Spektakel November 2019

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SPEKTAKEL

DIE THEATERSEITEN

SCHAUSPIEL · MUSIKTHEATER · KONZERT · BALLETT · PUPPENTHEATER

Ausgabe November 2019

Wir brauchen mehr traurige Ritter wie Don Quijote

EXTRAS

Lange Toller-Nacht

Premieren-Rückschau zum Musical Der Mann von La Mancha

Ernst Tollers (1893–1939) erfolgreichs­ tes Drama Hinkemann trägt bereits auto­ biografische Züge. Auch die Autobiogra­ fie Eine Jugend in Deutschland zeugt von Tollers flammendem Einsatz für die Menschlichkeit und dokumentiert die für die deutsche Geschichte folgenschwere Zeit. In der Langen Toller-Nacht lesen Schauspieler*innen des Hinkemann-En­ sembles aus diesem wieder erschreckend aktuellen Text.

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TERMIN: FR, 15.11., 22.00 Uhr, Kammerspiele. Für Besucher*innen der Hinkemann-Vorstellung ist der Eintritt zur Lesung frei.

Musikalische Leitung: Ludwig Pflanz Regie: Kurt Josef Schildknecht Bühne & Kostüme: Helge Ullmann Chorografie: Julia Grunwald Mit: Matthias Herold, Mikko Järviluoto, Michael Jeske, Stan Meus, Marianne Schechtel, Renatus Scheibe, Sven Zinkan und andere, Chor und Statisterie des Meininger Staatstheaters, Meininger Hofkapelle TERMINE: FR, 01.11., SA, 09.11. und FR, 22.11., jeweils 19.30 Uhr, Großes Haus

TERMIN: DO, 14.11., 18.30 Uhr, Foyer Großes Haus – Eintritt frei für Konzertbesucher*innen

Werbefoto ©  Marie Liebig

TERMIN: DI, 26.11., 19.00 Uhr, Kam­ merspiele – Eintritt frei

© MSTH

2. Foyerkonzert

Renatus Scheibe (links) als Sancho Pansa und Michael Jeske als Don Quijote © Marie Liebig

I

30 Jahre Mauerfall

n seinem Roman H omo E mpathicus beschreibt Alexander Görlach die Not­ wendigkeit starker Bilder für den Men­ schen. Diese „starken Bilder“ werden als stark bezeichnet, weil sie zum einen selbsterklärend sind, zum anderen heißen sie auch so, weil kein Text gegen sie ankommt. Die meisten Men­ schen wissen genau, wo sie am 9. November 1989 gewesen sind und können diese Bilder jederzeit abrufen. Der Fall der Berliner Mauer brannte sich bei vielen Menschen durch die Netzhaut in den Geist ein. „Wenn viele Menschen die gleichen Bilder sehen, dann werden sie zuerst Teil des kollektiven Bewusstseins und dann des kollektiven Gedächtnisses. Man versichert sich gegenseitig, wie man das Geschehene erlebt und eingeordnet hat. Gesellschaften finden eine Übereinkunft, wie sie bestimmte zeitgeschichtliche Momente einordnen.“ Und weiter: „In Deutschland suchen im wiedervereinigten Deutschland der Osten und der Westen nach ihrer eigenen Identität und fragen sich, welche Klammern diese beiden miteinander verbindet.“ 30 Jahre sind seit dem Mauerfall vergangen. Doch nicht nur der 9. November, auch die Ereignisse des Herbstes 1989 bleiben vielen Menschen in starker Erinnerung: die Demons­ trationen, die Friedensgebete, der erste Ein­ kauf in einem Supermarkt in Mellrichstadt, die Versprechungen der Politiker, die nicht gehalten werden konnten, der gesellschaft­ liche Umbruch mit seinen Einbußen an Lebensleistungen, die Tage und Wochen, als die Menschen in Meiningen ihr Schicksal in die eigene Hand nahmen.

Deutschland zwischen 89 und now

ist. Politiker Martin Rutsch empfindet, dass bis heute keine gesamtdeutsche Geschichts­ schreibung existiert, da für den Westen der Mauerfall ein Schlusspunkt, für den Osten aber einen Beginn darstellte. Der Beginn „einer Epoche der Veränderungen“. Auch am Meininger Staatstheater war der Umbruch in eine neue Zeit im Herbst 1989 deutlich zu spüren. So beschreibt der dama­ lige Schauspieldirektor Albert Pasch die Funk­ tion des Theaters in jenem Jahr: „Das Theater war in dieser Zeit zum Ventil geworden.“ Noch vor der Spielzeitpause begannen die Proben zu Landolf Scherzers Der Erste. Der Autor aus Suhl hatte in einer Langzeitreportage den Ersten Sekretär der SED-Kreisleitung in Bad Salzungen begleitet. Für Hans-Joachim Rode­ wald, der den Ersten spielte, war es „politisches Situationstheater, das die Stimmung im Land widerspiegelte. Die Zuschauer hingen an unseren Mündern“. Doch nicht nur Der Erste sorgte für Aufre­ gung. Auch das geplante Gastspiel nach Ceske Budejovice mit Mozarts CosÌ fan tutte stand aufgrund der bestehenden Fluchtgefahr lange im Ungewissen. Carola Scherzer, damalige Pressesprecherin, die die Reise begleitete, rekapituliert: „Ich erinnere mich noch, wie unser Bus an der Grenze auf eine Rampe fahren musste und von Spürhunden umlaufen wurde. Ein unheimliches Gefühl. Die Vorstellung am 25. Oktober wurde von den Budweisern gefeiert, wobei auch bei den Tschechen die Unter-

gangsstimmung fühlbar war. Beladen mit vielen Kästen Budweiser Bier fuhren wir zurück nach Meiningen.“ Während draußen auf der Straße die ersten Demonstrationen stattfanden, wurde im Theater an der temporeichen BoulevardKomödie Der nackte Wahnsinn probiert. Um den wachsenden Druck von der Straße zu nehmen, organisierte der damalige Inten­ dant Jürgen Juhnke auf Veranlassung der SED-Parteileitung, mehrere Bürgerforen im Theater. Zu unterschiedlichen Themen wie Allgemeine Politik, Medien-Politik oder Schul-Politik wurde im voll besetzen Großen Haus heiß diskutiert.

Keine Zeit für Schabowski Aber auch in den Proben ging es heiß her. Der Schauspieler Matthias Herold stand ursprünglich gar nicht auf der Besetzungs­ liste. Aber ein Kollege war über Ungarn in den Westen gegangen und er musste kurzfristig einspringen. Michael Jeske hatte sich bei den anstrengenden Proben im ehemaligen unter­ kühlten Schützenhaus eine Kehlkopfentzün­ dung geholt. Eigentlich verbot ihm der Arzt die Premiere am 10. November zu geben, aber er wollte spielen. In der Pause der Hauptprobe, als das Insze­ nierungsteam noch im Saal saß, kam Drama­ turg Thomas Liljenberg und erzählte den Mitwirkenden, die keine Möglichkeit hatten, Schabowski live zu erleben, dass er im Radio

Bestandsaufnahme des Umbruchs

Elvira Dreßler (E-Geige), Rudolf Hild (Flü­ gel und E-Piano), Yorck Prüfer (Kontra­ bass) und Hanno Riehmann (Cello) laden diesmal herzlich zu einem Foyerkonzert außerordentlichen Charakters. Auf dem Programm stehen unter anderem Werke von Bach, Vivaldi, Mozart und Chaplin. Der Titel Träumereien am Kamin nimmt die entschleunigende Stimmung vorweg, die von entspannender Musik und tragenden Melodien bestimmt sein wird. TERMIN: SO, 24.11., 11.15 Uhr, Foyer Großes Haus

Siggi Seuß, Main-Post 16.10.2019

    MUSIKTHEATER

Einstimmend auf das 3. Sinfoniekonzert Can-Can auf dem Rhein bietet der Autor Volker Hagedorn eine Kostprobe aus sei­ nem Buch Der Klang von Paris. Dieses wurde vor Kurzem vom Fachmagazin Opernwelt als „Buch des Jahres“ gekürt und als „virtuos temperierte Mixtur aus Kulturgeschichte, Reisebericht und quellengestützer Fiktion” bezeichnet.

Die Schauspieler Theo und Bernhard haben sich viel vorgenommen: Sie wollen die Weihnachtslegende nicht nur erzählen, sondern auch spielen. Dabei übernehmen die beiden sämtliche Rollen in all ihrer Vielfalt selbst. Unterstützt werden sie dabei von der Sängerin Frau Timm, die – genau wie die beiden Protagonisten – auch ihre Eigenarten hat . . . Gewinnen Sie an diesem Abend Einblicke in die Probenar­ beiten unserer ebenso rasanten wie auch liebenswerten Komödie Der Messias.

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Extra zum Konzert Der Klang von Paris

Kostprobe Der Messias

Cervantes’ Jahrhundertklassiker ist aktuell wie eh und je. Es fehlen nach wie vor zuhauf Ritter von der traurigen Gestalt, die ihre Träume und Fantasien von Gerechtigkeit und Menschenliebe leben […]. Michael Jeske – obwohl nicht gerade der Prototyp des hageren Ritters – gibt einen allzeit glaubwürdigen, leidenschaftlichen Don Quijote, Renatus Scheibe einen quirligen Sancho Pansa und Marianne Schechtel eine widerspenstige und vom Leben gezeichnete Magd Aldonza/ Dulcinea.

Das Meininger Staatstheater geht anlässlich des großen Jubiläums auf eine Spurensuche und lädt mit Künstler*innen aller Sparten zu einer gesellschaftlichen Bestandsaufnahme des Umbruchs und des Nachwendedeutschlands ein. Hierbei wird nicht der Versuch unternom­ men, den 30. Jahrestag nachzuerzählen oder zu erzählen, wie mutige DDR-Bürger*innen die Mauer einstürzten. Die Fragen, die uns heute bewegen, sind nicht nur „Wer bestimmte die ostdeutsche Identität nach der Wende?“, „Hat sich diese Trennung in den Jahren nach der Wende aufgelöst oder verstärkt?“ oder „Wie war es?“, sondern auch „Wie wird es weiter gehen?“. Von einem Tag auf den anderen hat sich für viele Bürger*innen das Leben stark verändert. Grund genug, sich dieses Umbruchs an einem besonderen Abend anzunehmen und der Frage nachzuspüren, was heute daraus geworden

gehört hatte, dass die Grenze seit Kurzem offen sei. Kurz nach Mitternacht wurde der nur zehn Kilometer entfernte Grenzübergang Eußenhausen–Meiningen geöffnet und einige Kollegen brachen noch in der Nacht nach Mellrichstadt auf. Ob bei der morgigen Pre­ miere noch alle anwesend sein würden, war ungewiss. Die Premiere spielte das Ensemble dann vor fast leerem Haus. Nur etwa 200 Besucher*innen kamen, um den Nackten Wahnsinn auf der Bühne zu erleben. „Die meisten schüttelten den Kopf und meinten, was spielt ihr für einen Blödsinn an solch einem Tag“, reflektiert Michael Jeske. „Ich wohnte damals gleich gegenüber vom Theater. Die Bernhardstraße, die damals noch August-Bebel-Straße hieß, war aus allen Richtungen mit Autos zugestopft. Das war der nackte Wahnsinn! Diese Worte haben die Leute immer wieder gesagt – und wir auch. Wir hatten zwar den rechten Stücktitel zur rechten Zeit, aber leider am falschen Ort.“ Sowohl Interviews und Texte von Mei­ ninger Bürger*innen sind in die Bestands­ aufnahme für den Abend mit eingeflossen als auch Zeitdokumente von Christa Wolf, Gregor Gysi, Alexander Görlach, Bodo Ramelow, Horst Strohbusch, Armin Petras und anderen. Gestaltet wird der Abend musi­ kalisch vom Chor des Meininger Staatsthea­ ters und Sopranistin Elif Aytekin sowie den Schauspieler*innen Yannick Fischer, Nora Hickler, KS Hans-Joachim Rodewald, Ulrike Walther und Sven Zinkan. Jetzt liegt es an uns, für das Heute „starke Bilder“ zu finden, wenn wir über Identitäten nachdenken. Auch heute haben wir eine globale Verantwortung, die lokal verortet ist. Dabei sind wir, wie Alexander Görlach schreibt, „miteinander verbunden und aufeinander geworfen“.

    EXTRA Leitung: Gabriela Gillert Mitarbeit: Gerda Binder Chor: Manuel Bethe Korrepetition: Peter Leipold Ausstattung: Helge Ullmann Mit: Elif Aytekin, Yannick Fischer, Nora Hickler, KS Hans-Joachim Rodewald, Ulrike Walther, Sven Zinkan; Chor des Meininger Staatstheaters © MSTH

TERMIN: FR, 08.11., 20.00 Uhr, Großes Haus


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