2/3 KONTEXT Diplomarbeit Elisabeth Pichler

Page 1

FREIRÄUME GIBT ES NICHT FREIRÄUME MUSS MAN SICH SCHAFFEN

1


2

elisabeth Pichler 2012

TEIL II

THEMENFINDUNG TEMPELHOF


FREIRÄUME GIBT ES NICHT FREIRÄUME MUSS MAN SICH SCHAFFEN Themenfindung tempelhof DIPLOMARBEIT Ausstellungskonzept für das Flughafenareal Tempelhof ELISABETH PICHLER KOMMUNIKATIONSDESIGN FACHHOCHSCHULE POTSDAM 2012 Betreuende Professoren: Prof. Detlef Saalfeld Prof. Lutz Engelke

teil II kontext Raum freiraum – leere arten der leere Leerstand und Brachen in Berlin

was besetzt tempelhof in den Köpfen Die weite auf dem Tempelhofer Feld leere im gebäudekomplex

3


4

elisabeth Pichler 2012

TEIL II

THEMENFINDUNG TEMPELHOF


Vorwort Im Rahmen meines Studiums an der Fachhochschule Potsdam habe ich mich schwerpunktmäßig mit der Konzeption und Realisierung von kulturhistorischen Ausstellungen beschäftigt. Im Team um Prof. Detlef Saalfeld hatte ich die Möglichkeit, an zwei umfangreichen Realisierungsprojekten mitzuarbeiten.

Tempelhof bietet mir die Möglichkeit, ein Sujet am Originalschauplatz – und damit verbundene räumliche und inhaltliche Überschneidungen – zu thematisieren.

Realisierungsprojekte sind reizvoll und lehrreich – ich setze mich gerne mit ›Gegebenheiten‹ auseinander und finde Lösungen für komplizierte Aufgaben.

Ausgangspunkt meiner Themenfindung sind persönliche Interessen, anhand derer ich grundlegende Fragen bearbeite.

Für mein Diplomprojekt war es mir wichtig einen ›freieren‹ Rahmen zu finden.

Elisabeth Pichler, 2012

Es gibt keine Auftraggeber oder Institutionen, deren Interessen, Nachlass oder ›Sammlung‹ ich hier bearbeiten oder berücksichtigen muss.

Ich habe mich für eine Ausstellungskonzeption für den ehemaligen Flughafen Tempelhof (im folgenden ›Tempelhof‹) entschieden, weil mich dieser Ort fasziniert: seine aktuelle Anziehungskraft; die starken Emotionen – Euphorie wie Verlustängste –, die ausgelöst werden und eng mit der Geschichte des Ortes und seinem Zukunftspotential zusammenhängen.

5


Themenfindung Tempelhof Im Oktober 2008 wurde der Flughafen Tempelhof für den Flugverkehr geschlossen; seiner Bestimmung beraubt oder befreit von seiner ürsprünglichen Funktion. Die über Jahre etablierten Handlungsmuster an diesem Ort lösen sich auf. Aus Sperrzonen und Gebäuden mit eindeutigen Zugangsberechtigungen wird ein Raum der uns die Möglichkeit bietet ihn mit neuen Ideen, Funktionen und Handlungsvereinbarungen zu beleben. Ein Raum der heute neu gedacht und gestaltet werden kann.

Ich bezeichne diesen Raum als Freiraum.

»In 55 Tagen wird der Flugverkehr an dieser Stelle der Stadt enden und der nun freie Raum Platz bieten für Wunderbares.«

1

Annett Gröschner

Erste Überlegungen zu einem ›kulturhistorischen‹ Ausstellungskonzept führten zu dem Gedanken, einen Rundgang zu entwerfen, der an mehreren Stationen über Gebäude und Feld verteilt – der Größe des Areals gerecht werdend – die Geschichte dieses besonderen Ortes dokumentiert und erfahrbar macht.

Vier Themenschwerpunkte der bewegten Geschichte des Ortes kristallisierten sich heraus: Die Zeit des Nationalsozialismus, welche sich unübersehbar in der Architektur manifestiert; die Zeit der amerikanischen Besatzung, mit der für Berlin symbolisch und emotional aufgeladenen kurzen Phase der Berliner-Luftbrücke; die Phase der Öffnung und Nutzung für den Personenflugverkehr als Zentralflughafen; die aktuellen Diskussionen und Entwicklungen eines Nutzungskonzepts, dieses prominenten Areals im Innenstadtbereich, nach der Stilllegung des Flugverkehrs im Oktober 2008.

6

elisabeth Pichler 2012

TEIL II

THEMENFINDUNG TEMPELHOF

Schon vor Beginn der Arbeit habe ich mich privat und für mein Studium mit Dokumentation und unterschiedlichen Formen der Geschichtsvermittlung, kollektivem Gedächtnis und persönlicher Erinnerung beschäftigt. Bei der intensiven Auseinandersetzung mit Tempelhof wurde mir bewusst, dass es besonders die aktuelle Situation ist, die den für mich spannensten Aspekt des breiten Themenkomplexes darstellt und mich fasziniert.


Für eine Ausstellung in und über Tempelhof interessieren mich die – mit der Vergangenheit ebenso wie mit der Zukunft verbundenen – aktuellen Bezüge und Zusammenhänge, die für den heutigen Umgang mit einem solchen Ort von Bedeutung sind. Tempelhof ist ein Experimentierfeld für mich persönlich wie auch für die Stadt Berlin. In meiner Ausstellung möchte ich Anregungen schaffen und sensibilisieren für die persönliche Wahrnehmung von Raum, Leere und Freiraum.

Ich konzentriere mich in meinem Konzept auf den Raum, der ›Hauptexponat‹ meiner Ausstellung werden soll. »[D]abei geht es überhaupt nicht darum die Zeit zu leugnen; es handelt sich um eine bestimmte Weise, das zu behandeln, was man die Zeit und was man die Geschichte nennt«,2 schreibt michel foucault in seinem – heute mehr denn je an Aktualität gewinnenden – Text andere räume, in dem er die »Epoche des Raumes« ausruft.

Abb. 1

Themenfindung tempelhof

Diese Entscheidung bedeutet nicht, das ich die Vergangenheit an einem Ort wie Tempelhof der untrennbar mit seiner Geschichte verbunden ist, ignorieren will.

Blick über die Landebahn

Der ›Leerstand‹ Tempelhofs steht exemplarisch für ein charakteristisches und repräsentatives Thema Berlins. Wie mit einem solchen ›Freiraum‹ umgegangen wird – welche Wünsche und Vorstellungen auf ihn projiziert werden – , ist an diesem prominenten »Loch im Stadtkäse«4 keine Lappalie, sondern wird zum Gradmesser unserer Zukunftsvisionen.

Gegenwart ist von unseren Wahrnehmungen und Interpretationen von Gegenwärtigem wie auch Vergangenem – der Geschichte – geprägt. Unsere Vorstellungen von Zukunft basieren auf diesen Wahrnehmungen und Interpreationen.3 Es liegt nicht in meinem Interesse, Vergangenheit zu rekonstruieren; ich versuche auch nicht, Zukunft zu prognostizieren. Mich interessiert an Tempelhof die gegenwärtige ›Ist-Situation‹. Ich will untersuchen, was unsere Wahrnehmung beeinflusst, darauf aufmerksam machen und neue Blickwinkel ermöglichen. Was sind die Grundlagen Tempelhofs, auf denen man eine Vorstellung von Zunkunft entwerfen kann?

Bevor ich genauer auf Tempelhof eingehe, möchte ich die grundlegenden Fragen vorstellen, die mich bei meiner Konzeptfindung beeinflusst haben:

Wie nehmen wir Raum wahr? Was ist Freiraum – Leere? Was bedeutet die Leere für Berlin?

1

Gröschner in: Ostkreuz 2009a: 16 Foucault in: Barck 1995: 34 3 vgl. Schärer in: ICOFOM 2006: 46–51 4 Wagner 2011: 51 2

7


Raum Um sich dem ›weiten Feld‹ Raum anzunähern, möchte ich hier einige grundlegende Ansätze und Theorien vorstellen, die versuchen, Raum auf unterschiedliche Weise zu definieren und zu begreifen. Neben den Definitionsangeboten waren für mich besonders Ansätze aus den Bereichen Soziologie und Phänomenologie sowie Ansätze, die den Raumbegriff in Richtung des Performativen denken, interessant.

Unsere Vorstellung von Raum ist stark von einer geometrischen Ausdehnung geprägt. Ein euklidischer Raum – vermessbar in Länge, Breite und Höhe –, der einem Container gleich gefüllt werden kann. Das Deutsche Wörterbuch der gebrüder grimm, deren Dokumentation des Sprachgebrauchs des Begriffs mehrere Seiten umfasst, definiert Raum folgendermaßen:

8

Der Handlungsraum beschäftigt auch die Soziologen. Nach Anfängen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, einhergehend mit zunehmender Industrialisierung und Urbanisierung, findet ab den 1950er Jahren, ausgehend vom französischen Soziologen pierre bourdieu, eine intensive Auseinandersetzung mit der gegenseitigen Beeinflussung von Subjekt/Objekt – den Handelnden und dem Raum – statt. Für den französische Soziologen michel de certeau »ist der Raum ein Ort, mit dem man etwas macht«.7 martina löw begreift »Raum als relationale (An)Ordnung sozialer Güter und Menschen«. Mit dem Begriff ›(An)Ordnung‹ versucht sie das Zusammenspiel von Handlung und Struktur als raumkonstituierende Faktoren zu vereinen. Löw plädiert »für ein komplette Überwindung der Dualität von Naturraum und Sozialraum zugunsten des Monismus eines sozialen Interaktionsraums, der sich dynamisch aus den Beziehungen zwischen Akteuren und Gegenständen konstituiert«.9

»die gegebene stätte für eine ausbreitung oder ausdehnung. […] der begriff ist nicht auf das freie feld beschränkt geblieben, sondern hat sich auf jede stätte übertragen, die gelegenheit zur entfaltung einer thätigkeit für einen zweck bietet.« Der Begriff ›Raum‹ »steht gern in festerer verbindung mit verben. aus der eigentlichen und sinnlichen bedeutung entwickelt sich vielfach eine bildliche. […] aus dem rein örtlichen begriffe in den der bereiten gelegenheit zu wirken übergehend«.5

»Räumliche Strukturen müssen, wie jede Form von Strukturen, im Handeln verwirklicht werden, strukturieren aber auch das Handeln.«10

Die ›Gelegenheit zur Entfaltung einer Tätigkeit‹ wie auch die ›vielfache Verbindung mit Verben‹ macht deutlich, dass Raum nicht nur als Ausdehnung oder Behältnis, sondern ebenso als Handlungs- und Imaginationsraum betrachtet werden kann.

Wir schaffen uns Handlungsräume und werden vom räumlichen Gegebenheiten in unserer Art zu handeln beeinflusst. Der Raum entsteht erst aus diesem Zusammenspiel von Kräften, die nicht unabhängig voneinander betrachtet werden können.

elisabeth Pichler 2012

TEIL II

THEMENFINDUNG TEMPELHOF

»Räume sind an sich nicht sichtbar – man sieht die sozialen Güter und deren Platzierungen, aber nicht den Raum als Ganzes –, dennoch sind sie stofflich wahrnehmbar«,11 konstatiert martina löw. Diese stoffliche und sinnliche Wahrnehmung beschäftigt die Phänomenologen schon seit Anfang des 20. Jahrhunderts. Die ›unsichtbare‹ Komponente des Raums wird von gernot böhme als Atmosphäre beschrieben: »Atmosphäre ist die gemeinsame Wirklichkeit des Wahrnehmenden und des Wahrgenommenen.«12 hermann schmitz bezeichnet Atmosphäre als dezidiert räumlich: »Atmosphären sind immer räumlich, […] sie sind ergreifende Gefühlsmächte, räumliche Träger von Stimmungen.«13 walter benjamin verwendet synonym den Begriff der Aura. Für ihn heißt »Aura spüren […] sie in die eigene leibliche Befindlichkeit aufzunehmen«.14 Auch für christine dissmann ist »aller Theorien ungeachtet […] in unserer unmittelbaren Erfahrung unser Leib der Schlüssel zur Orientierung, Wahrnehmung und Vorstellung von Raum«.15 Für die Phänomenologen ist die ›leibliche‹ Wahrnehmung und das ›Erspüren‹ räumlicher Atmosphären Ausgangspunkt und Grundlage der Beschreibung des Raumes.


Ich stütze mich in meiner Ausstellungskonzeption auf Gedankengänge der Soziologen – für die sich Raum erst durch die handelnden Subjekte, im und mit dem Raum konstituiert – und auf Erkenntnisse der Phänomenologen, die leibliche Erfahrung von Raum und Zeit als Voraussetzung jeder Wahrnehmung betrachten. Das Nachdenken über Handlungsräume und die Verbindung zu ›begreifbaren‹ und konkreten Räumen sind wichtige Voraussetzungen, um sich den Herausvorderungen der heutigen Zeit zu stellen. Meine Ausstellungskonzeption ist ein Ansatz und Experiment, um Wahrnehmungen zu provozieren und zum Nachdenken über Räume anzuregen.

Fächerübergreifend ist seit Ende der 1980er Jahre eine »theoretische und forschungspraktische Revalorisierung von Raum bzw. Räumlichkeit«16 festzustellen, die nachwirkend als ›spatial turn‹ bezeichnet wird.

Intensiviert wird dieses Interesse durch Entwicklungen, die wir unter dem Schlagwort ›Globalisierung‹ zusammenfassen. martina löw beschreibt die »rasante Verbreitung weltumspannender Informations- und Kommunikationstechnologien, eine fortschreitende internationale Arbeitsteilung, die mediale Präsenz der Welt in den Wohnzimmern, Migration [und] globale Klimaveränderungen« als »Aspekte eines Prozesses, der Vorstellungen von Nähe und Ferne nachhaltig erschüttert«.18 Der schon 1967 von michel foucault verfasste Text andere räume nimmt diese Entwicklungen geradezu vorweg: »Wir sind in der Epoche des Simultanen, wir sind in der Epoche der Juxtaposition, in der Epoche des Nahen und des Fernen, des Nebeneinander, des Auseinander. Wir sind, glaube ich, in einem Moment, wo sich die Welt weniger als ein großes sich durch die Zeit entwickelndes Leben erfährt, sondern eher als ein Netz, das seine Punkte verknüpft und sein Gewirr durchkreuzt.«19 Diese ›neue‹ Situation geht mit einem »epistemologischen Übergang von einem traditionalen erdräumlich begrenzten zu einem posttraditionalen offenen und pluralen Verständnis des […] Raumes einher«.20 Ende des 20. Jahrhunderts macht sich in allen Bereichen von Wissenschaft, Technologie sowie Kultur- und Geisteswissenschaft verstärkt ein Interesse an räumlichen Strukturen bemerkbar.

raum

»Mit dem spatial turn seit den 1980er Jahren ist die Räumlichkeit zu einem Schlüsselthema der Geistesund Kulturwissenschaften avanciert. Insbesondere die Geografie, die Soziologie und die Ästhetik haben die Wende im Raumdenken eingeleitet«.17

Dieses Interesse am Raum führt seit einigen Jahren auch zur Beschäftigung mit asiatischen Raumkonzepten, für die nach carl fingerhuth »die Einheit von All und Mensch, von Geist und Materie oder von Kollektivem und Individuellem«21 charakteristisch sind. Fingerhuth misst der »Reintegration der Potentiale der Spiritualität, Emotionalität und Sinnlichkeit des Menschen in unser individuelles und kollektives Sein« große Bedeutung zu, und sieht sie »zu einer zentralen Aufgabe der Zeit jenseits der Moderne«22 werden. Die Urbanistik-Professorin sophie wolfrum stellt ein gegenwärtiges Interesse an performativen Raumpraktiken fest, an »Gehen und Reisen, leiblicher Erkenntnis und gelebtem Raum, kultureller Produktion des Raumes, situativem oder performativem Urbanismus«. 23

Virtuelle Räume, die zu Konstanten unseres Alltags werden, verändern unsere Vorstellung von Raum und den entsprechenden Handlungsräumen. Sie sind mitunter Auslöser einer neuen ›Zurück zur Natur‹-Bewegung, die sich in einem Wunsch nach dem Greifbaren und nach Einflussnahme auf ›reale‹ Räume äußert.

5 Grimm

1971: Bd. 14, Sp. 277 Ebd. Bd. 1 4, Sp. 278 7 Certeau in: Dünne/Günzel 2006: 345 8 Löw 2001:158 9 Dünne in: Dünne/Günzel 2006: 302 10 Löw 2001:172 11 Löw in: Krusche 2006:38 12 Böhme 1995: 34 13 Schmitz nach Böhme 1995:29 14 Benjamin nach Böhme 1995:27 15 Dissmann 2011:29 16 Günzel 2010: 90 17 Dünne/Günzel 2006: 2 18 Löw in Krusche 2006:32 19 Foucault in: Barck 1995: 34 20 Noller nach Löw in: Krusche 2006:32 21 Fingerhuth in: Krusche 2006:65 22 Ebd. 64 23 Wolfrum 2011/2012: 6 6

9


Freiraum – leere

loch

Ich habe für die ›Ist-Situation‹ in Tempelhof bewusst die positiv besetzte Bezeichnung Freiraum gewählt. Für die genauere Betrachtung dieses Raumes ist eine Einbeziehung alternativer Bezeichnungen, Synonyme und dazu auftretender Assoziationen sinnvoll, die sich auf konkret räumliche Situationen oder räumliche Vorstellungen beziehen. Einige Begriffe sind eindeutig wertend; eine Vielzahl wird erst im Kontext positiv oder negativ konnotiert. Die Leere ist der Begriff, der am ehesten die Offenheit der Interpretationen fasst und gleichzeitig ein Extrem darstellt, an welchem unsere Wahrnehmung von Raum exemplarisch untersucht werden kann. Freiraum und Leere sind kein objektivierbaren Zustände, sondern subjektive raumbezogene Eindrücke, die sich aus sehr unterschiedlichen materiellen und immateriellen Einflussfaktoren ergeben. Sie sind stets relativ.

freiraum

christine dissmann konstatiert, dass unsere »Wahrnehmung und Deutung von Leere […] einer Vielzahl gegebener Randbedingungen« unterliegt und »im besonderen Maße vom spezifischen Kontext und der individuellen Sichtweise des jeweiligen Betrachters bestimmt«24 wird. eva reblin, die das Verhältnis der Bewohner und Besucher zu den ›Baulücken‹ der Potsdamer Straße in Berlin untersucht, stellt fest, dass die Wahrnehmung von Leere häufig gegensätzliche Eindrücke hervorruft: »Die Betrachter stehen den städtischen Lücken selten neutral gegenüber. Trotz ihres nichtmateriellen Charakters scheinen Lücken meist entweder negative oder positive Bewertungen auszulösen.«25

»Als leerstehend werden im alltäglichen Sprachgebrauch unter anderem Gebäude bezeichnet, deren Nutzung nicht ›bestimmungsgemäß‹, also unseren Vorstellungen und Konventionen entsprechend ist.«26 Dissmann stellt fest, »dass in unserer Kultur der Umgang mit jener Form von Leere, die sich aus einem Veränderungsprozess mit offenem Ende ergibt, von Verunsicherung und Angst geleitet ist«. Die Folge sei, »dass die dominierende Praxis […] auf das Verschwindenlassen der Leere abzielt« und mit einer »Regenerierung und Rückführung leerer Räume in die gewohnte Wachstumslogik«27 reagiert wird. In der Angst vor der Leere drücke sich eine »tiefsitzende menschliche Angst vor der eigenen Halt-, Bezugs- und Bedeutungslosigkeit in […] einer Welt ohne Sinn und Ordnung«28 aus. »Alles Neue, Unbekannte, Erstmal-zu-Tuende oder Zu-Erlebende enthält, neben dem Reiz des Neuen, der Lust am Abenteuer und der Freude am Risiko, auch Angst«29, beschreibt Fritz Riemann gegensätzliche Reaktionen auf unbekannte und ungewisse Situationen. Mit der ›Angst vor dem leeren Blatt‹ wird bei kreativer Arbeit die Angst vor Ideenlosigkeit beschrieben, die in ihrer Extremform die Existenzgrundlagen angreift.

Das ›halbleere Glas‹ steht für eine pessimistische Grundeinstellung, und wir wir sprechen von leeren Versprechungen, leeren Hoffnungen. Der Tod einer geliebten Person hinterlässt eine Leere. Als Metapher für das Seelenleben beschreibt eine innere Leere, ein Ausgebranntsein, Sinnlosigkeit und Erschöpfung.

Freiraum kann also sowohl konkret räumlich als auch geistig wahrgenommen werden.

elisabeth Pichler 2012

nich

Allgemeine Redewendungen legen nahe, dass LEER das Gegenteil von VOLL beschreibt. ›Leer‹ ist in dieser Wahrnehmung das Gegenteil von ›Echt‹, ›Wahr‹ und ›Erwartungsgemäß‹, also nutz- und wertlos oder unbefriedigend.

Freiraum wird im soziologischen und psychologischen Kontext als Möglichkeit zur Entfaltung eigener Kräfte und Ideen definiert.

10

OASE

wüste

Freiraum im Bereich der Landschaftsplanung beschreibt alle nicht durch Gebäude bebauten Flächen und umfasst sowohl Gärten, Straßen, Plätze, Parkanlagen und Friedhöfe als auch Gewässer, Wälder und Felder.

TEIL II

THEMENFINDUNG TEMPELHOF

Le

spiel


Sinnbildlich steht die Leere für gegensätzliche Vorstellungen: Ideenlosigkeit oder Imaginationsraum. Ob Leere oder ›Freiräume‹ positiv oder negativ aufgenommen werden, hängt stark davon ab, ob die bestehende Ordnung als wünschenswert und willkommen empfunden wird. Leere und Freiräume sind mögliche ›Felder‹, um mit Neuem und Veränderungen zu experimentieren.

lücke Leere erstelle

Ich möchte in meiner Ausstellung die unterschiedlichen Leeren Tempelhofs – exemplarisch für die unterschiedlichen Lesarten der Leere – sichtbar machen und eine Reflexion und Hinterfragung dieser Wahrnehmungen – exemplarisch für andere Leer- und Freiräume – auslösen.

ts »Die Großstadt, wie Kunst und Leben auch, braucht Flecken des Zufälligen, Abwesenheiten des Geplanten und im Voraus bestimmten, Lücken, die wir deuten und mit Bedeutung ausfüllen können.«30

chance

»Wo Nichts ist, ist Alles möglich«31, preist rem koolhaas die Leere.

Dissmann spricht von »dichotomen Lesarten der Leere«35, die Zuschreibungen umfassen wie:

Den ›Kopf frei machen‹ wird als wünschenswerte und nötige Vorraussetzung für die Entwicklung neuer Ideen betrachtet.

Fülle und Fehlen, Anwesenheit und Abwesenheit, Ordnung und Chaos, Kontrolle und Verwahrlosung, Reinheit und Verschmutzung .

freiraum – leere

Brache

Die Leere – das Formlose – als Ausgangspunkt Zur genaueren Betrachtung unterschiedlicher kreativer und künstlerischer Tätigkeit beschreibt Lesarten und Interpretationen von Leere erarbeitet christoph menke: »Der Grund und Anfang der Dissmann eine Art Typologie unterschiedlicher Formwerdung, die das Kunstwerk ist, kann nur das Arten von Leere, die sie in materielle und immateri»In Abhängigkeit von persönlichem HinterFormlose sein.« Das Hervorgehen der Form aus elle Erscheinungsformen gliedert: grund, individueller Perspektive und den jeweiligen dem Formlosen stellt für ihn eine Verwandlung dar, Rahmenbedingungen des Kontextes« beschreibt die »durch nichts abgesichert ist. Man kann nicht Materielle Leere sie als vorherrschende Perspektiven: vorweg und allgemein ›wissen‹, wie und ob sie die sich durch das Fehlen von physisch fassbaren gelingen wird«.32 Raumdeterminanten ergibt, unterteilt sie in: Die Wahrnehmung von Leere als desolater Inhaltsleere, strukturelle Leere, GestaltungsleeMissstand, der zu Angst, Verunsicherung und Nicht nur als Grundlage, sondern auch in ihrer Niedergeschlagenheit führt: Die Reaktion auf re, funktionale Leere, Menschenleere und Formlosigkeit selbst wird die Leere »zu einem stets Verlustleere. diese Sichtweise ist das Bestreben, die Leere wiederkehrenden künstlerischen Motiv«.33 durch Füllen, Verstecken oder Zerstören der sie Die 2009 am Centre Pompidou und in der KunstImmaterielle Leere bedingenden Strukturen zu beseitigen. halle Bern stattfindende Ausstellung voids. eine welche durch die Abwesenheit von ideellen oder retrospetive stellt ›Nichts‹ von neun Künstlern substanziellen Raumkomponenten zum Ausdruck Die Wahrnehmung von Leere als städtebauliche zwischen 1958 und heute aus. kommt, gliedert sie in: und kulturelle Ressource, die als Zone städtiNeun mal ›Nichts‹? Der damalige KunsthallenBedeutungsleere, informationelle Leere, Ereignis- scher Unbestimmtheit einen wertvollen SpielLeiter philippe pirotte betont, dass »der Kontext raum für die Stadtentwicklung darstellt: Diese leere und metaphorische Leere. so werkverändernd [wirkt], dass man nicht Perspektive stimuliert den kreativen Impuls, das allen Leerkünstlern nach Yves Klein Plagiat vorUnabhängig von dieser Ordnung unterscheidet sie innewohnende Potential der Leere freizulegen werfen kann«.34 zwischen: und für einen Erneuerungsprozess nutzbar zu machen.37 Planerisch intendierter, gestalteter Leere, natürlicher Leere weiter Landschaften und ungeplant entstandener Leere in Gestalt von Brachflächen.36

raum

»Die Leere sehen, heißt etwas in eine Wahrnehmung aufnehmen, das in sie hineingehört, aber abwesend ist; es heißt, die Abwesenheit des Fehlenden als eine Eigenschaft des Gegenwärtigen zu sehen.« 38

Rudolf Arnheim

experimentierfeld

Dissmann 2011: 43 2009: online 26 Dissmann 2011: 29 27 Ebd. 11 28 Ebd. 25 29 Riemann 1961: 9 30 Shustermann nach Reblin 2009: online 31 Kohlhaas nach Oswalt 1998: online 32 Mehnke in: Die Zeit N°25, 2012: 50 33 Pressemitteilung in: Kunsthalle Bern 2009: 1 34 Pirotte im Interview in: Kustbulletin 10/09: online 35 vgl.Dissmann 2011: 68 36 vgl.Dissmann 2011: 225 37 vgl Ebd. 226 38 Arnheim nach Reblin 2009: online 24

25 Reblin

11


ARTEN der Leere Auf dieser Seite möchte ich Christine Dissmanns »vorsichtige Destillation charakteristischer Merkmale von Leere aus einem meist vielschichtigen Kontext heraus« zusammenfassend vorstellen. Dissmann weist darauf hin, dass sich unterschiedliche Arten von Leere parallel zueinander identifizieren lassen, sich bedingen, sich durchdringen und gegenseitig beeinflussen oder auch ausschließen. So ist auch meine Auswahl der Bilder nie nur einer Art von Leere zuzuordnen. 39

40

Informationelle Leere Informationelle Leere entsteht an Orten ohne historische Dokumentation oder mangels juristischer Datenlage. Hier ist es das Fehlen von Wissen, Festlegung, Zuweisung und die daraus resultierende Unplanbarkeit, die unseren Eindruck von Abwesenheit bestimmt oder überhaupt eine Wahrnehmung erschwert.43

Abb. 5

Jüdisches Museum, ›Void‹, 2001

IMMateriellE LEERE

Freiraum – leere

Metaphorische Leere Metaphorische Leere kann als ›gebaute Metapher‹ das Verlorengegangene repräsentieren sowie den Anspruch auf Erhabenheit und außergewöhnliche Bedeutung herausstellen.41 So verfährt ganz explizit daniel libeskind mit den ›Voids‹ im Erweiterungsbau des jüdischen museums in Berlin. »Der neue Erweiterungsbau ist konzipiert als ein Emblem, ein sinnbildliches Zeichen, in dem sich das ›Nicht-Sichtbare‹ als ein leeres ›Unsichtbares‹ offenbart hat. Die Idee ist also sehr einfach: Das Museum soll um eine Leere herum aufgebaut werden, die durch das Gebäude verläuft, eine Leere, die vom Publikum erfahren werden soll. […] Diese ›Leere‹ (›Void‹), die sich durch die heutige Kultur Berlins hindurchzieht, soll also meiner Ansicht nach sichtbar gemacht werden, soll zugänglich sein. Sie soll zum Strukturmerkmal werden, das sich an dieser Stelle der Stadt kristallisiert und in einer Architektur bloßgelegt wird […].«42

Abb. 3

›Nicht-Orte‹ Abb. 4

Bedeutungsleere Bedeutungsleer scheinen uns, nach Dissmann, einerseits Orte, deren semantischen Gehalt wir nicht erkennen, bestimmen oder akzeptieren können, andererseits Orte, die aufgrund ihrer bezugslosen und unspezifischen Gestaltung und/oder mangelnder Einbindung in das Umfeld für den Betrachter ohne Aussage bleiben.44 Dissmann bezieht sich in ihrer Ausführung u.a. auf den von marc augé geprägten Begriff der ›Nicht-Orte‹, die einen Raum definieren, »der keine Identität besitzt und sich weder als relational noch historisch bezeichnen lässt«.45

Abb. 2

12

Tempelhofer Feld, 2012

elisabeth Pichler 2012

TEIL II

THEMENFINDUNG TEMPELHOF

Arwed Messmer, ›Die DDR hat's nie gegeben‹ 2008

Abb. 6

Constanze Flamme, ›Middle East‹, 2008

Ereignisleere Ereignisleere ist sinngemäß mit Ereignislosigkeit gleichzusetzen und basiert auf der Annahme, dass nicht nur räumliche Begrenzungen und Beziehungen Räume konstituieren, sondern ebenso Ereignisse. Ereignisleere steht in starkem Zusammenhang mit Menschenleere; Orte, an denen Aktivität und damit Entwicklung ausbleibt. Diese Absenz kann einerseits Trostlosigkeit suggerieren, zum anderen ist sie in ihrer Unveränderbarkeit (oft gestaltete) Voraussetzung für Ruhe und Konzentration.46


MateriellE LEERE

Funktionale Leere Funktionale Leere setzt ein Verständnis voraus, nach dem der Raum seine Identität und Fassung über seine Funktion erhält. Das Fehlen dieses zugewiesenen Nutzens ist unabhängig von Gestaltung, Proportion und Dimension. Funktionale Leere wird aus ökonomischen Sinnzusammenhängen heraus definiert und diagnostiziert, wenn Nutzungen nicht der erwartungsgemäßen oder gesellschaftlich erwünschten Funktion entsprechen. 47 Die Wahrnehmung der funktionalen Leere als Mangel erhält ihre Negation in der Ablehnung von wachstumsorientiertem Denken.

Abb. 7

Inhaltsleere Die Vorstellung von Inhaltsleere ist von unserem westlichen Bild des Raums als Behältnis geprägt: Ein Raum ohne Inhalt. Diese Leere ist je nach Größe, Menge und Beschaffenheit des Inhalts und seinem dynamischen Verhältnis zu dem ihn umgebenden Raum spezifisch. Die Abwesenheit von Inhalt (materieller Art) kann die Wahrnehmungen des Zurückgelassenen suggerieren – beispielsweise eine Wohnung nach dem Auszug ihrer Bewohner –, aber unter bestimmten Bedingungen auch eine präziesere Wahrnehmung räumlicher, nichtmaterieller Qualitäten begünstigen – wie es in Andachtsräumen oder einem ›White Cube‹ der Fall ist.49

Strukturelle Leere Strukturelle Leere setzt ein relationelles Verständnis von Raum voraus und ist unabhängig von seiner realen Beschaffenheit. Als leer beschreibt Dissmann Räume mit einer fehlenden visuellen Dichte oder Intensität eines Kraftfeldes. Ausschlaggebend für diese Wahrnehmung ist die Balance der Proportionen, Dimensionen und Relationen der raumdefinierenden Objekte.51

Jürgen Teller, ›Berlin‹

Gestaltungsleere

Abb. 9

Wohnung

Abb. 11 Plänterwald, 2008

Abb. 10 The

Pace Gallery, 2011

Menschenleere

Abb. 8

Neues Museum, 2011

Verlustleere Verlustleere als materielle Erscheinung bezeichne das Verschwinden einer Person oder eines Objekts, dem eine besondere Bedeutung zugeschrieben wurde und das nicht einfach durch etwas anderes ersetzt werden kann. Der Verlust eines geliebten Menschen ist ein eindrückliches Beispiel, genauso aber könne auch der Abriss eines Gebäudes oder das Verschwinden von landschaftsprägenden Objekten so empfunden werden.48

Menschenleere bezeichnet die Abwesenheit von Menschen. Dieser Eindruck wirkt an einem Ort, der erwartungsgemäß ›voller Leben‹ ist, stärker als an Orten, an denen die Abwesenheit von Personen nicht überrascht. Diese Abwesenheit kann das Gefühl der Einsamkeit hervorrufen oder als Privileg des Alleinseins empfunden werden. Die Wahrnehmung von Menschenleere hängt oft maßgeblich mit der Wahrnehmung von funktionaler Leere zusammen.50 Hohe Besucherzahlen können zum Indikator für erfolgreiches Management werden, während ein leeres Restaurant mangelnde Qualität oder schlechtes Management suggeriert. Der leere Strand wird von Besuchern und Touristen, die hier in der Leere ein Idyll sehen, geschätzt, steht aber gleichzeitig für fehlende Einnahmen von Hoteliers und der Tourismusbranche.

Diese Wahrnehmung ist nicht universell und differiert auch aufgrund von kultureller Prägung. So wirken »großflächige Lücken in den locker bebauten Zentren vieler US-amerikanischer Großstädte […] für einen europäischen Betrachter wahrscheinlich als Leerstellen. Für einen amerikanischen Stadtbewohner gehören sie dagegen zum vertrauten Alltagsbild«.52

Gerade im Designkontext sind die Formeln ›form follows function‹ und ›less is more‹ gängige Praxis; dem stehen Positionen gegenüber die, teils ironisch, mit ›horror vacui‹ bezeichnet werden, und den Wunsch ausdrücken alle leeren Flächen, besonders in der Malerei und im Relief mit Darstellungen oder Ornamenten zu füllen.«

Freiraum – leere

Gestaltungsleere ist Ergebnis einer reduzierten Gestaltung. Sie soll Reinheit, Klarheit und Purismus vermitteln.53

Kulturübergreifend werden Räume ohne jeglichen Bezugspunkt als leer empfunden: der Ozean, der Weltraum, die Dunkelheit, die Wüste oder die weite Ebene. Die Abwesenheit von Referenzpunkten und Orientierungsmarken, die eine räumliche Verankerung ermöglichen, kann abhängig vom Betrachter beruhigend und befreiend wirken, aber ebenso das Gefühl von Verlorensein oder Unsicherheit auslösen.

39 Dissmann

2011: 32

40 Ebd. 41

Ebd. 41

42 Libeskind 43 Dissmann

1995: 85 2011: 40

44

Ebd. 39f 2011: 83 46 Dissmann 2011: 41 47 Ebd. 36f 48 Ebd. 38 49 Ebd. 33 50 Ebd. 37f 51 Ebd. 34 52 Reblin 2009: online 53 Dissmann 2011: 35f 45 Augé

13


Leerstand und Brachen in berlin »Berlin ist die Stadt der Ungleichzeitigkeit. Ihre Vergangenheit ist zerbrochen, geteilt, verheert. Ihre Gegenwart angestückt, aufgesetzt, gnadenlos. Ihre Zukunft scheint in Lücken und Brachen auf.« 54

Freiraum – leere

Die ›Freiräume‹ in Berlin bieten Potenzial, Räume zu beleben, zu bespielen und zu besetzen, sie ziehen Künstler und Kreative an, die sich, vielerorts unabhängig von Marktwirtschaftlichkeit und Profitdenken, entfalten können; sie suchen nicht nur die Leere in einer pulsierenden Stadt, sondern zeigen, wie die Leere den Puls der Stadt bestimmt.

»Die meist historisch bedingten Leeren unterscheiden Berlin von anderen Metropolen, die dieses Potential schon verbraucht haben«, 55 schreibt ulrike zitzlsperger in zeitGeschichten: die berliner übergangsjahre. Weiter zitiert sie den Architekten christoph langhof : »Sie sind der Stoff, aus denen die verschiedenen Träume sind. Die Inseln der Leere sind ähnlich den notwendigen Pausen in der Musik.«56 Der Urbanist phillip oswalt bezeichnet in seinem Text berlin – stadt des 21. jahrhunderts »Leere, Fragmentierung, Heterogenität, Multiplizität, Temporalität, Formlosigkeit und Subversion«57 als die zentralen Themen Berlins. Berlins Leerstellen sind grundlegende Voraussetzungen, um sich Freiräume anzueignen und zu schaffen.

Eine besonders berlinprägende Form der Freiraumaneignung nehmen für Oswalt Zwischennutzungen ein. Er spricht von »spontanen Aneignungen und Aktivitäten, die sich durch geringe finanzielle Mittel und hohe Kreativität«58 auszeichnen. Die Zwischennutzung des palast der republik zwischen 2004 und 2006 ist ein eindrücklicher und prominenter Beweis für diese Einschätzung. Doch trotz und während seiner intensiven (Zwischen-)Nutzung wurde er als ›leerstehend‹ bezeichnet, und selbst massive Proteste unterschiedlicher Akteure konnten seinen Abriss nicht verhindern. Für Christine Dissmann drückt sich darin aus, »dass für ein Gebäude an einem prominenten Ort wie dem Schlossplatz in Berlin trotz aller Kritik an dem bevorstehenden Abriss nicht eine experimentell-temporäre, sondern eine dauerhaftrepräsentative Nutzung maßgeblich für die kollektiv geteilte Vorstellung von ›Fülle‹ und ›Präsenz‹ ist«.59

Abb. 13 Das

›Berghain‹, 2006

Unter anderem führten nach dem Mauerfall die »umfassenden makrostrukturellen Veränderungen«60 zu unklaren Zuständigkeitsbereichen in weiten Teilen der Stadt – und ließen informationelle Leeren enstehen. Von diesem Zustand profitierte nicht zuletzt die Berliner Clubkultur, die »vor dem Hintergrund des politischen Mauerfalls […] jenseits offizieller Kulturpolitik«61 enstehen konnte. »Berlin ist Clubmetropole«, schreibt die taz im März 2010 anlässlich der music week berlin. »Was in der Nachwendezeit mit der unangemeldeten Nutzung von Leerständen und Freiflächen begann, hat sich in eine etablierte Clubszene gewandelt.«62

Abb. 14 ›Tresor‹, Leipzigerstrasse, 2003

Abb. 12 ›Palast

14

des Zweifels‹, 2005 Der norwegische Künstler Lars Ramberg bespielte die Fassade des ›Palast der Republik‹ vom 26. 01 bis 15.05.2005

elisabeth Pichler 2012

TEIL II

THEMENFINDUNG TEMPELHOF

(vor dem Abriss 2005)


Die Freiräume in Berlin konfrontieren uns jeden Tag mit der Möglichkeit, eine Alternative zum Gewohnten zu schaffen, lassen uns träumen, regen unsere Phantasie an und befreien unseren Geist – sie sind Nährboden für Vorstellungen und Ideen.

»Es ist kein Zufall, dass Berlin ein Symbol für so viele unterschiedliche Menschen ist. Sie lieben die Stadt nicht einfach wegen ihrer Ästhetik oder wegen ihrer langen Geschichte. Sie lieben sie, weil sie in ihrer Unentschlossenheit, ihrer Ungewissheit, in ihren weiten, nicht von Menschen geplanten Flächen der Vorstellungskraft scheinbar noch Raum lässt. Da kann man noch atmen, denn in diesen Arealen, die nicht zusammengehen, ist etwas vorstellbar, ja fühlbar, was die Moderne nicht vorhergesehen hat: die Transzendenz ewiger Unreife.«

65

Daniel Libeskind

Die ›brachliegenden Flächen‹ und ›Abrisshäuser‹ sind Ursprung großer Teile der Berliner (Sub)Kultur. Die Akteure sind hoch innovativ, und mittlerweile etabliert sich der Charme ihrer ›Werke‹ auch in der Kreativwirtschaft.

Gardening an der ›Cuvry-Brache‹, 2011

Aber man muss weder (Lebens)Künstler noch Clubbetreiber oder -gänger sein, um die Qualität und Auswirkungen der Berliner Leeren zu genießen:

Temporäre Nutzungen werden toleriert, aber selten unterstützt. Findet sich ein kaufkräftiger Investor für das ›Objekt‹, richten meist selbst heftige Proteste der Anwohner und Befürworter für ein Weiterbestehen nicht viel aus.

Freiraum – leere

Abb. 15 Urban

Auch Leeren vertikaler Art prägen das Berliner Stadtbild. Brandmauern – früher von den Fassadenmalern geschmückt – werden zu großformatigen Leinwänden der ›Urban Art‹ Künstler. Berlin ist Anziehungspunkt für die ›Szene‹, und die alten wie neuen ›Kunstwerke‹ wirken als Touristenattraktion.

Der globale ›Boom‹ des Guerilla- oder Urban-Gardening fällt in Berlin aufgrund der vielen immer noch ›brachliegenden‹ Flächen auf besonders fruchtbaren Boden. »Die in den letzten Jahren in vielen großen Städten entstandenen Gemeinschaftsgärten, Kiezgärten, Interkulturellen Gärten und Nachbarschaftsgärten zielen mit dem Garten als Medium zugleich auch direkt auf die Stadt als Lebensraum und senden visuelle Vorstellungen von Urbanität, die das Auge zunächst irritieren.«63

Abb. 17 Gaffiti

von BLU an der ›Cuvry-Brache‹, 2012 (Die Planung des ›Guggenheim-Lab‹ an diesem Ort wurde aufgrund von Protesten eingestellt.)

»Man experimentiert mit Zukunftsthemen: neue Wohlstandsmodelle, Stadtökologie, Teilhabe, interkulturelle Begegnung und sinnvolle Beschäftigung in der Postwachstumsgesellschaft. In jedem Fall geht es um nahräumliche Lebensqualität.«64

54

Jauer in: Ostkreuz AdF 2009: 5 2007: 64 56 Langhof nach Zitzlsperger 2007: 64 57 Oswalt 1998: online 58 Ebd. 59 Dissmann 2011: 20f 60 Vogt 2003: 1 61 Ebd. 62 taz.de 2010: online 63 Müller 2012: online 64 Müller 2011: online 65 Libeskind 1995: Umschlagtext 55 Zitzlsperger

Abb. 16

›Mariannengarten‹, 2011

Abb. 18 Graffiti

von ROA am ›KJOSK‹-Gelände, Oranienstrasse 1, 2011 (Der Baugrund ist mittlerweile geräumt.)

15


Freiraum – leere

16

elisabeth Pichler 2012

TEIL II

THEMENFINDUNG TEMPELHOF


Freiraum – leere

17


tempelhof

was besezt tempelhof in den köpfen ›Tempelhof im Kopf‹ soll keine Chronik der Flughafengeschichte darstellen. Ich möchte hier einen Überblick geben, was das Bild dieses Ortes materiell und in der Vorstellung prägt. Von den ›Anfängen‹ und der erschreckenden Geschichte des Konzentrationslagers Columbiadamm ›spürt‹ man an diesem Ort sehr wenig. Die kurze Phase der ›Berliner Luftbrücke‹ dagegen hat sich eingeprägt und von dieser Zeit ausgehend die Mystifizierung des Flughafens als ›Symbol der Freiheit‹ oder ›Tor zur Welt‹. Auch die hitzigen Debatten um die Schließung stehen im Schatten von Nostalgie und Zukunftsplänen. Durch die Geschichte war und ist Tempelhof Projektionsfläche für Zukunftsvisionen und eng mit dem ›Traum vom Fliegen‹ verbunden – ein Sehnsuchtsort.

Ernst Sagebiel beginnt 1935 ein Gebäude zu entwerfen, das dem deutschen Traum von Großmacht und Weltbeherrschung gerecht werden sollte. Die ›Mutter aller Flughäfen‹ geht 1937 in Teilbetrieb und soll zu dieser Zeit weltgrößtes zusammenhängendes Gebäude gewesen sein.

Abb. 19 Modell

Jedem Besucher begegnet dieser Entwurf, in der Gebäudestruktur manifestiert. Das Gebäude beeindruckt noch heute. 2011 wurde dem Flughafengebäude der Titel historisches wahrzeichen der ingenieurbaukunst in deutschland verliehen.

des Rundplatzes

Abb. 20 Columbiadamm, 2012

18

elisabeth Pichler 2012

TEIL II

THEMENFINDUNG TEMPELHOF

Während der ›Berlin-Blockade‹ wird der Flughafen Tempelhof zum Zentrum der ›Berliner Luftbrücke‹, und ›Symbol der Freiheit‹ der Westberliner Nachkriegszeit. Das – umgangssprachlich ›Hungerharke‹ genannte – luftbrückendenkmal auf dem platz der luftbrücke versucht diesem Teil der Berliner Geschichte einen Körper zu geben.

Abb. 21 Luftbrückendenkmal

Die einfliegenden Transportmaschinen werden im Volksmund zu ›Rosinenbombern‹, da viele Piloten beim Anflug Süssigkeiten aus den Fenstern werfen. Das Foto der Berliner Kinder, die die Ankunft einer Transportmaschine bejubeln, ist ins visuelle Gedächtnis eingegangen. Im ›Bildungstest‹ der Wochenzeitung die zeit vom 29. März 2012 wird noch 60 Jahre danach mit diesem Bild das ›politische Allgemeinwissen‹ der Leser abgefragt.

Abb. 22 ›Rosinenbomber‹, 1948


In meiner Austellung werde ich mit dem Bild des Flughafens als Sehnsuchtsort und Startpunkt auf dem Weg in fremde Welten, zu neuen Begegnungen und Erfahrungen spielen. Der monumentale Gebäudekomplex, in dem sich größenwahnsinnige Sehnsüchte der Vergangenheit manifestieren ›begegnet‹ dem Besucher auf seinem Weg zur Ausstellung; bauseitige Exponate, ›Zeitzeugen‹ sowohl der Entstehungszeit als auch der unterschiedlichen Nutzungsphasen, werden im Inneren in Szene gesetzt, um die ›Bilder im Kopf‹ aufzurufen oder durch unerwartete Ausblicke und Perspektiven zu kontrastieren.

Die amerikanischen Besatzungszeit in Berlin prägt und ist geprägt von einer Amerikabegeisterung – der ›Amerikanisierung‹ der Gesellschaft. Der Flughafen Tempelhof wird zum ›Tor zur Welt‹.

Tempelhof wird, aufgrund des zu hohen Fahrgastaufkommens, von 1975 bis 1985 für den zivilen Luftverkehr geschlossen – der ›Traum vom Fliegen‹ bleibt bestehen, und immer mehr Menschen können sich diesen – noch exklusiven – Wunsch erfüllen.

tempelhof

Die Ankunft auf dem Westberliner Flughafen bekommt eine besondere Bedeutung – geopolitische Grenzen spielen hier keine Rolle und stellen keine Einschränkung dar. Stars und Politiker lassen sich auf Flugzeugtreppen ablichten, um Weltoffenheit, Modernität und Fortschritt zu signalisieren.

Der 1974 von reinhard mey veröffentlichte Schlagerhit über den wolken gibt derSehnsucht eine musikalische Ausdrucksform. Als Mitte der 1990er Jahre feststeht, dass der Flughafen endgültig geschlossen werden soll, melden sich Gegner und Beführworter eines innerstädtischen Flughafens zu Wort. Abb. 26 Tempelhofer

Feld, 2010

Nach der Schließung des Flughafen wird das Tempelhofer Feld im Mai 2010 für die Öffentlichkeit zugänglich. Abb. 23 Coca

Über die Gestaltung und den Umgang mit diesem Raum herrscht Uneinigkeit.

Cola Werbung 1956

In den 1950er jahren wird Tempelhof zum Zentralflughafen, und der zivile Luftverkehr wird ausgebaut. Pilot und Stewardess werden zu glamourösen Traumberufen. Filme wie the aviator (2004) oder catch me if you can (2002) spielen mit dem Glamour-Faktor, den Flugangestellte zu dieser Zeit genießen.

Abb. 25 Haupteingang,

2012

Das Bild vom Fliegen hat sich mit dem Aufkommen des Massen- und Billigflugverkehrs gewandelt; es ist geprägt von einer Mischung aus ›Fliegen zum Taxipreis‹, gestressten Geschäftsleuten und lästigen Kontrollen. Der duden vermerkt für die Flugbegleiterin bereits den umgangssprachlich abwertenden Begriff der ›Saftschubse‹. Fallende Flugpreise machen das Fliegen zwar weniger exklusiv, lassen aber den Wunsch – oder Druck – überall gleichzeitig sein zu können, in größere Nähe rücken. Die aktuelle Werbekampagne der Lufthansa trifft, mit dem Versprechen weit entfernte Menschen ganz einfach wiedersehen zu können, ins Schwarze – die Sehnsucht der ›Globalisierungspärchen‹.

Abb. 24 ›Catch

me if you can‹ 2002

Abb. 27 Werbekampagne, 2012

19


DIE WEITE auf dem Tempelhofer Feld Das ehemalige Flugfeld stellt zum heutigen Zeitpunkt eine fast naturraumähnliche Leere dar, die mehrheitlich positiv wahrgenommen wird – ein »Wiesenmeer« mitten in der Stadt. Die Weite ist Thema vieler Veranstaltungen auf dem Feld; zum »vorübergehenden Ausstieg aus der Produktivität, im Luxus absichtsloser Offenheit« lädt beispielsweise die Veranstaltung ›Leerlauf‹ jeden ersten Montag im Monat ein. 66

Das Tempelhofer Feld wird als städtebauliche und kulturelle Ressource wahrgenommen, die als Zone städtischer Unbestimmtheit einen wertvollen Spielraum für die Stadtentwicklung darstellt. Das Feld hat von offizieller Seite den programmatischen Namen ›Tempelhofer Freiheit‹ bekommen, und die Startseite der Tempelhof Projekt GmbH titelt: »FREIRAUM FÜR DIE STADT VON MORGEN«.

tempelhof

67

20

Über das Verständnis von Freiheit und den Umgang mit Freiräumen bestehen allerdings unterschiedliche Auffassungen.

elisabeth Pichler 2012

TEIL II

THEMENFINDUNG TEMPELHOF

Am 8. Mai 2010 wurde das Tempelhofer Feld für die Öffentlichkeit freigegeben. Die Umzäunung bleibt, die Tore werden von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang geöffnet. »Von oben sieht es aus wie das größte Loch im Stadtkäse. Eine leere Fläche, auf der sich nicht viel befindet. Ein Wiesenmeer mit breiten Asphaltstreifen […]. Steht man auf dem Feld, gibt es nicht viel zu sehen. Kein Baum, kein Strauch. Es ist so groß, so wüst, so leer. Romantische Landschaftsgärten sehen anders aus. Das Auge findet keinen Halt, an dieses Totale in der Stadt muss man sich erst mal gewöhnen. Auf dieser Fläche ist jeder sein eigener Aussichtsturm – und deshalb leicht vom Gefühl des Erhabenen überwältigt. […]Nichts zu sehen, trotzdem ist es großes Kino, auf dem Tempelhofer Feld zu stehen. […] So leer und unbebaut zeigt sich hier, mitten in der Stadt, auf einmal Landschaft.«68


»Was mich am Tempelhofer Feld vor allem fasziniert, ist die sensationelle, kilometerweite freie Sicht. Ich habe dort vor Ort immer das Gefühl, dass ich die Erdkrümmung sehen kann«. 72

Matthias Lilienthal

Das Tempelhofer Feld wird seit 2010 von Bewohnern und Besuchern der Stadt als ›grüne Oase‹ mitten in der Stadt wahrgenommen und angenommen. ›Aneignung‹ findet seit dem ersten Tag statt; es gibt intensive Nutzungen durch Privatpersonen und aktuell 16 Pionierprojekte. Bildungs-, Kultur-, und Sportangebote sowie Nachbarschaftsprojekte sind auf dem Feld aktiv vertreten. Temporäre Veranstaltungen, wie the world is not fair – die grosse weltausstellung 2012, eine Kooperation des hebbel am ufer und der Architektengruppe raumlabor beleben es zudem – ›voll‹ wird es dabei trotzdem nicht. Mit rund 220 Hektar Grünfläche stellt es, zum heutigen Zeitpunkt, einen außergewöhnlichen Freiraum dar.

2017 wird das Feld Austragungsort der Internationalen Bauausstellung (IBA) und soll – nach den Plänen der Stadtverwaltung – anschließend in eine ›urbane Parklandschaft‹ übergehen. Im April 2011 wurde der Wettbewerb für die landschaftliche Gestaltung eines Parks auf dem Tempelhofer Flugfeld entschieden. Das schottischniederländische Team der Landschaftsarchitekten gross.max. und Archtiekten sutherland hussey gewann mit einem Entwurf, an dem matthias lilienthal – ehemaliger Leiter des hau – schätzt, dass »ein Großteil der Fläche erst einmal leer bleibt und sich dann Schritt für Schritt entwickelt«.69 eelco hooftman von gross.max. erläutert in einem Interview mit der Zeitschrift bauwelt seinen prozesshaft angelegten Entwurf, aber auch »die Schwierigkeiten im Umgang mit Pioniernutzungen«:70 »[V]ielleicht ist es keine so gute Idee, einen Interessenten für eine Zwischennutzung zu gewinnen, nur um ihm die Karotte, die man ihm hingehalten hat, später wieder wegzunehmen – damit auf dem Areal, wie geplant, Wohnungen gebaut werden können.«71

Die Website der ›Tempelhofer Freiheit‹ der Tempelhof Projekt GmbH verspricht: »Die Weite bleibt auch in Zukunft erhalten«.73 Mehrere Initiativen hegen Zweifel an dieser Aussage, die Akteure befürchten, dass die Pläne der Stadt auf »Privatisierung, Kommerzialisierung, Aufwertung, Ausgrenzung und Verdrängung«74 hinauslaufen. Die Initiative 100% tempelhofer feld sieht in den Plänen des Senats »systematische Zerstörung durch Privatisierung, Bebauung und Umgestaltung« heraufziehen und setzt sich für die »Widmung des Tempelhofer Felds als Landschaftsschutzgebiet«75 ein, um diese Entwicklung zu verhindern. Von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt wird die Nutzung des Areals derzeit unter einem ›Leitbild‹ mit sechs thematischen Schwerpunkten erarbeitet: ›Bühne des Neuen‹, ›Saubere Zukunftstechnologien‹, ›Wissen und Lernen‹, ›Sport und Gesundheit‹, ›Dialog der Religionen‹ und ›Integration der Quartiere‹ stehen auf dem Programm.

tempelhof

Skeptiker stellen allerdings die Frage, warum hier ›geplant‹ werden muss, was gerade von selbst entsteht.

66 tempelhoferfreiheit.de 2012a: online 67 tempelhoferfreiheit.de 2012b: online 68 Wagner

2011: 51f Lilienthal 2012: 6 70 Bauwelt 36/2011: 27 71 Hoftman in: Bauwelt 36/2011: 30 72 Lilienthal 2012: 6 73 temeplhoferfreiheit.de 2012b: online 74 de.indymedia.org 2012: online 75 thf100.de 2012a: online 69

21


leere im gebäudekomplex Der gigantische Gebäudekomplex, der nie zur Gänze fertig gestellt wurde, bleibt unausgelastet. Obwohl das ehemalige Flughafengebäude mehrere Nutzungen beherbergt – die Polizeidirektion, einen Kindergarten, temporäre Messen und Veranstaltungen –, bleiben weite Gebäudeteile leerstehend und die Wahrnehmung einer funktionalen Leere vorherrschend.

tempelhof

Für die Nutzung des stillgelegten Flughafens hatten sich mehrere Interessenten gefunden und ihre Konzepte bei einem ›Ideenwettbewerb für die Nachnutzung des Flughafens‹ eingereicht. »Umso irritierter sei man gewesen, als alle Hangars, die Haupthalle und die Flugvorfeldflächen für zehn Jahre an den Geschäftsführer der Modemesse Bread and Butter, Karl-Heinz-Müller, vermietet wurden«,76 schreibt der tagesspiegel, als im Januar 2009 die Wellen um die Vergabe der Nutzungsrechte an die Modemesse höher schlagen. Die halbjährlich stattfindende Messe würde den ehemaligen Flughafen zwei Monate im Jahr nutzen und damit langfristigere Planungen ausschließen. Ein Artikel vom 03. Februar 2009 im Magazin spiegelonline äußert die Befürchtung, dass der ehemalige Flughafen zur »Kulisse für beliebige Events«77 verkomme. Im Sitzungsprotokoll des landesdenkmalrat berlin vom 29. Oktober 2010 ist unter dem Themenpunkt ›Besichtigung und Beratung ehem. Flughafen Tempelhof‹ zu lesen: »Grundlage der Entwicklung des Leitbildes für das Gebäude, das Flugfeld und das inzwischen öffentliche Gelände sollte eine Dokumentation der Ist-Situation sowie eine Aufarbeitung der Quellenlage sein. Der Landesdenkmalrat empfiehlt als dringend notwendige, sofortige Maßnahme das Ausarbeiten einer umfassenden Dokumentation für das Baudenkmal, d.h. die Erstellung genauer Pläne, einer durchgehenden Fotodokumentation und eines Raumbuches. Erst auf der Basis dieser Grundlage sind weitergehende Überlegungen zur langfristigen Nachnutzung der vorhandenen Räume, des Flugfeldes und des öffentlichen Raumes möglich.«78

Am 2. Februar 2012 wird in einer weiteren Sitzung zum Themenpunkt ›Sachstand Gebäude ehemaliger Flughafen Tempelhof‹ festgehalten:

Die Bürgerinitiative 100% Tempelhofer Feld ist eine der wenigen Quellen, welche die derzeitige Gebäudesituation konkret zusammenfasst:

»Die Ausschreibung des Denkmalpflegeplans liegt seit Januar 2012 vor. Eine Beauftragung kann erst erfolgen, wenn nach Beschluss des Haushalts die erforderlichen Haushaltsmittel zur Verfügung stehen. Der Denkmalpflegeplan beinhaltet eine bauhistorische Erfassung und die Bestandsaufnahme, ein denkmalpflegerisches Raumbuch und einen Maßnahmenplan.«78

»Von der rd. 200.000qm großen Bruttogeschossfläche sind derzeit 96.000 qm fest vermietet. Davon entfallen: - 55.000 qm an den Polizeipräsidenten Berlin - größere Flächen an die DEKRA und die Verkehrslenkung - viele kleinere Flächen an Werkstätten, einen Kindergarten, eine Tanzschule, Büros kleiner Selbständiger und weitere Dienstleister.

Nach einem Bericht der Berliner Morgenpost vom 28. Januar 2012 soll der »Beginn des auf drei Jahre angelegten Mammut-Projekts […] am 1. Juli sein.«80 Martin Pallgen von der Tempelhof Projekt GmbH sieht in der Ausarbeitung einer ›Denkmal-Ampel‹ – die unterschiedliche Eingriffsmöglichkeiten in die denkmalgeschützte Gebäudesubstanz kennzeichnet – eine wichtige Voraussetzung für die weitere Gebäudeverwaltung. »Es ist vor allem für Arbeiten in nachgeordneten Bereichen wie bei den Bürotrakten sinnvoll, dass wir dort agieren können, ohne in jedem Einzelfall wieder Rücksprache mit den Denkmalpflegern halten zu müssen«81, zitiert ihn die berliner morgenpost.

Von den restlichen ca. 100.000 qm sind vermietet: - ca. 33.000 qm in Hangars an Event-/ Messenutzungen - ca. 7.000 qm an Cafes, Catering- und Ausstattungsbetriebe, die in Verbindung mit den Event-/Messenutzungen stehen. […] Somit sind ca. 65.000 qm noch nicht vermietet. Es handelt sich dabei in erster Linie um große zusammenhängende Flächen in Gebäudeteilen entlang des Columbiadamms und um kleinteilige Räumlichkeiten auf der Rückseite der HangarGebäude. […] Die Vermietbarkeit des denkmalgeschützten Gebäudes wird erschwert durch historisch bedingte Ausstattungsmängel und die notwendige Erfüllung moderner Baubestimmungen.«82 Auf der Website tempelhoferfreiheit.de ist unter den Hinweisen für Veranstalter zu lesen: »Für die Eventlocation Flughafen Tempelhof liegt derzeit noch keine dauerhafte Nutzungsgenehmigung vor […].«83 Zur (subjektiv) funktionalen Leere des Gebäudes, einer Verlustleere, die sich u.a. in Interessengemeinschaften zum Erhalt des Flugbetriebs äußert, kommt die informationelle Leere, die weite Teile des Gebäudes bestimmt.

76 tagesspiegel.de

2009: online 2009: online 78 stadtentwicklung. Berlin.de 2010: 3 79 stadtentwicklung. Berlin.de 2012: 7 80 morgenpost.de 2012: online 81 Pallgen nach Ebd. 82 thf100.de 2012b: online 83 tempelhoferfreiheit.de 2012a: online 77 SpiegelOnline.de

22

elisabeth Pichler 2012

TEIL II

THEMENFINDUNG TEMPELHOF


tempelhof

23


24

elisabeth Pichler 2012

TEIL II

THEMENFINDUNG TEMPELHOF


25


26

elisabeth Pichler 2012

TEIL II

THEMENFINDUNG TEMPELHOF


27


28

elisabeth Pichler 2012

TEIL II

THEMENFINDUNG TEMPELHOF


29


Literaturliste

Abbildungen

Augé, Marc

Nicht-Orte, Verlag C.H. Beck, München 2011

Böhme, Gernot

Atmosphäre: Essays zur neuen Ästhetik, edition suhrkamp, Frankfurt a. Main 1995

Welche Farbe hat Berlin, Verbrecher Verlag, Berlin 2011

Dissmann, Christine Die Gestaltung der Leere, Zum Umgang mit einer neuen städtischen Wirklichkeit, transcript Verlag, Bielefeld 2011

Wolfrum, Sophie

RAUMTHEORIE, performativer Urbanismus Lehrstuhl für Städtebau und Regionalplanung 2011/2012

Dünne, Jörg / Raumtheorie, Grundlagentexte aus Philosophie Günzel, Stefan (Hg.) und Kulturwissenschaften, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. Main 2006

Zitzlsperger, Ulrike

ZeitGeschichten: Die Berliner Übergangsjahre: Zur Verortung der Stadt nach der Mauer, Peter Lang Verlagsgruppe, 2007

Fingerhuth, Carl

Über den urbanen Raum zur Konvergenz von Osten und Westen in:Krusche, Jürgen (Hg.), Der Raum der Stadt, Jonas Verlag, Marburg 2008, S. 55-73

Foucault, Michel

Andere Räume in: Barck, Karlheinz u.a. (Hg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1992, S. 34 – 46

Grimm, Jacob und Wilhelm

Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Unversität Trier, 1971 online verfügbar: http://www.woerterbuchnetz. de/DWB?lemma=raum

Gröschner, Annett

Stunden die wir nicht kennen in: Ostkreuz (Hg.), 24 Stunden Berlin, Steidl Verlag, Göttingen 2009 S. 12-20

Günzel, Stefan

Raum, Ein interdisziplinäres Handbuch, Verlag J.B. Metzler, Stuttart/Weimar, 2010

Krusche, Jürgen (Hg.) Der Raum der Stadt, Jonas Verlag, Marburg 2008 Libeskind, Daniel

Kein Ort an seiner Stelle. Schriften zur Architektur - Visionen für Berlin, Dresden, Verlag der Kunst 1995

Lilienthal, Matthias im Gespräch mit Almut Jirku und Thies Schröder in: Parklandschaft Tempelhof, Wettbewerbsdoku- mentation

30

Wagner, David

Löw, Martina

Raumsoziologie, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. Main, 2001

Von der Substanz zur Relation. Soziologische Reflexionen zum Raum in: Krusche, Jürgen (Hg.), Der Raum der Stadt, Jonas Verlag, Marburg 2008 S.31-44

Mehnke,Christoph

Brauchen wir Kunst?, in: Die Zeit, N°25 vom 14. Juni 2012, S.50

Müller, Christa

im Autoreninterview 2011 Online verfügbar: http://www.urban-gardening. eu/autoreninterview/[01.07.12]

Die grüne Guerilla, in: der Freitag, 31.05.2012 Online unter: http://www.freitag.de/autoren/ der-freitag/die-grune-guerilla [01.07.12]

Oswalt, Philipp

Berlin, Stadt des 20. Jahrhunderts, 1998 Online verfügbar: http://www.oswalt.de/de/text/ txt/berlin_p.html

Pirotte, Philippe

im Interwiew mit Daniel Morgenthaler in: Kunstbulletin 10/09, Schweizer Kunstverein, Zürich 2009 Online unter:http://www.kunstbulletin.ch/ router.cfm?a=0909301015553C0-2 [01.07.12]

Reblin, Eva

Lücken im Konkreten – die Leerstellen der Stadt, In: Internationale Zeitschrift zur Theorie der Ar chitektur .Das Konkrete und die Architektur
14. Jg., Heft 1, Oktober 2009 online verfügbar: http://www.tu-cottbus.de/ theoriederarchitektur/Wolke/wolke_neu/inhalt/ de/heft/2009-1.php, [01.07.12]

Riemann, Fritz

Grundformen der Angst, Eine tiefenpsychologi sche Studie, Ernst Reinhard Verlag, München / Basel 1961

Schärer, Martin

Museology and History, Provocative Paper in: ICOFOM Study Series – ISS 35, Germany/ Argentina 2006, S.35-51

Terzic, Mario

Friedhof statt Paradies?, Die Presse, 28.01.2011 Online unter: http://diepresse.com/home/ spectrum/zeichenderzeit/629405/Friedhof-statt- Paradies, [01.07.12]

Vogt, Sabine

Die Stadt, die es nicht gibt Eine Berlin-Ethno- graphie zu den sozialen Bedingungen der Umge hensweisen Jugendlicher mit Musik und Medien in den 1990er Jahren, Projekt BerlinLabor, 2003

elisabeth Pichler 2012

TEIL II

Onlinequellen de.Indymedia.org

Lärmdemo: Tempelhofer Feld für alle! von Klaus Möter 21.05.2012

morgenpost.de

Grünes Licht für Tempelhofer Denkmal-Ampel, von Sabine Gundlach, 28.01.12 [01.07.12]

spiegelonline.de

Wowereits Tempelhof-Debakel Brot und Trauer spiele, von Lars-Olav Beier, Michael Sontheimer 02.03.2009 [01.07.12]

stadtentwicklung. Protokoll LDR vom 29.10.2010 Berlin.de LDR Sitzung am 10. Februar 2012, Protokoll vom 20.04.2012

Abb. 1

Thomas Wendt, 8. Mai 2010, ›Landebahn des ehemaligen Flughafens Berlin Tempelhof‹, www.flugzeug-bild.de

Abb. 2

Eigenes Foto, 2012

Abb. 3

Umschlagabbildung von: Augé, Marc, Nicht-Orte, Verlag C.H. Beck, München 2011

Abb. 4

Arwed Messmer, 7. 12.2008 ›Die DDR hat’s nie gegeben‹, http://www.anonyme-mitte-berlin.de

Abb. 5

Bitter Bredt, 2001, ›Void‹ www. daniel-libeskind.com

Abb. 6

Constanze Flamme, ›Middle East‹, 2008, www.constanzeflamme.de

Abb. 7

Jürgen Teller, ›Berlin‹, in: Ein Magazin über Orte, N° 9, 2011

Abb. 8

Christian Richters, 2011, ›Neues Museum, Berlin, by David Chipperfield Architects with Julian Harrap Architects‹

Abb. 9

Tubs, 20.08.2010, www.bmw-syndikat.de

Abb. 10

G.R. Christmas, 2011, ›James Siena, Exhibition view, 2011, The Pace Gallery, New York‹ www.textezurkunst.de

Abb. 11

Film-Szenenbild ›Achterbahn‹ (2008), http://outnow.ch

Abb. 12

Lars Ramberg, ›Palast des Zweifels‹, 2005, www.larsramberg.de

Abb. 13

Nicor, 28.03.2006, ›Berghain‹, Wikimedia Commons

Abb. 14

Michael Brossmann, 2003, ›Tresor (Club)in BErlin September 2003‹, Wikimedia Commons

tagelspiegel.de

Bread & Butter Trotz Kritik: Wowereit verteidigt Tempelhof-Coup, von Sabine Beikler, Matthias Oloew, 03.02.2009, [01.07.12]

taz.de

Pilotprojekt für Populärmusik , Simone Jung, 07.09.10 [01.07.12]

tempelhofer freiheit.de

Startseite>>Besuchen (2012a) Abb. 17 Startseite (2012b) Startseite>>Veranstalten, Mieten, Investieren Abb. 18 >>Eventlocation>>Raumangebot Gebäude >> Hinweise für Veranstalter (2012c) Abb. 19

thf100.de

Startseite>>Volksbegehren (2012a) Startseite>>Die Senatspläne>> Flughafengebäude (2012b:)

Zeitschriften Bauwelt

THEMENFINDUNG TEMPELHOF

Berlin-Tempelhof: The big empty, S.26-25 Bauwelt 36/2011, Bauverlag BV GmbH, Berlin

Abb. 15/ Matthias Walendy, 2011, ›re:green‹, 16 www.matthiaswalendy.de Björn Kiezmann, 2012 ROA, 18.07. 2011, www.woostercollective.com

Modell des Rundplatzes, Bundesarchiv, R 4606/3793/Nr. 1880 auf: www.tempelhoferfreiheit.de

Abb. 20

Eigenes Foto,2012

Abb. 21

Sir James, 24.04.2008, ›Platz der Luftbrücke vor dem Flughafen Tempelhof in Berlin‹, Wikimedia Commons

Abb. 22

Die Zeit, N° 14, 29.März 2012, S.27

Abb. 23

Coca Cola, der erste Gobal Player, Anzeige in deutschen Illustrierten 1956, in:Das Jahrhundert der Bilder, Bundeszentrale für politische Bildung, Schriftenreihe Band 734, Bonn 2008, S.163

Abb. 24

Filmstill, ›Catch Me If You Can‹ (2002), http://www.imdb.com

Abb. 25

Matthias Weber, 16.11.2010, › Haupteingang des ehemaligen Weltflughafen Tempelhof‹, www.flugzeug-bild.de

Abb. 26

Berlin Tempelhof 23.10.2010, von schnappschussimkasten, www.fotocommunity.de

Abb. 27

Eigenes Foto

Seite 20-26 Eigene Fotos Seite 27

www.stadtbewohner.de/flughafen_tempelhof

Seite 28-31 Eigene Fotos

Eidesstattliche Versicherung Ich versichere, dass ich die vorliegende Arbeit selbstständig und ohne Benutzung anderer als der angegebenen Hilfsmittel angefertigt habe. Alle Stellen, die wörtlich oder sinngemäß aus Veröffentlichungen oder anderen Quellen entnommen sind, sind als solche eindeutig kenntlich gemacht. Die Arbeit ist in gleicher oder ähnlicher Form noch nicht veröffentlicht und noch keiner Prüfungsbehörde vorgelegt worden.

Potsdam, 05.Juli 2012


31


32

elisabeth Pichler 2012

TEIL II

THEMENFINDUNG TEMPELHOF


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.