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Auf den zweiten Blick – Glaspavillon am Broadfield House in Kingswinford Revisiting the Glass Pavilion at ­Broadfield House, Kingswinford Christian Schittich

Architekten • Architects: Design Antenna, Richmond Brent G. Richards, Robert Dabell Tragwerksplanung • Structural Engineers: Dewhurst Macfarlane and Partners, London Tim Macfarlane, Gary Elliot, David Wilde siehe / see Detail 01/1995, S./p. 59ff.

Der 1994 fertiggestellte Museumspavillon in Westengland verkörpert die bauliche ­Manifestation eines ewigen Wunschtraums: der Sehnsucht nach vollkommener Auf­ lösung der Gebäudehülle und damit der totalen Transparenz. Seit Jahrhunderten ist diese in der Architektur ein Thema, spä­ testens mit dem Beginn der Moderne in den 1920er-Jahren wird sie zum Mythos. Inspiriert von Dichtern und Philosophen wie dem Berliner Paul Scheerbart, der in einer aufgelösten Bauweise gar das Fundament für eine offene Gesellschaft sieht, entwer­ fen Architekten der damaligen Avantgarde wie Mies van der Rohe oder Bruno Taut ­gläserne Visionen, die aber überwiegend, mangels technischer Umsetzbarkeit, auf dem Papier bleiben mussten. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aber erfährt die Glastechnologie einen enor­ men Entwicklungsschub und erreicht zu Beginn der 1990er-Jahre einen Stand, der nichts mehr unmöglich erscheinen lässt. Aus dem einst spröden, zerbrechlichen Material ist nun ein Hochleistungs­baustoff für kühne, filigrane Konstruktionen gewor­ den, der bei Bedarf auch Lasten abtragen und aufgrund raffinierter, weitgehend unsichtbarer Beschichtungen zusätzlich noch Funktionen der Klimakontrolle über­ nehmen kann. Zu dieser Zeit gleicht die Entwicklung der Glasarchitektur einer regelrechten Jagd nach Rekorden. Nach den spektakulären verglasten Netzschalen oder Seilnetzkon­ struktionen der späten 1980er-Jahre ver­ suchen nun zahlreiche Protagonisten, auch auf die letzten, noch so kleinen Verbindungs­ teile aus Metall zu verzichten. Innerhalb kürzester Zeit tauchen die ersten gläsernen Träger oder Stützen auf, zunächst bei kleineren Projekten, bald aber auch bei stark belasteten Dächern und ­öffentlich genutzten Gebäuden. Als Höhepunkt dieser Entwicklung geht dann Mitte der 1990er-Jahre der vollkom­ men aufgelöste Eingangspavillon eines ­Museums in England durch die Presse und erregt weltweit die Aufmerksamkeit der Fachwelt. Trotz seiner eher bescheide­

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nen Abmessungen von 11 m Länge, 5,70 m Breite und 3,50 m Höhe gilt er nach wie vor als die größte Ganzglaskonstruktion und gleichzeitig als die erste bei einem öffentli­ chen Gebäude. Ganzglaskonstruktion meint in diesem Zusammenhang, dass außer dem transparenten Material und den notwendi­ gen Klebern auf ­alle anderen Baustoffe, vor allem auf Punkthalter oder sonstige Verbin­ dungsteile aus Metall, verzichtet wird. Metapher auf den Mythos Glas Geplant als Erweiterung eines Glasmuse­ ums – bei den Sammlungen handelt es sich um kunsthandwerkliche Gläser aus dem 17. und 18. Jahrhundert – wollten die Architekten mit dem Pavillon ein modernes Gegenstück zu dem historischen Bauwerk, einer georgianischen Villa und seiner Sammlung, schaffen und gleichzeitig die Leistungsfähigkeit zeitgenössischer Glas­ technologie demonstrieren. Nach eigener Aussage schwebte ihnen vor, ein techni­ sches Glanzstück und darüber hinaus eine Metapher auf den Mythos Glas zu schaffen. Sie strebten einen vollkommen entmate­ rialisierten Raum an, in dem – durch die bewusste Manipulation von Licht und Schat­ ten – die Schwerkraft aufgehoben scheint und innen und außen verschmelzen. Dazu ­griffen Brent Richards und sein Team von ­Design Antenna auf eine Kon­struktion zurück, wie sie von den beteiligten Inge­ nieuren Dewhurst Macfarlane (zusammen mit Rick Mather) schon vorher für eine ­ähnliche, aber kleinere Struktur – einen ­privaten Wohnhausanbau – entwickelt ­worden war. Stützen und Träger des rück­ seitig an den Altbau angelehnten Gefüges bestehen ­dabei aus dreilagigem Verbund­ glas und sind vor Ort über Schlitz- und Zapfenverbindungen zusammengefügt, die anschließend mit Gießharz geschlos­ sen und fixiert wurden. Vorbild mit Schwächen Der Glaspavillon am Broadfield House ist die Verwirklichung einer bahnbrechenden Idee. Darin sind sich auch heute noch die Experten einig. Nach wie vor gilt er als

Schlüsselprojekt im Konstruktiven Glasbau, bei dem das Material auch wesentliche tra­ gende Funktionen übernimmt. Gleichzeitig trug er ganz entscheidend dazu bei, die Ent­ wicklung der Klebeverbindungen voranzu­ treiben – eine Art des Fügens, die dem sprö­ den Material Glas weit mehr entgegenkommt als über Bohrungen befestigte Punkthalter. Insgesamt gesehen hat der Museumspavil­ lon, der damals (und auch noch lange Zeit danach) in Deutschland aus zulassungs­ technischer Sicht überhaupt nicht möglich gewesen wäre, den Glasbau entscheidend vorangebracht, indem er eindrucksvoll vor Augen führte, was mit dem Baustoff über­ haupt möglich ist. Gleichermaßen als Vorbild beeinflusste er zahlreiche Glaskonstruktionen der nachfolgenden Zeit. So sieht der Ingenieur Tim Macfarlane, der an beiden Projekten beteiligt war, auch das eindrucksvolle Dach über der MittelalterAbteilung im Londoner Victoria and Albert Museum (siehe S. 136ff.) in einer Linie mit Kingswinford und als unmittelbare Weiter­ entwicklung der damaligen Prinzipien. Denn auch hier griffen die Planer auf die seiner­ zeit entwickelte Methode, die Lasten aus der Dachhaut direkt über eine Klebeverbin­ dung einzu­leiten, zurück. Schlanke, kaum sichtbare Metallklammern sind am Victoria and Albert Museum nur notwendig, um die Spannungen zu übertragen, die aus dem relativ neuartigen Verfahren, die gekrümm­ ten Scheiben vor Ort in Form zu pressen, resultieren. Wer das erste Mal ins Broadfield House kommt, den Pavillon aber aus den zahlrei­ chen Veröffentlichungen kennt, ist zunächst von seiner fast unscheinbaren Größe und der Lage an der Rückseite des stattlichen ehemaligen Herrschaftshauses überrascht. Nach übereinstimmender Aussage von Pla­ nern und Nutzern hat sich die (Trag-)Konst­ ruktion selbst bewährt. Auch bei der Inau­ genscheinnahme sind kaum Mängel festzu­ stellen, abgesehen von Luftblasen in den geklebten Verbindungen zwischen Stützen und Trägern. Diese bestehen allerdings von Anfang an und sind der seinerzeit ungenü­ genden Ausführung vor Ort geschuldet.


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