Deutsche Oper Berlin: Magazin (Saison 16/17, September 2016 – Februar 2017)

Page 3

© Bettina Stöß

im Grunde genommen ist die Kunstform Oper eine Zumutung. Wir sitzen stundenlang in einem abgedunkelten Raum und erleben mit, wie eine Reihe von Menschen ihr Innerstes vor uns ausbreitet: naive Träumereien und schwärmerische Liebe, aber auch blanken Hass, Selbstsucht und Verzweiflung. Warum tun wir das eigentlich und suchen genau diese Zumutung? Ich glaube, dass hinter fast jedem Opernbesuch auch die Hoffnung steht, etwas mehr darüber zu erfahren, wie Menschen wirklich sind. Warum sie sich erst verlieben und dann nichts mehr voneinander wissen wollen, oder warum sie plötzlich aufeinander losgehen, nachdem sie über Jahrzehnte friedlich nebeneinander her gelebt haben. Kurzum: all die Dinge, für die unser Verstand uns zwar eine Menge Gründe liefert, die wir dennoch nicht wirklich verstehen können. Es wäre natürlich vermessen zu behaupten, dass Oper die Welt erklären könnte. Was sie aber leisten kann, ist, das Gespür für die Komplexität zu schärfen, die das Tun, Fühlen und Denken jedes einzelnen Menschen bestimmen. Sie kann dies nur tun, indem sie uns ihre Figuren zumutet und sie uns so nahe rückt, dass wir auch all die Facetten ihrer Persönlichkeit wahrnehmen, die aus der Ferne unbemerkt bleiben: die Ängste des Diktators ebenso wie die Selbstzweifel eines Teenagers. In fast allen Neuproduktionen, die wir Ihnen in dieser Spielzeit präsentieren, ist diese intime, nahe Sicht auf den Menschen zentrales Thema. Sie ist es bei Mozart, der uns in seiner COSI FAN TUTTE daran teilhaben lässt, wie junge Menschen ihre Gefühle, ja ihre eigen Persönlichkeit entdecken. Sie ist es in Benjamin Brittens TOD IN VENEDIG, bei Wagners FLIEGENDEM HOLLÄNDER und Mussorgskijs BORIS GODUNOW ebenso wie bei unserer Uraufführung auf der großen Bühne, EDWARD II. von Andrea Lorenzo Scartazzini und bei GIANNI, unserer Eröffnungspremiere in der Tischlerei über den Modezar Gianni Versace. Genau diese Qualität, Menschen nahe zu kommen und sie auf eine ungewohnte, ja fast fremde Weise zu zeigen, haben wir in der Serie „Code unknown“ des japanischen Fotografen Satoshi Fujiwara gefunden. Seine Aufnahmen werden Ihnen deshalb in dieser Spielzeit immer wieder auf Plakaten und in unseren Publikationen begegnen und sie prägen auch dieses Magazin. Ich hoffe, diese Texte machten Sie neugierig auf das, was wir in den kommenden Monaten für Sie geplant haben, auf die großen Opern auf der Hauptbühne ebenso wie auf unsere experimentelleren Stücke und das Kinder- und Jugendmusiktheater, das wir in der Tischlerei anbieten. Wir freuen uns auf Ihren Besuch.

Jörg Königsdorf Chefdramaturg der Deutschen Oper Berlin

3 2

Liebe Freundinnen und Freunde der Deutschen Oper Berlin,


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.