Spektakel Februar 2018

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Ost-Legende Heinz Rennhack ab sofort in Meiningen (S. 2)

SPEKTAKEL DIE THEATERSEITEN

KOLUMNE

SCHAUSPIEL · MUSIKTHEATER · KONZERT · BALLETT · PUPPENTHEATER

PREMIERE

Mario Hartmuth, 2. Kapellmeister der Meininger Hofkapelle sowie künstlerischer Leiter des Orchesters der Konrad-AdenauerStiftung

Neue Musik ist immer schrill und laut? Keineswegs! Das Gegenteil wird derzeit mit Philippe Boesmans‘ „Julie“ in den Kammerspielen bewiesen. In den letzten Jahren ist hier eine eigene Reihe mit zeitgenössischen Opern entstanden, die alle unterschiedlicher nicht sein könnten. Mit manchen Werken habe ich mich sofort angefreundet, bei anderen brauchte ich manchmal etwas Zeit, um mich auf deren Tonsprache einzulassen. Fasziniert hat mich jedoch immer, wie Komponisten neue Klänge und Harmonien entwickeln, welche eine ganz individuelle Atmosphäre kreieren können. Denn das erweitert auch immer wieder meinen Blick auf die Klassiker wie Mozart oder Verdi, die für ihre Zeit auch oft völlig neue Klänge verwendeten. Manchmal können unsere heutigen Ohren deren ursprüngliche Wirkung gar nicht mehr wahrnehmen. Werke wie „Anya 17“ des englischen Komponisten Adam Gorb oder „Powder Her Face“ von Thomas Adès haben ihren ganz eigenen Stil, der sich aus der Handlung entwickelt. Letzterer lässt zum Beispiel viele Elemente aus dem Jazz und Tango in seine Musik einfließen, was die Zeit und die Erotik des Stückes wunderbar einfängt. Grigori Frids „Das Tagebuch der Anne Frank“ stand hingegen ganz in der Tradition Schostakowitschs mit einer erweiterten romantischen Harmonik, die oft an Gustav Mahler erinnert. Die Klangpalette, mit der Philippe Boesmans in „Julie“ die melancholische Stimmung der Mittsommernacht

Ausgabe Februar 2018

Carl Orffs „Carmina Burana“ Die Wanderung der Gleichgültigen durch das Einfallstor des Bösen

„Am Nullpunkt des Sozialen“ – so übertitelte im November 2007 die Neue Zürcher Zeitung ein Dossier des Soziologen und Essayisten Wolfgang Sofsky, der das Phänomen der Gleichgültigkeit untersuchte, dieses vom erwartungslosen Individuum bis hin zur funktionsuntüchtigen Kollektivgesellschaft analysierte und dabei durchaus mit warnender Geste ein dystopisches Bild von einem zukünftigen Sein malte. Das ist nun gute 10 Jahre her und man sollte sich die Frage stellen, ob er zu Recht die Leser, die Menschen, die Gesellschaft mahnte, gegen dieses „NichtLaster“ von Gleichgültigkeit anzukämpfen. Sofsky überschrieb seine Abhandlung mit den Worten: „Gleichgültigkeit schützt vor den Nachbarn, den Nächsten und anderen Zumutungen; sie schützt vor den Reizen des sozialen Lebens. Gleichgültigkeit schottet auch gegen Scham und Schuld ab. Darum ist sie, neben der Vulgarität, das breiteste Einfallstor für das Böse.“ Gefühlslosigkeit, das Ausbleiben von Affekten, Stumpfsinn und fehlende Einsichten kulminieren erst in der individuellen, später in der kollektiven Gleichgültigkeit, führen zur Entfremdung, man mag sagen zur Alexithymie des Ichs und des gelebten Miteinanders. Die „Carmina Burana“ von Carl Orff werden in der Inszenierung von Ivar van Urk jenen Ideen nachgehen – ein genaues Betrachten und kritisches wie auch augenzwinkerndes Befragen unserer heutigen Lebensweisen. Denn welches Werk der Musikgeschichte bietet mehr menschliche Masse, mehr kollektiven Gleichgesang und einen beinahe gleichgültigen Pomp an dionysischsatyrischem Treiben? Und einhergehend mit der scheinbar nie enden wollenden brachialen musikalischen Gewalt und sich stützend auf die 1847 von J. A. Schmeller publizierten Sammelarien der „buranischen“ (benediktbeurischen) Handschriften, mittelhochdeutschen Lyrik und romanischen Resten erheben sich die „Carmina Burana“ in der Orff’schen Vertonung zu einem nicht-theatralen und dennoch zwingend theatral-dramatisch zu befragenden Gebilde, welches in dieser Form kein zweites Mal in der Musikgeschichte aufzufinden ist. Man würde diesem bis heute heiß diskutierten Opus Unrecht tun – Perspektive Entstehungszeit und folgender Missbrauch (oder doch der bewusste Einsatz)

    SZENISCHE KANTATE Musikalische Leitung: GMD Philippe Bach Regie: Ivar Thomas van Urk Bühne & Kostüme: Anja Hertkorn Choreografie: Mara Kurotschka Chor: Martin Wettges Dramaturgie: Daniel Westen Solisten: Elif Aytekin (Sopran); Ondrej Šaling (Tenor), Dae-Hee Shin (Bariton) Mit: Chor, Extrachor und Statisterie des Meininger Staatstheaters, Meininger Hofkapelle, Suhler Knabenchor, Suhler Singakademie MATINEE: SO, 11.02., 11.15 Uhr, Foyer – Eintritt frei PREMIERE: FR, 23.02., 19.30 Uhr und SO, 25.02., 19.00 Uhr, Großes Haus WEITERE VORSTELLUNGEN: DO, 08.03., 19.30 Uhr, SA, 17.03., 19.30 Uhr, SO, 25.03., 19.00 Uhr, SA, 31.03., 19.30 Uhr, SO, 15.04., 15.00 Uhr, SA, 12.05., 19.30 Uhr, SA, 26.05. 19.30 Uhr und FR, 29.06., 19.30 Uhr, Großes Haus

©  Marie Liebig

durch den Führer und andere braune Fanatiker jener Epoche –, reduzierte man es auf jene popularisierende wie gleichgültige Formel, die später bekanntermaßen von der Bierreklame bis zur Boxkampfarena ihre Kreise zog: O Fortuna! Die „Carmina Burana“ sind mehr und können in einer bewusst theatralen und gleichsam nicht effekthaschenden Umsetzung viel Raum zum Nachdenken bieten, ohne dabei das ästhetische Grundgerüst zu negieren oder gar ins Lächerliche zu ziehen. Und wieder „O Fortuna!“ – diese berühmte Introduktion eröffnet mit lediglich zwei Worten den Abend; das flehende, das klagende, das anrufende „O“ und jenes „Schicksal“, dem es zu entrinnen gilt, dem man sich jedoch nicht entreißen kann … oder etwa doch? Und so gehen der Regisseur Ivar van Urk, seine Bühnen- und Kostümbildnerin Anja Hertkorn sowie die Choreografin Mara Kurotschka in eindrücklichen Bildern, die sich zu großen Teilen aus den Menschen selbst speisen, den

Ideen von Gleichgültigkeit und Widerspruch, von Ausbruch und innerer Gefangenschaft, von Vulgarität und Schönheit nach, befragen diese erneut, ohne Lösungen in parabelhafter Manier anbieten zu wollen. Spielerische wie tragische Momente unseres Lebens kommen zum Vorschein und bringen somit das große „Rad der Fortuna“ auf der Bühne des Staatstheaters zum Rollen. Vier Chöre, drei Solisten und die Meininger Hofkapelle werden Orffs „Carmina Burana“ die entsprechende musikalische Sprengkraft verleihen und auch damit das Werk und seine Ideen kohärierend mit dem szenischen Erlebnis in Widersprüche verwickeln, aber genauso für einen monumentalen Klang sorgen. Denn selbst Gleichgültigkeit, sollte sie denn wirklich am Ende des Abends Bestand haben, kann und muss im Musiktheater stets wunderbar und mit großem Klang das Einfallstor zum Bösen öffnen. Sofsky relativiert am Ende seiner Abhandlung eine dem Wort und der Sache der

„Gleichgültigkeit“ innewohnende Bosheit, denn er sagt: „Gleichgültigkeit ist kein Laster, nicht einmal eine Untugend. (…) Sie gebiert Tochtersünden, mit denen sie sich zu einem Syndrom vereint. Ein finsterer Groll ergreift die Seele, Feigheit paart sich mit Gefühllosigkeit. Weil der Geist von nichts gefesselt wird, schweifen die Gedanken immerzu ab. Trägheit durchdringt den Körper und tilgt jeden Willen, zum Bösen wie zum Guten. Und dennoch bewegt sich der Gleichgültige noch im Vorfeld der Sünde. Die großen Übeltäter sind niemals gleichgültig. (…) So groß ist die Zahl der Gleichgültigen, dass der Ort ihrer Bestimmung schon jetzt übervölkert ist. In der Vorhölle trotten sie hinter einer Standarte einher – unablässig im Kreise. Sie bringen nichts zustande, sie sehen nichts, und sie kommen nirgendwo an.“ Wollen wir sehen, ob die Menschen in den „Carmina Burana“ den Absprung wagen, ob Neugier und Verstand sie von einer Gefühllosigkeit befreien und ob sie dem nimmermüden „Rad der Fortuna“ etwas entgegensetzen können. dw

zeichnet, wäre mit klassischen Kompositionsmitteln gar nicht möglich gewesen. Auch für unsere Spielenden war es anfangs schwierig, die Balance in den ständig wechselnden Emotionen zu finden. Doch macht genau das den Reiz zeitgenössischer Musik aus. Jeder Komponist hat eben seine eigene Sprache, die man nach und nach entschlüsseln muss. Boesmans‘ Komposition nährt sich von Sehnsucht, Melancholie sowie Verzweiflung und braucht die Handlung auf der Bühne, um ihre Kraft und ihre Authentizität zu entfalten. Mit einer Leitmotivtechnik wie bei Richard Wagner bildet er einen inneren Zusammenhang, und wie bei ihm, erklärt sich die Musik nur in Bezug auf die Charaktere des Schauspiels. Wer das Original kennt, wird begeistert sein, welchen Sog diese eben nur scheinbar zufällige Musik erzeugt. Wer es noch nicht kennt, dem empfehle ich entweder, es vorab zu lesen, oder die Oper einfach direkt und ungefiltert auf sich wirken zu lassen. Und wer beim ersten Mal keinen Zugang dazu findet, der darf gerne kritische Fragen stellen und sich das Stück dann vielleicht noch einmal ansehen. Denn manchmal braucht es einfach Zeit.

PREMIERE

„Der Junge mit dem Koffer“ Schauspiel von Mike Kenny ab 10 Jahren Der UNHCR registrierte für das Jahr 2016 weltweit 65,6 Millionen Flüchtlinge, so viele wie noch nie zuvor. Die Hälfte davon sind Kinder. Zuverlässige Zahlen für das Jahr 2017 liegen noch nicht vor. Sie werden nicht wesentlich darunter liegen. Mike Kennys Stück „Der Junge mit dem Koffer“ erzählt die Flucht eines Jungen aus einem fernen Kriegsgebiet bis nach London. Es kam bereits 2010 in Deutschland zur Erstaufführung, fünf Jahre bevor die Schicksale der Flüchtenden eindringlich auch in unseren Städten und Dörfern sichtbar wurden. Das Junge Schauspiel des Landestheaters Eisenach bringt nun die Geschichte von Naz, dem Jungen mit dem Koffer, für Kinder ab zehn Jahren auf die Bühne. In sieben Reisen beschreibt Naz seinen weiten Weg. Traumatische Erlebnisse erträgt er, weil er sich mit der Kraft der kindlichen Phantasie in die Märchenwelt Sindbads des Seefahrers flüchtet. Überstürzt muss Naz mit seiner Familie das Zuhause verlassen. Im Flüchtlingslager wird den Eltern schmerzhaft deutlich, dass ihr Geld nur reicht, um Naz alleine auf die Reise nach London zu schicken. Dort lebt der älteste Sohn, von dem sie eine Postkarte

erhielten, die von einem besseren Leben kündet – der einzige Hoffnungsschimmer in der ausweglosen Situation. Naz lernt unterwegs die ältere und lebenserfahrenere Krysia kennen. Gemeinsam meistern sie Gefahren und überleben zwei Jahre in der Sklaverei einer Textilfabrik, bis sie auf der Weiterreise über das Meer vom Boot fallen und sich aus den Augen verlieren. Naz schafft es alleine nach London. Der Inhalt seines Koffers, den er all die Zeit bei sich trug, ist verloren und der Start in ein neues Leben erfolgt nicht so, wie er es sich erträumte. Grundlegende Fragen nach dem Wert eines Zuhauses, nach Mitmenschlichkeit und der Verarbeitung traumatischer Erlebnisse werden in der Inszenierung von Gabriela Gillert für Kinder nachvollziehbar aufgegriffen. Syrische Lieder und die arabische Variante des Märchens von Sindbad werden in Naz‘ Erzählung eingewoben und geben einen Hinweis auf seine mögliche Herkunft. Die musikalische Leitung übernehmen Ibrahim Bajo und Fridtjof Bundel. Das Bühnenbild von Helge Ullmann greift Bilder aus „Tausendundeine Nacht“ auf und schafft so einen Assoziations-

raum, in den die Realität der Flucht einfällt – symbolisier durch zahllose Plastiktaschen. Das Kind Naz, gespielt von Farina Violetta Giesmann, erzählt für Kinder von seiner Flucht. Gehüllt in eine fast phantastisch anmutende Abenteuergeschichte verweist das Stück sensibel auf die Schicksale tausender unbegleiteter Kinder und Jugendlicher, die sich bis nach Europa durchschlagen und Hilfe benötigen. js     SCHAUSPIEL Regie: Gabriela Gillert Bühne & Kostüme: Helge Ullmann Musikalische Leitung: Ibrahim Bajo, Fridtjof Bundel Dramaturgie: Juliane Stückrad Mit: Farina Violetta Giesmann, Kristin Heil, Alexander Beisel, Roman Kimmich, Fridtjof Bundel PREMIERE: MI, 21.02., 20.00 Uhr, Kammerspiele WEITERE VORSTELLUNGEN: DO, 22.02., 10.00/20.00 Uhr (Restkarten), MI, 21.03., 10.00/14.00 Uhr, DO, 22.03., 10.00/14.00 Uhr, Kammerspiele

©  Marie Liebig


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