3 minute read

Worauf es ankommt

Verstärkt durch die Pandemie, aber auch in Folge der Digitalisierung und einer Überbewertung von Theorie und Faktenwissen, ist kaum mehr Raum für sinnliche und leibliche Erfahrung in Bildung. Diese wird zunehmend beschränkt auf zweidimensionale Bilder und Texte in digitaler Vermittlung – im Dienst einer Pädagogik, die sinnliche Wahrnehmung und spielerische Kreativität als unnötig für Wissensgewinn und Bildungserfolg betrachtet, Körper und Gefühle abspaltet und eine vertiefte Auseinandersetzung mit Persönlichkeitsbildung vermeidet.

Doch vielleicht „ist mehr Vernunft in deinem Leib als in deiner besten Weisheit. Und wer weiß denn, wozu dein Leib gerade deine beste Weisheit nötig hat?“, fragt Friedrich Nietzsche. Aktuelle Forschung verweist darauf, dass Bildungsprozesse nur dann nachhaltig Wissen generieren und persönlichkeitsbildend sein können, wenn sie mit Leib und Seele, „mit Geist und Verstand“ (Kor 1,14) geschehen, wenn die Vielfalt der Sinne miteinbezogen und gebildet wird: sei es durch kreative Methoden, durch körperliche Sensibilisierung und geistige Berührung, nicht zuletzt durch die Einbeziehung des Resonanzraums Natur.

Advertisement

Das schult die Wahrnehmung und erhöht die Aufmerksamkeit, schärft den Wirklichkeitsbezug und erlaubt, sich selbst und Andere in Vielfalt und Verbundenheit zu erfahren. Das wären primäre Bildungsziele – persönlich und politisch. •

Dr. Karin Hutflötz ist Referentin für Persönlichkeitsbildung bei der Domberg-Akademie

Die Erfahrung gegenwärtiger Bildungspraxis weckt den Eindruck, als ginge es bei Bildung primär um Wissen und fachliche Kompetenzen, nach dem Motto: die aktuellen Krisen brauchen konkrete Lösungen. Dabei käme dem Bereich der Persönlichkeitsbildung eine starke Rolle zu – zumal im sozialen und politischen Kontext, wie Artikel 26 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte darlegt. Denn das Recht auf Bildung bedeutet, „die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und die Stärkung der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten“, um „Verständnis, Geduld und Freundschaft“ und „die Aufrechterhaltung des Friedens“ zwischen Nationen, Rassen, Religionen zu fördern.

Eine Bildung, die dem faktisch genügen oder zumindest dafür den Boden bereiten will, muss innere und äußere Konflikte in ihrem wechselseitigen Bezug und Zusammenhang betrachten. Muss fragen, wie innere Leere und persönlicher Sinn-Verlust äußere Gewalt und destruktives Agieren im sozialen und politischen Raum bedingen. Und wie sich umgekehrt äußere Konflikte auf innere Entwurzelung und Orientierung auswirken.

Das formuliert einen Anspruch an Persönlichkeitsbildung, deren Gegenstand nicht mehr die Person als isolierter Akteur ist – imaginiert als Subjekt, das sich selbst zum Objekt seiner Selbstsorge und Selbstoptimierung macht –, sondern der Mensch in sozialen Bezügen, in diversen Milieus und vielfältigen Anerkennungsverhältnissen. Diese hinsichtlich ihrer sozialen (Macht-)

Strukturen und politischen Dynamiken besser zu verstehen und in gesellschaftlicher Breite und existenzieller Tiefe zu reflektieren, ist eine zentrale Aufgabe von Persönlichkeitsbildung.

Sich methodisch vielfältig solchen Fragen zu stellen, ist Kern einer Persönlichkeitsbildung, die von der sozialen Verwurzelung und zeitgeschichtlichen Verortung der Person ebenso wenig absieht wie von philosophischen Grundfragen und Zukunftsnarrativen der Zeit: Wie wollen wir leben? Wie können wir einander gerecht werden und wie ist eine gerechtere Welt möglich? Orientierung geben dabei nicht selten Ungerechtigkeitserfahrungen und Dystopien und Utopien: eigene, aber auch solche in Literatur und Film.

Gerade im Film werden gesellschaftliche Mythen und Vorbilder unserer Zeit generiert, die auch persönlichkeitsbildend wirksam sind und Sinn geben. Daher lohnt eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Erzählungen von Utopien und Verheißungen, aber auch mit Figuren des Scheiterns, die richtungsweisend sind als (Anti-) Held:innen in Religion, Literatur und Kunst. Weil sie die Grenzen des Machbaren aufzeigen und zugleich bezeugen, was letztlich zählt. Wofür man bereit ist, auch zu verzichten oder etwas zu opfern – und wofür nicht. Für eine bestimmte Zeit und Gesellschaft, aber auch identitätsbildend für die jeweilige Person.

Ein solcher Blick auf prägende (Vor-)Bilder und Erzählungen der Vergangenheit dient zur Orientierung und Sinnfindung in Zukunft, bestellt den Boden der Zeit – gewissermaßen

Wir konzipieren Bildungsformate und Fortbildungen zur Persönlichkeitsbildung. Wir öffnen Reflexionsräume und machen Diskursangebote zu existenziellen Fragen und aktuellen Herausforderungen. Wir bieten transformative Erwachsenenbildung mit innovativer Didaktik und fundiertem Wissen im Schnittfeld von Pädagogik, Psychologie und Philosophie.

Über den abgebildeten QR­Code gelangen Sie direkt zu allen Angeboten des Bildungsbereichs Persönlichkeit & Pädagogik in guten Zeiten! Lässt Richtung und Fahrt aufnehmen, erlaubt Innehalten in Selbstreflexion und ermöglicht gemeinsame Reflexion auf die Grundfragen des Lebens. Das bedeutet, sich einer Krise oder einem Konflikt nicht nur im „inneren Gespräch der Seele mit sich selbst“ (Platon) zu stellen oder an sich zu arbeiten (etwa zum Zweck erhöhter Achtsamkeit und Resilienz), sondern in echtes Gespräch und Austausch zu treten, das mit der Einsicht beginnt: „Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.“ (E. Bloch). Und wir ‚werden‘, indem wir uns in Vielfalt erfahren und in der Welt verwurzeln.

In ihrem Buch „Die Verwurzelung“ nennt die Philosophin Simone Weil dies das „vielleicht wichtigste und meistverkannte Bedürfnis der menschlichen Seele“ – und zeigt umgekehrt, inwiefern „Entwurzelung“ die zentrale Ursache für Machtmissbrauch und Gewalt in der Welt sei, „die gefährlichste Krankheit der menschlichen Gesellschaft. Wer entwurzelt ist, entwurzelt. Wer verwurzelt ist, entwurzelt nicht.“

Ein solches „Verwurzeln“ ist aber nicht über feste Zuschreibungen oder Zugehörigkeiten zu haben – wie Herkunft oder Heimat, Familie oder Ehe, Beruf oder Kirche. All das kann ein Mensch haben und sich doch sinnentleert fühlen und unverbunden sein. Sich verwurzeln bedeutet, heimisch zu werden in sich selbst und Verbundenheit zu erfahren – im lebendigen Bezug, in erfahrenem Wohlwollen und echtem Interesse, in Teilhabe im Tun und Anerkennung als Mensch.

Persönlichkeitsbildung verlangt, sich mit Leib und Seele, Geist und Verstand, bewusst und wohlwollend mit sich selbst und seinen Anteilen auseinanderzusetzen, wie immer sie erlebt werden. Letztlich geht es darum, für alle Teile seiner selbst Stimme, Gehör und Ausdruck zu finden. Um heimisch zu werden in sich selbst und „wurzeln zu können selbst in der Ortlosigkeit“ (S. Weil). •

This article is from: