und Durchschnittstypen in Proportion, Statistik und Konfektion, Berlin, 2011, insbesondere Kapitel 2, S. 28ff. [7] Vgl. Hacking, Ian: The taming of chance, Cambridge, 1992, S. 5.

[18] z. B. in: Klemm, Heinrich: lllustriertes Handbuch der höhern Bekleidungskunst für Civil, Militär und Livree. Nach den Anforderungen des neuesten Standpunktes der mathematischen Zuschneidekunst, sowie der verschiedenen Geschmacksrichtungen in der modernen Kleidung zum gründlichen Selbstunterrichte. Dresden, mit der Bildunterschrift Figur 13: „Darstellung des ganz normalen männlichen Körpers, gezeichnet nach der berühmten Statue des Apollo im Louvre zu Paris“, 1875, S. 21. [19] Vgl.: Loeb, Moritz, Berliner Konfektion, Berlin, 1906, S. 73. [20] Siehe z. B.: Burg, Jacques; Turszinsky, Walter: Gelbstern. Eine Groteske in 3 Akten, Berlin, 1907; Vely, Emma: Gelb-Stern, Breslau, 1898; oder: Ompteda, Georg Freiherr von: Konfektion. In: Berbig, Roland (Hg.): In einer Droschke zweiter Klasse. Geschichten aus dem Berlin um die Jahrhundertwende, Berlin, 1986. [21] Albrecht, Roland: Wenn der Vermesser in Vermessenheit auf einen zu Vermessenden trifft. Ein Drama. In: Ästhetik und Kommunikation, 31. Jahrgang, Heft 111: Significans. Zwischen Kunst und Erkennungsdienst, Berlin, 2000, S. 13–14, hier S. 13. [22] Aktuelle Studien verweisen auf die impliziten Gewalt- und Hegemoniestrukturen des (v.a. anthropologischen) Messens. Siehe z. B.: Berner, Margit; Hoffmann, Anette; Lange, Britta: Sensible Sammlungen. Aus dem anthropologischen Depot, Hamburg, 2011; Hoffmann, Anette; Lange, Britta; Sarreiter, Regina (Hg.): Was wir sehen. Bilder, Stimmen, Rauschen. Zur Kritik anthropometrischen Sammelns, Basel, 2012. [23] Vgl.: Albrecht, Roland: Wenn der Vermesser in Vermessenheit auf einen zu Vermessenden trifft. Ein Drama. In: Ästhetik und Kommunikation, 31. Jahrgang, Heft 111: Significans. Zwischen Kunst und Erkennungsdienst, Berlin, 2000, S. 13–14. [24] Ebd., S. 14.


KEIN ORT, SONDERN EIN ZUSTAND befragt den Körper als Instrument und Instrumentalisierungen des Körpers. Dabei werden Verhältnisse von Normalität und Abweichung, Fremd- und Selbstbestimmung verhandelt: Fremde und eigene Strukturen, Normierungen und Optimierung des Körpers, Zurschaustellung und Schaulust. Das Hinterfragen von Sinn und Unsinn dieser Zu- und Festschreibungen ist Voraussetzung für autonomes Handeln, individuelles und kollektives Selbst-Bewusstsein.

14.05. 19h, Vernissage 21h, Falling Man. Rising Woman. Elektroakustische Performance von Simon Vincent 15.05. 18h, „Ich möchte eine Schreibmaschine sein.“ Das Fingeralphabet – Alfabeto Dactilar des Künstlers, Aktivisten und Dichters Cristian Forte als neue poetische Ordnung im Chaos – Ein Gespräch mit Sandra Hettmann und Cristian Forte 21h, DESEO – INSTANTE – OLVIDO. Videoperformance von Cristian Forte in Zusammenarbeit mit Ginés Olivares Ort: Praline Offspace, Lützner Str. 39, Leipzig 20.05. 18h, Anne Quirynen im Gespräch mit der Klasse Expanded Cinema / Clemens von Wedemeyer; Utopian Real Estate: #1. Lecture Performance von Charlotte Eifler und Thomas Mader Ort: GfzK, Vision&Fear Station, Leipzig 21.05. 18h, Matthias Wermke / Mischa Leinkauf im Gespräch mit der Klasse Expanded Cinema / Clemens von Wedemeyer Ort: GfzK, Vision&Fear Station, Leipzig 24.05. 17h, Führung durch die Ausstellung und Publikation mit Lena von Geyso und Elisabeth Pichler 19 h, Finissage

Die Ausstellung versammelt installative und performative Arbeiten, die sich mit Körpersprache(n), Spielräumen und Begrenzungen, Geschlechter- und Machtverhältnissen und Strategien von Aneignung, Kontrolle und Einschreibung körperlicher Praktiken auseinandersetzen. In der Zusammenstellung unterschiedlicher künstlerischer Formate – Sound, Video, Grafik, Objekt, Architektur – werden Verhältnisse von Aktion und Dokumentation, Unmittelbarkeit und Formalisierung befragt. 1a + 1b Anne Quirynen Maximilian’s Darkroom (in Zusammenarbeit mit Antonia Baehr und Antonija Livingstone), 2004 Dance, I think the body likes to move, 1990 2a + 2b Wermke / Leinkauf Grenzgänger, 2006 Keine Zeit, 2010 3 Amol K Patil Asylum for Dead Objects, 2013 4a + 4b Cristian Forte Alfabeto Dactilar, 2014 Pantera 80, 2004 5 Julia Brunner & Stefan Endewardt Das Gefängnis in mir, 2014

Die Publikation präsentiert die Arbeiten in einem neuen Zusammenhang. Dies geschieht mittels unterschiedlicher Formen der schreibenden Praxis von Theoretiker_innen und Künstler_innen verschiedener Disziplinen und durch die Ergänzung um assoziatives Bild- und Recherchematerial. Prof. Dr. Heinz Bude Räume der Angst (Soziologe, Kassel)

Dr. Daniela Döring Körper nach Maß. Zur Kulturtechnik des Messens (Kulturwissenschaftlerin, Potsdam)

Prof. Winfried Gerling Men who Fell to Earth (Medienwissenschaftler, Potsdam)

Saskia Oidtmann Stolpern als Schlupfloch für körperlichen Freiraum (Tänzerin, Choreografin, Film- und Theaterwissenschaftlerin, Berlin)

„Kein Ort, sondern ein Zustand“. Ein Abschlussprojekt von Lena von Geyso und Elisabeth Pichler im Studiengang „Kulturen des Kuratorischen“ an der Hochschule für Grafik und Buchkunst, Leipzig. Besonderer Dank gilt den Künstler_innen und Autor_innen, für ihre Kreativität, Gedanken und Beiträge, und Michael Ehritt, Charlotte Eifler und Thomas Mader, Jens Gruhlke, Sandra Hettmann, Linda Kantchev, Aron Lesnik, Veronika Lukasova, Nora Molitor und Mathieu Brohan, Ginés Olivares, Karl Pichler, Marike Schreiber, Kristina Semenova und Hannes Rassmann, Johanna Stiegeler, Kathrin Tschirner, Jan Joost Verhoef, Simon Vincent, Olga Vostretsova, Clemens von Wedemeyer, Anke Dyes und der Klasse Expanded Cinema an der HGB, Clara Wieck, Oliver Wipperfürth und besonders Lena Brüggemann, Paul Ziolkowski und dem Team des Kunstraum D21. Danke auch an Beatrice von Bismarck, Thomas Weski und Benjamin Meyer-Krahmer, den Studierenden des Studiengangs „Kulturen des Kuratorischen“ und der Hochschule für Grafik und Buchkunst, Leipzig. Ohne Sie und Euch gäbe es weder einen Ort, noch einen Zustand.

Max Ott GRENZ e n l o s e ARCHITEKTUR Stadtutopien der 1960er / 1970er Jahre (Architekt und Urbanist, München)

Dr. Frauke Surmann Appetizer. Ästhetische In(ter)ventionen im öffentlichen Raum oder Über die Politik des Essens (Theater-, Musik- und Kulturwissenschaftlerin, Berlin)

Stefanie Schulte Strathaus Stay in the Costume. Stay in the Frame (Auszüge) (Film- und Videokuratorin, Berlin)

Förderer: Hypo-Kulturstiftung, Studentenwerk Leipzig, StuRa der HGB Sponsoren: Chromolux, Papyrus Partner: Kunstraum D21, Praline Offspace, Vision&Fear Station, Kulturen des Kuratorischen, Hochschule für Grafik und Buchkunst Herausgeberinnen/Redaktion: Lena von Geyso und Elisabeth Pichler Lektorat: Karl Pichler Gestaltung: Lena von Geyso und Elisabeth Pichler Druck: x-media, Berlin Papier: Chromolux 700, 135 g/m2 RecyStar Nature, 115 g/m2 Papyrus Rainbow, 90 g/m2 2015


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.