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SICH NICHT AUFHALTEN LASSEN

Christliche Sinnfluencer:innen gesucht, findet claudia pfrang

Christlichen fasst Sellmann im Begriff der geistlichen Lebensklugheit zusammen. Diese Lebensklugheit lässt einen tiefer blicken. Dies führt zu einem tieferen Verständnis des „Geistlichen“, das oftmals nur als Flucht vor der Realität, als das Fromme, das Körperfeindliche, das Unpolitische, das Moralische, Brave, Kirchenangepasste verstanden wird. Das allerdings ist eine Verkürzung. Geistliches Leben hat vielmehr einen Blick für das, was möglich ist, was hinter dem Realen liegt oder liegen kann.

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Christsein ist die Leidenschaft für das Mögliche

Christlich leben heißt somit, ein Möglichkeitsmensch zu sein – es ist das Gegenteil davon, sich der Realität zu verweigern, sondern es ermöglicht, sie vertieft wahrzunehmen und zu entdecken, was noch alles möglich wäre. Christ:innen sagen: Da geht noch mehr, auch wenn scheinbar nichts mehr geht! Geistliche Menschen sind Wandlungs-Expert:innen, sie sind, wie Sellmann es treffend auf den Punkt bringt, PotenzialCoaches, die an die Dreier-Logik glauben:

Es ist etwas da. Es ist etwas möglich. Es gibt eine Kraft, die uns ermöglicht, das Gegebene ins Mögliche zu verwandeln.

Jesus befähigte die Menschen immer wieder, Risiken einzugehen und an das Unmögliche im Möglichen zu glauben. In seiner Nachfolge unterwegs zu sein, bedeutet daher, immer auch etwas zu riskieren. Christlich sein ist die Leidenschaft für das Mögliche, das Wissen um die Verwandlungskraft! Das ist der Kern unseres Osterglaubens, das Alleinstellungsmerkmal des Christentums: Es ist möglich, dass aus zerstörtem Leben neues Leben entsteht – auch wenn wir es kaum für möglich halten.

Das lässt auch in diesen Zeiten, in denen wir den Planeten aufs Spiel setzen, immer wieder hoffen: Trotz aller Kipppunkte ist eine Zukunft für die Menschheit möglich. Das alte Leben mit dem Credo von schneller, höher, mehr, effektiver geht so nicht weiter, es braucht Neues, es braucht Wandlung. Was bedeutet das für uns Christ:innen? Müssten wir nicht mutig an der Spitze dieser Transformationsprozesse stehen?

Christliches Leben als Lebensklugheit meint also die Kompetenz, die uns befähigt, tiefer zu blicken, das Leben zu ergründen, weil wir wissen, dass Gott in allen Dingen zu finden ist. Und weil Gott überall ist, kann ich daraus die Kraft gewinnen, all das möglich zu machen, was unmöglich oder verrückt ist. Es geht also um eine zupackende und optimistische Lebensführung, und das nicht nur im religiösen Sinn. Es geht „nicht um eine irgendwie freischwebende ,Gesinnung‘, sondern um Lebenspraxis, Lebensbewährung, Alltagskraft“, macht Matthias Sellmann deutlich (Seite 63). Doch nach welchem Maß?

Es gibt für Christ:innen diesen einen Orientierungspunkt: Jesus Christus, sein Leben und seine Botschaft, die seine Jüngerinnen und Jünger von Anfang an fasziniert und die sie weitergetragen haben – das kann heute noch gelebt werden. Der

Christus-Hymnus im Philipperbrief (Phil 2,5–11) drückt das so aus:

„Seid untereinander so gesinnt, wie es dem Leben in Christus Jesus entspricht: Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, Gott gleich zu sein, sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen; er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz. Darum hat ihn Gott über alle erhöht und ihm den Namen verliehen, der größer ist als alle Namen, damit alle im Himmel, auf der Erde und unter der Erde ihr Knie beugen vor dem Namen Jesu und jeder Mund bekennt: Jesus Christus ist der Herr zur Ehre Gottes, des Vaters.“

Was können diese Gedanken für uns heute bedeuten? Welche Kompetenzen können wir für uns daraus ableiten? Sellmann nennt drei: ˭ Nicht länger wegrennen ˭ Aus sich herauskommen ˭ Kraft von außen aufnehmen.

Nicht länger wegrennen „Sein Leben war das eines Menschen; er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz.“ (Phil 2,7f.)

Die erste Kompetenz des Christseins: sich der Realität stellen; immer weniger wegrennen wollen, weil es um das ganze Leben geht. Das ist gerade in Situationen, die kaum lösbar erscheinen, manchmal schwer aushaltbar, aber auch unabdingbar. Die vielen derzeit kontrovers diskutierten Aktionen der Klimaaktivist:innen, die sich an Straßen festkleben, machen diesen Aspekt überdeutlich. Sie harren aus, zeigen, dass Politiker:innen nicht länger die Auseinandersetzung mit den Realitäten verdrängen oder auf die lange Bank schieben dürfen. Sie gehen persönliche Risiken ein. Sie rennen nicht weg.

Dabei ist es manchmal zum Davonrennen im Leben! Man muss auch nicht immer auf „Biegen und Brechen“ durchhalten. Nein, hier geht es darum, sich einerseits bewusst zu werden, dass das Leben kein Spaziergang auf dem Hochplateau ist, es Höhen kennt, aber auch Tiefen zu durchwandern gilt. Anderseits gilt es, sich ehrlich jeder Situation zu stellen, mit allem, was uns das gerade abverlangt. Glauben ist also nicht die Flucht aus der Welt, sondern gerade das Gegenteil: sich der Wirklichkeit zu stellen. Das führt hinein in die zweite Kompetenz des Christseins.

Aus sich herauskommen

„Jesus Christus war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, Gott gleich zu sein, sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich.“ (Phil 2,6f.)

Gott taucht ganz in die Welt der Menschen ein – bis in die letzte Konsequenz. Er geht die Wege der Menschen mit, ist bedingungslos an ihrer Seite. Somit wird die Wirklichkeit zum Ort der Gotteserfahrung. Die Realität der Menschen – auch und gerade in sozialer Not und politi- schen Konflikten – ist der Ort der Gottesbegegnung. Berühmt ist der Satz Jesu aus dem Matthäus-Evangelium: „Was ihr dem Geringsten meiner Brüder und Schwestern getan habt, habt ihr mir getan“ (Mt 25,40). Daraus ergibt sich der Auftrag, es Jesus gleich zu tun, sich an ihm zu orientieren und sich konsequent für Menschenwürde, Gleichheit, Gerechtigkeit, für eine solidarische und friedliche Welt einzusetzen.

„Aus sich herauskommen“ nennt Matthias Sellmann diese Kompetenz. „Es sind die, die nicht die Schnürsenkel ihrer Schuhe anmeditieren, sondern sich melden, wenn jemand gebraucht wird. Sie sind voller Fantasie, wo man noch etwas Zeit, etwas Geduld, etwas Geld für die erübrigen kann, die es nötiger brauchen.“ Bei solchen Menschen sei „unter der Oberfläche des harmlos Freundlichen eine hochgradig belastbare, geradezu trotzige widerstandsfähige Substanz eines tiefen Glaubens an menschliche Werte zu finden“ (Seite 91). Sie sind nicht einfach Ja-Sager:innen oder Gutmenschen, sondern die, die hartnäckig dranbleiben. Bei allen Herausforderungen und Widerständen, die der Einsatz für andere, für eine mögliche bessere Zukunft abverlangt, lassen sie sich das Vertrauen nicht nehmen, das uns Christ:innen zugesagt ist: „Ich will euch eine Hoffnung und Zukunft geben“ (Jer 29,11).

Kraft von außen aufnehmen

„Gott hat ihn erhöht.“ (Phil 2,9)

Die dritte Kompetenz ist der Glaube daran, dass uns immer wieder Kraft von außen zuwächst, um sich und anderes zu verändern. Das Leben Jesu erzählt viele Geschichten davon: Aus wenigen Fischen macht er ein Essen für viele, aus kleinmütigen Jünger:innen mutige Verkünder:innen. Jesus ist der wahre Transformationsexperte, würden wir heute sagen.

Trauen wir uns zu, dass auch wir verwandeln können? Wo haben wir vielleicht auch schon erfahren, dass uns eine Kraft im Leben zugewachsen ist? Wenn wir uns etwa für andere engagieren, ist immer wieder eine Kraft spürbar, die das, was wir geben, als Gabe aufhebt, weil wir selbst so viel empfangen.

Immer wieder habe ich sogenannte Sinnfluencer:innen kennenlernen dürfen. Das sind Menschen, die aus diesem Spirit leben: Menschen, die sich mutig der Realität stellen, die aus sich herausgehen und etwas wagen, denen eine Kraft zuwächst, die sie zu Taten beflügelt. Dies ist eine Einladung: Jede:r kann diesen Weg gehen. Christ:innen sollen es sogar jeden Tag neu versuchen. Und sie wissen, dass sie nicht alles aus eigener Kraft schaffen und tragen müssen. Sie können darauf vertrauen, dass im Scheitern ein Neuanfang möglich ist. Dieses Gefühl tiefen Vertrauens zeichnet Christ:innen aus. •

Pfrang

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