CIVIS mit Sonde 2019/2

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Ich träume von Europa W W W. C I V I S - M I T- S O N D E . D E

CIVIS & SONDE 2/2019

D 8,- E U R


» FÜNF REGELN, 100% FASZINATION. « Simona, 26, Auszubildende Automatenfachfrau

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CIVIS & SONDE


Die Fotoreihe wurde am Paul-LÜbe-Haus des Deutschen Bundestages aufgenommen. Sie zeigt Emilia Hegenbart, Paul Schäfer und Susanne Zels.



»Der europäische Traum: Vier Lehren aus der Geschichte«: »Zwei von ihnen, das Friedensprojekt und das Demokratisierungsprojekt, sind nach 1945 entstanden und wurden nach 1989 neu getestet, zwei weitere, die Erinnerungskultur und die Menschenrechte, sind erst nach 1989 dazugekommen.« »Ich schlage deshalb vor, die vier Lektionen, die die Europäer aus der Geschichte gelernt haben, als gemeinsames Erbe ins leere Zentrum des europäischen Sternenkreises hineinzuschreiben. Die Wirkkraft dieser Lehren hat sich keineswegs erschöpft. Als ›europäischer Traum‹ sind sie weiterhin zukunftstauglich und bilden die Grundlage für das unvollendete europäische Projekt, das es umzusetzen und weiterzuentwickeln gilt.« Aleida Assmann, »Der europäische Traum«, erschienen bei C.H. Beck, 2018 Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2018

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»Die Einheit Europas war ein Traum von Wenigen. Sie wurde eine Hoffnung für Viele. Sie ist heute eine Notwendigkeit für uns alle. Sie ist, meine Damen und Herren, notwendig für unsere Sicherheit, für unsere Freiheit, für unser Dasein als Nation und als geistig schöpferische Völkergemeinschaft.« Konrad Adenauer im Deutschen Bundestag am 15. Dezember 1954

»Für die Generation meiner Kinder steht Europa für ein ganz besonderes Versprechen. Es ist das Versprechen eines Lebens auf einem naturnahen, gesunden Kontinent. Es ist das Versprechen, Teil einer Gesellschaft zu sein, in der sie sie selbst sein und in der sie lieben können, wen sie wollen, das Versprechen zu leben, wo es ihnen beliebt und nach den Sternen greifen zu können. Es ist das Versprechen einer Welt voller neuer Technologien und tief verwurzelter Werte. Das Versprechen eines Europas, das international die Führung übernimmt, wenn es um die großen Herausforderungen unserer Zeit geht.« Ursula von der Leyen, »Politische Leitlinien für die künftige Europäische Kommission 2019–2024«

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LIEBE LESERIN, LIEBER LESER!


Wer die Zukunft nicht verschlafen möchte, der muss träumen.

Parlamenten. Zweitens: Die Masse europäischer Rechtsetzung droht die Rechtsanwender zu überfordern und erfordert, sich in vielen Regelungsfeldern aufs Neue des Subsidiaritätsgedankens zu besinnen. Drittens muss die Re-Politisierung auch auf Ebene der europäischen Parteifamilien stattfinden. Wer nach demokratischer Legitimation und europäischer Öffentlichkeit ruft, muss sich fragen, wie es gelingen kann, auch parteipolitisch weniger in nationaler Europapolitik und mehr paneuropäisch zu denken.

Ein rauer Wahlkampf lädt nicht zum Träumen ein. Zumal es bei der zurückliegenden Europawahl vor allem galt, einen populistischen Albtraum zu vermeiden. Das ist einstweilen gelungen. Wir von der CIVIS-Redaktion hätten uns jedoch offen gestanden aus den eigenen Reihen ein bisschen mehr europäische Inspiration erhofft. Europapolitik darf sich nicht in den immer gleichen Ausführungen zur Geschichte der Europäischen Union erschöpfen. Der europäische Traum, wie Aleida Assmann ihn formuliert hat, besteht aus den Lehren der Vergangenheit – seine progressive Kraft bezieht er jedoch aus den ihnen innewohnenden Versprechen für die Zukunft.

So sind größere Fortschritte vielmehr häufig das Ergebnis einer selbstbewussten Geisteshaltung. Wir träumen von einer neuen Entschiedenheit. Denn ohne Entschiedenheit in der Zielsetzung wird sich kaum eine Hürde meistern lassen. Wir träumen von einer neuen Lust am Kompromiss. Es braucht in allen Hauptstädten und der Öffentlichkeit den Mut, sich die in Brüssel gefundenen und den gesetzten Zielen entgegenstrebenden Kompromisse zu eigen zu machen. Das wünschen sich im Titelinterview auch Katja Leikert und Franziska Brantner – und träumen von einer nach innen wie außen handlungsfähigen Europäischen Union.

Als Christdemokraten müssen wir auch besser werden im digitalen Austausch, mit einem dynamischen Erscheinungsbild und optimistischen Lösungsansätzen für aktuelle Herausforderungen. Parteimitglieder und Berufspolitiker der Union sind gleichermaßen gefordert: Sich mit immer neuer Energie einzubringen, die Dinge zu hinterfragen und im politischen Streit – digital wie analog – die Contenance zu wahren. Wie das gelingen könnte, haben wir nach der Europawahl in einem Online-Symposium unter www.civis-mit-sonde.de/quo-vadis-cdu begonnen zu diskutieren.

Die vor Ihnen liegende Ausgabe widmet sich drei Kernthemen europäischer Politik: der Wirtschaft als dem Kernbereich europäischer Integration, der Außen- und Sicherheitspolitik im Angesicht globaler Herausforderungen sowie der sozialpolitischen Dimension der EU. Unsere Autorinnen und Autoren suchen Antworten auf die Fragen: Wie wird die EU digital souverän? Wie sind Effizienz und Ökologie in der europäischen Agrarpolitik zu vereinen? Welche Rolle spielt die Kooperation in Grenzregionen im europäischen Zusammenleben? Welche Schritte können mangels bisheriger europäischer Lösungen in der Migrationspolitik ergriffen werden? Welches europäische Engagement braucht es, um Menschenrechte und die liberale Ordnung weltweit zu erhalten? Und schließlich: Wie sozial soll Europa sein?

Umso mehr ist nun die Zeit gekommen, von Europa zu träumen. Die Augen zu schließen, sich in die Rolle eines fragenden Kindes zu versetzen und dann unvoreingenommen Antworten zu formulieren. Diese im politischen Alltag häufig zu kurz kommende Fähigkeit wünschen wir der neuen Europäischen Kommission und ihrer Präsidentin. Dann wird sie der Erfüllung der europäischen Versprechen, wie Ursula von der Leyen sie in den Leitlinien für die künftige Kommission ausgemalt hat, auch näherkommen.

Ihre Meinung zu diesen und weiteren Themen können Sie uns gerne mitteilen an leserbriefe@civismit-sonde.de.

Politische Träume müssen nicht gleich große Prestigeprojekte betreffen, wie etwa eine Reform der europäischen Institutionen und Verträge. Statt die europäische Politik weiter zu institutionalisieren und die Verfassungs-Verrechtlichung fortzusetzen, muss sie re-politisiert werden. Das bedeutet dreierlei. Erstens: Über europäische Rechtsetzung muss öffentlich und frühzeitig diskutiert werden, und zwar auch in den Hauptstädten und den nationalen

Mit herzlichen Grüßen

Carl-Philipp Sassenrath, Chefredakteur

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Europa darf kein Spielball sein | Im Gespräch Katja Leikert und Franziska Brantner diskutieren über eine EU zwischen nationalen Interessen und europäischer Handlungsfähigkeit

Perspektiven für die europäische Wirtschaft 32

Ein digital souveränes Europa | Standpunkt Teresa Ritter beleuchtet Maßnahmen wider die digitale Abhängigkeit von China und den USA

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Effizienz und Ökologie in der Landwirtschaft | Standpunkt Henrik Wärner tritt ideologischen Irrwegen in der europäischen Agrarpolitik entgegen

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Denke ich an Europa... | Standpunkt Alfred Büttner sieht in den Krisen der EU eine Chance zur Neuorientierung

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Engagierte Wahlkämpfer braucht das Land | Einblicke Unterwegs mit Susanne Zels im europäischen und Paul Schäfer im sächsischen Wahlkampf

Kooperation in der und über die EU hinaus 54

Die »Elysée-Region« weiter stärken | Standpunkt Stephan Toscani über den Aachener Vertrag und die deutsch-französische Grenzregion

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Ein Weg zu mehr Abschiebungsrealismus | Standpunkt Mangels europäischer Lösung zeigt Gerald Knaus neue Schritte in der Migrationspolitik auf

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Ohne neues Feuer wird die Fackel erlöschen | Standpunkt Michael Brand fordert ein entschiedenes Eintreten für Freiheit und Menschenrechte

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Das friedensverwöhnte Europa muss durchsetzungsfähig werden | Standpunkt Jan Techau ruft nach einer machtvollen Antwort der EU auf die globalen Herausforderungen

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AUSGABE 02 — 2019

INHALT Wie sozial soll Europa sein? Eine Debatte 78

Wir können das europäische Aufstiegsversprechen erneuern | Standpunkt Adrian Sonder teilt vier Ansätze aus christdemokratischer Perspektive

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Die Stärkung der europäischen Partner liegt im Interesse Deutschlands | Standpunkt Alice Greschkow beschreibt geeignete Instrumente aus Sicht einer Sozialdemokratin

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Dialog auf Augenhöhe | Standpunkt Robert Seegmüller zum Verhältnis von Legislative und Judikative nach 70 Jahren Grundgesetz

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Ein Blick hinter die Kulissen des Europäischen Parlaments | Portrait Moritz Dütemeyer portraitiert von Christina von Busch

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Abonnement

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Impressum

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INTERVIEW

EUROPA DARF KEIN SPIELBALL SEIN: Zwischen nationaler Souveränität und europäischer Handlungsfähigkeit

Fotos: Steven Lüdtke



Katja Leikert und Franziska Brantner sind im Deutschen Bundestag für die CDU/CSU-Fraktion bzw. für Bündnis 90/Die Grünen zuständig für die Angelegenheiten der Europäischen Union. Im Gespräch mit CIVIS mit Sonde träumen sie von Europa: einem Europa, das Spielball weder der nationalen Interessen seiner Mitgliedstaaten noch der geostrategischen Konkurrenz ist. Und von einer Europäischen Union, in der »Brüssel« nicht »die Anderen« sind, sondern als das Zentrum der euro­päischen Demo­kratie anerkannt wird. Sie wollen den gesamten Artikel lesen? Das können wir sehr gut verstehen. Abonnieren Sie jetzt CIVIS mit Sonde einfach online über www.civis-mit-sonde.de/bestellen Das Abonnement zum Preis von 24,- Euro läuft über ein Jahr und drei Ausgaben. Wenn Sie nicht acht Wochen vor Ende des Abonnements postalisch oder per E-Mail an info@civis-mit-sonde.de kündigen, verlängert sich Ihr Abonnement um ein weiteres Jahr.

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»Eine große Herausforderung für Europa ist, dass wir es noch nicht geschafft haben, geostrategische Fragen und Wirtschaftsfragen zusammenzudenken. Alle anderen globalen Wettbewerber tun das ›ad perfectum‹.« Franziska Brantner

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PERSPEKTIVEN FÜR DIE EUROPÄISCHE WIRTSCHAFT



von Teresa Ritter

Europa fällt im Wettkampf um digitale Technologien hinter die Konkurrenz aus USA und China zurück. Wesentliche politische Weichenstellungen und Zusagen sind dringend erforderlich, um nicht endgültig den Anschluss und damit die digitale Souveränität zu verlieren. Ein Appell an die neue Führungsetage der EU. Der Begriff „Digitale Souveränität" hat in den letzten Monaten politisch wie wirtschaftlich an großer Bedeutung gewonnen. Im Wettkampf um digitale Technologien scheint Europa schon lange hinter China und den USA zurückgefallen zu sein. Der Präsident des Bitkom e.V., Achim Berg, beschreibt die aktuelle Situation so: „Gegenseitige Abhängigkeiten sind akzeptabel, einseitige Abhängigkeiten aber müssen unbedingt vermieden werden“. Nicht zuletzt die Debatte um den Ausbau des 5G-Netzes in Deutschland zeigt, dass dieses Gleichgewicht zunehmend ins Wanken gerät. Wenn es um die Netze der Zukunft geht, ist ein Handeln ohne außereuropäische Unternehmen derzeit nicht denkbar. Denn die aktuellen Marktführer für Netzwerktechnik kommen vor allem aus Asien.

vollständige Kontrolle über gespeicherte und verarbeitete Daten sowie die unabhängige Entscheidung darüber, wer darauf zugreifen darf. Sie umfasst weiterhin die Fähigkeit, technologische Komponenten und Systeme eigenständig zu entwickeln, zu verändern, zu kontrollieren und durch andere Komponenten zu ergänzen." Es geht also zum einen um die Fähigkeit einer Volkswirtschaft, eigenständig innovative Technologien und wettbewerbsfähige Lösungen hervorzubringen. Dies kann dazu beitragen, das Gleichgewicht gegenseitiger Abhängigkeiten zu halten. Zum anderen geht es aber auch um Kompetenzen, die dazu befähigen, die Vertrauenswürdigkeit und Integrität von Technologien und Systemen zu bewerten und gegebenenfalls zu verändern, um sich eben nicht ausschließlich auf eigene Ressourcen verlassen zu müssen. Durch ein Zusammenspiel dieser beider Komponenten kann ein gesundes Verhältnis zu außereuropäischen Technologien und Lösungen gewährleistet werden, welches es Gesellschaften ermöglicht, auch im digitalen Zeitalter souveräne und selbständige Entscheidungen zu treffen.

»Wenn es um die Netze der Zukunft geht, ist ein Handeln ohne außereuropäische Unternehmen derzeit nicht denkbar.«

Angesichts der Leistungs- und Innovationsstärke der großen amerikanischen Tech-Konzerne und vor allem auch der chinesischen Konkurrenz ist das kein einfaches Unterfangen. Deshalb sollte auch der Weckruf von Karl-Heinz Streibich, Präsident der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften, zur Abhängigkeit im Cloud-Computing Gehör finden, zum Nachdenken anregen und die Europäische Union zum Handeln zwingen. Die Antwort kann nur in Europa liegen. Denn die digitale Transformation ist nicht einfach nur eine Herausforderung für die Wirtschaft. Das Silicon Valley, das der ganzen Welt als Vorbild dient, wurde entgegen des Mythos nicht allein von findigen Hightech-Pionieren oder der unsichtbaren Hand des Marktes errichtet. Das Silicon Valley geht zurück auf ein ideales Zusammenspiel von

Erschwerend kommt hinzu, dass die Digitalisierung schon lange kein reines Technologie- und Infra­ strukturthema mehr ist. Sie ist zu einem Querschnittsthema geworden und stellt zunehmend alle Branchen vor neue Herausforderungen. Durch disruptive Technologien nimmt die Geschwindigkeit, in der neue Geschäftsmodelle, Unternehmen und Märkte aus dem Boden sprießen und wieder verschwinden, rasant zu. Sich hier im internationalen Wettbewerb zu behaupten, ist ein schwieriges Unterfangen. Der Digitalgipfel 2018 hat Digitale Souveränität wie folgt definiert: „Digitale Souveränität eines Staates oder einer Organisation umfasst zwingend die

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Ein digital souveränes Europa Der Weg in eine konkurrenzfähige Zukunft

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Wirtschaft, Politik, Forschungs- und Bildungseinrichtungen. Für die digitale Souveränität der EU ist ein innovatives Ökosystem, in dem neue Geschäftsmodelle wachsen und wirken können, deshalb grundlegend. Es geht also vor allem darum, optimale Rahmenbedingungen dafür setzen, dass Unternehmen in kritischen Technologiefeldern eigene Fähigkeiten, Know-How und Lösungen schaffen können. Ein ganzheitlicher Rechtsrahmen, flächendeckende digitale Infrastrukturen, moderne Bildungssysteme und eine optimale Forschungs- und Innovationsförderung gehören hier dazu.

Binnenmarkt mit EU-weit einheitlichen Bedingungen – vom Daten- und Verbraucherschutz bis zur Besteuerung – würde Europa sehr viel näher an die USA und China bringen. Die verantwortlichen EU-Organe sind deshalb angehalten, gemeinsam und koordiniert auf ein regulatorisches Rahmenwerk hinzuarbeiten. Grundvoraussetzung hierfür sind Vertrauen und Sicherheit in IT-Produkte und -Lö­­ sungen, Abbau von Innovationshemmnissen sowie der Aufbau von neuen Technologien und Geschäftsmodellen. Bestenfalls ist dieser Rahmen flexibel und kann mit der Geschwindigkeit der Digitalisierung und dem Wandel von Technologien mithalten.

»Die Erfahrungen der jüngsten digitalen Vergangenheit zeigen: Wer die Standards setzt, bestimmt den Markt!«

Forschungs- und Innovationsförderung auf europäischer Ebene Zur Stärkung der Digitalen Souveränität Europas gehört auch eine effektive Forschungs- und Innovationspolitik. Der forschungspolitische Zweiklang aus der Förderung von Basistechnologien einerseits und ihrer Überführung in marktfähige Anwendungen andererseits muss wieder stärker in den Fokus gerückt werden. In diesem Zusammenhang muss Europa neben einer Innovations- und Gründungsförderung auch die finanziellen und administrativen Hindernisse für digitale Unternehmen abbauen. Gerade Start-ups, die innovative Geschäftsmodelle und Technologien auf den Markt bringen, scheitern häufig am bürokratischen Aufwand. Sowohl die Mitgliedsstaaten als auch etablierte Unternehmen müssen sich deshalb zu digitalen und modernen Partnern von jungen Unternehmen entwickeln.

Hohe Standards als Innovationstreiber Es braucht also ein Zusammenspiel kreativer Lösungen, die ein digitales Ökosystem fördern und dabei europäischen Werten folgen. Zu den Stärken der europäischen Wirtschaft zählen unweigerlich das hohe Niveau an Qualität, Vertrauen, Verlässlichkeit und Sicherheit in Produkten und Lösungen. Diese Stärke sollte Europa nutzen, um Standards für den Weltmarkt zu setzen. Die Erfahrungen der jüngsten digitalen Vergangenheit zeigen: Wer die Standards setzt, bestimmt den Markt! Die Datenschutzgrundverordnung – mit all ihren Schwächen – unterstreicht, dass europaweit verbindliche Standards zum einen die Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Standorts erhöhen können. Ein gesteigertes Nutzervertrauen kann auf der anderen Seite die Nachfrage nach Produkten und Lösungen ankurbeln. Dennoch darf sich dieser Vorteil im globalen Wettbewerb nicht durch einen rein auf Europa fixierten Regulierungsansatz zum Nachteil entwickeln. Wenn es um den Souveränitätsanspruch ihrer Systeme und Infrastrukturen geht, muss die EU gleichzeitig von allen Herstellern die gleichen produkt- und angebotsspezifischen Prüfkriterien, Regeln und Verfahren einfordern – unabhängig von Produkt, Angebot und Herkunft.

»Gerade Start-ups, die innovative Geschäftsmodelle und Technologien auf den Markt bringen, scheitern häufig am bürokratischen Aufwand.« Technologien, die kritisch für die Digitale Souveränität der Europäischen Union sind, sollten bei einer umfassenden Förderung besonders beachtet werden. Leider fehlt bis heute die politische Entscheidung darüber, welche Technologien tatsächlich hierunter fallen. Ein kleiner, aber wichtiger Schritt ist das Projekt EuroHPC, in dem die EU gemeinsam mit europäischen Mitgliedsstaaten mindestens eine Milliarde Euro in die Entwicklung eines hochmodernen Ökosystems für Supercomputing investiert.

Ein echter digitaler Binnenmarkt Die Fragmentierung des europäischen Marktes ist der größte strukturelle Nachteil der EU gegenüber den USA und China. Ein echter digitaler

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Europa als Ökosystem für digitale Technologien, Geschäftsmodelle und Unternehmen

Die EU scheint also erkannt zu haben, dass die Bündelung von Ressourcen und Fähigkeiten notwendig ist, um den amerikanischen und asiatischen Konkurrenten die Stirn zu bieten. Weitere solcher EU-weiter Projekte müssen folgen.

Ein digital souveränes Europa kann es nur geben, wenn die Stärken der dort ansässigen Unternehmen erkannt und dementsprechend gefördert werden. Europa hat den Anspruch, das digitale Zeitalter mitzugestalten und zu einem Ökosystem für digitale Technologien, Geschäftsmodelle und Unternehmen zu werden – trotz oder vielleicht gerade wegen hoher Standards. Hierfür braucht es aber endlich eine politische Entscheidung, die den Weg zu einem echten digitalen Binnenmarkt ebnet, innovative Unternehmen fördert, Fachkräfte ausbildet und „Ja“ sagt zu wirklich großen Investitionen. Deshalb ist es ein gutes Zeichen, dass sich die EU-Staaten Anfang Juni auf die „Zukunft eines hoch digitalisierten Europas nach 2020“ geeinigt haben. Die verantwortlichen Fachminister der Mitgliedsstaaten sprechen sich in dem Papier für die Förderung von Innovationen und Schlüsseltechnologien aus. Es wurde erkannt, dass gerade in hochinnovativen Bereichen keine Zeit mehr verloren werden darf.

»Ohne die klugen Köpfe, die Innovationen vorantreiben und umsetzen, wird die EU den Kampf um digitale Technologien nicht gewinnen können.« Fachkräfte als Motor von Innovationen Die Leistungsfähigkeit unserer Wirtschaft hängt aber nicht alleine von einer effektiven Digitalpolitik oder großen Fördersummen ab. Ohne die klugen Köpfe, die Innovationen vorantreiben und umsetzen, wird die EU den Kampf um digitale Technologien nicht gewinnen können. Darüber hinaus werden Talente benötigt, um die Vertrauenswürdigkeit und Integrität von Technologien und Systemen auf dem Weltmarkt bewerten und gegebenenfalls verändern zu können. Deshalb muss schon im jungen Alter der souveräne Umgang mit Daten und vernetzten Geräten gefördert werden. Spannende Studiengänge, Aus- und Fortbildungen sowie die Förderung von Quereinsteigern können dabei helfen, Fachkräfte in der Europäischen Union auszubilden.

Nun müssen auch die anderen EU-Institutionen bei diesem Vorhaben mitziehen. Zumindest die neue Kommissionspräsidentin, Ursula von der Leyen, scheint die Digitalisierung als strategisches Ziel erkannt zu haben. In ihrer „Agenda für Europa“ formuliert sie digitalpolitische Prioritäten für die Zeit ihrer Präsidentschaft. Durch mehr Investitionen in Zukunftstechnologien wie Blockchain, High Performance Computing, Quantencomputing und Algorithmen will sie die Digitale Souveränität der EU stärken und das ins Wanken geratene Gleichgewicht an technologischen Abhängigkeiten wieder einfangen. Bleibt zu hoffen, dass es sich nicht um Lippenbekenntnisse handelt, sondern bald Taten folgen. Die Digitale Souveränität sollte für die neue EU-Kommission höchste Priorität haben.

Aber was nutzt die beste Ausbildung, wenn wir es nicht schaffen, unsere Talente zu halten? Für junge Experten ist es wichtig, sich weiterzubilden und von ihrem aktuellen Arbeitgeber etwas lernen zu können. Ein flexibles und attraktives Arbeitsumfeld ist beim Kampf um junge Talente von größter Bedeutung.

Teresa Ritter betreut als Bereichsleiterin für Sicherheitspolitik die nationale und europäische Cybersicherheitspolitik im Bitkom, dem größten Digitalverband Deutschlands. Zuvor war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Nina Warken MdB. Während ihres VWL-Studiums an der Freien Universität Berlin arbeitete sie als studentische Mitarbeiterin beim Bundestagsabgeordneten Roderich Kiesewetter.

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von Henrik Wärner

Effizienz und Ökologie in der Landwirtschaft Zur Reform der europäischen Agrarpolitik

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In keinem anderen politischen Feld hat die Europäische Union mehr Kompetenzen als in der Agrarpolitik und wohl nirgends ist ihre Politik umstrittener, insbesondere dann, wenn es um Agrarsubventionen geht. Angesichts der Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik ist es geboten, nicht nur einen Ansatz zu finden, bei dem Ökologie, Effizienz und das Soziale in Einklang gebracht werden. Es ist auch an der Zeit, dabei für klassisch christdemokratische Werte einzustehen und ideologischen Irrwegen entgegenzutreten.

In keinem anderen politischen Feld hat die EU mehr Kompetenzen, als in der Agrarpolitik und wohl nirgends ist ihre Politik umstrittener. Als sich die Staaten der EWG 1957 in den Römischen Verträgen auf eine gemeinsame Agrarpolitik (GAP) einigten, waren die Ziele vor allem die sichere Ernährung der Bevölkerung, Preisgarantien für Landwirte gemessen an ihrer Produktivität und ein freier Handel.

„Geiz-ist-geil-Mentalität“ und einem Oligopol im Lebensmitteleinzelhandel ist eine effiziente und ökologisch sinnvolle Landwirtschaft ohne Agrarsubventionen aus Europa nicht realistisch. Während der Bundesbürger für Wohnen bis zu 36 Prozent seines Einkommens ausgibt, verharren die Ausgaben für Lebensmittel bei gerade einmal 14 Prozent des Nettoeinkommens – Getränke und Tabakwaren inbegriffen. Solange sich an der Bereitschaft, für Lebensmittel mehr zu zahlen, nichts ändert, sind aber nicht nur unsere Landwirte auf Subventionen angewiesen und profitieren von diesen. Gerade die im internationalen Vergleich deutlich höheren, europäischen Standards in der Produktion und im Verbraucherschutz – die sowohl der Umwelt wie dem Kunden zu Gute kommen – wären ohne Fördergelder der Europäischen Union nicht abbildbar.

60 Jahre später sind Subventionen im Rahmen der GAP weitestgehend von der Produktivität entkoppelt und die gemeinsame Agrarpolitik vor allem ein politisches Werkzeug, um Umwelt-, Tierschutz- und Qualitätsstandards zu setzen, strukturschwache und ländliche Regionen zu stärken sowie den agrarwirtschaftlichen Mittelstand zu erhalten. Um all dies zu leisten, werden allein die deutsche Landwirtschaft und der ländliche Raum aktuell mit 6,2 Milliarden gefördert. Derzeit verhandeln die Landwirtschaftsminister der Europäischen Union über eine Reform der GAP, die 2020 beschlossen werden soll.

Einer Halbwahrheit über die Europäische Agrarpolitik, die sich hartnäckig hält, muss hier entgegengetreten werden: Durch Exportsubventionen für Lebensmittel mache die EU afrikanische Märkte kaputt. Fakt ist: diese Subventionen wurden bereits 2013 abgeschafft. Deutsche Landwirte messen sich also mit dem Weltpreisniveau. Zugleich nimmt Deutschland auch die eigene Verantwortung für den Aufbau afrikanischer Märkte für Agrarprodukte sowie die Ausbildung von Landwirten ernst, damit letztere durch moderne Technik perspektivisch ihren Kontinent selbst ernähren können.

»In einer Gesellschaft mit einer ›Geiz-ist-geil-Mentalität‹ und einem Oligopol im Lebensmitteleinzelhandel ist der Verzicht auf Agrarsubventionen nicht realistisch.« Der Sinn und Zweck europäischer Agrarsubventionen

Balance und Bedacht statt ökologischer Ideologie Gerade mit Blick auf die vielfältigen Herausforderungen und vorhandene Zielkonflikte im Agrarbereich gilt es, einen klugen und ausgewogenen Ansatz bei den anstehenden Reformen zu finden.

Eines vorweg: Ich selbst bin kein Freund der Agrarsubventionen und würde mir wünschen, dass diese nicht nötig wären. In einer Gesellschaft mit einer

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Wie ein solcher Ansatz nicht aussehen sollte, sehen wir gegenwärtig in Bayern, wo wir darüber diskutieren, unsere Landwirtschaft extensiver auszurichten, das heißt, den Kapital- und Arbeitseinsatz im Hinblick etwa auf Düngemittel, Pestizide und Maschinen zu verringern. Bayern hat dementsprechend das Ziel ausgegeben, 30 Prozent der Fläche nach Ökomaßstäben bewirtschaften zu wollen.

häufig schlechter zu bewerten ist als konventionelle Tierhaltung. Nehmen wir das Beispiel einer Milchkuh: Diese wird konventionell wie biologisch über rund zwei Jahre aufgezogen. Nachdem sie das erste Mal ein Kalb geboren hat, produziert sie dann Milch – die Bio-Kuh jedoch naturgemäß weniger als die konventionell gehaltene. Neben der Energie für die Milch muss die Kuh auch ihren Erhaltungsbedarf decken, also die Energiemenge, die sie für den Stoffwechsel, die Körperwärme usw. benötigt. Dieser Wert ist wiederum bei beiden identisch. Rechnet man also den CO2- und vor allem auch den Methanausstoß je Liter Milch herunter, schneidet die biologisch gehaltene Kuh deutlich schlechter ab.

»Der weit verbreitete Gedanke, Deutschland würde enorme Überschüsse an Lebensmitteln produzieren, ist falsch.«

Im Pflanzenbau gilt ähnliches: Auf einem Feld mit Weizen ist der Ertrag auf einem konventionellen Acker höher, entsprechend wurde durch pflanzliche Veratmung mehr CO2 gebunden. Allerdings erreicht der Ackerbau nach Ökoverordnung eine höhere Biodiversität. Biologische Landwirtschaft ist wichtig und hat ihre Legitimation. Wir müssen aber transparent sein und sowohl die Vor- als auch die Nachteile offenlegen.

Dies klingt zwar aufs Erste gut. Ich halte es dennoch für grundfalsch und nicht durchdacht. Wer Bio will, der kann Bio an der Ladentheke erwerben und damit als Kunde Einfluss auf die Flächenverteilung nehmen. Dies wäre ein marktwirtschaftlicher und vernünftiger Ansatz. Ein künstlicher und planwirtschaftlicher Eingriff in die landwirtschaftliche Produktion dagegen führt letztlich dazu, dass auf den 30 Prozent „Ökofläche“ weniger produziert wird, ohne dass jemand dafür zahlt und gleichzeitig die Kosten für unsere Extensivierung externalisiert werden. Oder etwas zugespitzter formuliert: Unsere Extensivierung findet auf dem Rücken anderer statt und streng genommen auch auf dem der hungernden Weltbevölkerung.

»Wir müssen transparent sein und sowohl die Vor- als auch die Nachteile der biologischen Landwirtschaft offenlegen.«

Der weit verbreitete Gedanke, Deutschland würde enorme Überschüsse an Lebensmitteln produzieren, so dass man auf einen Teil der intensiven landwirtschaftlichen Produktion zugunsten ökologischer Überlegungen verzichten könne, ist nämlich falsch. Zwar ist es richtig, dass Deutschland unter anderem viele Fleischprodukte erzeugt, die exportiert werden. Gleichzeitig ist aber hierbei anzumerken, dass es vielfach Fleischprodukte sind, die auf dem deutschen Markt eher unbeliebt sind. Dies führt dazu, dass Deutschland insbesondere Edelteile, wie Filet und Roastbeef, importiert und lediglich einen Selbstversorgungsgrad bei landwirtschaftlichen Produkten von gerade einmal 90 Prozent erreicht. Unser freiwilliger Verzicht führt also letztlich dazu, dass Lebensmittel importiert werden, die Nachfrage auf dem Weltmarkt und damit auch die Preise steigen.

Darum ist eine unverhältnismäßige Förderung der ökologischen Landwirtschaft in der GAP nicht zielführend. Besser wäre die Honorierung bestimmter Umweltmaßnahmen – gemessen an ihrem Wert für die Umwelt – als die Förderung einer Bewirtschaftungsform. Unser Ziel muss es sein, Effizienz und Ökologie miteinander zu verbinden. Nachhaltige und effiziente Landwirtschaft: Die technische Dimension Statt ideologiegetriebenen Verzichts sind es gerade neue technologische Möglichkeiten, die den Schlüssel für das Tor zu einer effizienten und ökologischen Landwirtschaft bieten. Gerade die Digitalisierung und das sogenannte Precision Farming bieten hier zahlreiche Ansätze, die wir weiterverfolgen und fördern müssen. So können wir zukünftig mit modernen Maschinen Gülle und Dünger bedarfsgerecht und auf den Quadratmeter genau ausbringen und

Gleichzeitig gehört zur Wahrheit über biologische Tierhaltung, dass diese unter Klimagesichtspunkten

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»Leider verschließen wir uns aus ideologischen Gründen den Errungenschaften gegen Missernten und Hunger in der Welt. Wir brauchen mehr Mut zur Technologieoffenheit!«

vermeiden so Auswaschungen in das Grundwasser oder Ausgasung in die Atmosphäre. Durch Künstliche Intelligenz kann eine Maschine erkennen, welche Pflanze auf einem Feld gewollt ist und welche ein Unkraut ist. Zielgenau kann diese dann chemisch oder physikalisch beseitigt werden. Die Entlastung für die Umwelt wäre enorm. Diese Maschinen sind derzeit aber noch so teuer, dass ihre Anschaffung für die meisten Betriebe illusorisch ist. Die Agrarpolitik muss deshalb jene Betriebe fördern, die durch hohe Investitionen unsere Umwelt schonen.

großen Mehrwert generiert. Brüssel entscheidet also vom Schreibtisch aus, welche Maßnahme welchen ökologischen Mehrwert hat. Ich bin der Meinung, dass unsere Landwirte viel besser entscheiden können, welche Maßnahme auf ihre Fläche passt – die Subventionen sollten sich also am Erfolg einer Maßnahme bemessen, nicht an der Art.

»Landwirtschaft und Forst sollten auch davon profitieren, wenn sie in ihren Kulturen oder durch Anreicherung von Humus im Boden CO2 binden und damit unsere Umwelt entlasten.«

Durch moderne Pflanzenzüchtung haben wir die Möglichkeit nicht nur ökologischer zu werden, sondern auch Klimaereignisse besser zu überstehen. Bis die Züchtung dies schafft, werden aber wohl noch viele Jahrzehnte vergehen. Durch Gentechnik oder neue Methoden wie CRISPR/CAS, oft auch als Genschere bezeichnet, könnten wir diese Prozesse um ein Vielfaches beschleunigen.

So können auch langfristige Projekte besser angegangen werden und die Landwirte haben einen eigenen Gestaltungsraum. Diese Freiheit wird sicherlich auch zu einer höheren Bereitschaft führen, an nachhaltigen und umweltschonenden Maßnahmen teilzunehmen. Entgegen planwirtschaftlichen Steuerungsansätzen bedarf es – ganz im Sinne christ­ demokratischer Werte – subsidiärer Ansätze, die den Bauern, seine Kompetenz und seine Verantwortung stärken.

Leider verschließen wir uns aus ideologischen Gründen diesen Errungenschaften gegen Missernten und Hunger in der Welt. Wir brauchen mehr Mut zur Technologieoffenheit! Saatgutkonzerne von internationalem Rang haben uns schon lange den Rücken gekehrt und forschen im Ausland, wir müssen unbedingt gegensteuern und dürfen uns der Forschung nicht verschließen. Nachhaltige und effiziente Landwirtschaft: Die ordnungspolitische Dimension Subsidiarität und Instrumente der Sozialen Marktwirtschaft

Der Zertifikatehandel von CO2 ist in aller Munde und aus meiner Sicht – gerade als ein marktwirtschaftliches Instrument – ein richtiger Ansatz, um unsere Produktion klimaneutraler zu machen. Landwirtschaft und Forst sollten aber auch davon profitieren, wenn sie in ihren Kulturen oder durch Anreicherung von Humus im Boden CO2 binden und damit unsere Umwelt entlasten.

Die Subventionierung von Umweltmaßnahmen ist derzeit an die Maßnahme an sich gekoppelt, der Landwirt bekommt Geld für das Anlegen einer Brachfläche – nicht aber dafür, ob diese Fläche einen

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Darum muss bei der Ausrichtung der Agrarpolitik der Ansatz verfolgt werden, nicht nur die Emission zu verringern, sondern auch die Bindung und den Umbau von Pflanzen in der Photosynthese zu erhöhen. Wer also CO2 aus der Atmosphäre nimmt und somit faktisch Zertifikate schafft, muss diese auch auf dem Markt verkaufen können. Damit sind Landund Forstwirtschaft ein entscheidender Schlüssel zur Rettung des Klimas. Gleichzeitig schafft man Anreize, weniger ertragreiche Dauergrünlandflächen zu erhalten. Diese haben durch ihr dichtes Wurzelsystem eine großes Bindungsvermögen, sind häufig aber wirtschaftlich weniger interessant als Ackerland.

Grundwasserwerte und zu Tierquälern. Dazu das frühe Aufstehen und in Spitzenzeiten über 80 Wochenstunden Arbeit bei Wind und Wetter. Alle paar Jahre ändert die Politik zusätzlich die Rahmenbedingungen für das Düngen, die Tierhaltung, oder die Bewirtschaftungsart. Der Stundenlohn des selbstständigen Landwirtes mit allen Risiken liegt dabei oft nur geringfügig über dem Mindestlohn. Warum also sollte ein junger Mensch gerne Landwirt werden? Um die Motivation zu steigern ist der Junglandwirtebonus der GAP wichtig und muss ausgebaut werden. Junge Berufseinsteiger müssen unterstützt werden, um sich für die Zukunft gut aufzustellen. Außerdem brauchen sie politische Verlässlichkeit. Wer einen Stall baut, der will sich sicher sein können, dass dieser auch in zehn Jahren noch den gesetzlichen Ansprüchen genügt. Junge Landwirte wollen klare Ansagen und sind durchaus bereit, an einer Agrarwende mitzuwirken. Dafür muss die Politik aber garantieren, dass ihr Wort auch für die Zukunft gilt.

»Grüne Politik macht Landwirte zum Spielball für politische Imagegewinne.« Landwirtschaft braucht Landwirte: Ein Ruf nach verlässlicher Politik und gesellschaftlicher Offenheit

Ein Wunsch zum Schluss Der Beruf des Landwirtes gilt jenseits der Bauernhofromantik nicht gerade als Traumberuf. Das gesellschaftliche Ansehen für diejenigen, die uns alle ernähren, egal ob Veganer oder Bratwurstliebhaber, lässt zu wünschen übrig. Grüne Politik macht Landwirte zum Spielball für politische Imagegewinne. Man macht sie zu den Schuldigen für den Klimawandel, multiresistente Keime, schlechte

Schließlich wünsche ich mir von uns Verbrauchern, dass wir mehr Verständnis für unsere Landwirte haben, versuchen beide Seiten der Medaille zu betrachten und am Ende auch an der Ladentheke Wort halten, statt dem billigsten Angebot hinterher zu jagen. Dann können wir hoffentlich irgendwann auf den größten Teil der Agrarsubventionen verzichten.

Henrik Wärner ist aufgewachsen im Landkreis Cuxhaven, Abitur 2012, ab 2012 Studium der Agrarwissenschaften, jetzt im Master an der Universität Göttingen, seit 2017 Bundesvorsitzender des RCDS und Mitglied im CDU Bundesvorstand. Zuvor Landesvorsitzender in Niedersachsen. Außerdem Mitglied im Rat der Gemeinde Schiffdorf.

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von Alfred Büttner

Mit der Europäischen Union dürfte jeder seine ganz eigenen Gedanken und Assoziationen verbinden: Es fallen positive Begriffe wie Friedens- oder Zukunftsprojekt. Gleichzeitig hört man aber auch oft negative Schlagworte wie „Bürokratiemonster“ oder „Raumschiff Brüssel“. Was Alfred Büttner als langjährigen Beobachter des Brüsseler Politikbetriebs mit der europäischen Hauptstadt verbindet, hat er für CIVIS mit Sonde aufgeschrieben.

Wer die Nachrichten aufmerksam verfolgt, der merkt rasch, welche weitreichenden Auswirkungen die Entscheidungen, die in Brüssel und Straßburg getroffen werden, auf uns haben. Besonders in diesem Jahr, dem Jahr der Europawahlen und der Neukonstituierung des Europäischen Parlaments und der Europäischen Kommission, ist die Europäische Union fester Bestandteil der medialen nationalen Berichterstattung.

deutlich gedämpfter. Die Finanz- und Eurokrise war ab 2010 die bestimmende Frage. Spätestens ab 2015 kam das Thema Migration hinzu. Seit 2016 diskutieren wir über den EU-Austritt Großbritanniens und dessen Folgen. Hinzu treten drängende Fragen wie der Umgang mit dem Klimawandel, die Sicherung des sozialen Zusammenhalts innerhalb der europäischen Gesellschaft, die Folgen der Digitalisierung sowie der Schutz der EU-Außengrenzen.

Im September 2001, also vor achtzehn Jahren, kam ich zum ersten Mal nach Brüssel. Seitdem pendele ich zwischen Deutschland, Frankreich und Belgien. Mehr als siebzig Mal bin ich nach Straßburg gefahren, um dort die Plenartagungen des Europäischen Parlaments zu verfolgen. Über die Jahre ist die Europäische Union ein wichtiger und bestimmender Teil meines beruflichen wie auch privaten Lebens geworden. Im Alltag der EU-Gesetzgebung, zwischen Verordnungsentwürfen und Richtlinienvorschlägen – wie etwa der „Richtlinie (EU) 2018/958 über eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vor Erlass neuer Berufsreglementierungen“, um nur ein wohl­klingendes Beispiel jüngster europäischer Gesetzgebung zu nennen, das mich in den vergangenen Monaten besonders beschäftigt hat – darf man den Blick auf das große Ganze nicht verlieren.

»Die Zustimmung für den europäischen Integrationsprozess ist in den letzten Jahren gesunken.« All diese Entwicklungen bleiben nicht folgenlos. Glaubt man den Umfragen, so ist die Zustimmung für den europäischen Integrationsprozess in den letzten Jahren gesunken. Ein Beleg dafür mag das Ergebnis der Europawahlen 2019 mit einem Erstarken europakritischer Parteien sein. Die Europäische Union wird aus unterschiedlichen Gründen in Frage gestellt. Divergierende Interessen der Mitgliedstaaten sind in einer angewachsenen Union von 27 oder 28 Mitgliedstaaten ungleich schwerer auszubalancieren als früher. Der kleinste gemeinsame Nenner reicht nicht mehr aus, um Entscheidungen für die Zukunft zu fällen. Innere und äußere Kräfte haben ein Interesse an einer schwachen EU. Die Entscheidungen, die in Brüssel und Straßburg getroffen werden, erscheinen zudem intransparent und lassen sich auf den ersten Blick von außen nur schwer nachvollziehen.

Schaue ich zurück, so ist seit meiner Ankunft in Brüssel viel in Europa passiert: Im Januar 2002 wurde der Euro als Zahlungsmittel eingeführt. 2004 erfolgte unter großer Euphorie der EU-Beitritt der mittelund osteuropäischen Staaten. Danach wandelte sich das Bild. 2005 lehnten Niederländer und Franzosen eine Verfassung für Europa ab. Die Freude über den Beitritt Rumäniens und Bulgariens 2007 war schon

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Denke ich an Europa... Beobachtungen aus dem BrĂźsseler Politikbetrieb

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Nationale Politiker bedienen sich der EU, um die Verantwortung für kritische Entscheidungen an eine höhere Ebene zu schieben, verschweigen dabei aber, dass die eigene Regierung und die eigenen Europaabgeordneten an den Brüsseler Entscheidungsprozessen beteiligt waren und die dort getroffenen Entscheidungen zu verantworten haben.

Kritik an der EU kann man schnell äußern. Man sollte sich die Frage stellen, was man besser machen kann. Hier stehen ganz unterschiedliche Modelle zur Diskussion: die Reduzierung auf Kernthemen mit einem europäischen Mehrwert etwa, ein Europa der zwei Geschwindigkeiten oder eine stärkere Integration.

An dieser Stelle muss man anmerken, dass die Diskussionen auf europäischer Ebene nicht im luftleeren Raum geführt werden. Sie sind in aller Regel das Ergebnis nationaler Vorstöße, die bestimmte Probleme auf die europäische Ebene tragen, um hier Lösungen zu finden, die einzelstaatlich nicht möglich sind. Brüssel ist immer auch ein Spiegelbild nationaler Debatten.

Eine Weiterentwicklung der Europäischen Union ist auf Dauer nur durch eine Stärkung des Demokratieprinzips und damit des Europäischen Parlaments möglich. Wichtig wäre der konsequente Übergang zu Mehrheitsentscheidungen in allen Politikbereichen. Die Bürgerinnen und Bürger müssen sehen, dass ihre Wahlentscheidung von Bedeutung ist und zu Veränderungen führt. In diesem Zusammenhang war das interinstitutionelle Tauziehen um den Spitzenkandidaten nicht hilfreich.

Trotz aller Krisen steht die EU nicht am Abgrund, wie manche negativen Kräfte es gerne prophezeien. Für mich liegt der Grund dafür in der Erkenntnis, dass wir als Europäer in einer sich wandelnden globalen Welt nur dann bestehen können, wenn wir gemeinsam handeln. Heute stellen sich Fragen, die nicht mehr lokal oder national gelöst werden können.

Allerdings ist zu bedenken, dass das Spitzenkandidatenprinzip so nicht in den EU-Verträgen verankert ist und aus dem Europäischen Parlament gegenüber den Staats- und Regierungschefs nicht das klare Signal kam, dass es Manfred Weber als Wahlsieger mit breiter Mehrheit unterstützen wird. Auf Dauer lässt sich dieser Widerspruch um den Spitzenkandidaten nur lösen, wenn das Prinzip rechtlich verbindlich verankert wird und damit nicht immer wieder dem guten Willen aller Beteiligten „auszuliefern“.

Ein weiterer Grund dafür mag nicht zuletzt die Diskussion um den Brexit sein. Er hat vor Augen geführt, welche Vorteile die Mitgliedschaft in der Europäischen Union mit sich bringt; der gemeinsame Binnenmarkt und die Personenfreizügigkeit sind nicht selbstverständlich. Auch die hohe Wahlbeteiligung bei der Europawahl dieses Jahres deutet auf ein großes Interesse der Bürgerinnen und Bürger an Europa hin.

Ein wichtiger Schritt in Richtung mehr Demokratie wäre es, dem Europäischen Parlament wie den nationalen Parlamenten ein echtes Initiativrecht für die Gesetzgebung einzuräumen. Die frisch gewählte Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, hat in ihren unmittelbar vor der Wahl veröffentlichten politischen Leitlinien für die künftige Europäische Kommission deutlich gemacht, dass sie ein solches Initiativrecht auf den Weg bringen möchte. Es bleibt abzuwarten, wie die EU-Mitgliedstaaten mit diesem Vorstoß umgehen werden. Die Chance, die sich hier bietet, sollte nicht vertan werden.

»Eine Weiterentwicklung der Europäischen Union ist auf Dauer nur durch eine Stärkung des Demokratieprinzips möglich.« Krisen und Umbrüche bieten die Chance zur Neuorientierung. Der scheidende EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat im März 2017 ein Weißbuch zur Zukunft Europas veröffentlicht, in dem fünf Szenarien vorgestellt werden, wie die EU in der Zukunft aussehen könnte. Mein persönliches Empfinden war, dass die damit verbundene Debatte mit weit weniger Interesse geführt wurde als erhofft und vermutet.

Es steht viel auf dem Spiel. Meine Zeit in Brüssel hat mir gezeigt, dass die Unterschiede zwischen den Menschen, die in der Europäischen Union leben, geringer sind, als angenommen. Wir haben trotz unterschiedlicher Sprachen, die wir sprechen, eine gemeinsame Herkunft, Kultur und Geschichte. Dies verbindet uns – und dies sollten wir nutzen, um unsere Zukunft gemeinsam zu gestalten.

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»Nationale Politiker bedienen sich der EU, um die Verantwortung für kritische Entscheidungen an eine höhere Ebene zu schieben.«

Dr. Alfred Büttner ist Jahrgang 1972 und gebürtiger Franke, lebt aber seit 18 Jahren in Brüssel. Als Büroleiter einer Europaabgeordneten hat er über lange Jahre den Brüsseler und Straßburger Parlamentsbetrieb aus nächster Nähe beobachtet. Der pro­ movierte Jurist leitet seit 2009 das Brüsseler Büro der Bundeszahnärztekammer. Er ist verheiratet und Vater dreier Kinder.

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ENGAGIERTE WAHLKÄMPFER BRAUCHT DAS LAND! 2019 ist ein Super-Wahljahr. Am 26. Mai 2019 wurde in Deutschland nicht nur das Europaparlament neu gewählt, in etlichen Bundesländern fanden auch Kommunalwahlen und in Bremen die Bürgerschaftswahl statt. Im Herbst folgen die Landtagswahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen. Die Parteien sind somit in diesem Jahr besonders auf das Engagement ihrer Wahlkämpfer angewiesen. Die Kandidatenlisten müssen gefüllt, der Wahlkampf strategisch ausgerichtet, am Wahlkampfstand bei Wind und Wetter die Bürger überzeugt werden und, und, und. Viele Parteimitglieder sind insbesondere im Wahlkampfendspurt täglich unterwegs. Sie tun dies nicht für Posten oder Ämter, sondern aus innerer Überzeugung. Ihnen liegen Europa und ihre Heimat am Herzen. CIVIS mit Sonde hat nach der Europawahl und kurz vor dem Wahlkampfauftakt in Sachsen mit Susanne Zels und Paul Schäfer gesprochen. Susanne kandidierte bei der Europawahl, Paul war im Wahlkampfteam für Ministerpräsident Michael Kretschmer tätig. 46


Susanne Zels CIVIS: Susanne, Du hast für die CDU bei der Europawahl auf Listenplatz 3 kandidiert. Wie bist Du dazu gekommen?

Susanne kandidierte 2019 auf Listenplatz 3 der CDU Berlin für das Europäische Parlament. Sie arbeitet beim Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft als Projektmanagerin und promoviert zur europäischen Strategie zum Schutz kritischer Infrastrukturen. Als Co-Präsidentin von Polis180, einem Berliner ThinkTank für Außen- und Europapolitik, engagiert sie sich außerdem zivilgesellschaftlich für eine konstruktive Europapolitik.

Susanne: Ich habe mich schon in meinem Studium in Geschichte, Politikwissenschaften und internationalen Beziehungen intensiv mit der europäischen Integration befasst und habe auch in meinem Job viel mit Europa zu tun. Als der Schengen-Raum 2015

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CIVIS: Wo bist Du bei den Bürgergesprächen argumentativ an Deine Grenzen gestoßen?

während der Flüchtlingskrise in Frage gestellt wurde, war das ein Weckruf für mich. Ich habe erkannt, dass die europäischen Freiheiten keine Selbstverständlichkeit sind und ich mich für diese einsetzen muss. Daraufhin bin ich Polis180, einem Grassroots-Thinktank für Außen- und Europapolitik, beigetreten und habe mich auch bei der Jungen Union mit Veranstaltungen und Anträgen verstärkt zur Europapolitik eingebracht. Als mein JU-Landesvorsitzender mich dann 2018 darauf ansprach, dass er mich als JU-Spitzenkandidatin für die CDU Landesliste zur Europawahl vorschlagen möchte, war es meine Chance direkt im Gespräch mit den Bürgern für Europa zu streiten und um das Vertrauen der Wähler für die EU zu werben.

Susanne: Nach vielen Jahren des Stillstands bei zentralen Herausforderungen, wie beispielsweise der Migrationspolitik, war es herausfordernd, um das Vertrauen der Wähler zu werben und sie zu überzeugen, dass wir in der nächsten Legislaturperiode Lösungen finden werden. Die Europäischen Verträge müssen angepasst werden, sodass wir Entscheidungen in der EU verstärkt mit qualifizierter Mehrheit treffen können. Da Europa aktuell in vielen Fragen uneins ist, glaubt jedoch niemand so recht an eine Anpassung der Verträge. Trotzdem Lösungen anzubieten und für diese zu argumentieren, war nicht immer leicht. CIVIS: Wo bist Du bei den Bürgergesprächen argumentativ an Deine Grenzen gestoßen? Susanne: Ich habe vielerorts den Eindruck gewonnen, dass wir das Vertrauen in uns als „die Europapartei“ verspielt haben. Der Union fehlt aktuell eine klare Antwort auf die Frage, wo wir mit der europäischen Gemeinschaft hinmöchten. Obwohl ich die Vorstöße des französischen Präsidenten Emmanuel Macron zu Reformen der EU an vielen Stellen als primär durch nationale Interessen geleitet verstehe, hat er zumindest Vorschläge unterbreitet und einen Willen zur Lösung bestehender Probleme bewiesen.

CIVIS: Was war Dein tollstes Erlebnis beim Häuserwahlkampf?

»Der Union fehlt aktuell eine klare Antwort auf die Frage, wo wir mit der europäischen Gemeinschaft hinmöchten.«

Susanne: Wir haben vor der Europawahl keinen Häuserwahlkampf gemacht, sondern uns stattdessen auf eine starke Präsenz bei Straßenfesten, in Einkaufsstraßen und anderen belebten Orten im Wahlkreis konzentriert. Dabei hat mich insbesondere gefreut, wie frühzeitig sich eine hohe Wahlbeteiligung abgezeichnet hat. Sehr viele Wähler haben bereits vor dem 26. Mai per Briefwahl gewählt. Das war für mich ein großer Ansporn.

Deutschland und die CDU haben währenddessen häufig mit Ablehnung reagiert und dabei versäumt, den eigenen Gestaltungswillen aufzuzeigen. In erster Linie müssen wir also klare Worte dafür finden, wie wir die Zusammenarbeit in Europa künftig gestalten wollen, und dabei über die aktuellen Brandherde hinaus denken.

CIVIS: Was ist aus Deiner Perspektive wichtiger für Wahlkämpfer: Wahlplakate kleben oder Engagement in den sozialen Medien? Susanne: Wahlplakate sind immer noch wichtig, um alle Bürger darauf hinzuweisen, dass gewählt wird und wer zur Wahl steht. Ich habe mich jedoch mit der Jungen Union Berlin auf Social-Media-Aktivitäten konzentriert. Insbesondere die jüngeren Generationen kann man online besser mit kreativen Formaten erreichen.

CIVIS: Wie siehst Du demgegenüber die Herausforderungen der Wahlkämpfer in Sachsen? Susanne: Auch in Sachsen sehe ich als größtes Problem den Vertrauensverlust zunehmend großer Teile der Bürger in etablierte Parteien. Die Menschen

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in Sachsen müssen genauso wie in Europa darauf vertrauen, dass wir mit unserer Politik niemanden zurücklassen. Unser Ziel muss sein, dass der ländliche Raum genauso von Digitalisierung und Globalisierung profitieren wird, wie es die Metropolregionen tun. Beides müssen wir glaubhaft vermitteln.

Paul: Da gibt es viele. Ich denke gern daran zurück, als eine ältere Frau nach einem Gespräch an ihrem Gartenzaun spontan mit losgezogen ist und auch zur Haustürwahlkämpferin geworden ist. Und sie hat das richtig gut gemacht!

CIVIS: Wie kann man andere für parteipolitisches Engagement – das ja Engagement für unsere Demokratie ist – begeistern?

»Als politische Kommunikatoren leben wir sehr oft in unserer Blase. Viele glauben, online jeden erreichen zu können.«

Susanne: Insbesondere in den Schulen und bei jüngeren Wählern hatte ich den Eindruck, dass wenig Verständnis für Parteien und deren essentielle Rolle für unsere Demokratie besteht. Auch außerhalb von Wahlkampfzeiten sollte es Parteien möglich sein, in Schulen die eigene Arbeit zu erklären und für die Mitarbeit zu werben. Darüber hinaus sollten Parteien von Vereinen und NGOs lernen, wie man die Mitarbeit attraktiver gestalten kann.

CIVIS: Was ist aus Deiner Perspektive wichtiger für Wahlkämpfer: Wahlplakate kleben oder Engagement in den sozialen Medien? Paul: Ein Wahlkampf geht heute weder ohne das eine noch das andere. Als politische Kommunikatoren leben wir sehr oft in unserer Blase. Viele glauben, online jeden erreichen zu können. Natürlich muss die Öffentlichkeitsarbeit einer Partei – egal ob im Wahlkampf oder nicht – online professionell und modern sein. Aber ohne die klassischen Elemente wie Plakate schafft man keine breite Aufmerksamkeit, die jeden Wähler erreicht.

Paul Schäfer Paul war Teil des Wahlkampfteams von Ministerpräsident Michael Kretschmer und mitverantwortlich für die Bereiche Social Media und Campaigning. Der Vogtländer engagiert sich seit seinem 18. Lebensjahr in der Jungen Union. Seit 2017 ist er Landespressesprecher der JU Sachsen. Der Lehramtsstudent steht kurz vor seinem Examen in den Fächern Deutsch und Gemeinschaftskunde. CIVIS: Paul, Du bist im Wahlkampf in Sachsen für das Team Kretschmer zuständig. Wie bist Du dazu gekommen? Paul: Durch die Überzeugungskraft von Michael Kretschmer! Er ist sehr beliebt bei den Menschen im Freistaat. Auch Sachsen, die eigentlich keine CDU-Mitglieder sind, gefällt sein neuer Politikstil. Diese Unterstützung bündeln wir mit dem Team Kretschmer. In den Wahlkämpfen 2013, 2014 und 2017 habe ich meine Liebe zum Campaigning entdeckt. Als ich gefragt wurde, ob ich Teil der Mannschaft für die wichtige Sachsenwahl sein will, konnte ich nicht Nein sagen.

CIVIS: Wo stößt Du bei den Bürgergesprächen argumentativ an deine Grenzen? Paul: Wo einem blanker Hass oder Verschwörungstheorien entgegenschlagen, kann man nichts mehr gewinnen. Ansonsten war ich immer darauf eingestellt, andere Standpunkte als mein Gegenüber zu vertreten. Hier muss einfach gut vorbereitet sein, Fakten kennen und wissen, welche Argumente überzeugen.

CIVIS: Was war bisher Dein tollstes Erlebnis beim Häuserwahlkampf?

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CIVIS: Wie hast Du den Europawahlkampf in Sachsen erlebt?

großen politischen Fragen: Entscheidungen der EU haben großen Einfluss auf jeden. Wie die Menschen in Deutschland auch im Kleinen von der EU profitieren und wie wichtig sie bei der Durchsetzung unserer internationalen Interessen ist, hätte man noch besser kommunizieren müssen.

Paul: Ich hatte den Eindruck, dass der Europawahlkampf zu „unpolitisch“ war – nicht seitens der Parteien, aber seitens der Bürger. In persönlichen Gesprächen bekam ich oft zu hören, dass ja „dieses Europa“ weit weg sei und sie nicht beabsichtigen, zur Wahl zu gehen.

CIVIS: Wie siehst Du demgegenüber die Herausforderungen Eures Wahlkampfs im Sachsen? Paul: Bei dieser Wahl geht es nicht um Berlin oder Brüssel, sondern um die Heimat der Sachsen. Es geht um Politik, die sie jeden Tag bei sich spüren – egal ob es um schnelles Internet, innere Sicherheit, die beste Bildung oder eine starke Wirtschaft geht. Am 1. September ist Sachsenwahl. Seit 1990 schreibt Sachsen eine echte Erfolgsgeschichte. Damit diese weitergeht, braucht es einen Ministerpräsidenten, der die richtigen Themen anpackt, Dialog auf Augenhöhe führt und für seine Heimat kämpft. Das ist Michael Kretschmer.

»Wo einem blanker Hass oder Verschwörungstheorien entgegenschlagen, kann man nichts mehr gewinnen.« Nur wenige Menschen haben eine emotionale Verbindung zur EU. Dabei ist Europa in so vielen Bereichen präsent – von der Kommunalpolitik bis zu den

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»Eine Parteimitgliedschaft heute funktioniert nicht mehr wie vor 20 oder 30 Jahren.« CIVIS: Wie kann man andere für parteipolitisches Engagement – das ja Engagement für unsere Demokratie ist – begeistern? Zuerst, indem man eben klar macht, dass Parteien für unsere Demokratie sehr wichtig sind. Das reicht aber noch nicht. Eine Parteimitgliedschaft heute funktioniert nicht mehr wie vor 20 oder 30 Jahren. Viele Menschen, die sich engagieren möchten, würden dies gern projektbezogen tun. Diese Möglichkeit muss man ihnen unkompliziert geben und nicht durch zig Gremien alles langwierig und kompliziert machen. Ganz wichtig ist auch die Identifikation mit der Partei. Damit meine ich nicht nur bestimmte Werte, Prinzipien oder Überzeugungen. Es geht auch um die Mitglieder. Peter Tauber hat einmal gesagt, die CDU müsse jünger, weiblicher und bunter werden. Es gab dafür in der Partei nicht nur Beifall. Diese Aussage muss aber jeder unterschreiben, der will, dass die CDU Volkspartei bleibt. Dahinter steckt nichts anderes als die Überlegung, wie unsere Partei wieder für mehr Menschen attraktiv wird.

Außerdem müssen wir online und offline modern arbeiten, um zu zeigen, dass wir im 21. Jahrhundert voll angekommen sind. In Sachsen sind wir da auf einem guten Weg!

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KOOPERATION IN DER UND ÜBER DIE EU HINAUS



von Stephan Toscani

Die »Elysée-Region« weiter stärken Der Aachener Vertrag als Relaunch der deutsch-französischen Beziehungen

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2017 regte Präsident Macron in seiner Sarbonne-Rede die Neuauflage des Élysée-Vertrags an. Anfang dieses Jahres wurde schließlich der Aachener Vertrag unterzeichnet, durch den die deutsch-französische Zusammenarbeit noch einmal intensiviert werden soll. Stephan Toscani erklärt, welche zentrale Rolle die deutsch-französischen Grenzregionen bei seiner Umsetzung spielen.

Von den langen Wellen Europas und der deutsch-französischen Beziehung

dennoch wird von diesem neuen Vertrag viel erwartet. Und das zu Recht, weil er neue Instrumente bereitstellt. Im Aachener Vertrag findet man sehr konkrete und grundsätzlich neue Möglichkeiten, die Zusammenarbeit auf eine Ebene höherer Verbindlichkeit zu stellen. Er ist ein qualitativer Sprung!

„L'Europe ne se fera pas d'un coup, ni dans une construction d'ensemble (…).“ Und weiter: „Europa wird durch konkrete Tatsachen entstehen, die zunächst eine Solidarität der Tat schaffen“.

„Das Wunder von Aachen“ Der Traum eines vereinten Europas, wie ihn Robert Schuman am 9. Mai 1950 – also vor bald siebzig Jahren – kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs formulierte, begann nicht mit einer Vision, sondern mit einer sehr pragmatischen Vorstellung. Und dennoch: Schuman, einer der Gründungsväter der europäischen Einigung, war Visionär, ein pragmatischer Visionär. Dies war und ist bis heute die besondere Herausforderung für eine Politik der Zusammenarbeit und der europäischen Integration.

Es ist erstaunlich, in welch kurzer Zeit der neue Aachener Vertrag das Licht der Vertragswelt erblickt hat. Zwischen der Sorbonne-Rede von Staats­ präsident Macron im September 2017 sowie der bilateralen Resolution zum 22. Januar 2018 lagen nur wenige Monate, in denen sowohl der Deutsche Bundestag als auch Bundeskanzlerin Merkel geantwortet und sich offen für gemeinsame Beratungen erklärt haben. Waren die von Präsident Macron entwickelten Ideen seiner Sorbonne-Rede zunächst eine Einladung und Erwartung an Deutschland, diese zum Teil visionären Reflexionen auf euro­ päischer Ebene zu unterstützen, so gab der hierauf aufbauende neue Vertrag von Aachen auf viele Themen eine gemeinsame und abgestimmte Antwort. Dass dieses Vertragswerk bereits am 22. Januar 2019, zum 56. Jahrestag des Elysée-Vertrags, in Aachen unter­zeichnet wurde, grenzt bei der Komplexität der gemeinsam abzustimmenden Themen an ein kleines Wunder.

»Schuman, einer der Gründungsväter der europäischen Einigung, war ein pragmatischer Visionär.« Auch der Elysée-Vertrag von 1963, der zum Ende von Schumans Leben entstand, musste generisch genug für den Weg der Versöhnung sein und zugleich pragmatisch. Dies ist auch der neue Vertrag über die deutsch-französische Zusammenarbeit und europäische Integration, der Vertrag von Aachen, im Wesentlichen.

Nicht nur die nationalen Parlamente, sondern – auf deutscher Seite – auch die Bundesländer spielten bei der Ausarbeitung erstmals eine eigenständige Rolle. Im Regierungswerk von 1963 hatte man die Verantwortung ganz allein bei den Regierungen verortet. So mag es verwundern, dass die formale Ratifikation im deutschen und französischen Gesetzgebungsverfahren sich weit in den Sommer 2019 hineinzieht und damit nicht unwesentlich weniger Zeit beansprucht als die eigentliche, sehr anspruchsvolle inhaltliche Abstimmung der Themen.

Ein Vertrag zwischen Euphorie und Erwartung Bei aller Euphorie: „On ne tombe pas amoureux d´un grand marché“ – man verliebt sich nicht in einen Binnenmarkt – wie Jacques Delors es ausdrückte, und auch eher selten in einen Vertrag. Und

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Grenzregionen – eine unterschätzte Dimension der deutsch-französischen Beziehungen: Aus Bruchzonen wurden Nahtstellen

Die deutsch-französische Grenzregion – eine Elysée-Region par excellence Seit vielen Jahrzehnten spielen die Gebiete beiderseits der deutsch-französischen Grenze eine wichtige Rolle. Hier in dieser Scharnierzone findet sich die größte Dichte an alltäglichen Begegnungen zwischen Deutschen und Franzosen; hier wird der konkrete Mehrwert gutnachbarschaftlicher Beziehungen deutlich, weil man sich – auch sprachlich – besser versteht. So haben sich in den Départements Haut-Rhin und Bas-Rhin im Elsass und der Moselle in Lothringen sowie den grenznahen Räumen der deutschen Länder Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und dem gesamten Saarland echte Kristallisationspunkte gemeinsamer Projekte, Maßnahmen und Institutionen in den Jahrzehnten seit dem Elysée-Vertrag entwickelt. Die deutsch-französischen Grenzregionen sind zu einer echten „Elysée-Region“ geworden.

Es war das Erz, das Deutschland und Frankreich immer wieder gegeneinander in den Krieg ziehen ließ. Eisenerz und Steinkohle lagen im Saar-Moselle-Raum dicht beieinander und waren Ursache für Wohlstand und Aufschwung ebenso wie für Krieg und Zerstörung – drei Mal in einem Jahrhundert. Die Überwindung dieser „Erzfeindschaft“ und die Schaffung von Verständigung, Versöhnung und Freundschaft zählen zu den Wundern kluger europäischer Politik, die – wen wollte es wundern – von überzeugten und charismatischen Gründervätern geschaffen wurden, wie Robert Schuman – Sohn dieser Montanregion, mit Wurzeln in Luxemburg, Deutschland und Frankreich.

»Es ist ein Erfolg praktischer grenzüberschreitender Zusammenarbeit, wenn rund 18.000 Grenzgänger täglich aus Frankreich ins Saarland einpendeln.«

Es würde den Rahmen sprengen, alle Erfolgsprojekte zu nennen; immerhin beispielhaft einige wichtige, die allesamt in der saarländischen Landeshauptstadt Saarbrücken ihren Standort gefunden haben, mögen dies illustrieren: Die von Frankreich gegründete Universität des Saarlandes, die Musikhochschule (heute: HfM) und die Schule für Kunst und Handwerk (heute: HBK), die 12 vollintegrierten Studiengänge der Hochschule für Technik und Wirtschaft, der Sitz der Deutsch-Französischen Hochschule, Pro-Tandem – die Deutsch-Französische Agentur für den Austausch in der beruflichen Bildung, das Sekretariat des Deutsch-Französischen Kulturrates, das deutsch-fran­zösische Theaterfestival „Perspectives“ für moderne Bühnenkunst, über das ganze Land verteilt fast 70 Elysée-KiTas sowie der mit Abstand höchste Anteil von Französisch lernenden Schülerinnen und Schü­ler quer über alle Klassenstufen.

Im Saarland leben wir die deutsch-französische Freundschaft. Sie ist bei uns fest verankert – der 11. November, Gedenktag an den Waffenstillstand des Ersten Weltkriegs, wird seit Jahren gemeinsam begangen, ebenso wie der französische Nationalfeiertag am 14. Juli mit dem „bal populaire“, der zu den sympathischsten und bestbesuchten Festen am Saarbrücker Schloß zählt. Es ist ein Erfolg praktischer grenzüberschreitender Zusammenarbeit, wenn rund 18.000 Grenzgänger täglich aus Frankreich ins Saarland einpendeln, rund ein Drittel des Einzelhandelsumsatzes in Saarbrücken von Kunden aus Frankreich stammt und Straßenschilder auch auf Französisch den richtigen Weg weisen.

Französische Sprache und Kultur, das alltägliche grenzüberschreitende Miteinander bei Leben, Arbeiten und in der Freizeit sind im Saarland ebenso wie deutsche Sprache und Kultur in der Nachbarschaft der Moselle und der Region „Grand Est“ nicht mehr wegzudenken. Das Deutsch-Französische ist eine Selbstverständlichkeit – gerade deswegen hat die Landesregierung unter Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer 2014 die sogenannte Frankreichstrategie aufgelegt, um dieses saarländische Alleinstellungsmerkmal noch gezielter auszubauen. Augenzwinkernd, aber mit großer Überzeugung

Dies alles spielt sich im Übrigen in beide Richtungen ab – ein gelebtes „herüber und hinüber“, das ein Modell für Mobilität über Grenzen ist, deren Kernidee nur wenige Kilometer entfernt im Moseldorf Schengen 1985 seinen Anfang nahm, ein Grenzort im deutsch-französisch-luxemburgischen Dreiländereck.

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»Augenzwinkernd, aber mit großer Überzeugung sagen die Saarländer, dass man das ›französischste‹ aller deutschen Länder sei – ein sympathischer Superlativ für die Verbundenheit mit Frankreich.«

sagen die Saarländer, dass man das „französischste“ aller deutschen Länder sei – ein sympathischer Superlativ für die Verbundenheit mit Frankreich.

Bei der Verhandlung des Aachener Vertrags hat auch die starke parlamentarische Positionierung und Einbeziehung dazu beigetragen, dass es am Ende nicht nur ein Vertrag „Elysée 2.0“ als lineare Fortschreibung wurde, sondern eine substanzielle Weiterentwicklung. Diese neue Verbindlichkeit auf Seiten der Regierungen und der Parlamente ist eine zeitgemäße Antwort, ein „Relaunch“ der deutsch-französischen Beziehungen.

Dabei wurde 1992 die Verpflichtung zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit und europäischen Integration im Saarland als erstes Bundesland Verfassungsauftrag: Dieser wird ernstgenommen und durch konkrete Schritte umgesetzt, wie z.B. im Abkommen zur Gesundheitszusammenarbeit im Rettungsdienst und der medizinischen Versorgung, dem grenzüberschreitenden ÖPNV und mit einer seit mehr als 20 Jahren bis Frankreich verkehrenden Straßenbahn/Tram-Train („Saarbahn“), mit dem Frankreichjahr 2013 zum 50. Jubiläum des Elysée-Vertrags mit über 200 Veranstaltungen aus der Zivilgesellschaft, mit rund 60 Gemeindepartnerschaften mit französischen Kommunen und mit neuen Formaten deutsch-französischer Bund-Länder-Koordinierung wie der 2013 initiierten deutsch-französischen Grenzraumkonferenz: Solche neuen Formate ebnen den Weg für konkrete Abkommen und Lösungen in der Grenzregion. Dies alles wirkt selbstverständlich, ist es aber nicht.

»Der Aachener Vertrag ist eine zeitgemäße Antwort, ein ›Relaunch‹ der deutsch-französischen Beziehungen.« Über die deutsch-französischen Freundschaftsgruppen von Bundestag und Assemblée sowie von Bundesrat und Sénat wurde auch die Rolle der Länder neu definiert. Den Grenzregionen wird erstmals eine eigene Rolle für die Gesamtheit der deutsch-französischen Beziehungen zuerkannt. Dabei hat insbesondere die Konferenz der Ministerpräsidentinnen und -präsidenten unter dem Vorsitz des saarländischen Ministerpräsidenten Tobias Hans mehrfach im Laufe des Jahres 2018 zusammen mit der Bundeskanzlerin klargemacht, wie wichtig eine gut verzahnte Beteiligung der Länder ist. Auch der Bundesrat hat im Mai 2019 der raschen Ratifizierung des Vertrags und der gemeinsamen Konkretisierung ausdrücklich und einvernehmlich zugestimmt.

Auf dem Weg zum Aachener Vertrag – gemeinsam stark Der acquis der grenzüberschreitenden Errungenschaften ist durch Engagement und Beharrlichkeit über Jahrzehnte geschaffen worden – nicht viele Themen in der Landespolitik können auf einen solch breiten parteiübergreifenden Grundkonsens aufbauen.

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Das Novum des Aachener Vertrags – Grenzregionen mit eigener Rolle?

wird die Grenzraumexpertise ebenso gefragt und wichtig sein im neuen Ausschuss wie eine politisch hochrangige Besetzung des Gremiums.

Hohe Erwartungen sind an den neuen deutsch-französischen Freundschaftsvertrag geknüpft – nicht nur hinsichtlich der Umsetzung, für die bis zum nächsten deutsch-französischen Ministerrat bereits eine konkrete feuille de route vorgelegt werden soll. Rund ein Drittel der Projekte, die im Aachener Vertrag genannt sind, betreffen die Grenzregionen; auch dadurch wird ein regelmäßiger, strukturierter Austausch zwischen Bund und Ländern erforderlich.

Der Aachener Vertrag unterstützt Mehrsprachigkeit als Anreiz für andere, auch grenzferne Länder und Regionen. Damit wird die Bedeutung der Nachbarsprache im deutsch-französischen Verhältnis in Europa unterstrichen. Die entscheidende Frage ist, ob es in den deutsch-französischen Grenzregionen den politischen Willen gibt und die notwendigen Ressourcen zur Verfügung stehen, um diesen Auftrag des Vertrages zu realisieren.

»Für das Vorankommen des Aachener Vertrags sind die Länder mithin ein Motor.«

Dabei sind Skaleneffekte durch eine gute Abstimmung der Maßnahmen zum Beispiel im Bereich des Lehreraustauschs und Schulpartnerschaften insgesamt Garanten für deutsch-französische Tandem-Maßnahmen – nicht nur beim erfolgreichen Joint Venture „Airbus“, sondern auch bei den deutsch-französischen Berufsschulzweigen, von denen es zum Beispiel im Saarland vier Kooperationen gibt. Besonders im Bereich Automobil, Hotellerie und Gastgewerbe sind regelmäßige Austausche und Spracherwerb lohnende Zusatzqualifikationen für junge Menschen.

Für das Vorankommen des Aachener Vertrags sind die Länder mithin ein Motor. Ein neuer, gemischter „Ausschuss für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit“ soll auch neue Wege zur Lösung von Problemen eröffnen, die aus der Grenzlage resultieren, wie zum Beispiel bei Verkehrsverbindungen, Krankenhauskooperationen und anderen konkreten Projekten. Dass bei unüberwindbaren rechtlichen Hindernissen auch neue Wege beschritten werden können und Ausnahmen- und Abweichungsregelungen als Ultima Ratio zugelassen werden, antizipiert sozusagen das geplante EU-Rechtsinstrument ECBM (European Cross Border Mechanism), das zu Angeboten der gemeinsamen öffentlichen Daseinsvorsorge beitragen soll.

»Die Art der Architektur der Zusammenarbeit im Aachener Vertrag nimmt Anleihen aus der Grenzregion.« Auch die Art der Architektur der Zusammenarbeit im Aachener Vertrag nimmt Anleihen aus der Grenzregion. Vernetzung statt Zentralisierung ist das neue Motto insbesondere bei Zukunftsthemen. Dass das Deutsch-Französische Zentrum für Künstliche Intelligenz als dezentrales Netzwerk entwickelt werden soll, trägt bestehenden Kooperationsverbünden Rechnung, wie es beispielhaft zwischen dem Saarbrücker Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) als größte deutsche Forschungseinrichtung mit dem INRIA Nancy seit langem praktiziert wird. Der Aachener Vertrag kann so zu einem Beschleuniger innovativer, deutsch-französischer Entwicklungen werden.

Für den Erfolg dieses neuen Gremiums wird maßgeblich sein, dass die unterschiedlichen exekutiven Ebenen (Nationalstaat, Länder/Regionen und Gebietskörperschaften) ebenso wie die parlamentarische Seite auf diesen verschiedenen Ebenen repräsentiert sind. So kann künftig gewährleistet werden, dass es bei der Umsetzung von Rechtsakten nicht mehr zu Inkompatibilitäten kommt, die sich gerade in der Grenzregion besonders kontraproduktiv auswirken. Bekannte Fälle sind eine Autobahnmaut ohne Grenzraum-Regelung, die kostentreibende Mehrsystemfähigkeit bei der Beschaffung neuer Schienenfahrzeuge und deren doppelte Zulassungsverfahren oder die steuer- und sozialrechtliche Benachteiligung von Grenzgängern. Auch deswegen

Für die deutsch-französische Grenzregion verbindet sich damit nicht nur eine Bestätigung ihres bisherigen Beitrags, sondern auch die konkrete Erwartung,

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»Der Aachener Vertrag kann zu einem Beschleuniger innovativer, deutschfranzösischer Entwicklungen werden.«

dass die Vorhaben mit adäquaten Mitteln ausgestattet werden. Leider hat dazu ein wesentlicher Vorschlag der deutsch-französischen Parlamentarier nicht den Weg in die politische Umsetzung gefunden, nämlich die Schaffung eines deutsch-französischen Investitionsfonds; er könnte als gemeinsame Initiative der deutsch-französischen parlamentarischen Versammlung übrigens unabhängig vom Aachener Vertrag der Regierungen auch von den Haushaltsgesetzgebern ins Leben gerufen werden und wäre zweifelsohne ein politisch glaubwürdiges Zeichen der Ernsthaftigkeit ihrer Absichten.

Grenzregionen verstehen sich per se als Räume, in denen die Zusammenarbeit europäischen Mehrwert generiert.

Der Aachener Vertrag – im Dreieck von Wunsch, Vision und Erwartungen

Es wird auch Aufgabe und Herausforderung des neuen Aachener Vertrages sein, wie sich das Potenzial der Grenzregionen besser abrufen lässt, die nach einer Mitteilung der EU-Kommission vom September 2017 auch volkswirtschaftlich hinter den Möglichkeiten zurückbleiben, weil es bis dato zu viele Hindernisse gibt.

»Es wird auch Aufgabe und Herausforderung des neuen Aachener Vertrages sein, wie sich das Potenzial der Grenzregionen besser abrufen lässt.«

Die Schuman’sche Vision eines vereinten Europas wird gerade auch vom Aachener Vertrag avisiert. Er ist erklärtermaßen nicht nur bilateraler „Vertrag für die deutsch-französische Zusammenarbeit“, sondern auch für die (europäische) „Integration“.

Die Chancen, diese Potenziale zu heben und die Fähigkeiten, dies besser zu bewältigen – all das bietet der der Aachener Vertrag; heute mehr und besser denn je!

Ob dies gelingt, hängt auch davon ab, wie glaubwürdig die rasche und konkrete Umsetzung von Seiten der Hauptstädte vorangetrieben wird. Die

Stephan Toscani ist Präsident des Landtages des Saarlandes. Zuvor war er neun Jahre lang Minister in der Landesregierung des Saarlandes, zuletzt als Minister für Finanzen und Europa und Minister für Justiz. Seine berufliche Laufbahn begann der studierte Jurist 1996 als Regierungsrat im Bundesministerium für Bildung und Forschung in Bonn, wo er bis zu seiner Wahl als Abgeordneter des Landtages des Saarlandes 1999 tätig war.

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Ein Weg zu mehr Abschiebungs realismus Der ÂťGambia-PlanÂŤ als erster Schritt

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von Gerald Knaus

Gerald Knaus ist überzeugt, dass es auf absehbare Zeit keine umfassende europäische Lösung in der Asyl- und Migrationspolitik geben werde. In seinem Beitrag zeigt er auf, wie Deutschland mit einem Pilotprojekt, dem »Gambia-Plan«, einen ersten Schritt zu einer effektiven Kontrolle irregulärer Migration machen könnte. Sollte das Projekt erfolgreich sein, besteht die Möglichkeit, dass auch andere EU-Mitgliedstaaten zu weiteren gemeinsamen Schritten bereit sind.

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Irreguläre Ankünfte von Gambiern in der Europäischen Union Quelle: Frontex, Detection of illegal border-crossing statistics download, abgerufen am 29. Mai 2019.

2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018

262 140 599 553 2.817 8.725 8.874 12.928 8.523 1.608

Irreguläre Ankünfte von Gambiern in Italien, Spanien und Griechenland Quelle: Frontex, Detection of illegal border-crossing statistics download, abgerufen am 29. Mai 2019.

2014 2015 2016 2017 2018

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Italien

Spanien

Griechenland

8.549 8.245 13.441 5.808 276

93 280 997 2.669 2.429

18 195 65 43 74


Abschiebungen aus Deutschland auf dem Luftweg 2018 Quelle: Deutscher Bundestag, Abschiebungen und Ausreisen im Jahr 2018, Antwort der Bundesregierung, abgerufen am 26. Februar 2019.

Zielstaat

Abgeschobene Personen

EU/Schengen-Staaten

7.947

38%

Westbalkan-Länder

6.296

30%

Georgien, Moldau, Ukraine, Russland, Armenien, Türkei

2.567

8%

Nordafrikanische Länder - Marokko - Algerien - Tunesien - Egypt

1.696 722 567 344 63

Übrige Welt - Pakistan - Armenien - Afghanistan - Indien - Ghana - Nigeria - Gambia - Bangladesch - China - Weißrussland - Irak - Iran - Senegal - Guinea - Cote d’Ivoire - Togo - D.R. Kongo - Weitere Länder

2.533 367 345 283 212 210 195 144 123 48 37 35 22 16 16 5 5 4 466

Gesamt

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Das westliche Konzept von Menschenrechten und offener Gesellschaft muss wieder stärker verteidigt werden, wenn es nicht unterliegen soll. Denn entfachen wir die Fackel der Menschenrechte und der Aufklärung nicht immer wieder neu, wird sie der autoritären Heraus­forderung nicht standhalten.

Wer Ideale wie freiheitliche Demokratie und Menschenrechte offensiv vertritt, der trifft auf Widerstand einer Minderheit, die lauter wird. Deren These lautet: Die Ära der offenen Gesellschaft und auch der europäischen Integration geht dem Ende entgegen – illiberale, autoritäre Konzepte sind stärker und auf dem Vormarsch. Autoritäre Konzepte treffen in einer Zeit von Unsicherheit, Globalisierung und Digitalisierung auf Zustimmung. Denn Abgrenzung und Abschottung sind Zuflucht für die, die auf Fragen und Ängste keine Antworten finden, die von Verfechtern der offenen Demokratie auch oft keine erhalten.

erst 70 Jahre jung wird, in ihren Ländern achten, wird ernüchternde Zahlen zur Kenntnis nehmen müssen.

Nicht das Konzept der Demokratie ist das Problem, sondern mangelnde Kampfkraft erschlaffter Eliten. Es geht nicht um „Staatsversagen“ oder romantische Ideale – es geht um ein Versagen der gewählten Eliten bei der Verteidigung der Demokratie. Das bedeutet Marathon, tägliche Herausforderung, und es ist nicht mit Selfies und oberflächlichen Antworten zu erledigen.

Das Konzept der Menschenrechte muss auch als Anspruch der freien Welt auf die offene Gesellschaft und die individuellen und kollektiven Grundrechte stärker offensiv verfochten werden. Dabei gilt: Menschenrechte sind nicht verhandelbar. Sie definieren, wer wir sind, was Europa ist.

Der Umgang des Westens mit Flüchtlingen und Migration, die Hinnahme schwerster Menschenrechtsverletzungen bei „strategischen Partnern“ (Saudi-Arabien, China und andere) bieten den Regimen die Rechtfertigung für die Ausweitung ihrer Strategie. Das offene Infragestellen unbestrittener Normen der Menschenrechte, aktuell vor allem durch den amtierenden amerikanischen Präsidenten und seine populistische Gefolgschaft, machen die Lage nicht einfacher.

Nationale und internationale Strategien zur Durchsetzung von Menschenrechten und Mindeststandards sind aber teilweise in Umfang und Wirkung sehr unterschiedlich. Man kann hier viele Beispiele aufzählen. Die Religionsfreiheit gilt als zentrales Menschenrecht – und doch sehen wir die Verfolgung von Christen, Jesiden, Muslimen, Buddhisten sowie auch ethnischer Gruppen wie Tibeter, Uiguren, Rohingya. Und es gibt Strategien gegen linken und rechten Extremismus, gegen Islamismus und Antisemitismus. Es gibt Beschlüsse zur Wahrung von Grundrechten innerhalb der EU (unter anderem die Bedrohung der Unabhängigkeit der Justiz und der Presse- und Meinungsfreiheit in einzelnen Staaten der EU). Auf globale Herausforderungen werden teilweise Gesamtkonzepte entwickelt, wie der Nationale Aktionsplan für Wirtschaft und Menschenrechte (NAP) in Deutschland.

»Menschenrechte sind nicht verhandelbar. Sie definieren, wer wir sind, was Europa ist.« Europa war einst die Wiege der Aufklärung. Ohne Aufklärung keine Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Ohne Aufklärung keine liberale und offene Gesellschaft. Ohne offene Gesellschaft und Demokratie keine allgemeine Geltung der Menschenrechte. Wer die Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen aufzählt, die tatsächlich die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die in diesem Jahr

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von Michael Brand

Ohne neues Feuer wird die Fackel erlöschen Unser Engagement für Menschenrechte und Aufklärung

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Aber dies alles bildet nicht den Kern des Einsatzes um die offene Gesellschaft und die Grundrechte. Im Kern geht es um den Schutz von Menschen und Gruppen, um das Konzept der unabdingbaren Würde des Einzelnen. Dagegen sind autoritäre Regime weltweit auf dem Vormarsch, das westliche Konzept der universalen Rechte und der Würde des Menschen ist erkennbar auf dem Rückzug. Für diesen Rückzug gibt es zahlreiche Beispiele.

Friedensnobelpreis erhielt, die kalte Schulter gezeigt. So hat Serbiens zunehmend autoritäre Führung vor dem Besuch der chinesischen Führung potenzielle Protestler vorsorglich und gegen jedes Recht interniert (dieses „vorsorgliche“ Wegsperren war geübte Praxis des DDR-Regimes gegen Bürgerrechtler vor wichtigen Terminen und Besuchen). Kaum jemand in Europa bringt mehr den Mut auf, die totalitäre Kontrolle der Chinesen via Internet durch das Regime offen zu kritisieren. Selbst die Internierung von über einer Million (!) Uiguren wird nur zaghaft und leise thematisiert.

Wenn der autoritäre Führer der Türkei einen international geschützten Richter eines Internationalen Strafgerichts bei der Einreise in sein Heimatland willkürlich verhaften lässt, einen regimetreuen Richter an seiner Stelle nominiert und der Westen die Verletzung internationaler Standards akzeptiert – dann sendet dies Signale nicht nur in Richtung Türkei, sondern weltweit. Dieses Signal lautet: Der Westen wagt nicht mehr, selbst flagrante Verstöße zu kritisieren. Er ist zu geschwächt, um selbst einen Konflikt um das internationale Recht zu wagen.

»Während der Westen vor aller Augen verstummt, stoßen autoritäre Regime in die Lücke.« Die mit dem wirtschaftlichen Aufstieg der kommunistischen Volksrepublik China verbundene Hoffnung auf Demokratisierung dieses Giganten hat sich nicht erfüllt. Stattdessen hat die wirtschaftliche Macht des neuen Giganten ehemals tapfere Verfechter von Menschenrechten zum Kotau vor der schieren wirtschaftlichen Potenz verleitet. Dies gilt nicht nur für Konzernlenker. Die Schere im Kopf, auch auf der Zunge, ist in vielen Äußerungen, Handlungen oder auch beredtem Schweigen und Unterlassen für alle global ablesbar. Der Menschenrechtsdialog mit China ist faktisch zum Erliegen gekommen und dient als Feigenblatt. Probleme werden zwar ange­ sprochen, Konsequenzen fürchten muss Peking nicht.

Wenn nach Krieg und Völkermord in Bosnien dieses zutiefst europäische Land erstmals seit Nazideutschland eine „völkische“ Verfassung aufgezwungen bekommt (unter aktiver Mithilfe deutscher Diplomaten), die ausgerechnet Juden und Sinti das Recht verweigert, höchste Ämter im Land zu bekleiden, ist das nicht nur eine Bankrotterklärung des Westens. Es ist auch, wie zuvor das Zuschauen beim schlimmsten europäischen Massaker seit dem Zweiten Weltkrieg, ein deutliches Signal: Wir haben ein taktisches Verhältnis zu Genozid und Menschenrechten. Das Signal lautet zumindest: Nicht einmal in unserer Hemisphäre sind wir bereit, die Folgen selbst der brutalsten Verletzung von Menschenrechten, namentlich Völkermord, zu beseitigen. Die Täter erhielten die Kontrolle über Srebrenica, „um des lieben Friedens willen“ – ein Siegfried, ohne Gerechtigkeit, der sich bis heute als Destabilisierung für den ganzen Balkan auswirkt.

Der Kotau des freien Westens mit insgesamt über 1 Milliarde Menschen vor dem „Riesenreich“ mit derzeit 1,3 Milliarden Menschen ist unübersehbar. Während der Westen vor aller Augen verstummt, stoßen autoritäre Regime in die Lücke. Ein chinesischer Funktionär polemisiert und provoziert im ZDF-Interview ganz offen und fordert die Aufklärung als Konzept heraus. Das Problem des Westens sei: „Ihr glaubt an den selbstverantwortlichen Menschen!“

»Der Menschenrechtsdialog mit China ist faktisch zum Erliegen gekommen und dient als Feigenblatt.«

Der Botschafter Chinas in Deutschland nimmt sich heraus, frei gewählten Abgeordneten des Deutschen Bundestages vorschreiben zu wollen, welche Termine (mit Tibetern) in Deutschland (!) sie nicht wahrzunehmen hätten, selbst welche Inhalte von der Internetseite zu verschwinden hätten.

Als Signalwirkung für die Schwäche in Europa wirkt der Kotau der Europäer vor immer offeneren autoritären Ansprüchen Chinas. So hat ausgerechnet Norwegen dem Dalai Lama, der in Oslo den

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»Autoritäre Regime aus China, Russland, Türkei und andere haben sich darauf eingestellt, dass der freie Westen aufgehört hat, sein Konzept der Aufklärung, die offene Gesellschaft und die Menschenrechte zu verteidigen.« Das Regime wird keck, weil es nicht mehr auf ernsthafte Gegenwehr trifft. Ich habe mich gewehrt – und das Regime blockiert nicht nur mich, sondern gleich den ganzen Bundestagsausschuss für Menschenrechte von der Einreise nach China. Mehr noch geschieht vor unseren Augen in Berlin: Vietnamesische Bürger werden vom Regime auf offener Straße gekidnappt und nach Vietnam verbracht, um dort inhaftiert zu werden. Frauen aus Saudi-Arabien werden verfolgt, bedrängt und gebeten, doch mal in der Berliner Botschaft vorbeizukommen (nach Khashoggi eine besondere Einladung), und chinesische Dissidenten berichten mir von der realen Gefahr, in Berlin Opfer chinesischer Entführung zu werden. Die Menschenrechte werden also längst nicht mehr nur in fernen Ländern außer Kraft gesetzt; weil wir schweigen, ist die Hauptstadt des stärksten Landes der EU kein Tabu mehr für Zugriffe von Regimen. Von Putin und Erdogan, die Gegner in westlichen Ländern verfolgen und sogar töten lassen, ist da noch nicht einmal gesprochen. Autoritäre Regime aus China, Russland, Türkei und andere haben sich darauf eingestellt, dass der freie Westen aufgehört hat, sein Konzept der Aufklärung, die offene Gesellschaft und die Menschenrechte zu verteidigen. Wir laden durch unser Unterlassen und durch Unterordnung dazu ein, dass autoritäre Ideologen nicht nur in der eigenen Hemisphäre, sondern global nach Vorherrschaft streben. Dass autoritäre Konzepte weltweit auf dem Vormarsch sind, liegt also weniger an aggressiven Methoden der Regime. Es liegt weit mehr an der Selbstbeschränkung, auch der Unfähigkeit und dem Opportunismus, schlicht auch an nicht mehr zu ignorierender Feigheit im sogenannten Westen.

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Wenn nur 70 Jahre nach der historischen Erklärung der Menschenrechte die Luft bei der Bewahrung und Verteidigung dieser einzigartigen Erklärung in der Geschichte der Menschheit ausgehen sollte, dann bliebe die Aufklärung eine Episode. Der Westen hätte im wahren Sinne des Wortes historisch versagt. Gerade heute gilt, was seit Kant bekannt ist: Frei zu werden – und frei zu bleiben – von selbst gewählter Abhängigkeit, erfordert viel Mühe. Ohne neues Feuer wird die Fackel der Freiheit und der Menschenrechte erlöschen.

zugrunde. Dies könnte auch den offenen Gesellschaften im weltweiten Wettbewerb so ergehen. Zu stumm sind wir geworden. Das ist das fatalste Signal: Der vormals attraktive, selbstbewusste und erfolgreiche Westen ist einem verzagten, teils zerstrittenen Konglomerat gewichen. Zu rasch sind zu viele bereit, für Milliarden an Umsatz viele Millionen um ihre Menschenrechte zu betrügen.

»Zu rasch sind zu viele bereit, für Milliarden an Umsatz viele Millionen um ihre Menschenrechte zu betrügen.«

Die Erklärung der Menschenrechte wäre ohne die unsagbaren Verbrechen des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges nicht möglich geworden. Sie bleibt bislang eine Erfolgsgeschichte. Zum Zeitpunkt der Erklärung der Menschenrechte gab es weder in Europa noch weltweit so viele freie Gesellschaften wie heute. Die heutigen Eliten allerdings haben vergessen: Die Freiheit und die Grundrechte haben sich nicht von alleine weltweit verbreitet. Deren Protagonisten haben offensiv, intelligent und nachhaltig dafür gearbeitet und geworben, dass allen Menschen ihre unveräußerlichen Rechte zustehen. Die Folgen sind klar: Eine zunehmend aggressiv orientierte Führung Chinas nimmt Europa und den Westen als ideologische Herausforderung nicht mehr wirklich ernst; auch wirtschaftlich nicht in dem Maß wie noch vor wenigen Jahren. Spätestens seit der wirtschaftlichen Krise von 2008 sieht sich das Regime global auf der Siegerstraße der Geschichte. Das Konzept der Seidenstraße ist dafür starker Ausdruck.

Die Zukunft von Klima, Migration, Sicherheit, Wohlstand, sozialer Sicherheit und viele andere Fragen sind aber nicht Randbedingung, sondern Folge der Antwort auf die Grundsatzfrage: Wie halten wir es in internationaler, europäischer und nationaler Politik mit den Grundrechten, den Rechten der Menschen? Entweder wir treten selbstbewusst, offen und entschieden für die Freiheit und Menschenrechte ein oder die glücklichste Periode der Menschheit, die Verankerung der Rechte der Menschen in der UN-Menschenrechtscharta, wird am Ende mehr Makulatur als wichtiger Grundpfeiler der Welt sein. Europa, Ursprung der Aufklärung und der Menschenrechte, wird hier nicht nur das eigene Schicksal, sondern das der ganzen Menschheit mitentscheiden. Entweder wir setzen uns ein, strengen uns an und tragen die Fackel weiter – oder es wird global wieder dunkel um die Menschen und ihre Rechte.

Die Gefährdung der Freiheit kam nicht über Nacht. Die Weimarer Republik ging nicht allein an ihren Feinden, sondern genauso an verzagten Verteidigern

Michael Brand ist seit 2005 Mitglied des Deutschen Bundestages und Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe.

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Das friedensverwÜhnte Europa muss durchsetzungsfähig werden Gedanken zur Liberalen Internationalen Ordnung im 21. Jahrhundert

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von Jan Techau

Was ist die liberale internationale Ordnung? Und wer sind die verantwortlichen Akteure, um sie zu erhalten? Jan Techau beleuchtet die Bedeutung des Faktors »Macht« in diesem System und sieht Europa in der Pflicht, sich nicht mehr nur auf die Amerikaner zu verlassen, sondern selbst zum mächtigen Akteur zu werden.

Die Diskussion über die Liberale Internationale Ordnung (LIO) ist zur Obsession geworden, selbst unter jenen, die gar nicht daran glauben, dass es sie je gegeben hat. Der Grund dafür ist offensichtlich: Auch jene, die die Welt schon immer als Dschungel betrachtet haben, in dem das Recht des Stärkeren herrscht, und auch jene, die die LIO für ein quasi-imperiales Herrschaftsinstrument des Westens halten, spüren, dass eine massive globale Machtverschiebung im Gange ist.

des Rechts, also eines gemeinschaftlichen und wertebasierten Regelwerkes dient, nicht nur der Durchsetzung individueller Machtinteressen. Um es klar zu sagen: Eine perfekte LIO hat es nie gegeben. Die großen Hoffnungen auf machtvollen weltrechtlichen Universalismus in einer friedvollen Menschheitsrepublik, die nach 1945 Konjunktur hatten, sind nie in Erfüllung gegangen. Es gibt aber sehr wohl ein System, das nach dem Zweiten Weltkrieg einen weiteren globalen Waffengang verhindert, die internationalen Handelsströme nach Grundregeln organisiert und den Rahmen des akzeptablen politischen Handelns durch Grundwerte gesetzt hat. In diesem System werden Menschenrechte formuliert und ihre Verletzung zwar nicht immer geahndet, aber doch mit politischen Kosten versehen. In ihm werden regionale Konflikte nicht immer beigelegt, aber doch so eingehegt, dass Flächenbrände weitgehend vermieden werden. In diesem System existieren zahllose Regeln, Standards und Prozesse, nach denen Staaten, Unternehmen und Individuen halbwegs verlässlich miteinander umgehen, Geschäfte machen, Verträge einklagen und Interessen ausgleichen können.

»Die Veränderungen können für die stabilitäts- und friedensverwöhnten Europäer zur verstörenden Herausforderung werden.« Und sie spüren auch, dass die daraus resultierenden Veränderung für die stabilitäts- und friedensverwöhnten Europäer zur verstörenden Herausforderung werden können. Denn so unzureichend, löchrig, zahnlos und bisweilen auch überheblich die LIO oft dahergekommen sein mag, ihr war offenbar eine Qualität zu eigen, die niemand leichterdings aufgeben mag. Doch über was reden wir überhaupt, wenn wir über die LIO reden?

Nicht immer sind die Garanten des Systems in der Lage, seinen hohen Anspruch einzulösen und die Normverletzungen zu ahnden. Oft bleibt das System hinter den eigenen Ansprüchen zurück. Doch zumindest werden diese Verletzungen nicht als normal, sondern als Abweichung von der Norm wahrgenommen, kritisiert und verurteilt. In diesem System war der Faktor Macht nie eliminiert, aber die Machthaber mussten das Recht in ihr Handeln mit einkalkulieren. Und es gelang ihnen in der Regel besser, wenn sie sich auch daran hielten.

Was die LIO ist – oder zu sein anstrebt – wird aus zwei unterschiedlichen Blickrichtungen deutlich. Komprimiert man einerseits die LIO auf ihr existentielles Minimum, dann ist sie schlicht ein System des internationalen politischen Umgangs, in dem das Recht ein ernst zu nehmender Machtfaktor ist. Mit anderen Worten: ein System, in dem die Gewalt mit einer gewissen Regelmäßigkeit der Durchsetzung

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Ein zweiter Blick weitet die Idee der LIO in ihr anderes Extrem, ihre maximale Ausbaustufe. Nur eine Weltregion konnte sich die LIO auf eine Art zu eigen machen, die auch nur annähernd an das formulierte Ideal heranreicht: Europa.

eine andere Macht selbst zum Anwalt einer freiheitlich grundierten Ordnung mit globaler Reichweite werden. Selbst im Zeitalter des nationalistisch geprägten amerikanischen Populismus muss die LIO darauf bauen, dass Washington sein Interesse am regelbasierten Miteinander nicht ganz verliert. Dieses Paradox ist der Hauptgrund für die derzeit intensiv empfundene Krise der LIO.

Die Europäische Union mit ihrem definierten, freiheitlich grundierten Rechtsbestand, ihrer geregelten Konfliktbeilegung, ihrem ausgeklügelten System der Rechtssetzung und -durchsetzung, ihrer Reichtum schaffenden liberalen Marktordnung, und ihrem fein austarierten Gleichgewicht zwischen nationaler Autonomie und vergemeinschaftetem Handeln – diese Europäische Union ist, trotz mancher Defizite, wohl das, was dem Ideal der LIO unter realen politischen Bedingungen am nächsten kommt. Europa mit seinen Verträgen und seiner politischen Praxis ist die regionale Versuchsanordnung für die LIO – mit globaler Relevanz.

Die globale Machtverschiebung, die sich durch den Aufstieg Chinas, den relativen Abstieg des Westens und die Explosion der IT-Technologie ergibt, ist im Kern eine Ordnungsfrage. Das zum Standardmodell gewordene Modell der LIO, repräsentiert durch den Westen, kämpft in dieser Verschiebung um seine Geltung. Wladimir Putins Russland und eine kleine Reihe ihm verbundener Länder ist zu schwach, die LIO durch ein anderes Modell zu ersetzen, aber es hat sein hohes Interesse daran bekundet und auch praktisch nachgewiesen, diese Ordnung zu schwächen und zu unterminieren.

»Ohne Regeldurchsetzung bleibt die Regel wertlos, ohne die Stärke des Rechts gilt das Recht des Stärkeren.«

Die Ordnungsvorstellungen des Westens haben durch Inkonsequenz, illiberalen Populismus, missglückte Intervention (Irak), Halbintervention (Libyen) und Nichtintervention (Syrien) sowie durch die von ihm verursachte globale Finanzkrise viel an Glaubwürdigkeit verloren. China hingegen verfolgt einen langfristigen Plan, die LIO durch eine auf „chinesischen Werten“ basierte, auf Peking zugeschnittene Hegemonialstruktur zu ersetzen, die zumindest die eurasische Landmasse bis nach Europa zur eigenen Einflusssphäre macht. Massive Investitionen in Infrastruktur, Technologietransfer, Marktzugang und politischen Einfluss künden von dieser langfristig angelegten Großambition.

Beide Blickrichtungen, die minimale und die maximale, zeigen auch die Tragik der LIO: Sie verschafft sich ihre Geltung nicht aus sich selbst heraus, sondern bedarf der Absicherung durch Macht. Ohne Regeldurchsetzung bleibt die Regel wertlos, ohne die Stärke des Rechts gilt das Recht des Stärkeren. Die Macht aber, die den Regeln der LIO ihre Geltung verschafft, heißt Amerika. Sowohl der globale Minimalstandard als auch die hochentwickelte Ordnung der EU beruhen letztlich auf der Bereitschaft und der Fähigkeit der Vereinigten Staaten, Ordnung zu definieren und zu verteidigen. In einer politischen Gegenwart, für die das Desaster des Irakkrieges 2003 und die Verachtung des aktuellen amerikanischen Präsidenten für multilaterales Engagement prägend ist, gerät dieses grundlegende Faktum meist aus dem Blick. Schlimmer noch, es ist vielen politischen Beobachtern kaum vorstellbar, dass es sich bei der LIO eigentlich um eine amerikanische Friedensordnung handelt, eine Pax Americana.

»Das westliche Ordnungsmodell steht durch Chinas konsequent ausgeführten Ehrgeiz insgesamt in Frage.« Unterdessen ringen die transatlantischen Partner um ihr eigenes Verhältnis zueinander. Anhaltender Streit über den europäischen Beitrag zur Verteidigungsleistung Amerikas, zu Handelsfragen, Migration und Klimawandel lenken davon ab, dass die eigentliche Ordnungsfrage der kommenden Jahrzehnte nicht im kleinlichen Zwist innerhalb des westlichen Lagers verhandelt wird, sondern dass das

Und doch können weder die europäischen Nationen die Ordnung, von der sie leben, selbst garantieren, noch können (oder wollen) China, Russland oder

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»Europa muss sich selbst sehr zügig politisch, wirtschaftlich, diplomatisch und militärisch zu einem durchsetzungsfähigen internationalen Akteur machen.« westliche Ordnungsmodell durch Chinas konsequent ausgeführten Ehrgeiz insgesamt in Frage steht.

Drittens: Europa muss sich selbst sehr zügig politisch, wirtschaftlich, diplomatisch und militärisch zu einem durchsetzungsfähigen internationalen Akteur machen, der seine Schutzmacht entlastet, seine eigenen Interessen formuliert, und für diese auch kraftvoll eintritt.

Die Frage nach dem „Wie wollen wir leben“, die jeder Ordnung zugrunde liegt, wird daran entschieden, ob der Westen insgesamt die Kraft aufbringt, bei der nun anstehenden Neudefinition von globaler Ordnung halbwegs mit einer Stimme zu sprechen. Wie wollen wir Handel betreiben? Sind Menschenrechte universal? Welche technischen und moralischen Standards sollen gelten für die hyperintegrierte Datenwelt? Nach welchen Regularien sollen globale Finanzströme gesteuert werden? Welche Sitzverteilung und welche Stimmrechte gelten in internationalen Organisationen? Wie wird der Zugang zu den „global commons“ geregelt? Die Antworten, die die LIO, wie wir sie kennen, hierzu gegeben hat, werden in Frage gestellt und zum Teil durch andere Akteure ersetzt.

Es gilt, wie immer, die uralte Regel: Wer will, dass es so bleibt, wie es ist, der muss alles verändern. Es ist verständlich, wenn Amerika nach vielen Jahrzehnten globaler Stabilitätsdienstleistung meint, es brauche eine Pause. Und es ist ebenso verständlich, wenn die Europäer sich in internen Kämpfen verbrauchen und nach außen hin halbherzig einen brüchigen Status quo verteidigen, denn auch sie sehnen sich nach Ruhe. Doch die wahre transatlantische Herausforderung hat erst begonnen. Wer glaubt, dass der Kalte Krieg die Nagelprobe für den freiheitlichen Politikentwurf des Westens war, der hat noch nicht begriffen, welch massive Herausforderung in den nächsten Jahrzehnten erst noch kommt. Nur wenn wir – in Europa und in den USA – auf die Frage „wie wollen wir leben“ eine ambitionierte und machtvolle freiheitlich geprägte Antwort geben können, liegen die besten transatlantischen Zeiten noch vor uns. Wenn nicht, dann sind die Tage der LIO gezählt.

Für das transatlantische Verhältnis bedeutet dies dreierlei. Erstens: Will der Westen frei bleiben, muss er sich seiner massiven Interessenüberschneidungen erinnern, statt die Unterschiede zu zelebrieren. Zweitens: Amerika muss schnell zu einem kraftvollen Bekenntnis zu globaler Führung und multilateralen Allianzen zurückfinden, auch wenn es derzeit glaubt, dass es allein am stärksten ist.

Jan Techau ist Senior Fellow und Leiter des Europaprogramms des German Marshall Fund of the United States in Berlin. Der Politikwissenschaftler leitete zuvor unter anderem das Europabüro des Carnegie Endowment for International Peace, baute für die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) das Alfred von Oppenheim-Zentrums für Europäische Zukunftsfragen auf und war als Referent im Presse- und Informationsstab im Bundesministerium der Verteidigung tätig.

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Brauchen wir einen europäischen Mindestlohn oder eine europäische Arbeitslosenversicherung? Diese Frage wurde im Europawahlkampf diskutiert. Hinter ihnen steht die Frage, wie sozial Europa ist und wie sozial es sein sollte. CIVIS mit Sonde hat die Sozialdemokratin Alice Greschkow und den Christdemokraten Adrian Sonder nach ihren Perspektiven befragt.


WIE SOZIAL SOLL EUROPA IN ZUKUNFT SEIN ?


von Adrian Sonder

Steigende ökonomische und soziale Ungleichheit ist ein vieldiskutierter internationaler Trend, der auch vor Europa nicht Halt macht. Adrian Sonder skizziert vier Ansätze, die in Richtung eines sozia­ leren Europas führen. Die ökonomischen und sozialen Ungleichgewichte sind innerhalb der Europäischen Union beträchtlich. Wirtschaftskraft, Arbeitslosenquote und Durchschnittslöhne klaffen vielerorts weit auseinander. Der Ruf nach einem sozialeren Europa ist angesichts dieses Umstands nachvollziehbar.

proklamierten die Europäischen Mitgliedstaaten am 17. November 2017 die Europäische Säule sozialer Rechte. Sie baut auf 20 Grundsätzen auf, die wirksamere Rechte für alle Bürgerinnen und Bürger innerhalb der EU sicherstellen sollen. Daraufhin legte die Europäische Kommission im Jahr 2018 einen Vorschlag für eine Empfehlung des Rates zum Zugang zum Sozialschutz für Arbeitnehmer und Selbständige vor.

»Ein sozialeres Europa muss vor allem sozialen Aufstieg mit all seinen Facetten ermöglichen.«

Der Deutsche Bundestag hat diese Empfehlung im April dieses Jahres verabschiedet. Hierbei geht es primär darum, dass die Mitgliedsstaaten ihren Bürgern Zugang zum Sozialschutz gewähren. Diese Maßnahme ist eine zwingende Voraussetzung für die Entwicklung eines sozialeren Europas. Sie markiert einen Ausgangspunkt für die erforderliche sozioökonomische Harmonisierung innerhalb der EU. Ein weiterer Schritt dorthin ist die Einführung eines Mindestlohns in jenen Staaten, wo es noch keine Lohnuntergrenze gibt.

Die Wege dorthin sowie die Vorstellungen eines sozialeren Europas unterscheiden sich jedoch fundamental. Während die politische Linke für mehr Umverteilung und eine erweiterte Vergemeinschaftung von Schulden plädiert, sieht die politische Rechte bisweilen keinen oder wenig Handlungsbedarf auf europäischer Ebene. Beide Positionen helfen Europa nicht weiter.

»Fakt ist, dass nur rund vier Prozent der Europäer in einem anderen EU-Land arbeiten.«

Um diesem Dilemma entgegenzuwirken, plädiert dieser Beitrag für vier Ansätze in Richtung eines sozialeren Europas. Diese Ansätze orientieren sich nicht an dem typischen Duktus „mehr Europa“ oder „weniger Europa“, sondern erfordern eine gemeinsame Politik von Mitgliedsstaaten und supranationaler EU-Ebene. Wichtig ist hierbei, dass ein sozialeres Europa nicht gleichbedeutend ist mit mehr Umverteilung und mehr sozialen Leistungen. Nein, ein sozialeres Europa muss vor allem sozialen Aufstieg mit all seinen Facetten ermöglichen. Dazu vier Ansätze:

2. Schrankenloses Arbeiten in Europa ermöglichen Der freie Personenverkehr ist eine der vier Grundfreiheiten innerhalb der Europäischen Union. Er soll schrankenloses Arbeiten in Europa ermöglichen. Fakt ist, dass nur rund vier Prozent der Europäer in einem anderen EU-Land arbeiten. Es lässt sich beobachten, dass Mobilität stärker von Osten nach Westen verläuft, als von Süden nach Norden. Gerade im Hinblick auf die hohen Arbeitslosenquoten in Südeuropa ist dieser Befund erstaunlich.

1. Mindeststandards als Voraussetzung für ein sozialeres Europa Die sozialen Schutzstandards variieren in Europa von Land zu Land. Vor diesem Hintergrund

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WIR KÖNNEN DAS EUROPÄISCHE AUFSTIEGSVERSPRECHEN ERNEUERN Wie Europa seine sozialen Versprechen halten kann

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Ein Abbau von Hürden ist notwendig, um den Status quo zu verändern. Zu diesem Zweck wird eine Fünf-Punkte-Agenda für ein mobiles Europa vorgeschlagen:

Vermögensungleichheit in den vergangenen Jahrzehnten gewachsen. Aber auch in Staaten mit einer sehr ausgeglichen Einkommensverteilung (zum Beispiel in Schweden oder Dänemark) ist die Ungleichheit seit Anfang/Mitte der 1990er Jahre deutlich größer geworden. Vor diesem Hintergrund hat die politische Debatte in den letzten Jahren an Fahrt aufgenommen. Dazu haben auch Veröffentlichungen wie das Buch „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ des französischen Ökonomen Thomas Piketty beigetragen. Die Ungleichheit wird in den kommenden Jahren aufgrund des technologischen Wandels weiter zunehmen. Vor diesem Hintergrund bedarf es umfassender politischer Reformen in verschiedenen Politikfeldern, wie beispielsweise in der Steuerpolitik, Bildungspolitik, Wirtschaftspolitik und Sozialpolitik. Die Europäische Union sollte hierbei eine unterstützende Rolle spielen.

1. Regelungen für die Anerkennung von Berufs- und Universitätsabschlüssen müssen harmonisiert werden. 2. Programme zur Förderung der Mobilität sind bedarfsgerechter auszugestalten – unter anderem mittels einer besseren Vermittlung von interkulturellen Kompetenzen sowie Sprachkenntnissen sowie einem höheren Engagement von Unternehmen. 3. Die Angebote zum Erlernen einer Fremdsprache zwecks Arbeitsmarktmobilität müssen in allen EU-Ländern ausgebaut werden.

»Alleine die chinesische Hafenstadt Tianjin hat angekündigt, 16 Milliarden Dollar in die KI-Branche zu investieren.«

4. Die öffentliche Verwaltung muss Unionsbürgern einen leichteren Zugang gewähren. 5. Nationale arbeitsrechtliche Hürden müssen abgebaut und Regelungen vereinheitlicht werden.

4. Ein sozialeres Europa braucht starke und innovative Volkswirtschaften

Die Umsetzung der 5-Punkte-Agenda ist ein wichtiger Schritt, um schrankenloses Arbeiten in Europa zu ermöglichen. Dieses schrankenlose Arbeiten ist mehr als ein technischer Aspekt. Es war von Anfang an ein Versprechen Europas, einen gemeinsamen Binnen- bzw. Arbeitsmarkt zu verwirklichen.

Die Ausgestaltung eines sozialeren Europas hängt in hohem Maße von der wirtschaftlichen Stärke unseres Kontinents ab. Seit dem Zweiten Weltkrieg hat die wirtschaftliche Stärke Europas in vielen Ländern gute Bildungs- und Sozialsysteme entstehen lassen. Die zukünftige Leistungsfähigkeit dieser Systeme kann jedoch nur gewährleistet werden, wenn die europäischen Volkswirtschaften wettbewerbsfähig bleiben. Angesichts der steigenden wirtschaftlichen Leistung von China, Indien und anderen Ländern ist dies jedoch keinesfalls gewiss. Vor diesem Hintergrund bedarf es mutiger und ambitionierter Pläne, um die Wertschöpfung des 21. Jahrhunderts in Europa zu sichern. Ein Beispiel dafür ist die Strategie zur künstlichen Intelligenz der französischen Regierung. Sie ist ambitioniert und unterstreicht damit die zentrale Bedeutung dieser Technologie für die Zukunft der Weltwirtschaft. Genau diese Ambition lassen einige Mitgliedsländer (auch Deutschland) und die EU-Ebene bisweilen vermissen.

»Die Ungleichheit wird in den kommenden Jahren aufgrund des technologischen Wandels weiter zunehmen.« 3. Die Mitgliedsstaaten müssen Ungleichheit bekämpfen Steigende ökonomische und soziale Ungleichheit ist ein internationaler Trend seit den 1980er Jahren. Auch in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union lässt sich diese Entwicklung beobachten – in Ländern wie Deutschland ist die Einkommens- und

Zum einen fehlt es an kohärenten und konkreten Maßnahmenpaketen, die stringent umgesetzt wer-

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»Die Ausgestaltung eines sozialeren Europas hängt in hohem Maße von der wirtschaftlichen Stärke unseres Kontinents ab.«

den. Hierzu könnte unter anderem eine Bildungsoffensive gehören, die Programmieren in allen Ländern Europas zum Schulfach macht. Estland ist hier ein Vorreiter. Dadurch erlernen Kinder schon im frühesten Alter eine wichtige Fertigkeit, die sie später im Berufsleben anwenden können. Währenddessen hat sich etwa die deutsche Politik beim Digitalpakt um politische Zuständigkeiten gestritten.

eine innovative und technologieorientierte Wirtschaftspolitik stellen müssen. Um die Kräfte besser zu bündeln, ist hierfür auch eine noch engere und koordinierte Kooperation auf EU-Ebene notwendig.

Zum anderen sind die Investitionssummen des Staates häufig verschwindend gering. Nur eine Einordnung: Die deutsche Bundesregierung will bis 2025 drei Milliarden Euro in künstliche Intelligenz investieren. Alleine die chinesische Hafenstadt Tianjin hat angekündigt, 16 Milliarden Dollar in die KI-Branche zu investieren. Diese Betrachtung macht deutlich, dass die EU-Mitgliedsstaaten mutiger, entschiedener und schneller die Weichen für

Viele Europäer assoziieren mit der EU ein Aufstiegsversprechen. In einigen EU-Ländern bröckelt dieses Versprechen und deshalb muss es erneuert werden. Der Weg dorthin ist nicht mit einfachen Instrumenten, wie beispielsweise der europäischen Arbeitslosenversicherung zu meistern. Vielmehr sind gemeinsame Anstrengungen auf europäischer und nationaler Ebene für die Einlösung des europäischen Aufstiegsversprechens entscheidend.

Schlussplädoyer: Gemeinsam und wirksam für ein sozialeres Europa

Adrian Sonder ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Deutschen Bundestag und Blogger. Er verfasst regelmäßig Beiträge zu arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Themen. Hierbei widmet er sich insbesondere der Digitalisierung der Arbeitswelt sowie der Bekämpfung von Langzeitarbeitslosigkeit.

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DIE STÄRKUNG DER EUROPÄISCHEN PARTNER LIEGT IM INTERESSE DEUTSCHLANDS Europäischer Wettbewerb funktioniert nur mit starken Mitgliedsstaaten

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von Alice Greschkow

Die sozialen Folgen der Krisen und Austeritätspolitik des vergangenen Jahrzehnts sind gravierend. Alice Greschkow beleuchtet mögliche sozialpolitische Instrumente und Investitionsprogramme für ein sozial gerechteres Europa. Die Anspannung der Europawahl Ende Mai scheint sich langsam aufgelöst zu haben. In den Medien ist man wieder zum Alltagsgeschäft zurückgekehrt – dies ist ein großer Fehler. Diese Europawahl hat vielleicht zu keinem Erdrutschsieg der anti-europäischen Kräfte geführt, jedoch sind die Ergebnisse und ihre Implikationen besorgniserregend. Dabei ist es nicht einmal das größte Problem, dass im politischen Wettbewerb die einstigen Volksparteien an Stimmen einbüßten. Nein, vielmehr zeigt diese Europawahl, wie sehr die EU krankt und weshalb soziale Ideen wieder notwendig sind.

Desintegrationswünsche in Großbritannien und die Migrationsbewegung setzten innerhalb kurzer Zeit tiefe Zäsuren. Was alle drei Krisen gemein haben, ist, dass sie bei weiten Teilen der Bevölkerung Verlustängste ausgelöst haben und die Politik dafür verantwortlich gemacht wird. Vor allem die Austeritätspolitik ist das Gespenst, das die Bürger Europas im Süden sowie Osten nervös macht. Im Osten hat man nämlich in den 1990ern gesehen, was die „Schock-Therapie“ und Turbo-Liberalisierung bedeuten können, wenn es nur um nackte Zahlen geht. Im Süden Europas fühlten allen voran die Griechen was Austerität mit ihnen macht.

»Diese Europawahl zeigt, wie sehr die EU krankt und weshalb soziale Ideen wieder notwendig sind.«

Anstatt Wachstumsanreize zu setzen, sind diese Staaten nach volkswirtschaftlichen Kriterien umgestaltet worden – der Staat wurde schlanker, die Sozialausgaben wurden gedrückt, die öffentlichen Investitionen in Bildung und Infrastruktur gingen zurück. Natürlich sinkt damit die Verschuldung – der Patient scheint sich auf dem Papier zu erholen. Was in so einem volkswirtschaftlichen Klima passiert, haben die wenigstens einkalkuliert. Aus der Not werden keine kompetitiven Unternehmen geboren, wenn es die Hauptpriorität ist, schnellstmöglich etwas Geld zu verdienen, um die eigene Familie zu versorgen. Es entstehen auch keine Innovationen, wenn in Schulen und Universitäten gespart wird.

Dass in Deutschland so viel über die positive Bilanz der Grünen gesprochen wurde, ist im Zuge einer Analyse der Europawahl erstaunlich und offenbart die kurzsichtige Perspektive: Wir haben auch bei europäischen Themen die Brille der Bundesrepublik auf und schaffen es nicht, über den Tellerrand zu blicken. Was nämlich relativ unbeachtet blieb, ist, dass die drei stärksten Volkswirtschaften nach Deutschland – Großbritannien, Frankreich und Italien – anti-europäische bzw. erzkonservative Gewinner hervortrugen, die im Kern zurück zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft kehren wollen. Auch in osteuropäischen Ländern wie Polen und Ungarn sind Kräfte an der Macht, die zum Teil völkisch-nationale Ressentiments bedienen.

Mit den optimierten Zahlen fühlen sich Länder, die sich wie Deutschland als großzügige Geber-Staaten identifizieren, aus der Verantwortung gezogen. Bis die Realität sie daran erinnert, dass die kurzzeitige Sicherung der volkwirtschaftlichen Parameter ein neues Problem entstehen lässt: die langfristige demografische Implosion der Staaten durch Migration und sinkende Geburtenraten. Es ist ein klares Muster: In den osteuropäischen Staaten brachen die Geburtenraten zwischen 1990 und 2000 ein als die Liberalisierungsziele des Internationalen Währungsfonds erreicht werden mussten.

Das Gespenst der Austeritätspolitik Ist dies verwunderlich? Nicht wirklich. Das vergangene Jahrzehnt war eine Periode der Krisen – die Finanzkrisen im Süden des Kontinents, die

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In Spanien und Griechenland erreichten die Geburten während des Krisenhöhepunkts 2012/13 ihren Tiefpunkt – in Italien sinken sie weiterhin.

Gesetze in dieser Form gestalten, um auch den Standort für westliche Investoren attraktiv zu machen. Die sukzessive Lockerung des Arbeitnehmerschutzes für kompetitive Zwecke könnte zum Treppenwitz der EU werden, die sich stets auch für gute soziale Standards einsetzen möchte.

Diese Entwicklung ist zudem mit einer großen Migrationsbewegung gepaart. Ob Studenten oder Arbeiter – Millionen von Menschen sind in die reicheren (nord-)westlichen Länder aufgebrochen. Zusätzlich kam durch die Präsenz internationaler westeuropäischer Ketten ein Konkurrenzdruck, mit dem unreife Marktwirtschaften nicht umgehen können. Die Freizügigkeit von Dienstleistungen, Waren und Personen ist ein zweischneidiges Schwert – während Lidl, Zara, Aldi und H&M ihre Produkte nun leichter exportieren können, müssen die Volkswirtschaften in diesen Ländern auf einen höheren Konkurrenzdruck in bestimmten Arbeitsbranchen rechnen – was im Zweifel die Gehälter nach unten treiben kann.

»Bulgarien hat in den vergangenen 30 Jahren zwei Millionen Einwohner verloren, auch im Baltikum sieht es nicht besser aus.« Dennoch könnten die Bemühungen gerade den Osten Europas zu stabilisieren, langfristig scheitern, wenn die demografische Entwicklung sich weiter verschärft. Bulgarien hat in den vergangenen 30 Jahren zwei Millionen Einwohner verloren, auch im Baltikum sieht es nicht besser aus. Dass Deutschland sich nicht um diese kleinen wirtschaftlichen Leichtgewichte kümmert, mag nachvollziehbar erscheinen. Jedoch wäre man in der EU gut beraten, diese Länder ebenfalls zu stärken, um einerseits den Migrationsdruck zu senken sowie andererseits die Absatzmärkte für exportorientierte Staaten zu sichern.

Diese Entwicklungen machen marktwirtschaftlich Sinn: Der Stärkere gewinnt im Wettbewerb. Dieser Wettbewerb ist in einer Marktwirtschaft auch notwendig. Wertschöpfung und Arbeitsplätze machen ein gesundes Wirtschaftssystem schließlich aus. Ob es allerdings so sinnvoll gewesen ist, diese Wettbewerbsvorteile gerade gegen diejenigen zu nutzen, die man als Partner sieht, sei zur Disposition gestellt. Die Schwierigkeiten, die aus der gegenwärtigen Situation erwachsen, sind beispielhaft am ungarischen „Sklavengesetz“ zu illustrieren:

Man darf nicht vergessen, dass der deutsche Wohlstand zu einem signifikanten Teil im Ausland erwirtschaftet wird, vor allem im EU-Binnenmarkt! Wenn jedoch die Negativspirale des demografischen Wandels greift, dann führt die Verkettung von wirtschaftlicher Schwäche mit dem sozialen Ungleichgewicht zu politischen Spannungen, die im Zweifel zu Nationalismus und anti-europäischen Sentiments führen können.

Die ungarische Regierung beschloss im Dezember 2018 ein neues Arbeitszeitgesetz, das Massenproteste im Land auslöste. Der Grund dafür ist, dass die zulässige Überstundenzahl pro Jahr von 250 auf 400 angehoben wurde; Arbeitgeber können die Zahlung von Zuschlägen bis zu drei Jahre lang verschieben. Der Grund für dieses Gesetz ist der massive Fachkräftemangel im Land – der angesprochene Geburtenrückgang in den 1990ern sowie die Auswanderung vor allem nach Österreich, wo in der Gastronomie zum Teil höhere Gehälter erzielt werden können als in technischen Berufen in Ungarn.

Ideen für ein sozial gerechtes Europa Es ist klar, dass man für ein erfolgreiches europäisches Projekt auch sozial nachdenken muss. Dass die S&D-Gruppe über einen europäischen Mindestlohn nachdenkt, ist dabei wenig überraschend. Natürlich ist es nicht möglich, dass ein einheitlicher Mindestlohn in allen Staaten existiert. Tatsächlich wäre es höchst schädlich, wenn die wirtschaftlich schwachen Länder ihren Unternehmen einen westlichen Mindestlohn vorschreiben würden. Es lohnt sich allerdings darüber nachzudenken, ob nicht ein einheitliches Minimum angestrebt werden sollte als Mindestlohn – beispielsweise 60 Prozent des Median­einkommens im jeweiligen Land.

Obwohl es sich bei diesem konkreten Fall um einen Rückbau von Arbeitnehmerrechten handelt, der im Zweifel fähige Fachkräfte ins Ausland verdrängt, profitieren deutsche Unternehmen davon. Vor allem BMW und Audi haben in den Standort Ungarn investiert – der Fachkräftemangel stellt sie jedoch vor eine besondere Herausforderung. Es wirkt fast so als würde Ungarns Präsident Viktor Orbán seine

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Auf diese Weise könnte der Migrationsdruck sinken und die jeweiligen Volkswirtschaften würden durch einen gestiegenen Konsum einen hoffnungsvollen Aufschwung erleben. Trotzdem darf man bei diesem Instrument nicht naiv sein. Ein höherer Mindestlohn in westlichen Staaten ist attraktiv genug, um Fachkräfte ins Ausland zu locken. Ist dies so gewollt? Ein europäischer Mindestlohn müsste also mit Vorsicht und Sorgfalt gestaltet werden, denn er ist mitnichten ein Allheilmittel.

wenigstens kurzfristige Lösungen gibt, um die Folgen dessen abzufedern, dann wird die Europäische Union niemals die notwendige Stabilität erreichen. Migration und demografische Krise würden sich in diesem Szenario weiter verschärfen. Was jenseits von sozialpolitischen Instrumenten zu überlegen wäre, ist ein dezentrales Investitionsprogramm für Innovationen und Forschung. Es kann nicht sein, dass die Besten der Besten in Europa noch immer in die USA blicken, um technische und digitale Ideen voranzutreiben. Europa braucht keine Kopie des Silicon Valleys, aber starke Bildungsinstitutionen und Hubs jenseits von Deutschland, Skandinavien oder Frankreich, um sich breiter und kompetitiver aufstellen zu können. Um dem Wettbewerbsdruck gegen China und den USA standzuhalten, kann ein europäisch finanzierter Innovationsfonds eine Lösung sein.

»Auch in den USA gibt es Arbeitslosenrückversicherungen, die funktionieren – es ist eine Frage des Willens und der Weitsicht.« Ein weiterer Vorschlag ist eine europäische Arbeitslosenversicherung. Entgegen dem marktwirtschaftlichen Panik-Reflex, dass Deutschland damit zum Zahlmeister werden wird, kann eine Versicherung auch als ökonomisch sinnvoller Fonds eingerichtet werden. Auch in den USA gibt es Arbeitslosenrückversicherungen, die funktionieren – es ist eine Frage des Willens und der Weitsicht.

Europa hat bei einer wachsenden wirtschaftlichen und legislativen Integration eine geistige Desintegration in vielen Staaten durchlaufen. Der Grund dafür ist auch, dass die Europäische Union sich als krisenanfälliger als erwartet entpuppt hat und damit reale Existenzen zerstört hat – über diese wird aber nicht berichtet. Man könnte den bisherigen Weg der Austeritätspolitik weitergehen. Migrationsdruck, demografischer Wandel und das Erstarken von erzkonservativen Nationalisten deuten jedoch darauf hin, dass es sich lohnen würde, eine sozialere Politik auszutesten, die die Europäer im Blick hat.

Wie wappnet man sich nämlich dafür, wenn die drohende Rezession tatsächlich einschlägt? Ökonomen rechnen seit langem damit, dass es bald wieder zur Wirtschaftskrise kommen wird – wenn es nicht

Alice Greschkow hat Politikwissenschaft und Internationale Beziehungen studiert und ist als Beraterin sowie freie Autorin zum Thema "Arbeit der Zukunft" tätig. Sie ist seit 2009 Mitglied der SPD.

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von Robert Seegmüller

Dialog auf Augenhöhe! Zum Verhältnis von Gesetzgebung und Rechtsprechung nach 70 Jahren Grundgesetz

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Das vor 70 Jahren verabschiedete Grundgesetz sieht den Dialog zwischen Legislative und Judikative vor. Doch er funktioniert nicht mehr uneingeschränkt. Er muss bewahrt und wiederbelebt werden. Robert Seegmüller über die Defizite und mögliche Schritte auf dem Weg zu einem funktionierenden Dialog.

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»Auf verfassungsrechtlicher Ebene könnte an eine Befugnis zur regelmäßigen Ersatzgesetzgebung, auf der Ebene der Fachgerichte an eine Stärkung der gerichtlichen Vollstreckungsbefugnisse gegenüber staatlichen Stellen gedacht werden.«

Der Artikel gibt die persönliche Meinung des Autors wieder.

Dr. Robert Seegmüller ist Richter am Bundesverwaltungsgericht und Vizepräsident des Verfassungsgerichtshofes des Landes Berlin. Zudem ist er Vorsitzender des Bundes Deutscher Verwaltungsrichter und Verwaltungsrichterinnen (BDVR) sowie des Deutschen Verwaltungsgerichtstages. Dr. Seegmüller ist Beisitzer im Vorstand des Bundesarbeitskreises Christlich Demokratischer Juristen (BACDJ).

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EIN BLICK HINTER DIE KULISSEN DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS Moritz Dütemeyer, Parlamentarischer Assistent und Büroleiter von MEP David McAllister, portraitiert von Christina von Busch. Foto: European Parliament

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Wir passieren die Sicherheitskontrollen am Haupteingang des Europäischen Parlaments in Brüssel und gelangen in einen riesigen Gebäudekomplex, der wie das Terminal eines internationalen Flughafens wirkt: groß und weitläufig, ein Hauch von Aufbruchstimmung liegt in der Luft. Moritz Dütemeyer ist stolz, mir seinen Arbeitsplatz zu zeigen.

McAllister ständiger Berichterstatter für Serbien. Eine Dienstreise mit McAllister von Belgrad nach Pristina gehört zu Dütemeyers bisher eindrücklichsten Erinnerungen. Jedem Ausschuss ist ein Sekretariat zugeordnet. Es ist vergleichbar mit einem wissenschaftlichen Dienst und bereitet Briefings für die Abgeordneten vor. Die Zusammenarbeit mit dem Ausschusssekretariat für Auswärtige Angelegenheiten gehört zu Dütemeyers Hauptaufgaben, er ist die Schnittstelle zwischen McAllister und den Beamten des Parlaments.

751 Abgeordnete aus 28 Mitgliedstaaten umfasst das Europäische Parlament gegenwärtig. Seit 2014 arbeitet Dütemeyer für einen von ihnen: David McAllis­ter, den Vizepräsidenten der Europäischen Volkspartei (EVP). Dütemeyer ist in Berlin geboren, wuchs in Hannover auf. In dieser Stadt ist er zu Hause. Nach dem Abitur und dem Wehrdienst ging er 2005 zum Studium der Rechtswissenschaft nach Göttingen. Das Rechtsreferendariat absolvierte er in Lübeck.

Anders als etwa im Deutschen Bundestag, ist die Arbeit im Europäischen Parlament zyklisch. Unterschieden werden vier verschiedene Wochen. Los geht es mit der „Ausschusswoche“, in welcher sich selbige treffen, gefolgt von einer „Fraktionswoche“, in welcher sich Mitglieder der EVP und der CDU/CSU unter sich treffen, um die nachfolgende „Plenar­ woche“ vorzubereiten und abzusprechen. Die vierte Woche dient Fahrten in den Wahlkreis oder ausschussbezogene Reisen, wie etwa zu den Vereinten Nationen in New York.

Dütemeyer ist ein angenehmer Gesprächspartner, wirkt intelligent, sympathisch, und verantwortungsbewusst. Das muss auch David McAllister aufgefallen sein, als Dütemeyer im Jahr 2008 für dessen verhinderten Chauffeur einsprang. Zwei Monate lang fuhr Dütemeyer den damaligen Vorsitzenden der CDU-Landtagsfraktion Niedersachsen zu seinen Terminen. Die beiden unterhielten sich viel, verstanden sich gut. Als McAllister 2014 ins Europaparlament gewählt wurde, nahm er den frisch gebackenen Volljuristen Dütemeyer mit nach Brüssel.

Ein großer Unterschied zum Bundestag ist, dass einzelne Abgeordnete mehr Kompetenzen haben. Änderungsanträge etwa werden von einzelnen Abgeordneten gestellt, nicht von der Fraktion. So kommen schnell mal mehrere hundert Änderungsanträge pro Bericht zusammen. Auch werden Kompromisse im Europäischen Parlament häufiger überparteilich und themengebunden gesucht.

McAllister scheint ein Händchen für gute Personalauswahl zu haben. Dütemeyer schwärmt von der guten Stimmung im fünfköpfigen Team um McAllister – vier in Brüssel und eine Kraft im Wahlkreis.

Das Einleben in Brüssel ist Moritz Dütemeyer und seiner Frau Vivien nicht schwergefallen. „Brüssel und Hannover haben gemeinsam, dass sie beide zu den unterschätztesten Städten Europas gehören“, sagt er. Mittlerweile ist die Stadt sein zweites Zuhause geworden. Besonders an Brüssel gefällt ihm die internationale Atmosphäre. So spielt er mit viel Begeisterung für „La Mannschaft“, das deutsche Fußballteam der Brüsseler Europaliga, in der Teams aus verschiedenen Ländern gegeneinander antreten.

Dütemeyers Aufgaben sind die Leitung des Büros, die inhaltliche Vorbereitung von Terminen und die Medienarbeit. EU-Parlamentarier sind verschiedenen Ausschüssen zugeordnet. Dort findet die inhaltliche Arbeit statt. McAllister ist Mitglied im Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten und zugleich dessen Vorsitzender. Die Arbeit in den Ausschüssen ist meist legislativ, im Ausschuss für Auswärtige Angelegenheiten jedoch etwas weniger, da das Parlament hier primär eine Kontrollfunktion gegenüber der Arbeit der Europäischen Kommission und des Europäischen Auswärtigen Dienstes ausübt. Zu den wichtigsten Themen des Auswärtigen Ausschusses gehört unter anderem die Erweiterungspolitik. Hier ist

Dütemeyer fasst seinen Eindruck von nun fünf Jahren im Parlament zusammen: „Das Parlament ist eine Miniaturversion der gesamten EU. Wenn man die verschiedenen Arten zu verhandeln erlebt, wie gemeinsam Probleme gelöst werden und miteinander kommuniziert wird, kann man nur Pro-Europäer werden.“

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CIVIS & SONDE 02 — 2019

Ich träume von Europa W W W. C I V I S - M I T- S O N D E . D E

01— 2019

CIVIS & SONDE 2/2019

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02 — 2019

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Die nächste Ausgabe von CIVIS mit Sonde erscheint im November 2019.

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