CIVIS mit Sonde 2018/3

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03 — 2018

Der steinige Weg der Erinnerung

CIVIS & SONDE



CIVIS & SONDE


Neue Wache, Berlin Unter den Linden Zentrale Gedenkstätte der Bundesrepublik Deutschland fßr die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft



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»Immer weniger Menschen kennen die Zeit des Krieges und gar die Zeit vor dem Krieg noch aus eigener Erfahrung, die Architekten des Wiederaufbaus treten ab. Und der Genera­ tionswechsel lässt nicht nur die Zeitzeugen des Holocaust allmählich verstummen. Es verblassen auch die Erfahrungen von Verfolgung und Massenmord, von Kriegen und Vertrei­ bungen, von durchlittenen Bombennächten, von Sprech- und Denkverboten. Auch diese Erfahrungen haben das Denken einer ganzen Generation stärker geprägt, als es die Fernseh­ bilder von heute je können werden. Also müssen sie so gut wie möglich an die kommenden Generationen weitergegeben werden. Das ist unsere Pflicht vor der Geschichte.«

Bundespräsident Roman Herzog zum Staatsakt anlässlich des 50-jährigen Bestehens der Bundesrepublik Deutschland (Berlin, 24. Mai 1999)

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Liebe Leserin, lieber Leser, in diesem Jahr jährt sich das Ende des Ersten Weltkriegs zum hundertsten Mal. Die Schrecken des Krieges haben Europa auf Jahrzehnte geprägt. Und die Erinnerung an diese Schrecken prägen Europa bis heute. Der britische Economist schrieb neulich: „The pedagogical value of the past is to today’s European establishment what the uninhibited pursuit of freedom is to the American one, a foundational story, an essence.“ Vielleicht ist es kein Zufall, dass die Leitmotive Europas und Amerikas nahezu gleichzeitig unter Druck gesetzt werden. Erinnerung muss ständig gepflegt werden. Als Zeichen der andauernden und dauerhaften Versöhnung kamen am 10. November 2018 Bundeskanzlerin Angela Merkel und der französische Präsident Emanuel Macron gemeinsam an jenem Ort zusammen, an dem 1918 der Waffenstillstand besiegelt wurde. Es war das erste Mal seit Gründung der Bundesrepublik, dass ein deutscher Kanzler mit einem französischen Präsidenten Compiègne besuchte.

im Dienst der Aufklärung und der dauerhaften Versöhnung in Europa zu erhalten. Die Geschichtswissenschaft muss diese Erinnerungskultur stützen. Darin liegt auch die gesellschaftspolitische Verantwortung der Geschichtswissenschaft, wie unser Gesprächspartner, Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble, dem diesjährigen Historikertag für die Arbeit aufgab.

Frieden in Europa ist nicht selbstverständlich, das lehrt die Geschichte. Doch immer wieder besteht die Gefahr, dass Geschichte instrumentalisiert und historische Begebenheiten für eigene politische Narrative umgedeutet werden. Das Internet befeuert diese Entwicklung zusätzlich. Vor allem Rechte nutzen Geschichte seit jeher zur Angst­ macherei und vor allem um ihr nationalistisches Gedankengut zu stärken. Was sie dabei verkennen, hat der französische Präsident in seiner Pariser Rede vom 11. November treffend zusammengefasst: „Patriotismus ist genau das Gegenteil von Nationalismus.“ Daraus erwächst für alle Bürgerinnen und Bürger ein klarer politischer Auftrag: eine Erinnerungskultur

Herzlichst,

Zur Erinnerung anschaulich beitragen möchten wir mit einer besonderen Fotoserie, die in dieses Heft eingebettet ist. Wir haben uns auf den Weg auch zu weniger prominenten Denkmälern in Berlin gemacht. Sie verdienen es ebenso, beachtet zu werden. Damit nicht vergessen wird, was nicht vergessen werden darf. Ich danke allen Autorinnen und Autoren und wünsche Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, viel Vergnügen bei der Lektüre dieser neuen Ausgabe!

Ihr Erik Bertram

PS: In Zukunft freuen wir uns auch über interessante Leserbriefe von Ihnen an leserbriefe@civis-mit-sonde.de

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Tiergarten, Berlin Denkmal fĂźr die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen


Inhalt 14

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Woran unsere Gesellschaft wächst | Im Gespräch CIVIS mit Sonde trifft Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble

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Aus Geschichte lernen | Standpunkt Andreas Wirsching nennt historische Gründe für den Abstieg der christlichen Volksparteien

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Was ist Heimat? | Kontraste Katrin Göring-Eckardt und Marco Wanderwitz beschreiben ihren Heimatbegriff

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Am Anfang war Vergessen | Standpunkt Andrea Schneider-Braunberger analysiert das historische Erbe deutscher Unternehmen

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Die Zeit der Sonntagsreden ist vorbei | Standpunkt Hubertus Pellengahr legt dar, was soziale Marktwirtschaft wirklich bedeutet

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Abonnement

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Gemeinsam im Kampf gegen den Antisemitismus | Kurzintervention Stephan Harbarth fordert, christlich-jüdische Werte entschlossen zu verteidigen

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Frieden durch Recht? | Standpunkt Carl-Philipp Sassenrath zu den völkerrechtlichen Lehren des Versaillers Friedensvertrages

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Das Projekt Umkehrschub | Aus aktuellem Anlass Joachim Koschnicke fordert, alle alten Festplatten von CDU und CSU zu löschen

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Wider die alten Denkschablonen | Aus aktuellem Anlass Klaus Hekking skizziert neue Eckpfeiler einer modernen Bildungspolitik

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Die Lebenslüge meiner Generation | Aus aktuellem Anlass Matthias Zimmer hinterfragt die Antwort auf Pichts Bildungskatastrophe

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Gegen das System | Aus aktuellem Anlass Ursula Männle erinnert sich an ihre Zeit in der Studentenpolitik der 68er Jahre

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Chuzpe auf Rheinländisch | Portrait Der Historiker Michael Borchard portraitiert von Sebastian Hass

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Impressum

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GroĂ&#x;er Tiergarten, Berlin Denkmal fĂźr die im Nationalsozialismus verfolgten Sinti und Roma Europas



Woran unsere Gesellschaft wächst In seinem Büro im Berliner Reichstagsgebäude traf CIVIS mit Sonde auf Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble. Ein Gespräch über notwendige Reformen des Deutschen Bundestags, die deutsche Er­ innerungskultur und Fragen der geschichtlichen Bildung.

Das Interview führten Barbara Ermes und Sebastian Hass. Fotografie: Maximilian König

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»Die europäische Einigung ist die beste Idee, die wir Europäer im 20. Jahrhundert hatten.«

CIVIS mit Sonde: Das deutsche Parlament wurde 1949 als redendes Arbeitsparlament konzipiert, als Zwitter zwischen dem britischen und US-amerikanischen Modell. Jetzt stellen wir fest, dass in Zeiten stetig zunehmender Komplexität und fachlicher Spezialisierung diese institutionelle Gratwanderung unter Druck gerät. Wie sehen Sie die Zukunft der Institution Bundestag?

Ob man ein parlamentarisches Regierungssystem hat wie wir oder ein präsidiales wie in den USA oder Frankreich: Unser westliches Demokratiemodell ist insgesamt unter Stress geraten. Man spürt überall einen gewaltigen Veränderungsdruck, sogar im Mutterland der parlamentarischen Demokratie, in Großbritannien. Dort verlagerte das Parlament eine Entscheidung von historischer Bedeutung auf ein Referendum. Das ist eine fast ironisch zu nennende Entwicklung, die zeigt, dass wir daran arbeiten müssen, die Aufgaben repräsentativer Demo­ kratie besser zu erfüllen. In der modernen Welt, mit ihren disruptiven Veränderungen, mit ihrem gewaltigen Druck auf den Zusammenhalt der Gesellschaften, halte ich das repräsentative System für wichtiger denn je. Denn die Alternative zum repräsentativen System sind entweder permanente Referenden, wie es die Piraten mal gefordert haben und damit kläglich gescheitert sind, oder eine Diktatur – und die ist noch schlechter.

»Unser westliches Demokratiemodell ist insgesamt unter Stress geraten.« Schäuble: In der repräsentativen Demokratie ist der Bundestag das Herz der Demokratie. Seine gewählten Abgeordneten müssen Mehrheiten finden, um eine Regierung zu bilden, und sie erarbeiten Gesetze. Die sind heute allerdings zum Teil so kompliziert, dass viele Debatten in der Tat nicht mehr verstanden werden. Deshalb ist es zentrale Aufgabe des Parlaments, der Bevölkerung das Gefühl zu vermitteln, dass ihre Interessen, ihre Sichtweisen in den politischen Entscheidungsprozess einfließen. Am Ende entscheidet die Mehrheit. Und deswegen ist es gut, wenn die Debatten lebendig sind, spannend – deswegen muss sich der Bundestag auch mit den großen Fragen beschäftigen, selbst wenn sie nicht Fragen der Gesetzgebung sind. Dies gilt übrigens unabhängig von der Form des Regierungssystems.

CIVIS mit Sonde: Herr Dr. Schäuble, Sie haben über Jahrzehnte hinweg EU-Politik geprägt und gestaltet, oft nicht nur gegen nationalen, sondern auch gegen internationalen Widerstand. Die EU der Gegenwart wird durch Fliehkräfte, wie die gegenwärtige Haushaltspolitik Italiens, Sezessionismus und Separatismus – Stichworte: Brexit und Katalonien – dominiert. Wie kann in einer solchen Situation Steuerungsfähigkeit gewahrt werden, wie gleichen wir nationale Selbstbestimmung und supranationale Integration aus?

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Schäuble: Das Projekt der europäischen Einigung ist in einer schwierigen Situation, keine Frage. Dennoch bleibt die europäische Einigung die beste Idee, die wir Europäer im 20. Jahrhundert hatten. Und sie ist die beste Vorsorge für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Kein europäisches Land – und sei es noch so stark – ist groß genug, um allein mit den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts fertigzuwerden. Nur im Verbund können wir den globalen Wandel gestalten. Aber genau hier liegt unser Dilemma: Wir brauchen eine handlungsfähige, starke EU. Gleichzeitig wächst der Widerstand in der Bevölkerung dagegen, wie sich Europa konkret darstellt. Viele sprechen der EU zunehmend die Fähigkeit ab, die großen Probleme zu lösen. Die Antwort darauf ist klar: Europa muss effizienter und stärker werden, sich auf die drängendsten Aufgaben fokussieren, um Vertrauen in der Bevölkerung zurückzugewinnen: Bei der inneren und äußeren Sicherheit, in

Fragen der Migration und im Bereich der Wirtschafts- und Währungspolitik. Hier brauchen wir mehr Europa. Zur Wahrheit gehört: Das ist mit dem europäischen Primärrecht – gelinde gesagt – nur schwer herstellbar. Das ist die Realität, davon muss verantwortungsvolle Politik ausgehen. Der Lissabon-Vertrag bietet nur begrenzte Spielräume für die eigentlich gebotene Vertiefung. Deshalb muss es notfalls pragmatisch-effizient gehen – intergouvernemental. Und wo nicht alle mitmachen wollen, ist es immer noch besser, diejenigen, die wollen, machen sich auf den Weg, als dass nichts geschieht. Entscheidend ist, dass der Prozess für alle anderen offen bleibt. Schon 1994 haben Karl Lamers und ich mit dem Konzept vom europäischen Kern vor einer Erstarrung Europas gewarnt. Wir haben ein Instrument vorgeschlagen, um ganz Europa voranzubringen – immer streng nach dem Prinzip der Freiwilligkeit und mit Respekt vor nationalen Traditionen und Mentalitäten.

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Auch heute zeigt sich: Wir müssen handeln. Wir können uns nicht erlauben, dass der Langsamste das Tempo bestimmt – aus welchen Gründen auch immer. In diesem Zusammenhang hat Paul Kirchhof jüngst weitreichende Ideen formuliert. Kirchhof schlägt für Europa nichts weniger als eine „neue Grundordnung“ vor, um vom Einstimmigkeitsprinzip wegzukommen, das Fortschritte hemmt. Ich könnte mir auch die Direktwahl des Kommissionspräsidenten vorstellen. Sie würde die demokratische Legitimation des höchsten EU-Amtes stärken. Ein vom Volk gewählter Kommissionspräsident könnte Europa den Menschen näherbringen und die Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger erhöhen, sich mit der Idee Europa zu identifizieren und sie mit Leben zu erfüllen. Das gilt besonders für junge Menschen, in deren Händen vor allem die Zukunft Deutschlands in der EU und der Welt liegt.

»Ich könnte mir auch die Direktwahl des Kommissionspräsidenten vorstellen.« CIVIS mit Sonde: Unsere Gesellschaft verändert sich in Windeseile. Unternehmen stellen sich neu auf, fusionieren, überarbeiten ihre Prozesse um auch morgen noch im globalen Wettbewerb bestehen zu können. Von Arbeitnehmern erwarten wir gleichzeitig Flexibilität, Mehrsprachigkeit und manches mehr. Politik und Verwaltung scheinen davon gänzlich unbeeindruckt: Wir leben in föderalen Strukturen von vor 70 Jahren, leisten uns über 700 Bundestags- und über 1800 Landtagsabgeordnete sowie zusammengerechnet mehr als 100 Landesministerien. Schulwechsel zwischen zwei Bundesländern sind schwierig, die Vernetzung und Anpassung der Sicherheitsbehörden an die Ansprüche des 21. Jahrhunderts scheint politisch schier unmöglich. Warum fällt es so schwer, solche Strukturen auf den Prüfstand zu stellen? Schäuble: Das hat mehrere Gründe. Dazu zählen – beim Föderalismus etwa – historische Prägungen, aber auch verfassungsrechtliche Vorgaben oder Festlegungen durch Urteile des Bundesverfassungsgerichts: Sie schützen die regionalen Eigenheiten, die unser Land auszeichnen. Und als überzeugter Föderalist weiß ich, wie wertvoll diese Eigenheiten sind.

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»Politik ist die Mühsal der Ebene.«

Zukunftsfähigkeit eines Landes zu erhalten. Darauf muss sich Politik konzentrieren.

Aber sie engen gelegentlich den Spielraum der Politik für Veränderungen ein. Strukturreformen werden im Übrigen oft auch von den Bürgerinnen und Bürgern verhindert. Die vor Jahren geplante Fusion Berlins mit Brandenburg etwa scheiterte nicht an der Politik. Sie verfehlte in der verfassungsrechtlich vorgeschriebenen Volksabstimmung die erforderliche Mehrheit. In anderen Ländern wären die Ergebnisse sicher ähnlich ausgefallen. Die Wissenschaft hat dafür eine einfache Erklärung. Verhaltensökonomie und Neue Institutionenökonomik sprechen von „Pfadabhängigkeit“. Das meint Traditionen, ausgeprägte Gewohnheiten, Neigungen und Routinen in der Bevölkerung. Sie lassen Menschen an Vertrautem festhalten – oft länger, als gut ist. Sie empfinden gefestigte Strukturen als Orientierungspunkt und Halt. Verkrustungen fallen ihnen kaum auf, solange der Problemdruck nicht unmittelbar auf ihre Lebenswelt durchschlägt. Dies gilt übrigens auch für Abgeordnete, die auch in dieser Hinsicht ein Spiegelbild der Gesellschaft sind. Nehmen wir nur die Zögerlichkeit, mit der aktuell die gebotene Reform des Wahlrechts in Angriff genommen wird. Hier herrscht kein Mangel an wissenschaftlichen Vorschlägen, wie mit dem Problem des negativen Stimmgewichts umgegangen und das Anschwellen der Zahl von Überhang- und Ausgleichsmandaten verhindert werden kann. Ein Kompromiss kommt derzeit dennoch fast einer Quadratur des Kreises gleich. Politik ist die Mühsal der Ebene, ein nie endender Prozess kompromiss­ offenen Aushandelns pragmatischer Lösungen. Kurz: Das „geduldige Bohren dicker Bretter“, wie schon Max Weber wusste. Schnelle Fortschritte in großen Sprüngen gibt es selten. Reformen in kleinen Dosen – „piecemeal engineering“ in Poppers Worten – sind hingegen jederzeit möglich. Sie reichen auch aus, die

CIVIS mit Sonde: Eine wichtige Aufgabe von Staat und Politik ist es Gedenkkultur zu pflegen. Unsere Nachbarländer, so etwa Frankreich, pflegen einen eher feierlichen, positiven Erinnerungsstil. Aus Deutschland kennen wir ökumenische Gottesdienste unter Beteiligung der Staatsspitze. Brauchen wir nicht mehr Feierlichkeit oder gar Volksfestcharakter für unsere (nationalen) Gedenkfeierlichkeiten? Schäuble: Jedes Land hat seine eigene Tradition. Die Franzosen haben eine Neigung zum Zeremoniell, die in Deutschland aus historischen Gründen in dem Maße nicht gegeben ist, aber so übel sind wir auch nicht. Unser offizielles Gedenken am 27. Januar etwa hat eine durchaus schlichte, aber würdige Form. Und die Festakte zum Tag der Deutschen Einheit sind inzwischen sehr feierlich. Im Übrigen zeigen diese Feiern jedes Jahr Besuchern aus aller Welt die ganze Vielfalt unseres Landes. Der Reichtum unserer Regionen ist groß. Deshalb habe ich Anfang der 1990er Jahre vorgeschlagen, den Nationalfeiertag jeweils in einer Landeshauptstadt zu feiern. Das Format hat sich bewährt. Es unterstreicht unsere föderale Tradition. In Frankreich käme niemand auf die Idee, den zentralen Festakt zum Nationalfeiertag woanders als in Paris zu feiern. In diesen Unterschieden liegt aber eine Stärke Europas. Sie spiegelt die Vielfalt unseres Kontinentes wider. Niemand braucht sich vor dem anderen zu verstecken. Was die Franzosen mit ihrem Gedenken an Charles Aznavour gemacht haben, den ich auch immer gern gehört habe, war beeindruckend. Aber wir haben 2006 ein Sommermärchen mit der Fußballweltmeisterschaft hingekriegt, das war auch sehr schön, ja darum beneiden uns bis heute viele.

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aber so Ăźbel sind wir auch nicht. ÂŤ


CIVIS mit Sonde: Bleiben wir beim Thema Gedenken: Im November jährte sich das Ende des Ersten Weltkriegs zum 100. Mal. Anders als in Frankreich oder Großbritannien scheint der „Große Krieg“ jedoch keinen besonderen Platz im kollektiven Gedächtnis der Deutschen einzunehmen. Das mag aus mehrerlei Gründen nachvollziehbar sein. Welche Gedanken verbinden Sie damit?

besonders –, lag dies wesentlich an den Traumata des Ersten Weltkriegs, seinen physischen und psychischen Folgen, die alles über seine Wucht und Bedeutung aussagen. Gleichwohl ist nicht zu vergessen: Der Ausgang des Krieges bot auch Chancen für den Neuanfang. Krisen beschleunigen Reformen, erlauben, Verkrustungen aufzubrechen. Einen solchen Aufbruch markierte in Deutschland die Revolution vom 9. November 1918, die Ausrufung der Republik durch Philipp Scheidemann. Wir haben ihr im Bundestag am 9. November gedacht. Denn Erinnerung gibt Orientierung, schafft Maßstäbe. Und beides brauchen wir – in dieser Zeit schneller Veränderungen mehr denn je. Zum „Erbe“ des Ersten Weltkrieges kann ja die Weimarer Reichsverfassung gerechnet werden, deren Grundrechteartikel später Vorbildcharakter für die Bundesrepublik Deutschland bekamen und bis heute unseren Staat prägen. Auch die Einführung des Frauenwahlrechts und einer Arbeitslosenversicherung, die erfolgreiche Kooperation zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden, also das, was wir heute Tarifpartnerschaft nennen, ist mit der aus dem Weltkrieg hervorgegangenen Weimarer Republik verbunden.

Schäuble: In Deutschland ist die kollektive Erinnerung von der Nazi-Barbarei und dem Zweiten Weltkrieg mit dem Holocaust überlagert. Das historische Erbe dieser Verbrechen ist für uns Deutsche so groß, dass der Erste Weltkrieg in der Rückschau weniger konturiert erscheint, lange als bloße Vorgeschichte von weit Schrecklicherem wirkte. Das hat sich seit 2014 allerdings doch sehr verändert, seit dem 100. Jahrestag des Kriegsausbruchs. Die damaligen Schlachten brachten Leid und Elend, Schmerz und Verlusterfahrungen, übrigens auch bei jenen, „die ihren Granaten entgingen“, wie es Erich Maria Remarque in der Vorrede seines Romans „Im Westen nichts Neues“ ausdrückte. Wenn sich in der Nachkriegszeit die Demokratie nicht festigte – nicht nur in Deutschland, aber hier

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»Es ist unsere gemeinschaftliche Verantwortung, die ›zweite Chance‹ nicht zu verspielen, die unserem Land 1990 gegeben wurde.«

es einfach wichtig ist, Geschichte, geronnene Politik, auch in politischen Einrichtungen zu vermitteln. Mit diesem Bemühen stehe ich nicht allein da. Der Bundestag insgesamt bietet Geschichte aus erster Hand und erreicht damit viele Menschen. Das Reichstagsgebäude erzählt seine Geschichte und ist inzwischen eines der meistbesuchten Parlamente der Welt. Wir haben jedes Jahr zahlreiche Besuchergruppen aus dem In- und Ausland. Berlin ist unglaublich attraktiv und damit ein wertvoller Mittler für historisch-politische Themen. Während der parlamentarischen Sommerpause gibt es eine wunderbare Installation, eine Freiluftkinovorführung zur Parlamentsgeschichte, die immer bis zum 3. Oktober nach Einbruch der Dämmerung gezeigt wird. Da schauen jeden Abend Hunderte Menschen zu und informieren sich historisch. Es gibt auch den Tag der Ein- und Ausblicke, den „Tag der Offenen Tür“ im Bundestag, da kommen regelmäßig mehr als 20.000 Besucher. Das alles kann sicher durch weitere Initiativen ausgebaut werden. Ich würde es aber auch nicht klein reden. Unser Staat leistet schon seinen Beitrag zur politischen und historischen Bildung, und das Interesse daran ist groß.

Oder denken Sie an den ersten Versuch einer Aussöhnung zwischen den „Erbfeinden“ Deutschland und Frankreich, den Staatsmänner wie Stresemann und Briand unternahmen und für den sie den Friedensnobelpreis erhielten. An ihr Handeln knüpften nach dem Zweiten Weltkrieg Adenauer und de Gaulle mit nachhaltigerem Erfolg an. Davon zeugt der Élysée-Vertrag von 1963, den wir augenblicklich aktualisieren. CIVIS mit Sonde: Bleiben wir beim Blick auf unsere Geschichte: Wir stellen fest, dass das zeitgeschichtliche Wissen vieler Jugendlicher abnimmt und eine steigende Zahl junger Menschen zum Beispiel mit dem Begriff ‚Auschwitz‘ nichts mehr anfangen kann. Gleichzeitig werden Antisemitismus und Rechtspopulismus zu einem wachsenden gesellschaftlichen Problem – auch auf unseren Schulhöfen. Muss der Staat hier nicht entgegenwirken, der Geschichtsunterricht in den Lehrplänen gestärkt werden? Schäuble: Ich rate immer, sich mit Geschichte zu beschäftigen. Die Länder haben ihre föderale Verantwortung wahrzunehmen und ihre Bildungspläne entsprechend gut zu machen. Verbesserungsspielraum gibt es immer. Aber ich gebe der Kultusministerkonferenz und den Bildungspolitikern keine Ratschläge. Und natürlich ist auch der Bund gefordert, das historische Bewusstsein zu befördern. Deswegen versuche ich in meinen Reden immer, geschichtliche Bezüge herzustellen, damit wir die Zusammenhänge nicht aus dem Blick verlieren. Wann immer ich kann, führe ich Gespräche mit Schulklassen aus meinem Wahlkreis. Ich rede im Laufe des Jahres mit Hunderten von Schülern, auch zu Hause im Wahlkreis, weil ich glaube, dass

CIVIS mit Sonde: Der historischen und politischen Bildung bekommt im Hinblick auf Integration eine wachsende Bedeutung zu: Mit dem Staatsbesuch Erdogans und dem Verhalten vieler Türkeistämmiger, die „ihrem Präsidenten“ geradezu huldigten, muss sich die Frage nach dem Stand der Integration, dem, was wir von hier lebenden Menschen mit ausländischen Wurzeln erwarten, unserer eigenen Definition von „deutsch“ im gesellschaftlichen Sinne und wohl auch nach dem Doppelpass stellen.

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Schäuble: Integration fordert uns alle. Eine freiheitliche Gesellschaft bleibt nur stabil, wenn sie ein hinreichendes Maß an Zugehörigkeit und Vertrautheit vermittelt – Alteingesessenen wie Zugewanderten. Das ist die Gestaltungsaufgabe, die uns unter den Bedingungen der globalisierten Welt gemeinsam gestellt ist. Verantwortliche Politik hat dabei immer von den Realitäten auszugehen. Dass Türken und mit ihnen der Islam ein Teil Deutschlands sind, ist eine Realität. Es war bereits 2006, als ich diesen Satz erstmals sagte, längst eine Tatsache.

sowie die Bereitschaft zu differenzieren. Daran fehlte es in der öffentlichen Debatte manchmal. Ich bin trotzdem zuversichtlich, dass es uns gelingen wird, die erfolgreiche Integration der letzten Jahre weiter voranzutreiben.

»Dass Türken und mit ihnen der Islam ein Teil Deutschlands sind, ist eine Realität.«

Schäuble: Ich würde zuerst und vor allem an unsere gemeinschaftliche Verantwortung erinnern, die „zweite Chance“ nicht zu verspielen, die unserem Land 1990 gegeben wurde. So hat der Historiker Fritz Stern, der als Zwölfjähriger wegen seiner jüdischen Abstammung aus Breslau fliehen musste, das Geschenk der Wiedervereinigung bezeichnet. Dieser „zweiten Chance“ sind wir verpflichtet. Darauf habe ich in meiner Rede zum 3. Oktober verwiesen. Wir müssen die freiheitliche Demokratie erhalten. Sie ist fragil und anspruchsvoll. Aber auf ihr gründet der Erfolg unseres Landes, um den uns in der Welt so viele beneiden. Sie beruht auf Gewaltverzicht, auf Meinungsvielfalt, Toleranz, gegenseitigem Respekt. Die Mehrheit regiert.

CIVIS mit Sonde: Herr Präsident, Sie sind der Doyen der Bundestagsabgeordneten. Wenn Sie nach den vergangenen Jahrzehnten aus dem Parlament auf Deutschland schauen, welche – womöglich auch unbequeme – Botschaft würden Sie den Deutschen mit auf den Weg geben?

Wir sollten aber weniger über Tatsachen diskutieren als über die Frage, wie wir den Zusammenhalt in unserer unbestreitbar offenen Gesellschaft erhalten. Denn natürlich gibt es im Zusammenleben von Menschen unterschiedlichen Glaubens und unterschiedlicher kultureller Herkunft Konflikte, und es gehen damit große Herausforderungen einher, die viel zu lange unterschätzt wurden. Hier darf auch gestritten werden. Dennoch: Was den Doppelpass angeht, habe ich bereits 2016 gegen den Antrag auf Abschaffung gestimmt, weil das eine Diskussion ist, bei der wir nichts bewirken können. Ich halte sie auch nicht für zielführend. Mir scheint überhaupt, dass aktuelle Probleme der Integration mehr mit Missverständnissen als mit echten Unverträglichkeiten zu tun haben und dass sie sich einer staatsrechtlichen Regelung im Sinne einer Zustimmung oder Ablehnung zum Doppelpass entziehen. Wir sichern unser friedliches Miteinander nur, wenn wir kulturelle und religiöse Eigenheiten respektieren. Wenn wir Regeln einhalten. Je vielfältiger unsere Gesellschaft ist, desto notwendiger wird die verlässliche Einübung und Beachtung dieser Regeln – durch Zugewanderte und Alteingesessene gleichermaßen. Hier ist der Rechtsstaat in der Pflicht. Unsere freiheitliche Grundordnung beruht auf dem Grundgesetz und seinen Werten. Muslime – auch solche mit deutschem Pass – müssen sich klarmachen, dass sie in einem Land leben, das von christlichen Traditionen und den Freiheitswerten der Aufklärung geprägt ist. Es braucht zugleich Offenheit und Engagement in der Gesellschaft des Aufnahmelandes

»Niemand hat das Recht zu behaupten, er allein vertrete ›das‹ Volk.« Aber der Mehrheitswille ist begrenzt durch die Prinzipien von Gewaltenteilung und Minderheitenschutz. Niemand hat deshalb das Recht zu behaupten, er allein vertrete ‚das‘ Volk. Der Souverän ist keine Einheit, sondern eine Vielheit widerstreitender Kräfte. Demo­ kratische Reife beweist deshalb eine Nation nur, wenn sie sich ihrer Fundamente sicher ist, die Vielheit annimmt und trotzdem zu gemeinsamem Handeln kommt: durch Kompromiss und für alle tragbare Entscheidungen. Das ist meine Botschaft, verbunden mit dem Hinweis, dass wir gut beraten sind, alles, was wir tun, mit Maß und Mitte zu tun. Und Zuversicht kann auch nicht schaden. CIVIS mit Sonde: Herr Präsident, wir danken für das Gespräch.

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»Muslime müssen sich klarmachen, dass sie in einem Land leben, das von den Freiheitswerten der Aufklä­ rung geprägt ist.«

Dr. Wolfgang Schäuble MdB ist seit 2017 Präsident des Deutschen Bundestages, dem er seit 1972 als Mitglied angehört. Von 1984 bis 1991 und von 2005 bis 2017 war er Bundesminister (u.a. Inneres und Finanzen). Er hat den Einigungsvertrag 1990 maßgeblich mitverhandelt. Von 1998 bis 2000 war er CDU-Bundesvorsitzender. Er ist verheiratet und Vater von vier erwachsenen Kindern.

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Aus Geschichte lernen Historische GrĂźnde des Abstiegs der christlichen Volksparteien

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von Andreas Wirsching

Wie gehen CDU und CSU mit ihrer Geschichte und mit ihren his­ torischen Wurzeln um? Eine kritische Auseinandersetzung mit der einseitigen Favorisierung des Marktes durch die christlichen Par­ teien, die zu dramatischen gesellschaftspolitischen Dissonanzen zwischen Regierenden und Wählerschaft geführt habe.

Christlich-Soziale Union in der deutschen und europäischen Geschichte des 19. Jahrhunderts verwurzelt ist.

Als der Parteivorstand der SPD kürzlich seine Historische Kommission mit einem Federstrich abschaffte, provozierte er damit eine kurze, heftige, aber folgenlose Debatte. Natürlich hängt das künftige politische Schicksal der Sozialdemokratie nicht an der Existenz einer solchen Kommission. Die Entscheidung wirft jedoch grundsätzlichere Fragen auf: Welche Bedeutung weisen die politischen Parteien ihrer Geschichte zu? Wie sollten sie ihr Geschichtsbewusstsein pflegen? Oder, vereinfacht gefragt: Wieviel Geschichte braucht die Politik?

Auf diese Geschichte kann die Partei durchaus stolz sein. Sie steht in einer Tradition, die maßgeblich am Aufbau der deutschen Demokratie mitgewirkt hat. Historische Selbstkritik hinsichtlich der antiliberalen und antidemokratischen Traditionen im deutschen Konservatismus, aber auch im politischen Katholizismus ist heute selbstverständlich. Sie stellt aber nicht infrage, dass die zweite deutsche Demokratie entscheidend von der CDU/CSU geprägt worden ist. Die Union hat herausragende Politikergestalten hervorgebracht und von Konrad Adenauer über Helmut Kohl bis Angela Merkel die am längsten amtierenden Bundeskanzler gestellt. Es steht ihr also gut zu Gesicht, ihr beeindruckendes historisches Erbe zu erforschen und erinnerungskulturell zu pflegen.

»Wenn volksparteiliche Gewissheiten schwinden, dann empfiehlt sich die historische Selbstvergewisserung.« Niemand wird bestreiten, dass solche Fragen auch die CDU/CSU betreffen. In Zeiten, in denen das „Wohin“ verschwimmt, steigt die Bedeutung des „Woher“. Und wenn volksparteiliche Gewissheiten schwinden, dann empfiehlt sich die historische Selbstvergewisserung. Was aber kann, was sollte eine solche Selbstvergewisserung bedeuten?

Dieser Rückgriff auf die Geschichte ist gegenwartsbezogen. Er soll traditionsgewisse Identität stiften und damit das historische Bewusstsein für die Demokratie der Gegenwart stärken. Ein wesentlicher Ort solcher Geschichtsbetrachtung besteht denn auch in den sechs überparteilich konzipierten Politiker-Gedenkstiftungen der Bundesrepublik, als deren älteste die Stiftung Bundeskanzler-Adenauer-Haus in Rhöndorf firmiert. Die vom Bund finanzierten Politikergedenkstiftungen sorgen zwar durchaus für Transparenz und ermöglichen eine kritische Aneignung der Geschichte. Dies schlägt sich nicht zuletzt in der Edition der Akten und Korrespondenzen Konrad Adenauers, Theodor Heuss‘ und Willy Brandts nieder – die jüngst gegründete Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung wird folgen.

Wenn sich politische Parteien der Geschichte widmen, dann wollen sie meistens die Erinnerung an ihre „großen“ Gestalten und deren Leistungen pflegen. Die CDU/CSU hat in dieser Hinsicht viel zu bieten. Ihre Geschichte währt inzwischen fast ein dreiviertel Jahrhundert; und nimmt man Konservatismus und politischen Katholizismus als große parteipolitische Strömungen des 19. Jahrhunderts hinzu, so wird sofort offenkundig, wie tief die heutige Christlich-Demokratische und

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Allerdings sollte die Union die notwendige historische Bewusstseinsbildung nicht nur in der Pflege ihrer volksparteilichen Vergangenheit erblicken. Offenkundig nämlich haben die (ehemaligen) Volksparteien die Komfortzone der 1960er bis 1990er Jahre definitiv verlassen. Vielmehr verwandelt sich die Parteiendemokratie in Deutschland gegenwärtig in ein polarisiertes Mehrparteiensystem. Und angesichts der unverkennbaren Krisenerscheinungen der Volksparteien drängen ganz neue Fragen in den Vordergrund: Wo nämlich ist ihr geschichtlicher Erfolg geblieben? Warum wird von einem wachsenden Teil der Wähler die unzweifelhafte Leistung der Volksparteien nicht mehr gewürdigt? Welche historische Orientierung brauchen wir heute, um die Werte, auf denen unsere Demokratie beruht, zu stärken und wenn nötig zu verteidigen?

Doch bei aller historisch-kritischen Aneignung: Eine überparteilich vermittelbare, grundsätzlich positive Haltung zu den jeweiligen Protagonisten ist die notwendige Voraussetzung für solch eine Stiftung. Und hier steht die Union vor einem beträchtlichen Dilemma. Denn sie ist bis heute kaum in der Lage, über Adenauer hinaus historische Persönlichkeiten im genannten Sinne öffentlichkeitswirksam zu platzieren und zu ehren. Nicht nur eignen sich die christdemokratischen Bundeskanzler neben Adenauer (noch) nicht für eine in der Substanz affirmative öffentliche Darstellung. Nicht unwesentlich trägt dazu übrigens die – gelinde gesagt – problematische Art und Weise bei, mit der Helmut Kohls Witwe die Aktenund Deutungshoheit beansprucht. Bedeutsam ist aber auch die Tatsache, dass die Union nur in sehr geringem Umfang mögliche Protagonisten aus der Zeit der ersten deutschen Demokratie präsentiert. Sicher, Adenauers Glanz reicht bis in die Weimarer Republik, und eine der drei Berliner Neubauten des Bundestages trägt den Namen Jakob Kaisers. Aber wer erinnert an Matthias Erzberger, den wahrscheinlich bedeutendsten Zentrumspolitiker der Weimarer Republik, den sein demokratisches Engagement das Leben kostete? Wer kennt heute Wilhelm Marx, Weimars am längsten amtierenden Reichskanzler? Oder gar Heinrich Brauns, von 1920 bis 1928 amtierender Reichsarbeitsminister und als solcher einer der Architekten des Weimarer Sozialstaats? Sie alle, und viele andere mehr, teilen das Schicksal der durch ihr Scheitern ins Zwielicht getauchten Weimarer Republik und sind zu Stiefkindern der deutschen Erinnerungskultur geworden.

»Die (ehemaligen) Volksparteien haben die Komfortzone der 1960er bis 1990er Jahre definitiv verlassen.« Um hier Antworten zu finden, genügt es weniger denn je, die unbestrittenen geschichtlichen Leistungen der CDU/CSU für Frieden und Demokratie plakativ herauszustellen und rituell zu feiern. Not tut vielmehr eine analytische Herangehensweise, die sich auch der jüngsten Zeitgeschichte nicht verschließt. Das bedeutet nicht mehr und nicht weniger als nachzufragen, welche historische Entwicklung die CDU/CSU in der Periode „nach dem Boom“, das heißt seit Ende der 1970er Jahre genommen hat. Während dieser Epoche haben sich die großen deutschen Parteien – und eben auch und gerade die CDU/CSU – einer Politik verschrieben, die zunehmend alternativlos den „Markt“ und den „Wettbewerb“ predigte.

Die Union könnte hier durchaus noch größere Anstrengungen unternehmen, gerade im Hinblick auf Personen wie Marx und Brauns, die sich schon damals für die interkonfessionelle Öffnung der Zentrumspartei einsetzten. Eine solche Aufwertung wäre auch deshalb wichtig, weil sich sonst ein anderes Bild der katholischen Tradition in Deutschland festzusetzen drohte: nämlich das des antiliberalen und antipluralistischen Klerikalismus, der die freiheitliche Demokratie mit moralischem Niedergang und Sittenverfall identifizierte und in der demokratischen Revolution vom 9. November 1918 nur „Meineid und Hochverrat“ erblicken mochte, wie es der Münchner Kardinal Michael von Faulhaber formulierte.

Die sozialen und politisch-kulturellen Kosten dieser Politik sind heute überall spürbar und sie bestimmen auf stille Art und Weise die politische Agenda, ohne dass ihre historischen Wurzeln ausreichend diskutiert würden. Für die CDU/CSU, die in Bund und Ländern seit Jahrzehnten Regierungsverantwortung trägt, tut sich hier ein weites Feld historischer Selbstbesinnung auf. Sie ist aufgefordert, ihre eigene, sehr spezifische Vorgeschichte der Gegenwart zu vermessen.

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»Die Union ist bis heute kaum in der Lage, über Adenauer hinaus historische Persönlichkeiten im genannten Sinne öffentlichkeitswirksam zu platzieren und zu ehren.«

Um nicht missverstanden zu werden: Die Politik kann die großen internationalen und transnationalen Bewegungsrichtungen nicht verändern und auch nicht grundsätzlich beeinflussen. Insofern vollziehen sich historische Basisprozesse wie die Globalisierung und die Verschärfung des inter­nationalen Wettbewerbs, aber auch der Problemstau des Klimaschutzes jenseits einer politischen Ereignisbeherrschung. Ebenso wenig lässt sich der gewaltige Anpassungsdruck leugnen, dem Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in Deutschland wie in allen westlichen Staaten ausgesetzt waren und sind. Was die demokratischen Parteien aber können, beziehungsweise gekonnt hätten, ist ein stärkeres Bewusstsein dafür zu entwickeln, wie in Zeiten schubartiger Veränderungen die Gemeinwohlverantwortung des Staates menschenfreundlich gestaltet werden kann. Im Zuge einer einseitigen Favorisierung des Marktes ist dies auch von christdemokratischer Seite weitgehend versäumt worden. Allzu verführerisch war nämlich die Vorstellung, man könne politisch und fiskalisch unbequeme Entscheidungen umgehen, indem man sie an den Markt delegiert. Entsprechend hat das neoliberale Credo, wonach es nichts Besseres gebe als den Markt, allzu lange als politisches Feigenblatt fungiert. Natürlich war, vor allem in Zeiten knapper Kassen, die Versuchung groß, immer weitere Bereiche öffentlicher Daseinsvorsorge dem Markt und seinen Privatinteressen zu überlassen. Das reduzierte für Amts- und Mandatsträger den Zwang, politisch entscheiden zu müssen. Die letztlich ideologische Vorstellung vom für alle Zwecke immer guten Markt entlastete die demokratische Politik von schwierigen, komplexen Steuerungsaufgaben.

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so kehrt sie damit auch die Scherben zusammen, die 20 Jahre Privatisierung und Ökonomisierung des Gesundheitssektors verursacht haben. Wenn man heute versucht, bildungspolitische Akzente zu setzen, so sollte man dabei nicht übersehen, dass Schulen und auch Universitäten über Jahrzehnte hinweg die Rolle von Ausführungsorganen politisch-bürokratischer Vorgaben einüben mussten: Vorgaben, die auch christdemokratische Politikerinnen und Politiker gebetsmühlenartig im Namen von Effizienz und Exzellenz, Leistung und Wettbewerbsfähigkeit, Innovation und Wachstum formulierten. Im selben Atemzug aber wurde das Ansehen von Lehrern deklassiert und der wissenschaftliche Nachwuchs immer prekäreren Beschäftigungsverhältnissen ausgeliefert.

Aber dem Ansehen ihrer Repräsentanten hat sie langfristig schwer geschadet; denn sie gaben damit den Anspruch auf gestalterische Lösungen auf. Das gilt umso mehr, als sich der Eindruck einer immer tieferen sozio-kulturellen Kluft eingestellt hat. Sie besteht zwischen denjenigen, die von der Freiheit des Marktes über alle Maßen, ja scheinbar ungehemmt profitieren, und denen, die sich in ihrem Alltag mit einem massiven Vertrauensentzug konfrontiert sehen. Statt eine grundsätzliche politische Wertschätzung ihrer Tätigkeit zu genießen, haben sie sich primär mit den regulativen Zumutungen der Wettbewerbsbürokratie auseinanderzusetzen. Im Namen höherer Produktivität und Leistung sowie besserer Versorgungsqualität richtet die Politik an den Durchschnittsmenschen nunmehr schon seit Jahrzehnten den ehernen Imperativ der Konkurrenz und des Wettbewerbs im Sinne eines: Verbessere dich! Sei es als latente Bedrohung des Arbeitsplatzes, sei es als Anspruch, sich dem Diktat der lebenslangen Fortbildung zu unterwerfen und die Qualität der eigenen Leistung zu erhöhen, ist dieser Imperativ allgegenwärtig. Aber die Anzeichen verdichten sich, dass die Menschen dieses Imperativs müde geworden sind und ihm nicht mehr folgen wollen.

Diese Beispiele ließen sich beliebig fortsetzen. Sie verweisen auf beträchtliche, ja möglicherweise dramatische gesellschaftspolitische Dissonanzen zwischen Regierenden und Wählerschaft und lassen sich auch nicht einfach auf die Diagnose eines neuen Rechtsextremismus reduzieren. Offenkundig werden gegenwärtig die Rechnungen gestellt für die hohen Kosten und sozio-kulturellen Anpassungszwänge, die die forcierte Politik der Krisenbewältigung in den letzten Jahrzehnten aufgehäuft hat. Jedenfalls stehen die Volksparteien und also auch die CDU/CSU vor gewaltigen Aufgaben, um verloren gegangenes Vertrauen zurückzugewinnen und neue Legitimität zu erzeugen. Sie sind gut beraten, sich auf diesem Weg ihrer eigenen jüngsten Geschichte zu vergewissern und sie auch selbstkritisch zu analysieren. Kein Zweifel: Hier brauchen CDU und CSU Geschichte.

Umso hektischer versucht die Politik, die sozialen und vor allem politischen Kosten ihres Kurses zu begrenzen. Wenn zum Beispiel die Bundesregierung gegenwärtig den Pflegebereich renoviert und den allgegenwärtigen Pflegenotstand bekämpft,

Prof. Dr. Andreas Wirsching ist Direktor des Instituts für Zeitgeschichte München – Berlin und Inhaber des Lehrstuhls für Neuere und Neueste Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die deutschfranzösische Geschichte der Zwischenkriegszeit und des Nationalsozialismus sowie die deutsche und europäische Geschichte seit den 1970er Jahren.

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Gemeinsam machen wir das deutsche Gesundheitssystem zu einem der besten der Welt. Erfahren Sie mehr unter www.pkv.de/luna


Tiergarten, Berlin Bismarck-Nationaldenkmal



Was

Hei ? 38


ist

mat Auf der Suche nach einem Gefühl

Die Fragen nach Identität und Herkunft bewegen seit Monaten die Republik. Was ist heute typisch deutsch? Was bedeutet Heimat für uns? Das haben wir Katrin Göring-Eckardt, Fraktionsvorsitzende der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen, sowie Marco Wanderwitz, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Innern, für Bau und Heimat, gefragt.

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von Marco Wanderwitz

E

meistern können: Angefangen von Flucht und Vertreibung bis hin zum Aufbau Ost haben wir es unter schwierigen Voraussetzungen immer wieder geschafft, unser Land neu aufzubauen, neu zu gestalten und die Basis für ein tragfähiges Zusammenleben zu finden. Ich bin überzeugt, dass dies auch weiterhin gelingen kann, wenn wir alle gemeinsam auf unsere Gestaltungskraft vertrauen. Vor allem eine Eigenschaft kommt uns dabei sicherlich zugute: Die enge emotionale Bindung an unsere Herkunft, unsere regionalen Wurzeln, kurz unsere Heimatliebe. Keine andere Sprache und Kultur kennt etwas Vergleichbares. In Amerika spricht man von der German Heimat und meint einen ganz besonderen Sehnsuchtsort damit.

hrlichkeit, Tüchtigkeit und Verlässlichkeit, das sind die Eigenschaften, die uns Deutschen im Ausland gern zugeschrieben werden. Vom traditionellen Handwerksbetrieb bis hin zum roboter­gesteuerten Maschinenbau funktioniert im Land der Squareheads alles reibungslos, während beispielsweise Fantasie und Humor nach diesem Stereotyp eher auf der Strecke bleiben. Dass dieses Deutschlandbild der Vielfalt unserer Lebenswirklichkeit nicht gerecht wird, wissen wir alle. Unser Alltag wird stetig komplexer: Regionen wachsen, andere schrumpfen, Menschen wandern, Gewohntes verschwindet und Bildungsanforderungen steigen. Wo verorten wir uns selbst in einer globalisierten und digitalisierten Welt, die den Wandel zum Alltäglichen macht?

Wie heimatverbunden wir Deutsche heute sind, zeigt eine repräsentative Erhebung, die vor kurzem im Auftrag des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat durchgeführt wurde. Acht von zehn Befragten in Deutschland halten den Begriff Heimat für sehr wichtig oder wichtig. Nahezu alle gesellschaftlichen Gruppen empfinden Heimatgefühle, ob jung oder alt, ob aus Stadt oder Land, aus Ost, West, Nord oder Süd. Häufig sind es die Erfahrungen mit der Familie oder dem engsten Umkreis, die Identität stiften und Halt bieten.

»In Amerika spricht man von der ›German Heimat‹ und meint einen ganz besonderen Sehnsuchtsort damit.« Fragen der Identität und Identifikation mit unserem Land sind heute wichtiger denn je! Die Antworten müssen im Kernbereich des Zusammenlebens normativ verbindlich sein. Zu den unverrückbaren Werten zählen nicht nur die Grundrechte als Basis unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung, sondern auch die Achtung tradierter Lebensweise. Unser gewachsenes Wertefundament ist dabei für Zuwanderer und Einheimische gleichermaßen Grundlage.

Vielen geht es dabei auch um die eigene Wohngegend und die Nachbarschaft, mit der man vertraut ist. Geteilte Werte, eine gemeinsame Sprache und soziale Sicherheit sind die Eckpfeiler des Heimatempfindens. Die Befragung zeigt im Übrigen auch: Die Zeiten, als „Heimatgefühle“ in Deutschland vor allem mit Brauchtum und Vergangenheitsritualen verbunden waren, sind vorbei. Heimat wird nicht als Kulisse, sondern positiv als Element aktiver Auseinandersetzung gesehen.

Wir Deutsche haben vielfach bewiesen, dass wir Neuorientierungen gemeinsam erfolgreich

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von Katrin Göring-Eckardt

D

as Leben in der Großstadt ist eintönig, da man dort nur Umgang mit Seinesgleichen hat, abenteuerlich und abwechslungsreich sei es hingegen auf dem Dorf, da man dort Umgang mit so wild­ fremden Menschen wie der eigenen Großtante hat.” Das schrieb der englische Essayist Gilbert Chesterton einmal sinngemäß. Und es ist richtig. Wer in der Provinz lebt, weiß das. Fremdheit und Zugehörigkeit, Unsicherheit und Verunsicherung, Sicherheit und Zuversicht sind gleichzeitig und parallel Realität.

Deutsche verursachten unfassbares Leid, Vertreibung, Mord und die Shoa. Und: Familiengeschichten in unserem Land beginnen oft mit aus der Heimat Vertriebenen, Ortlosen, Dazugekommenen. Heimat nimmt man mit, sagt ein Vertriebener. Heimat braucht Ankommen; das ist unsere Aufgabe.

Warum erleben wir gerade wieder – ähnlich wie während der Zeit der Industrialisierung – eine neue Sehnsucht nach Heimat und Zugehörigkeit? Es liegt wohl daran, dass Heimat für viele Menschen prekär geworden ist. Heimat versteht sich nicht mehr so einfach von selbst. Von allen wird Mobilität und Flexibilität erwartet und so wird jener Ort, der Geborgenheit und Sicherheit verspricht, fraglicher. Der alte Satz von Johann Gottfried Herder, „Heimat ist da, wo man sich nicht erklären muss“, ist nicht mehr einfach gültig.

Heimat kann man verlieren, suchen, finden, aber eben auch geben. Heimat ist ein Sehnsuchtsort und steht für das Versprechen einer Rück­gewinnung der Kontrolle über das eigene Leben. Die Sehnsucht nach einer festgefügten Welt ist legitim und absolut verständlich. Das hat nichts mit spießigem Neo-Biedermeier oder Abschottung zu tun. Leider gibt es politische Reaktionen auf diese Sehnsucht, die ein falsches und trügerisches Bild von Heimat zeichnen. Wer heute so tut, als sei alles gut, wenn keine Fremden und nichts Fremdes mehr auftaucht, wer Heimat denkt, ohne Migrantinnen und Geflüchtete, ohne Gleichstellung, ohne Gleichberechtigung von Minderheiten, ohne Klimaschutz, verrät die Grundwerte Freiheit, Solidarität und Humanität. Warum sollte es unsere Heimat gefährden, weil andere von anderswo dazukommen? Heimat gibt es nur im Plural, offen und der Welt zugewandt.

»Heimat kann man verlieren, suchen, finden, aber eben auch geben.«

Wer immer wieder den Job wechseln muss oder als Pendler eine Wochenendbeziehung führt, wartet länger, bis eine Familie gegründet und ein Nest gebaut ist. Wer immerzu in alle Richtungen vernetzt sein muss, findet den einen Ort Heimat schwerer. Und dann kommen noch Menschen dazu, die ihre Heimat verloren haben. Die sich sehnen nach einer Sicherheit, die sie in ihrem alten Zuhause nicht hatten, weil dort Krieg oder Armut oder die Folgen der Klimakrise menschliche Zukunft schwer oder unmöglich machen. Wer könnte diese Sehnsucht besser verstehen, als wir Deutsche? In diesem Herbst haben wir der Kriege gedacht und ihrer Opfer.

Heimat schmeckt und riecht. Bei mir sind es Thüringer Klöße und der Wald, bei anderen Weißwürste oder Wattwandern. Heimat ist Kindheitserinnerung und fast immer Natur. Deswegen löst deren Zerstörung so viele Emotionen aus, sogar

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»Heimat wird nicht als Kulisse, sondern positiv als Element aktiver Auseinandersetzung gesehen.« wir unser Land „neu vermessen“ und einen tragfähigen Maßstab für den Begriff der gleichwertigen Lebensverhältnisse definieren. Richtschnur sollte dabei eine echte Chance für jede und jeden Einzelnen auf Wohlstand, Zugang zu Bildung, Wohnen, Arbeit, Sport und Infrastruktur sein egal, ob in Gelsenkirchen, München, Wismar oder Hohenstein-Ernstthal.

Wenn die Politik in Deutschland das Vertrauen der Bürgerschaft erhalten will, muss sie auf das gemeinsame Heimatempfinden bauen und die Wurzeln der Vergangenheit mit dem Gestaltungswillen der Zukunft verbinden. Unser kulturelles Erbe bietet uns hierfür Anhalt. Daher haben wir im BMI eine neue Heimatabteilung eingerichtet. Sie beschäftigt sich zum einen mit der Verbesserung des gesellschaftlichen Zusammenhalts und der Identifikation mit unserem Land. Zum anderen wird sie dazu beitragen, den infrastrukturellen Reformstau aufzulösen.

Wie anspruchsvoll dieses Ziel ist, lässt sich an der Bandbreite der zu beantwortenden Fragen erkennen. Sie reicht von der Verbesserung des öffentlichen Nahverkehrs und der Gesundheitsversorgung bis hin zum Mobilfunkausbau und zur Bewältigung kommunaler Altschulden. Die Kommission wurde am 18.07.2018 per Kabinettbeschuss eingerichtet. Am 26.09.2018 fand die konstituierende Sitzung statt. Gleichzeitig startete der Arbeitsprozess der sechs Arbeitsgruppen. Die Kommission wird bis Mai 2019 ihre ersten Handlungsempfehlungen vorlegen. Der Abschlussbericht soll im Juli 2019 vorgelegt werden.

»Richtschnur sollte eine echte Chance für jede und jeden Einzelnen auf Wohlstand sein.« Herzstück der neuen Heimatpolitik ist die große Bund-Länder-Kommunen-Kommission „Gleichwer­ tige Lebensverhältnisse“. Sie wird ihre Ergebnisse dazu beitragen, die Lebensbedingungen vor Ort und das subjektive Wohlbefinden der Menschen zu verbessern. Das bedeutet insbesondere, die ländlichen Räume zu stärken, proaktivere Politik für diese zu machen. Es heißt aber auch, die Lebensqualität in den Städten und Metropolregionen weiter zu erhöhen. Dies kann nur gelingen, wenn

Ich bin zuversichtlich, dass es uns mit der neuen Heimatpolitik der neuen Bundesregierung gemeinsam gelingen wird, unsere Städte und Gemeinden attraktiver zu machen, die Lebensqualität zu sichern und die unterschiedlichen Bedürfnisse zu erfüllen, damit Deutschland lebens- und liebenswert bleibt. In Vielfalt und Einheit.

Marco Wanderwitz wurde 1975 in Chemnitz geboren. Der ausgebildete Jurist ist seit 2002 Mitglied des Deutschen Bundestages und zurzeit Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Innern, für Bau und Heimat.

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Demonstrationen. Der Klimaschutz, der Schutz der Umwelt, ob es das Feld ohne Ackergifte ist, der Erhalt der Arten, ob es das Wasser ist, ohne Nitrate und Mikroplastik – all das sind Heimatthemen. Nicht verwunderlich, dass manche finden, dass Bündnis 90/Die Grünen die eigentliche Heimatpartei sind.

langweilig wird. Heimat ist in der offenen Gesellschaft per se ein Ort der Vielfalt, ein Ort, wo andere Menschen sind, die man sich nicht aussuchen kann; ein alles andere als homogener Ort. Niemand kann uns diese Heimat vorschreiben, auch nicht ein Ministerium. Doch ist gerade für eine offene und freie Gesellschaft wichtig, dass sie Halt bietet.

»Heimat braucht so viel Ordnung, dass das Ungewisse nicht stört, und so viel Vielfalt, dass es auch nicht langweilig wird.«

Deswegen noch ein Blick in meine Heimat nach Ostdeutschland. Das Haus steht da noch und auch der Baum. Aber die Welt hat sich grundlegend verändert. Nicht nur einmal, als plötzlich die Grenzen offen waren und alles möglich schien. Noch einmal als die Arbeitsplätze in der Industrie und Landwirtschaft wegfielen, auch wettbewerbsfähige. Und dann ein drittes Mal als eher karge als blühende Landschaften entstanden. Arbeit ist für Ostdeutsche immer Teil ihrer Identität gewesen, ist es bis heute. Ohne Arbeit fühlen viele sich fremd und fremdbestimmt. Die Einheit hat gerade nicht Zusammenhalt gefördert, sondern macht sichtbar, wer dazu gehört und wer eher nicht. Die Chefs und Chefinnen in Politik, Justiz, Wirtschaft kommen – selbst im Osten – mehrheitlich aus dem Westen der Republik. Heimat geht nur mit Beteiligung gut.

Heimat ist Zusammenhalt und Identität. Und das Gute ist, dass wir uns nicht einigen müssen, alle gleich zu werden. Wie langweilig das wäre! Schon im Neuen Testament steht ja: „In meines Vaters Haus sind viele Wohnungen“ (Johannes 14). Aber, um das auch zu sagen, das bedeutet nicht ein nettes, friedliches, heiteres Zusammenleben. Wer die Hausordnung macht, ist vielleicht noch die einfachste Frage. Es gibt eben auch Stress, Verunsicherung, Unklarheit. Dass Gesetze einzuhalten sind, ist in jeder Hinsicht unstrittig, selbst beim Dieselhersteller, so hoffe ich. Doch wie leben wir sie? Erinnern wir uns: Die Gleichberechtigung von Frauen war alles andere als selbstverständlich. Es ist nicht so lange her, dass Frauen in der alten Bundesrepublik ihren Mann um Erlaubnis fragen mussten, wenn sie Auto fahren, berufstätig sein wollen, dass die Vergewaltigung in der Ehe strafbar wurde, dass Väter in Elternzeit gehen. Und: Genauso wenig wie es uns egal sein kann, dass Neonazis ungehindert und ungestraft den Hitlergruß zeigen, wollen wir es aushalten, dass einschlägig bekannte Gefährder Frauen vergewaltigen. Heimat heißt Sicherheit.

Das zivilgesellschaftliche Engagement, das wir heute an vielen Orten so bewundern, ist ohne Heimatbezug nicht zu erklären. Man denke etwa an Proteste für den Erhalt eines Stadttheaters oder die historische Spurensuche vieler Gruppen, die die NS-Geschichte eines Ortes aufarbeiten wollen oder an die Bäume im Hambacher Wald. Wer sich engagiert, tut das an und für einen konkreten Ort. Der lokale Bezug zu einem bestimmten Kontext macht das Engagement authentisch und nachhaltig. Und es entsteht das Gefühl von Zugehörigkeit zu einem Ort und zum Ganzen. Heimat ist eine Chiffre für die Zone des Nahen, die aufs große Ganze verweist. Etwas, das wir wollen und doch nicht kennen.

Heimat ist für mich Zuversicht und Zugehörigkeit. Sie braucht so viel Ordnung, dass das Ungewisse nicht stört, und so viel Vielfalt, dass es auch nicht

Oder um es mit Ernst Bloch zu sagen: Es „entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“

Katrin Göring-Eckardt ist Fraktionsvorsitzende der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen. Als studierte Theologin bekleidet Göring-Eckardt bis heute diverse Positionen in der Evangelischen Kirche, unter anderem als Präses des Kirchentages.

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Am Anfang war Vergessen Deutsche Unternehmen und ihr historisches Erbe

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von Andrea Schneider-Braunberger

Welche Rolle die Wirtschaft in den Zeiten des Nationalsozia­lismus gespielt hat, ist nicht immer klar. Manche Unternehmen arbeiteten mit den Nazis zusammen, andere versuchten sich stärker von der Politik des Regimes zu distanzieren. Heute erschwert die Digi­talisierung der Unternehmensprozesse eine sachgerechte Aufarbeitung. Ein Beitrag über wirtschaftspolitische Interessens­konflikte zu NS-Zeiten.

Handlung verlangte und der öffentliche Druck zu Transparenz und Umgang mit der eigenen Vergangenheit enorm groß geworden war.

Bis in die 1980er Jahre fand in Unternehmen, welche die politischen und wirtschaftlichen Wirren des 20. Jahrhunderts bis dato überstanden hatten, in der Regel kein Erinnern an die zwölf Jahre des „Tausendjährigen Reiches“ statt. In den Erzählungen sahen sich die Unternehmen ohne große Vorwarnung dem Nationalsozialismus gegenüber, erlitten hohe wirtschaftliche Verluste im Zweiten Weltkrieg und erstanden anschließend wie Phönix aus der Asche wieder, um an dem deutschen Wirtschaftswunder teilzuhaben.

Eine Fülle von Büchern erschien und mit Ihnen wuchs die Kenntnis über Verhaltensmuster, Strukturen und Varianzen der Rollen von Unternehmern und Unternehmen. Im Nationalsozialismus waren die Dinge nicht schwarz und weiß, sondern kamen in vielen Grauschattierungen daher. Profiteure wie Verlierer, engagierte wie überzeugte, aber auch gelegentlich widerständige Personen wurden identifiziert. Zwang und Druck existierten zwar in der NS-Zeit, konnten aber nicht für alles als Erklärung dienen. Es gab Interessenkongruenzen zwischen den Unternehmern und Machthabern sowie schlichte ökonomische Notwendigkeiten. Erforderlich ist daher jeweils eine historische Betrachtung des Einzelfalls.

»Zwang und Druck existierten zwar in der NS-Zeit, konnten aber nicht für alles als Erklärung dienen.« Erst Mitte der 1980er Jahre begannen Historiker mit der professionellen Aufarbeitung der NS-Geschichte der Großindustrie. Mitte der 1990er Jahre folgte dann eine größere Welle der Aufarbeitung – weiterhin beschränkt auf Großunternehmen –, als sich die Manager-Generation der Nachkriegszeit endgültig aus den Aufsichtsräten vieler Unternehmen zurückzog, gleichzeitig die Opfer des „Dritten Reiches“ an Altersgrenzen stießen, die nach

Während diese ersten historischen Studien zu Großunternehmen das wissenschaftliche Fach „Unternehmensgeschichte“ beflügelten, blieb die Gruppe der Familienunternehmen zunächst außen vor. Erst nach der Jahrtausendwende, als auch hier ein Generationswechsel anstand, war spürbar, dass die nun übernehmende „Enkelgeneration“ neue Fragen an die Geschichte ihrer Unternehmen stellen würde.

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Strafen verhängt, weil Deutschland gerade auch die Unternehmer brauchte.

Sie will von professioneller Seite wissen, wie sich das eigene Unternehmen und die Familie verhalten haben; nicht länger nur den Ausführungen der Vorväter vertrauen. Wie nicht anders zu erwarten, findet sich auch in der Historie der Familienunternehmen ein breites Spektrum an Verhaltensmustern – vom Mittäter bis hin zum Widerständler.

Dies konnte jedoch zu irreführenden Schlussfolgerungen in den Unternehmerfamilien führen. So wurde ein ums andere Mal verwechselt, dass die Freilassung eines angeklagten Unternehmers nicht mit einem Freispruch gleichzusetzen ist. Große Amnestiewellen setzten Unternehmer frei, die bei Beendigung des Prozesses womöglich verurteilt worden wären. Funktionierende Netzwerke sorgten dafür, dass Täter auf freien Fuß kamen. Die für die Entnazifizierungsprozesse von einem Leumund ausgestellten „Persilscheine“, mit denen Täter weiß gewaschen wurden, waren weit verbreitet.

Menschen verhielten sich im Nationalsozialismus oft sehr widersprüchlich. Es gab Unternehmer, die in ihrem persönlichen Umfeld jüdische Mitmenschen retteten, gleichzeitig aber auch Todesurteile gegenüber ihren Zwangsarbeitern verhängten. Andere Unternehmer arbeiteten mit den Nazis zusammen und setzten die Erträge dann zur Rettung jüdischer Mitmenschen ein. Manche Unternehmen erzielten im Zweiten Weltkrieg hohe Gewinne, konnten diese aber aufgrund des Ressourcenmangels nicht reinvestieren. Wieder andere mussten sehr erfindungsreich sein, um sich in irgendeiner Form als kriegswichtig zu erweisen, um weiter arbeiten zu können.

In vielen Unternehmerfamilien herrschte so jahrzehntelanges Schweigen. Wo Transparenz und Fakten fehlten, wucherten Mutmaßungen und Unsicherheit bis hin zum Misstrauen. Dies führte dazu, dass Familien zerrüttet wurden und einzelne Familienmitglieder lange Zeit nicht nachvollziehen konnten, warum ihnen subjektiv wahrgenommene Ungerechtigkeiten widerfuhren. Andere wiederum kasteiten sich zu Unrecht, verdeckte das Schweigen doch, dass sie im Grunde eine „positive“ Geschichte zu erzählen hatten.

»In vielen Unternehmerfamilien herrschte jahrzehntelanges Schweigen.«

Schließlich strahlte das Schweigen der Unternehmerfamilie auch in das Unternehmen aus. Wo immer eine Weißstelle bleibt und die Frage nach der eigenen Geschichte einem Minenfeld gleicht, sind Mitarbeiter verunsichert. Das Schweigen zum „Dritten Reich“ wird häufig und geradezu intuitiv gleichgesetzt mit dem stillen Eingeständnis, an den Verbrechen beteiligt gewesen zu sein. Allein, es weiß dann niemand, in welcher Form und welchem Ausmaß.

Die Studien zeigen deutlich, dass nahezu alle an dem nationalsozialistischen System beteiligt waren und darin aktiv mitwirkten. Sich mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen, ist daher umso wichtiger, denn es zeigt, wie gefährlich nah man dem vermeintlich Untragbaren kommen kann und wie leicht Grenzen des zivilisierten menschlichen Umgangs überschritten werden. Es zeigt auch, dass manchmal diese Grenzen überschritten wurden, um handlungsfähig zu bleiben und nicht selbst zur Zielscheibe zu werden.

Dabei verdienen die Mitarbeiter Transparenz und eine klare Unternehmenskultur, welche sich kritisch und ehrlich mit der eigenen Geschichte auseinandersetzt. Allerdings sollten Unternehmer dabei nicht allein auf schön verpackte, nette Anekdoten zurückgreifen. Die Belegschaft erwartet eine differenzierte Aufarbeitung und einen ehrlichen und transparenten Umgang mit den gewonnenen Erkenntnissen. Vollständige Objektivität ist zwar oft nicht zu erreichen, die eigene Geschichtsschreibung sollte jedoch professionell, bestenfalls mit Unterstützung von erfahrenen Historikern, erfolgen.

Die Scham, sich bis zu einem gewissen Grad an den Umständen in Nazi-Deutschland beteiligt zu haben, war der Anfang des Vergessens. So hatten nach Ende des Zweiten Weltkriegs Viele größtes Interesse daran, die vergangenen Jahre zu vergessen. Seien es die Kriegsteilnehmer, die die Gräuel­ taten des Krieges vergessen mussten, seien es die Täter und Mitläufer, die ihr Mittun im Rückblick nicht erklären konnten. Die Entnazifizierungsverfahren wurden immer eiliger entschieden und häufig Freisprüche oder kleine

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»Die Scham, sich bis zu einem gewissen Grad an den Umständen in Nazi-Deutschland beteiligt zu haben, war der Anfang des Vergessens.«

Diese professionelle Geschichtsschreibung braucht Quellen. Bislang herrschten für die Aufarbeitung von Unternehmensgeschichten in Deutschland hervorragende Bedingungen. Auch wenn viele Akten aus der Zeit des Nationalsozialismus durch Kriegseinwirkungen oder aktives Vernichten verloren gegangen waren, ließ sich hinreichend Material finden – sei es in gut sortierten Archiven, auf Dachböden, in Kellern oder in ungenutzten Industriehallen, in Gegenüberlieferungen der Behörden oder bei anderen Unternehmen. Dabei war die Offenheit vieler deutscher Unternehmen, die den Zugang zu vertraulichen Akten gewährten, weltweit nahezu einzigartig. Einige Unternehmen leisten sich sogar professionelle hauseigene Archive, wobei der Großteil das Aufbewahren von alten Akten für unnütz oder zu ressourcenintensiv betrachtet. Angebote wie die Wirtschaftsarchive der Industrie- und Handelskammern oder auch das Bundesarchiv oder die Lande­ sarchive fangen manche, aber nicht alle Bestände auf. Seit Mitte der 1990er Jahre ist jedoch eine Entwicklung zu beobachten, die ohne aktives Zutun der Beteiligten spätestens mittelfristig zu einem Paradoxon führen wird: Während die Öffentlichkeit, Belegschaft und viele Unternehmer selbst nach mehr Authentizität und Geschichte verlangen, wird die zwingend erforderliche Quellenbasis vernichtet und damit eine „Geschichtsunmöglichkeit“ herbeigeführt. Grund hierfür ist die Digitalisierung der Unternehmensprozesse.

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Während man den bereits existierenden Datenverlust seit Mitte der 1990er Jahre heute vielleicht noch ansatzweise kompensieren kann, weil noch der ein oder andere Papierausdruck im Schrank, in der Registratur, auf dem Dachboden oder im Keller zu finden ist, wird es in Zukunft schwieriger. Mit zunehmender Digitalisierung enthalten viele Prozesse nahezu keinen analogen Teilprozess mehr. Hinzu kommt die neue Datenschutzgrundverordnung, welche die historische Dimension des digitalen Übergangs unberücksichtigt lässt. Es werden die im Archiv befindlichen, für eine historische Nutzung definierten Dokumente geschützt. Jedoch ist der Zeitraum, bis die Akten in ein historisches Archiv gelangen, nicht mitgedacht. So kann es passieren, dass historisch relevante Akten längst aufgrund der DSGVO vernichtet sind, bevor sie das hierzu notwendige Alter erreichen.

IT-Neuerungen vermitteln den Mitarbeitern, all ihre Informationen würden auf Servern gespeichert. Während in früheren Zeiten Aktenpläne zur Überführung von Akten in das Archiv geregelt wurden, unterlassen die Zuständigen zunehmend diese Prozesse im festen Glauben, die Informationen seien für unbestimmte Zeit und jederzeit abrufbar. Die so massenhaft gespeicherten Daten auf Servern, Festplatten, Floppy-Discs, CD-Roms und USB-Sticks sind jedoch unsortiert.

»Untätigkeit wäre fatal, wollen wir auch in Zukunft an Geschichte erinnern können.« Sie sind in Teilen – wenn die Trägermedien noch funktionsfähig sind – vorhanden, aber schon heute meist nicht mehr lesbar. Lesbare Daten sind meist unstrukturiert und für die historisch-rückblickende Recherche nicht nutzbar. Die Terabytes an Informationen werden zu Datengräbern. Die vermeintliche Lösung einer Metasuche über alle Daten hinweg ist für den historischen Rekonstruktionsprozess ebenfalls unzureichend. Lassen sich die Informationen nicht mehr eindeutig ihrem Ursprung zuordnen, hat es der Historiker schwer.

Um dem entgegenzuwirken, bedarf es in den Unternehmen eines Archivars und eines Datenschutzbeauftragten, die sich auf Prozesse zum Schutz historischer Dokumente einigen und diese Prozesse implementieren, sodass eine dauerhafte Quellenverfügbarkeit gewährleistet wird. Der gesetzliche vorgesehene Datenschutzbeauftragte ist nicht für den Schutz historischer Daten zuständig, was die Rolle des Archivars umso wichtiger werden lässt. Untätigkeit wäre fatal, wollen wir auch in Zukunft an Geschichte erinnern können.

Dr. Andrea H. Schneider-Braunberger ist Historikerin und seit 1996 Geschäftsführerin der Gesellschaft für Unternehmensgeschichte e.V. Sie ist Autorin verschiedener historischer Studien zu Banken und Familienunternehmen.

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anders als andere


von Hubertus Pellengahr

Zahlreiche Sonntagsreden wurden schon auf sie gehalten: die soziale Marktwirtschaft. Dieses Jahr feiert sie ihren 70. Geburtstag. Wie viel ist heute übrig geblieben vom Erhard'schen Wohlstandsversprechen? Hubertus Pellengahr, Geschäftsführer der »Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft«, mit einer kritischen Bestandsaufnahme.

verteilen – das wollen auch andere Parteien – sondern Wohlstand zu schaffen, zu erarbeiten. Wer Leistung erbringen will, soll die Chance dazu bekommen. Zum eigenen Wohl und zum Wohle aller. All das ist in der Union gepaart mit der Überzeugung, dass Markt und Wirtschaft die größten Garanten für nachhaltigen Wohlstand sind. Markt und Wirtschaft können nur in Freiheit gedeihen. Freiheit darf nicht mit der Abwesenheit von Regeln verwechselt werden. Freiheit bedeutet auch die Sicherheit, sich auf die Einhaltung der Regeln verlassen zu können, dass die Regeln für alle gleich gelten. Markt, Wirtschaft, Freiheit, Sicherheit, sozialer Ausgleich. Das ist Soziale Marktwirtschaft.

Den Wunsch nach wirtschaftlichem Wohlstand und Freiheit halten nicht einmal Mauern auf. Doch wenn wirtschaftlicher Wohlstand und Freiheit gesichert sind, verlangen Bürgerinnen und Bürgern nach etwas anderem: Sicherheit. Wie stellen wir sicher, dass unser Wohlstand auch in Zukunft gesichert ist? Wie kann sich Deutschland seinen Platz an der Spitze der Weltwirtschaft erhalten? Wie kann unser Sozialstaat so modernisiert werden, dass er auch in zehn, 20, 30 Jahren den Bedürftigen hilft, ohne die Leistungsträger zu überfordern? Die Union hat sich vorgenommen, sich auch mit Blick auf das laufende 70. Jubiläumsjahr der Sozialen Marktwirtschaft zu erneuern, moderner zu werden. Das kann nur begrüßt werden. Jetzt muss es um Weg, Richtung und Geschwindigkeit gehen.

Mehr Marktwirtschaft wollen Die Marktwirtschaft muss den Menschen dienen. Sie fußt auf Eigenverantwortung und dem christlichen Menschenbild und bietet in ihrer Ausgestaltung als Soziale Marktwirtschaft eine soziale Absicherung für alle, die aus unterschiedlichsten Gründen nicht in der Lage sind, für sich selbst zu sorgen. Sie ermöglicht Chancen und sorgt für Chancengerechtigkeit. In der Marktwirtschaft gibt es klare Regeln. Doch die Veränderungen, denen wir begegnen und die unser Leben und Arbeiten bestimmen, sind immens: Demografischer Wandel und Digitalisierung seien an dieser Stelle exemplarisch genannt. Die geänderten und sich ändernden

»Freiheit bedeutet auch die Sicherheit, sich auf die Einhaltung der Regeln verlassen zu können.« Gesucht: Eine neue Agenda für die Wirtschaftspolitik Was macht die CDU aus? Aus meiner Sicht ist es der stete Wille, Wohlstand nicht einfach zu

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Die Zeit der Sonntagsreden ist vorbei Was soziale Marktwirtschaft wirklich bedeutet

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die milliardenschweren Rentenpakete der Großen Koalition, die außer Kosten zu produzieren kein Problem des demografischen Wandels lösen, geschweige denn Altersarmut bekämpfen. Sie entkoppeln die Rente von der Beitragsentwicklung und schaffen Fakten, die bis weit in die Zukunft sehr viel Geld kosten werden – bezahlt mit Steuerund Beitragsgeld, das in der Zukunft erst noch erwirtschaftet werden muss.

Bedingungen erfordern eine Überprüfung und möglicherweise Neujustierung der Regeln, ohne dass jedoch die erfolgreichen Grundsätze über Bord geworfen werden dürfen. Die Soziale Marktwirtschaft ist kein starres Konzept. Zukunft braucht ein innovationsfreundliches Klima und eine Politik der Chancen-Betonung gepaart mit einer positiven Grundhaltung. Skepsis ist nötig. Konservatismus bedeutet aber nicht die Verhinderung von Fortschritt, sondern dass das Neue besser sein muss, als das Alte.

»Es gibt keine Regel, die besagt, dass hohe und höhere Ausgaben immer Gutes bewirken.«

Zentral ist ein funktionierender Wettbewerb. Und an dieser Stelle ist ein starker Staat gefragt. Er muss nämlich dafür sorgen, dass die Regeln so gut sind, dass Wettbewerb stattfinden kann, auch in Zeiten beispielsweise neuer digitaler Geschäftsmodelle, die eine Monopolbildung begünstigen und neue Währungen wie Daten schaffen. Die Frage ist aber nicht, wie kann das Neue in den alten Rechtsrahmen gepresst werden, sondern wie heben wir die Chancen und reduzieren dabei die Risiken und passen dafür, wenn nötig, die Regeln entsprechend intelligent an. Marktwirtschaft verträgt keine Kartelle und keine Monopole. Der Staat muss diese verhindern und für Wettbewerb und Chancengerechtigkeit sorgen. Das gilt nicht nur für Deutschland, sondern in Zeiten von Produkten, die in einer globalen Arbeitsteilung entstehen, auch für Europa und darüber hinaus.

Auch scheint in der Haushaltspolitik immer noch das Motto zu gelten: Viel hilft viel. Doch es gibt keine Regel, die besagt, dass hohe und höhere Ausgaben immer Gutes bewirken und den Wohlstand mehren bzw. Wachstum befördern. Ausgaben sind kein Selbstzweck. Vor allem das immer weitere Aufblähen der Sozialausgaben und die dadurch zunehmende Steuer- und Abgabenlast drohen, den kommenden Generationen die Luft zum Atmen zu nehmen. Im OECD-Vergleich gibt Deutschland weit überdurchschnittlich viel für soziale Sicherung aus, für Bildung aber weniger als alle Vergleichsländer. Wer der nächsten Generation wirtschaftlichen Wohlstand und Freiheit sichern will, verteilt nicht heute schon deren Leistungen um, sondern kümmert sich um deren Bildung, übergibt ihnen eine funktionierende Infrastruktur und investiert in technologischen Fortschritt.

Wohlstandsversprechen erneuern – auch für morgen Ein weiterer Punkt ist in der Marktwirtschaft von großer Bedeutung, besonders mit Blick auf Chancengerechtigkeit für alle: Generationengerechtigkeit. In der Marktwirtschaft gilt das Verursacherprinzip. Es darf nicht auf Kosten anderer gewirtschaftet werden. Die Haftung, die für alle Marktakteure gilt, ist hierfür eine wesentliche Voraussetzung. Nur wer für etwas haftbar gemacht werden kann, wird verantwortlich handeln. Die CDU muss zu einer Politik zurückkehren, die auch für künftige Generationen das Wohlstands­ versprechen aufrechthält. Das Grundvertrauen muss erneuert werden, dass die Soziale Marktwirtschaft auf lange Sicht Wohlstand für alle schafft.

Die gut qualifizierten und einsatzwilligen Fachkräfte sind die Leistungsträger unserer Gesellschaft. Sie sind die Mitte, auf die unser Wohlstand fußt. Die Mittelschicht zahlt das Gros der Steuern und Abgaben und hält die Gesellschaft am Laufen. Ihre Leistungsbereitschaft sollte nicht länger von der Politik ausgenutzt werden. Wenn Steuereinnahmen schneller steigen als erwartet, dann darf das keine Aufforderung an die Politik sein, sich zusätzliche Ausgaben auszudenken. Viel zu lange schon warten die Steuerzahler auf spürbare Entlastungen. Die Abschaffung des Solidaritätszuschlags 30 Jahre nach der Wiedervereinigung sollte eine Selbstverständlichkeit sein. Die Steuerzahler haben ihren Beitrag geleistet, jetzt muss die Politik Wort halten.

Dieses Vertrauen gerät aber ins Wanken, wenn die CDU heute eine Politik mitträgt, die in bislang nie dagewesener Weise auf Kosten der künftigen Generationen geht. Hierzu zählen

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»Marktwirtschaft verträgt keine Kartelle und keine Monopole.«

Zeit der Sonntagsreden ist vorbei

Eine Steuerentlastung würde auch der Mittelschicht die Möglichkeit geben, wieder in größerem Umfang über die Verwendung ihres Arbeitslohns entscheiden können. Von diesem Arbeitslohn haben die Beschäftigten der vergangenen Jahrzehnte rund ein Fünftel abgegeben, um der vorangegangenen Generation der Beschäftigten ihre Rente zu finanzieren.

In einer Marktwirtschaft brauchen wir einen guten Ordnungsrahmen. Diesen bereitzustellen ist Aufgabe der Politik. Nicht jedes neue Problem braucht ein neues Gesetz. Im Gegenteil: Fragt man Unternehmer nach den größten Widerständen, gegen die sie täglich ankämpfen, fallen ihnen sofort unzählige teure und obendrein wirkungslose bürokratische Vorschriften ein. Und es sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein, dass Angestellte und Arbeiter ihre Steuererklärung mit wenigen Klicks online erledigen können.

Es ist daher gerecht, wenn auch künftige Generationen nicht mehr als ein Fünftel ihres Lohns für die Finanzierung der Renten abtreten müssen. Die gesetzliche Rente wird auch in Zukunft dafür sorgen, dass der Wohlstand für alle nicht mit dem Renteneintritt endet. Ergänzend müssen private und betriebliche Altersvorsorge gestärkt und das Renteneintrittsalter ab 2030 weiter an die steigende Lebenserwartung angepasst werden. So tragen alle Generationen einen fairen Anteil. Zugleich werden die Hilfsbedürftigen unterstützt ohne die Leistungsbereiten zu überfordern.

Die Zeit zu handeln ist definitiv gekommen. Die Wünsche der Menschen liegen eigentlich auf der Hand: Die bürgerliche Mitte wünscht sich gute Schulen für ihre Kinder, eine funktionierende Infrastruktur, eine verlässliche Altersvorsorge und gute Entwicklungsmöglichkeiten in Freiheit und Sicherheit. Dazu müssen Taten folgen.

Hubertus Pellengahr ist Geschäftsführer der „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“. Von 1998 bis 2009 war der studierte Volkswirt Sprecher und Geschäftsführer des Hauptverbandes des Deutschen Einzelhandels.

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Paul-Lincke-Ufer 8b 10999 Berlin


Holocaust-Mahnmal, Berlin Denkmal fĂźr die ermordeten Juden Europas



von Stephan Harbarth

Antisemitische Parolen scheinen heute wieder Konjunktur zu haben. Dabei sollten wir uns stets die großen Leistungen Adenauers und Ben Gurions zur Aussöhnung beider Völker in Deutschland und Israel vor Augen führen. Ein Aufruf zur Bekämpfung eines jahrhundertealten Phänomens, das eigentlich schon lange ausgestorben sein sollte.

besseres Deutschland gestalten zu wollen, welches in und mit Europa sowie der Welt friedlich und kooperativ agiert, gehört zum Wesenskern der Christlich Demokratischen Union Deutschlands. Dieses geistige Erbe zu erhalten, zu verinnerlichen und danach zu handeln gehört auch heute zu unserem unverbrüchlichen Selbstverständnis und immerwährenden Handlungsauftrag.

Der Beginn eines Prozesses der Aussöhnung mit dem jüdischen Volk zählt zweifelsohne zu den größten Leistungen von Bundeskanzler Konrad Adenauer. Bereits kurz nach seinem Amtsantritt bemühte er sich um die Kontaktaufnahme mit Repräsentanten des Staates Israel. Nach Abschluss des Luxemburger Abkommens im Jahr 1952, welches umfangreiche Unterstützung der jungen Bundesrepublik für den jungen Staat Israel umfasste, dauerte es noch weitere acht Jahre, bis Adenauer und Staatspräsident Ben Gurion zusammentrafen. Ein nach heutigen Maßstäben der ständigen Gipfel- und Pendeldiplomatie von Staats- und Regierungschefs schier ewig langer Zeitraum.

Unser Engagement zur Verteidigung dieser Werte muss bei uns selbst in Deutschland beginnen. Im Dezember 2017 brannten Flaggen des Staates Israel vor dem Brandenburger Tor. Die Bilder gingen um die Welt und riefen Erinnerungen wach, die wir längst auf dem Schutthaufen der Geschichte wähnten. Ausgerechnet am Brandenburger Tor, vor welchem in der Weimarer Republik der Verfassungstag begangen wurde. Ausgerechnet am Brandenburger Tor, das mittlerweile als ein Triumphbogen für das freiheitlich-demokratische Deutschland steht.

»Es schmerzt mich, dass jüdische Einrichtungen in Deutsch­ land wieder unter Polizeischutz stehen müssen.«

Berichte und Videoaufnahmen von antisemitischen Tiraden sind virulent und schaffen für in Deutschland lebende Juden eine Atmosphäre der Verunsicherung. Es schmerzt mich, dass jüdische Einrichtungen in Deutschland wieder unter Polizeischutz stehen müssen. Für uns als Union ist die Aufarbeitung der Ursachen für diese Entwicklung ein politischer Imperativ.

Indes: Der Umstand, dass bereits in den ersten 15 Jahren nach der Shoa das Fundament für eine Annäherung und sogar Aussöhnung zwischen beiden Völkern gelegt wurde, darf getrost als politisches Wunder bezeichnet werden. Die innere Überzeugung, aus den Trümmern der Shoa ein

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Gemeinsam im Kampf gegen den Antisemitismus Christlich-jĂźdische Werte entschlossen verteidigen

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Mit der Flüchtlingskrise ist auch der Antisemitismus arabischer Ausprägung zu einem wachsenden Problem in unserem Land geworden. In einigen Herkunftsländern zählen Antizionismus und Antisemitismus zur Staatsdoktrin.

Schließlich genießt der Grundsatz der wehrhaften Demokratie für uns als CDU einen besonderen Stellenwert. Wir stehen in der Pflicht, antisemitischen Vorkommnissen mit allen erforderlichen rechtsstaatlichen und zivilgesellschaftlichen Mitteln beizukommen. Volksverhetzung genießt nicht den Schutz der Verfassung und findet Achtung im Strafgesetzbuch.

»Das Zurückdrängen des Antisemitismus in die vollkommene Irrelevanz ist eine gesamtgesell­ schaftliche Aufgabe.«

In diesem Kontext schnürt der vom Deutschen Bundestag auf Initiative der CDU/CSU-Bundestagsfraktion verabschiedete interfraktionelle Antrag „Antisemitismus entschlossen bekämpfen“ ein sehr konkretes Maßnahmenpaket und geht somit weit über reine politische Willensbekundungen hinaus. Dazu zählt die Berufung eines Antisemitismusbeauftragten, der die ressortübergreifende Koordination aller Maßnahmen der Bundesregierung übernimmt und als Ansprechpartner für Belange jüdischer Gruppen und gesellschaftlicher Organisationen dient. Vor dem Hintergrund der Verbrennung von Flaggen des Staates Israel wird das Straf- und Versammlungsrecht auf seine Wirksamkeit hin überprüft. Es soll mehr Geld für den deutsch-israelischen Jugendaustausch sowie für Besuche von Gedenkstätten zur Verfügung gestellt werden. Auch wird unterstrichen, dass praxisbezogene Forschung zur Analyse des Gegenwartsantisemitismus eine stärkere Rolle spielen sollte.

Dieses Gedankengut wird bei Weitem nicht von allen, bei Weitem jedoch nicht von Wenigen mit nach Deutschland gebracht. Als politisch Verantwortliche müssen wir eineindeutig signalisieren: Schutzbedürftigkeit rechtfertigt keine Volksverhetzung. Es ist absurd, die Verfolgung einer Volksgruppe zu propagieren und gleichzeitig gegenüber dem deutschen Staat Schutz vor der eigenen Verfolgung zu reklamieren. Wer in Deutschland Zuflucht sucht, darf diese nicht zur Verfolgung Andersgläubiger missbrauchen. Der Talmud weiß: „Wer andere achtet, wird geachtet.“ Es liegt an uns, die christlich-jüdischen Wurzeln unseres Landes mit Wort, Tat und Courage zu verteidigen. Das Zurückdrängen des Antisemitismus in die vollkommene Irrelevanz ist eine gesamtgesellschaftliche und gesamtstaatliche Aufgabe. Als Union sollten wir stets eine entscheidende treibende Kraft dieses Engagements sein, denn die Solidarität mit Israel und der Schutz jüdischen Lebens zählen zu unseren unverbrüchlichen politischen Grundsätzen.

Neben Rechtsextremisten bedienen sich auch Linksextremisten radikaler Intoleranz. Maßgeblich zu nennen ist hierbei die Aktion „Boycott, Divestment, Sanctions“, welche zur systematischen Schwächung der israelischen Wirtschaft und somit zur Destabilisierung des Gesamtstaates aufruft.

Prof. Dr. Stephan Harbarth MdB ist stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion mit den Aufgabenbereichen Recht und Verbraucherschutz, Innen, Sport und Ehrenamt, Vertriebene, Aussiedler und deutsche Minderheiten. Seit dem Jahr 2009 vertritt er den Wahlkreis Rhein-Neckar als Mitglied des Deutschen Bundestages. Er ist Mitglied im Bundesvorstand der CDU.

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Frieden durch Recht? Historische und zeitgenรถssische Perspektiven auf ein Leitmotiv der internationalen Beziehungen

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von Carl-Philipp Sassenrath

Der Friedensvertrag von Versailles bildete den Versuch, durch Recht Frieden zu schaffen. Wieviel bleibt von diesem Versuch einhundert Jahre später? Über das Wechselverhältnis von nor­ mativen Erwartungen, völkerrechtlichen Begründungen und poli­ tischen Zwängen – und welche Lehren es für gegenwärtige völker­ rechtspolitische Debatten in Deutschland bereithält.

Marcus Payk bilanziert: „Mit Recht allein lässt sich kein Frieden gestalten.“ Payk analysiert, wie Ideen des Völkerrechts und durch sie die mitwirkenden Völkerrechtler Einfluss auf die Pariser Friedenskonferenz von 1919/1920 nahmen. Einige wesentliche Ergebnisse Payks sollen hier nachvollzogen werden. Diese bieten, bei aller allgemein gebotenen Zurückhaltung gegenüber historischen Parallelen, Anlass, die Funktion völkerrechtspoli­tischer Erwägungen im Rahmen aktueller außenpolitischer Debatten in Deutschland zu hinterfragen. Dabei sollen auch zwei weitere neue Publikationen mit völkerrechtspolitischen Bezügen vorgestellt werden.

Einen „festen, gerechten und dauerhaften Frieden“ trachtete der Vertrag von Versailles zu formen. Zwar beendete der Pariser Frieden das unendliche Leid des Ersten Weltkriegs, doch sein langfristiges Ziel verfehlte er. Die eindrücklichen Bilder der französisch-deutschen und internationalen Gedenkfeierlichkeiten am 10. und 11. November dieses Jahres in Compiègne und Paris sollten beweisen: Wir haben gelernt, wir sind uns unserer Verantwortung für eine Zukunft in Frieden bewusst. Doch zugleich ist der Pariser Friedensschluss einhundert Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs immer wieder Gegenstand von Diskussionen. Als der französische Präsident Emmanuel Macron anlässlich der landesweiten Gedenkfeiern zum „Grande Guerre“ eine kritische Auseinandersetzung auch mit dem Versailler Vertrag anregte, erntete er bei vielen Franzosen Unverständnis.

Weder reiner Rechtsformalismus noch Machtüberschuss Trotz der Rechtsform des Versailler Vertrages blieb die friedensstiftende und friedenssichernde Wirkung des Vertrages aus. Daran konnte auch die „präzedenzlose Detailliertheit“ des Friedensvertrags, so Payk, nichts ändern. Ebenso wenig kann jedoch das Versagen der völkerrechtlichen Ambi­ tionen des Friedensschlusses auf die Macht der das Recht übersteigenden politischen Interessen zurückgeführt werden. Diese Lesart würde einen klassischen Dualismus zwischen Recht und Politik bemühen. Zwar wollten die Sieger durch die Rechtsform des Vertrages weniger eine Idee der Gerechtigkeit verfolgen, sondern primär die eigenen Interessen durchsetzen. Der Ausgangspunkt der

»Der Historiker Marcus Payk bilanziert: ›Mit Recht allein lässt sich kein Frieden gestalten.‹« Was nach Lesart der Siegermächte ein Frieden des Rechts war – und in den Augen vieler Franzosen womöglich bis heute ist – war in den Augen des besiegten Deutschlands ein Unrechtsfrieden. Beide Seiten bemühten das Recht. Dennoch wurde die rechtliche Bedeutung des Versailler Vertragswerks erst jetzt umfassend untersucht. Der Historiker

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Dieses Politische war im 19. Jahrhundert wesentlich geprägt von Liberalismus und Konstitutionalismus. Frieden, im Inneren und Äußeren, resultierte danach aus Aushandlungen zwischen „autonomen Einheiten, die sich zu freiwilligen Tauschbeziehungen miteinander verbinden würden.“

Untersuchung Payks ist jedoch ein anderer. Erstens verstelle gerade ein starr dualistisches Verständnis, das die völkerrechtliche Funktion und Wirkung alleine auf das Überwiegen des einen oder anderen Elements zurückzuführen versucht, den Blick für mögliche konstruktive Wirkungen des Völkerrechts auf die Politik einerseits und für einen effektiven Einfluss der Politik auf die Entstehung und Entwicklung des Völkerrechts andererseits. Zweitens schreibt es Payk vor allem auch der rechtlichen Eigenlogik, von der die Anwendung und Auslegung des Vertrags bestimmt wurden, zu, dass sich der Versailler Vertrag trotz der mit ihm einhergehenden politischen Funktionalisierung des Rechts nicht als reine Machtpolitik im bloßen Rechtsgewand verschmähen lässt.

»Der Erste Weltkrieg avancierte auch zu einem Kampf um die Erhaltung des Rechts.« Vor diesem Hintergrund avancierte der Erste Weltkrieg auch zu einem Kampf um die Erhaltung des Rechts und damit des neugebildeten Betriebssystems der internationalen Gemeinschaft. Payk konstatiert, dass es den Siegermächten kaum mehr möglich war, sich im Einklang mit der vorherrschenden fortschrittlichen Völkerrechts­ narrative im Rahmen der Friedensverhandlungen alleine auf die politische Bezwingung der Besiegten zu berufen.

»Der Versailler Vertrag lässt sich nicht als reine Machtpolitik im bloßen Rechtsgewand verschmähen.«

Mangelnde politische Determination des Rechts

Normative Erwartungen, völkerrechtliche Begründungen und politische Zwänge im Wechselverhältnis

Dem durch Recht geschaffenen Frieden in Vertragsform waren nicht nur die Besiegten unterworfen, für die der „Versailler Imperialismus“ (Carl Schmitt) als Diktatfrieden daherkam. Payk problematisiert auch für die Sieger, dass die „eminent vertragspositivistische, normativ aufgeladene Gestalt des Friedens“ ihre Handlungsmöglichkeiten beeinträchtigte. Diese Feststellung überrascht, liegt doch in dieser Unverfügbarkeit des Rechts und seinen Schranken für die Politik gerade ihr Zweck. Allerdings kommt Payk zu dem Schluss: Der beschränkte Erfolg des Versailler Friedenswerks, die internationalen Beziehungen nach dem Ende des Ersten Weltkriegs zu stabilisieren, sei vor allem auf eine Kluft zwischen der angestrebten und in weiten Teilen umgesetzten Rechtsförmigkeit des Vertrages und seiner politischen Unbestimmtheit zurückzuführen. Unter diesen Bedingungen konnte eine politische Funktionalisierung des Rechts zur Friedensfindung nur ineffektiv bleiben.

In Dekonstruktion eines starr dualistischen Verständnisses fragt Payk nach den wechselseitigen Einflüssen von normativen Erwartungen, völkerrechtlichen Begründungen und politischen Zwängen. Nur aus einer Gesamtschau dieses Wechselverhältnisses könne sich ergeben, welchen Einfluss rechtliche Aspekte im Rahmen der Aushandlung, Entscheidungsfindung und Rechtfertigung des Pariser Friedensschlusses ausübten. Dazu analysiert Payk den Rechts- und Vertragsfrieden von Versailles vor dem Hintergrund der im 19. Jahrhundert einsetzenden Verrechtlichung der internationalen Beziehungen und der völkerrechtlichen Argumentationen während des Ersten Weltkriegs und identifiziert auf empirische Weise den Einfluss völkerrechtlicher Prinzipien und juristischer Akteure während der Verhandlungen und im Vertragstext. Payk beschreibt, dass sich die völkerrechtlichen Bestrebungen nicht bloß als Gegenpol zu einer interessengeleiteten Machtpolitik darstellten, „sondern selbst den unterschiedlichen Leitideen, Formationen und Konstellationen des Politischen“ entsprangen.

Juristen zwischen Apologie und Utopie Während der Verhandlungen zum Friedensvertrag waren es häufig gerade die Juristen des Redaktions-

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»Die Pariser Ordnung erscheint viel­ mehr als eine Fortentwicklung zur Ordnung des Westfälischen Friedens denn als deren Antithese.« eine grundsätzliche Unverfügbarkeit des geltenden Rechts anerkannten. Dass es gerade diese politische Unverfügbarkeit des Rechts ist, die überhaupt seinen wirkungsvollen Einsatz als politisches Instrument erlauben würde, erkannten auch die Akteure des Versailler Friedensschlusses.

komitees, die versuchten, die politischen Vagheiten und Widersprüche einer rechtlich neutralen und zulässigen Lösung zuzuführen. Insgesamt war der Einfluss der Juristen umso höher, je mehr sie politische Zurückhaltung übten und damit nicht die Handlungsoptionen ihrer jeweiligen politischen Verhandlungsführer einengten. Wenn sie aufgrund dieser Zurückhaltung das Vertrauen ihrer politischen Vorgesetzten besaßen, so steigerte das ihren Einfluss, weil sie umso häufiger bereits im Vorfeld politischer Entscheidungen eingebunden wurden, um rechtliche Fragen abzusichern.

Der Friedensvertrag als Zwischenstation fortschreitender Verrechtlichung Der Friedensvertrag speicherte die normativen Erwartungen des 19. Jahrhunderts und schuf die Pariser Ordnung. Diese Ordnung bestand, so Payk, in einem staatszentrierten Internationalismus. Keinesfalls aber könne dieser Pariser Ordnung zugeschrieben werden, die staatliche Souveränität zugunsten internationaler Mechanismen und Institutionen grundlegend eingeschränkt zu haben; den Pariser Friedensverträgen lag der Supranationalismus fern. Die Pariser Ordnung erscheint vielmehr vor allem als eine Fortentwicklung zur Ordnung des Westfälischen Friedens denn als deren Antithese. Von einzelstaatlicher Souveränität versprach man sich unter dieser Ordnung internationale Stabilität. Payk möchte jedoch davon absehen, diesen funktionalistischen Staatszentrismus mit der „Entfesselung eines unversöhnlichen Nationalismus“ gleichzusetzen. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg ergänzte sich der staatenzentrierte Internationalismus Schritt für Schritt mit den gewichtigen Individual- und Menschenrechten zur heutigen „liberalen Weltordnung“.

»Insgesamt war der Einfluss der Juristen umso höher, je mehr sie politische Zurückhaltung übten.« Die beteiligten Völkerrechtler befanden sich also auf einer Gratwanderung: Je mehr sie sich alleine in den Dienst der politischen Vorgaben stellten, desto größer ihr Einfluss – desto mehr wurde stillschweigend jedoch auch erwartet, dass sie ihre eigenen Lesarten des Völkerrechts unterordneten. Der finnische Jurist und Diplomat Martti Koskenniemi betitelt das Agieren des Völkerrechts und der Völkerrechtler im Spannungsfeld zwischen politischer Funktionalisierung und unverfügbarer Eigenlogik treffend als Wandeln zwischen „Apologie und Utopie“.

Kaum Berücksichtigung in der Darstellung Payks findet die dem Pariser Friedensschluss nachfolgende Entstehung des Vorgängers des völkerrechtlichen Gewaltverbots durch den 1928 geschlossenen Kellogg-Briand-Pakt. In der historischen

Payk möchte erkennen, dass die politischen Verhandlungsführer zum Friedensvertrag, jenseits unterschiedlicher Rechtsinterpretationen, trotz aller politischen Funktionalisierung des Rechts

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den Ausbau der Speicherfunktion des Rechts eingegangen. Damit bildet das Gewaltverbot weiterhin den bisher wirksamsten Versuch, durch Recht Frieden zu schaffen. An diesem Recht gilt es vor allem mangels Alternativen festzuhalten, wie auch die Bundeskanzlerin im Rahmen des ersten Pariser Friedensforums mit Blick auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte argumentierte: „Ich frage mich oft: Stellen Sie sich einmal vor, wir müssten als heutige Staatengemeinschaft wieder so eine Erklärung [...] verabschieden; würden wir das schaffen? – Ich fürchte nein!“

Bewertung teilt der Pakt weithin das Schicksal der Versailler Friedensvertrags. Der US-Diplomat George Kennan bezeichnete den Pakt gar als kindisch. Ein neues Buch der Professoren Oona Hathaway und Scott Shapiro mit dem Titel „The Internationalists“ tritt dem entgegen und sieht in dem Pakt den „Anfang vom Ende“ der Erscheinung von Kriegen in der Welt. Auch wenn das Gewaltverbot Kriege tatsächlich nie vollständig verhindert habe und für sich gesehen auch nicht verhindern könne, so habe es mittelbar doch weitreichende völkerrechtliche Entwicklungen etwa im Bereich der Menschenrechte ermöglicht, damit die Weltordnung geprägt und den Frieden gestärkt.

Für ein konstruktives Völkerrechtsverständnis in Deutschland

Man mag die These der beiden Autoren mit guten Gründen für überzogen halten. Und doch ist das umfassende Gewaltverbot nach Art. 2 Nr. 4 der Satzung der Vereinten Nationen heute geltendes Recht, das den Staaten regelmäßig abverlangt, ihr militärisches Handeln vor den Augen und Ohren der Weltöffentlichkeit juristisch zu rechtfertigen. Über die formalrechtliche Bedeutung hinaus verdienen das Gewaltverbot und seine eng umgrenzten Ausnahmen auch als „Speichermedium der Konflikterinnerung“ Berücksichtigung.

Die gegenwärtigen Herausforderungen für das Völkerrecht gebieten eine völkerrechtspolitische Vergewisserung. In Deutschland sollte eine konstruktive Diskussion über völkerrechtspolitische Spielräume, und wie diese genutzt werden können, geführt werden. Dafür halten die Erkenntnisse aus den Pariser Friedensverhandlungen lehrreiche Orientierungspunkte vor. Die Erschütterungen der liberalen Weltordnung gehen nicht spurlos an der völkerrechtlichen Entwicklung vorüber. Die Kluft zur Realität des Staatenhandelns setzt Gewaltverbot, humanitäres Völkerrecht, Menschenrechte und internationale Strafgerichtsbarkeit immer wieder unter Druck. Dieser Druck baut sich von verschiedenen Richtungen her auf. So fügt US-Präsident Donald Trump der regelbasierten Ordnung mit den „Kündigungen“ des Pariser Klimaabkommens und des Atomabkommens mit dem Iran, der Diskreditierung des Internationalen Strafgerichtshofes und der Geringschätzung der etablierten Menschenrechtsrechtsmechanismen mehr als nur kosmetische Verletzungen zu. Im vermeintlichen Systemkonflikt Nationalists versus Globalists stellt er das Völkerrecht in die Ecke der „Globalisten“ und versucht es auf diese Weise zu beschädigen. Es ist offensichtlich, dass diese Lesart die Ursprünge und Konstruktion der aus der Pariser Ordnung hervorgehenden internationalen Völkerrechtsordnung verkennt.

»Das Gewaltverbot bildet weiterhin den bisher wirksamsten Versuch, durch Recht Frieden zu schaffen.« Kann es im Hinblick etwa auf den Irakkrieg oder die NATO-Intervention in Libyen bloßer Zufall sein, dass jene militärischen Interventionen der vergangenen Jahrzehnte den größten völkerrechtlichen Zweifeln begegnet sind, die in den Augen vieler Staaten und weiten Teilen der globalen Öffentlichkeit als Misserfolge bewertet wurden? Man mag diese Misserfolge alternativ mit einer mangelnden internationalen Geschlossenheit über das Ob und Wie dieser Interventionen begründen. Im Ergebnis kommen beide Betrachtungen auf das Gleiche heraus. Das Recht spiegelt die internationale Kooperationsbereitschaft, wenn die ablehnenden Staaten, wie häufig geschehen, ihre Haltung auch an rechtliche Erwägungen geknüpft haben. Diese Haltungen sind als von opinio iuris geprägter Staatenpraxis in die Weiterentwicklung des bestehenden (Völkergewohnheits-)Rechts und

Weniger offensichtlich – aber nicht minder tiefgreifend – könnten sich die Versuche der taktischen Umdeutung völkerrechtlicher Prinzipien etwa durch China und Russland auswirken. Auch Payk erkennt die zuletzt genannten Tendenzen, sieht in

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»Diesen Herausforderungen alleine mit dem Beharren auf das geltende Recht zu begegnen, wird nicht ausreichen.« ihnen jedoch keine systemrelevante Gefahr. Es mag ihnen zwar noch an einer langfristigen Strategie mangeln, doch gepaart mit der Blockade etablierter internationaler Institutionen stellen sie über kurz oder lang erhebliche Herausforderungen dar. Diesen Herausforderungen alleine mit dem Beharren auf das geltende Recht zu begegnen, wird nicht ausreichen. In seinem Buch „The Trump Administration and International Law“ entwickelt Harold Koh, ehemaliger „L“ der Obama-Regierung (Legal Adviser im US-Außenministerium), das Konzept eines Transnational Legal Process einerseits und die Idee einer Outside-Inside Counterstrategy andererseits. Ersteres beschreibt das Vorgehen staatlicher und nichtstaatlicher Akteure gegenüber der Regierung eines (anderen) Staates, bei welchem diese mit völkerrechtlichen Fragen konfrontiert und dadurch zu Interpretationen bewegt wird, die auf lange Sicht im Wege einer Selbstbindung internalisiert werden (interaction-interpretation-internalization). Das zweite Konzept richtet sich an Staaten und Regierungen, die völkerrechtlichen Erwägungen in ihrer Außenpolitik grundlegende Bedeutung einräumen, um sie als „smart power“ zu verwenden. Dies setzt vor allem ein multilateral orientiertes Vorgehen voraus, in dessen Zuge eine Regierung anderen Staaten die eigenen rechtlichen Argumente überzeugend und umfassend darlegt und diesen Ansatz mit anderen politischen Vorstößen verknüpft (engage-translate-leverage). Vorausgesetzt, die von einer Regierung vorgetragene Rechtsinterpretation stößt auf Zustimmung, kann dies wichtige Rechtsentwicklungen initiieren und das eigene Handeln legitimieren. Koh wendet diesen Prozess beispielsweise auf Menschenrechtsfragen, das internationale Klimarecht oder den Iran-Deal an. An diesen Ansätzen sollten völkerrechtspolitische Debatten in Deutschland Anstoß nehmen. In einer Zeit, in der die deutsche Außenpolitik sich in einem anhaltenden Zustand der Selbstbefragung

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notwendige Voraussetzung. In dem Bestreben strategisch-politische Entscheidungen überhaupt einer ergebnisoffenen Debatte zuzuführen, ist dieser Gegenreflex nachvollziehbar. Doch auch jenseits der unumstößlichen verfassungsrechtlichen Anforderungen einer völkerrechtlichen Grundlage für Bundeswehreinsätze würde die außenpolitische Debatte gut daran tun, außenpolitische und völkerrechtliche Aspekte nicht gegeneinander auszuspielen, sondern im Rahmen einer konstruktiven Gesamtschau außenpolitische und völkerrechtspolitische Erwägungen einzubeziehen. Dies sollte in Gesellschaft, Parlament und Regierung berücksichtigt werden. Dafür bietet Harold Kohs interaction-interpretation-internaliza­­tion einen Handlungsleitfaden.

und Selbstverortung befindet, wird völkerrechtspolitischen Gedankenspielen häufig nur nachgeordnete Bedeutung beigemessen. Bekenntnisse zur regelbasierten internationalen Ordnung werden für sich genommen nicht ausreichen, die einzelnen Regeln eben dieser Ordnung zu erhalten und/oder anzupassen. Für eine kraftvolle völkerrechtspolitische Debatte besitzt Deutschland grundsätzlich die notwendige ausgeprägte Rechtskultur. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich diese auch punktuell in öffentlichen Diskussionen über völkerrechtlich relevante Vorfälle niedergeschlagen. Payk resümiert, das Völkerrecht sei in Deutschland zu einem eigenständigen Gegenüber einer nationalen Machtpolitik avanciert, „zu einem populären Maßstab der Staatenpraxis und einer höherrangigen Antithese großer moralischer Kraft“. Gerade dieses dualistische Verständnis einer auf Machtüberschuss gegenüber dem Recht basierenden These sowie ihrer rein auf Rechtsformalismus bauenden Antithese greift jedoch, wie Payk für den Versailler Friedensvertrag selbst feststellt, zu kurz.

»In seiner Wirkung nach außen kann Deutschland von der völker­ rechtlichen Debattenkultur etwa in Großbritannien lernen.« In seiner Wirkung nach außen kann Deutschland von der völkerrechtlichen Debattenkultur etwa in Großbritannien lernen. Immer wieder finden dort zu außenpolitischen Entscheidungen parlamentarische Debatten statt, in denen völkerrechtliche Optionen hinterfragt aber zugleich auch gestaltet werden. Diese völkerrechtliche Debattenkultur hat etwa dazu geführt, dass Großbritannien zur Frage der militärischen humanitären Intervention außerhalb von Sicherheitsratsmandaten, auch wenn deren Rechtsstand nach wie vor nicht eindeutig beantwortet werden kann, eine konstruktive Haltung einnimmt und die Regierung, wie zuletzt im April 2018, durch konkrete Aufschläge die rechtliche Entwicklung anregt. Auch hier mag Kohs Leitsatz engage-translate-­leverage positive Wirkung entfalten.

Ein unpolitischer Rechtsformalismus wird keinen stabilen Frieden schaffen. Auch in Bundesregierung und Bundestag sitzen bekanntermaßen viele Juristen. Die großartige Sylke Tempel veranlasste dies gegenüber dem Autor dieser Zeilen einmal zu der Feststellung, es gebe in der deutschen Außenpolitik ohnehin schon zu viele Juristen. Für sich gesehen sollte das kein Problem bilden. Doch allzu häufig werden völkerrechtliche (ebenso wie verfassungsrechtliche) Regelungen vor allem dann reflexartig ins Feld geführt, wenn politische Diskussionen abgekürzt werden sollen. Herfried Münkler hat dies in seinem jüngsten Buch über den Dreißigjährigen Krieg als deutsche „Fixierung auf das Recht als Bewältigungsform politischer Herausforderungen“ kritisiert. Dieser Bewertung ist etwa auch der ehemalige Außenminister Sigmar Gabriel beigesprungen.

All dies redet gerade nicht einer umfassenden Verrechtlichung außenpolitischer Diskussions- und Entscheidungsprozesse das Wort. Es geht vielmehr darum, im Gleichklang mit konstruktiven außenpolitisch-strategischen Debatten auch konstruktive rechtliche Debatten – national wie international – auszufechten. Nur so kann das internationale Recht eine kraftvolle politische Determination erfahren und zu einer friedlichen internationalen Ordnung beitragen.

Die berechtigte Kritik gegenüber unpolitischem Rechtsformalismus droht jedoch zuweilen in den Gegenreflex einer rein machtbasierten Betrachtungsweise umzukippen. Ansätze dessen waren im Rahmen der Debatte über etwaige Bundeswehrbeteiligungen an einer Reaktion auf syrische Chemie­ waffeneinsätze zu beobachten. Gelegentlich wurde eine völkerrechtliche Legitimation lediglich als „nett“ angesehen, nicht jedoch als

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Marcus M. Payk Frieden durch Recht? Der Aufstieg des modernen Vรถlkerrechts und der Friedensschluss nach dem Ersten Weltkrieg De Gruyter Oldenbourg, 2018, 739 Seiten

Oona A. Hathaway / Scott J. Shapiro The Internationalists How a Radical Plan to Outlaw War Remade the World Simon & Schuster, 2017, 608 Seiten

Harold Hongju Koh The Trump Administration and International Law Oxford University Press, 2018, 232 Seiten

Carl-Philipp Sassenrath gehรถrt seit 2015 der Redaktion dieses Magazins an. Er ist Rechtsreferendar am Kammergericht und Mitglied des Arbeitskreises Junge Auร enpolitiker der Konrad-Adenauer-Stiftung.

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von Joachim Koschnicke

Das Projekt Umkehrschub Warum CDU/CSU ihre alten Festplatten lรถschen sollten

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Die Union steht vor gewaltigen Herausforderungen. Es geht um nichts weniger als ihren Status als Volkspartei. Dazu braucht es neben neuen Personen auch neue Inhalte. Joachim Koschnicke, ehemaliger CDU-Kampagnenstratege, beschreibt, warum die Union jetzt dringend eine 180-Grad-Wende benötigt.

Zwei Formeln begleiten uns in der jüngeren Geschichte der Union: Die eine sagt, Parteivorsitz und Kanzlerschaft müssen vereint sein. Die andere, CDU und CSU müssen zusammenbleiben.

kulturelle Kompetenz – Sprache und Programmatik von CDU und CSU erreichen nur noch diejenigen, die bereits überzeugt sind. Provozieren durch mangelnde Zuwendung und Debattenkultur.

Die erste der beiden Junktim-Formeln hat unsere Vorsitzende aufgelöst. Dieser Schritt hat eine unfassbare Größe, da Angela Merkel dadurch sowohl ihrer Verantwortung für die CDU als auch ihrem Amtseid als Bundeskanzlerin nachkommt. Zur Erinnerung: Als sie 1999 erst die Aufklärung und Rückkehr zur Ehrlichkeit über Personen stellte und im Folgejahr auch den Parteivorsitz übernahm, hat sie eine Ära eingeleitet, die dem Land wie der Partei in Summe sehr viel mehr Gutes als Schlechtes gebracht hat. Durch ihren souveränen Rückzug ermöglicht sie eine Inventur und strategische Neuaufstellung.

Ein Beispiel für mangelnde Zuwendung: Die Datenschutzgrundverordnung hat hehre Ziele, aber verheerende Auswirkungen insbesondere für ehrenamtliche und kleine Strukturen. Ob Orts- oder Sportverein, NGO, Kita oder kleine Selbstständige – viele empfinden es nicht als Schutz der Freiheit, sondern als Einschränkung und Belastung. Ein Beispiel für mangelnde Debattenkultur: Zuletzt haben wir es kläglich verpasst, eine ehrliche Aufarbeitung von den Ausschreitungen in Chemnitz vorzunehmen. Eine Aufarbeitung, die vielleicht festgestellt hätte, dass nicht alle, die gegen etwas demonstrieren, Nazis sind. Eine Aufarbeitung, die vielleicht zweitens festgestellt hätte, dass eine gewisse Anzahl der Demonstranten, wie auch der Frustrierten daheim, erreichbar für uns und unsere Argumente wäre – wenn wir sie nicht permanent stigmatisieren würden. Eine Aufarbeitung, die vielleicht drittens ergeben hätte, dass wir die AfD durch Stigmatisierung stark, durch Arroganz noch stärker machen, und sie nur durch Aushungern zum Irrtum der Geschichte machen können.

»Durch ihren souveränen Rückzug ermöglicht Angela Merkel eine Inventur und strategische Neuaufstellung.« Zur Inventur gehört zunächst ein Blick auf die vergangenen Wahlen. Das Gute zuerst: Die Zeit des Jammerns über niedrige Wahlbeteiligungen ist (trotz der Hessen-Wahl) vorbei. Die Gesellschaft ist politisiert oder weniger verquast ausgedrückt, sie ist in Unruhe. Nun kommt es aber: Auch wenn die Wahlbeteiligung hoch ist, profitieren wir nicht davon. Ich gehe noch eins weiter: Wir profitieren nicht von hohen Wahlbeteiligungen – wir provozieren sie.

Aushungern heißt nicht, sie zu kopieren oder ihnen hinterherzulaufen. Aushungern heißt, die Sorgen der Frustrierten zu lösen – im Falle der AfD insbesondere auf den Feldern Flüchtlinge und Europa – bei beiden Großprojekten fehlt es an viel. Wir können die Errungenschaften Europas nachts im Schlaf benennen, aber haben keine Vision für die Zukunft. Die Faszination Europas ist bedroht. Würden alle Mitgliedsstaaten gleichzeitig Referenden durchführen, wüssten wir nicht, wie groß oder klein Europa nach Auszählung der Stimmen noch wäre.

Provozieren durch die Ermüdung und mangelnde Sinnstiftung der Großen Koalition und den drei sie tragenden Parteien. Provozieren durch mangelnde

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Beispiel Durchsetzung von Recht: Wenn wir es ehrlich meinen, hätten wir nach G20 in Hamburg sowie nach rechten Ausschreitungen an anderen Orten feststellen müssen, dass wir nicht in der Lage waren, Recht durchzusetzen, sondern das Gewaltmonopol abgegeben haben.

Wir bekennen uns gemeinsam zum christlichen Menschenbild, scheitern aber, es auf die Flüchtlings- und Integrationspolitik anzuwenden bzw. eine Balance zwischen unserer Verantwortung vor Menschen in Not und dem nationalen Interesse zu finden. Hier darf die Inventur aber nicht enden: Die Bayern- und Hessen-Wahlen haben gezeigt, dass wir nicht nur an die AfD verlieren. Schlimmer noch: Wir verlieren aktuell in etwa gleichen Teilen an Grüne wie an die AfD.

»Wir behaupten, dass Deutschland große Chancen im Bereich der künstlichen Intelligenz habe. Haben wir nicht.«

Unsere Herausforderung ist mehrdimensional. Es geht nicht um ein paar mehr Prozentpunkte bei Wahlen. Es geht um die Existenz als Volkspartei. Unser Anspruch kann nur Volkspartei sein. Volkspartei sein heißt, alle Bürgerinnen und Bürger statt nur eine Klientel zu vertreten. Man kann es auch anders herum betrachten: Es ist im nationalen Interesse, dass Volksparteien in Deutschland erhalten bleiben.

Wenn wir es ehrlich meinen, müssten wir feststellen, dass wir aktuell keine überzeugende Rechtsetzung haben, die Abschiebungen gerichtsfest regelt. Und, wenn wir es ehrlich meinen, müssten wir ebenso feststellen, dass wir generell mit Straftätern viel zu lasch umgehen. Das fällt uns spätestens im Umgang mit Straftätern, die bei uns zu Gast sind, aber unsere Kultur mit Füßen treten, auf eben diese.

Die Dimensionen, an welchen wir arbeiten müssen sind: Programm, Personen, Sprache sowie Haltung zur Großen Koalition und die strategische Aufstellung von CDU und CSU. Alle Dimensionen verlangen Ehrlichkeit und Raum für ernsthaften wie kontroversen Dialog.

Beispiel Standortpolitik: Wenn wir es ehrlich meinen, müssten wir längst eine Antwort auf die Strategie „China 2025“ formuliert haben. China hat vorgelegt und transparent gemacht, wo es bis 2025 vorne sein und was es dafür machen will. Ein Beispiel? China schafft 1.000 Lehrstühle für künstliche Intelligenz. Und wir? Wir haben meines Wissens weniger als eine Handvoll, behaupten aber, dass Deutschland große Chancen im Bereich der künstlichen Intelligenz habe. Haben wir nicht. Haben wir nicht mehr! Wir haben es verschlafen. Es wird erfolgreiche deutsche Unternehmen geben, aber unser Standort ist abgeschlagen.

»Wenn wir ehrlich sind, hat Deutschland keine hinreichenden Antworten auf drängende Fragen.« Programm

Während wir in Deutschland Standortvorteile abgeben, verspielt Europa gleichzeitig seinen Größenvorteil. Obwohl Europa mehr Einwohner hat als die USA, können neue Geschäftsmodelle in den USA schneller skalieren. Ein fragmentierter Binnenmarkt und mangelnde digitale Infrastruktur beschränken das Wachstumstempo von Start-ups wie von etablierten Unternehmen.

Ich finde es gut, dass wir an einem neuen Grundsatzprogramm arbeiten. Ich fände es schlecht, wenn wir darauf warten. Wenn wir ehrlich sind, haben wir, hat Deutschland keine hinreichenden Antworten auf drängende Fragen. Beispiel Rente: Wenn wir es ehrlich meinen, müssten wir den Begriff Rente durch den Begriff Grundsicherung ersetzen. Meine Generation und die folgenden werden sich nicht mehr den Lebensstandard leisten können, den sie vor Renteneintritt gelebt haben. Wir benennen das nicht ehrlich genug. Wir sind aktuell nicht bereit, eine ehrliche Debatte über die Folgen und Lösungen zu führen.

So gibt es beispielsweise allein 81 verschiedene Mehrwertsteuersätze in Europa, die Start-ups und Unternehmen berücksichtigen müssen, dazu unzählige national unterschiedliche Rechtsvorschriften vom Wettbewerbs- bis zum Arbeitsschutzrecht.

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»Wir profitieren nicht von hohen Wahlbeteiligungen – wir provozieren sie.«

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reichen, kann das notwendige Projekt Umkehrschub unmittelbar starten:von der Provokation zum Magnetismus, vom Gegeneinander zum Miteinander, vom Verlieren zum Gewinnen.

Hinzu kommt eine vor allem in Deutschland im internationalen Vergleich rückschrittliche digitale Infrastruktur bei Glasfaser und schnellem Mobilfunk, so dass neue digitale Produkte nur langsam Konsumenten erreichen. Es wurde versäumt, gesetzliche Grundlagen dafür zu schaffen, dass die digitale Infrastruktur in Deutschland selbstverständlich genau wie Strom und Wasser zum Teil der Daseinsvorsorge gehören muss und wir genau wie beim Strom eigentlich nur eine Leitung und möglichst viele Anbieter benötigen, um durch Wettbewerb Qualität und Verbraucherinteressen in Einklang zu bringen.

Sprache Unsere Programmsprache stammt noch aus Bonner Zeiten. Das Blöde daran ist: Die Programmsprache ist auch Teil der Reden, Texte und Argumentationen. Da ranzugehen ist leichter gesagt als getan. Die Bundespartei mit all ihren Ausschüssen und Kommissionen sollte bildlich gesprochen ihre Festplatten löschen. Die Schablonen aus Bonn müssen dringend ersetzt werden. Copy & Paste bei Programmtexten muss der Vergangenheit angehören. Warum sind insbesondere die Grünen frischer? Weil sie eine Sprache sprechen, die verstanden wird und Nähe schafft. Die Grünen haben ihre Inventur und Transformation gemacht: vom Bevormunden zum Vordenken.

»Vom Hamburger Parteitag 2018 muss der klare Auftrag einer programmatischen Neu­ aufstellung ausgehen.«

Haltung zur Großen Koalition

Um den Handlungsdruck für eine aktive Standortpolitik vollends aufzuzeigen: Keine der zwanzig weltweit führenden Fakultäten für Computer Science ist in Deutschland. Nur vier finden sich überhaupt in der Europäischen Union – alle in Großbritannien, das die EU bald verlässt. Kein Wunder, dass schon heute 80.000 Deutsche im Silicon Valley arbeiten. Und wir verlieren auch deswegen Köpfe, weil es dramatisch an Risiko- und Wachstumskapital fehlt. Im ersten Halbjahr 2018 wurden in Europa 10,8 Milliarden Euro Venture Capital eingeworben, also weniger als die Hälfte der 23 Milliarden, die in den USA allein im letzten Quartal eingesammelt wurden. In China waren es 21,2 Milliarden im selben Zeitraum.

Aktuell ist die Große Koalition eine Belastung für den Volksparteianspruch der sie tragenden Parteien. Die notwendigen Antworten auf erwähnte und zahlreiche unerwähnte Fragen wird die CDU mit der heutigen SPD und dem nationalen Interesse nicht in Einklang bringen können – weder in der Rente, noch in den Fragen einer strategischen Standortpolitik.

»Die CDU hat zwei Optionen, das ›Projekt Umkehrschub‹ umfas­ send zu verstehen: Die eine ist die Neuwahl, die andere der erneute Versuch, eine JamaikaKoalition zu bilden.«

All dies sind keine Themen, die auf das Grundsatzprogramm warten bzw. dort zufriedenstellend gelöst werden können. Wie vom Essener Parteitag 2000 muss vom Hamburger Parteitag 2018 der klare Auftrag einer programmatischen Neuaufstellung ausgehen, die auch unser Regierungshandeln beeinflussen muss.

Die CDU hat zwei Optionen, das Projekt Umkehrschub umfassend zu verstehen: Die eine ist die Neuwahl, die andere der erneute Versuch, eine Jamaika-Koalition zu bilden – solange letzteres nicht ernsthaft probiert wurde, gibt es keinen angemessenen Grund, Neuwahlen einzuleiten. Die Kandidaten zum Parteivorsitz sollten sich in dieser Frage erklären: Fortsetzung der Großen Koalition oder Jamaika erneut eine Chance geben?

Personen Der Parteitag in Hamburg wird die Nachfolge von Angela Merkel bestimmen. Damit erneuert sich nach der Fraktion auch die Partei personell. Wenn alle Beteiligten die Größe haben, sich am Ende des Parteitages zur Nationalhymne die Hand zu

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»Wenn alle Beteiligten die Größe haben, sich am Ende des Parteitages zur Nationalhymne die Hand zu reichen, kann das notwendige ›Projekt Umkehrschub‹ unmittelbar starten.« Strategische Aufstellung von CDU und CSU Die Formel, dass CDU und CSU nur in der bestehenden Gemeinschaft erfolgreich sein können, wurde eingangs erwähnt. Ich stelle sie in Frage. Die Welt wird immer kleiner. Je kleiner sie wird, desto mehr Kompetenz außerhalb des eigenen Dunstkreises ist gefragt. Der Dunstkreis der CSU ist Bayern – CSU-Europaabgeordnete fügen noch europapolitische Kompetenz hinzu. Es würde der CSU sehr gut tun, sich auch mit den Herausforderungen anderer Bundesländer zu befassen. Der Grund, weswegen Zugereiste in Bayern nicht die CSU wählen, ist, weil sie die CSU solange als nicht wählbar empfinden, wie sie sich selbst nicht als bayrisch fühlen. Die Lösung der CSU liegt also außerhalb Bayerns, aber innerhalb Deutschlands. Was soll der Nachteil der CDU sein? Sie könnte vielmehr die Inventur und Neuaufstellung ehrlicher und umfassender angehen. Ein Aussetzen der Fraktionsgemeinschaft könnte zudem erstens in einer strategischen Partnerschaft münden und zweitens zunächst zeitlich begrenzt sein.

Joachim Koschnicke war von 1999 bis 2011 im Konrad-Adenauer-Haus tätig – zuletzt als Bereichsleiter für strategische Planung und Kommunikation. Von 2011 bis 2012 war er ForsaGeschäftsführer, seit 2013 arbeitete er in der Geschäftsführung von Opel / General Motors Europe. Seit 2018 ist Koschnicke Partner bei Hering Schuppener Consulting, einer Managementberatung für strategische Kommunikation.

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von Klaus Hekking

Wider die alten Denk­ schablonen Kein »Weiter so« in der Bildungspolitik

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Die öffentlichen Ausgaben für das Bildungswesen wachsen seit Jahren in die Höhe. Gleichwohl steht das deutsche Bildungs­ system immer häufiger in der Kritik. Wie kann gute Bildungspolitik heute gelingen? Ein Beitrag über ordnungspolitische und institu­ tionelle Eckpfeiler einer modernen Bildungslandschaft.

Der Anspruch

das Bildungswesen. Hinzu kommen die privaten Bildungsausgaben, die inzwischen rund 20 Prozent des Bildungsbudgets ausmachen. Deutschland gab 2016 für sein Bildungswesen so viel aus, wie die Schweiz, Finnland, Estland und Slowenien für ihren Gesamthaushalt zur Verfügung hatten. Und damit nicht genug: Für die Legislaturperiode 2017 bis 2021 hat die Regierungskoalition eine weitere Steigerung der Bildungsausgaben des Bundes um elf Milliarden Euro vorgesehen. Wäre Geldausgeben der Erfolgsmaßstab für Bildungspolitik, dann wäre Deutschland höchst erfolgreich.

Im Oktober 2008 rief Bundeskanzlerin Angela Merkel in Dresden die Bildungsrepublik Deutschland aus. Sie erklärte: „Der Ausbau des Bildungssektors ist die zentrale politische Aufgabe für die nächsten Jahre. Wohlstand für alle heißt heute und morgen Bildung für alle“. Bildungsrepublik Deutschland, das sollte für eine ambitionierte Bildungspolitik stehen: weltbeste Bildung, Bildungsgerechtigkeit, Digitale Bildung, exzellente Hochschulen.

»Wäre Geldausgeben der Erfolgsmaßstab für Bildungspolitik, dann wäre Deutschland höchst erfolgreich.«

Entscheidend ist jedoch nicht die Höhe der Bildungsausgaben, sondern welche Effekte damit erreicht werden. Zehn Jahre nach Ausrufung der Bildungsrepublik Deutschland, in denen fast zwei Billionen Euro in das Bildungswesen geflossen sind, ist die Frage berechtigt, ob es dadurch leistungsfähiger wurde, ob es bessere Bildungsleistungen produziert, ob die staatlichen Bildungseinrichtungen effektiver und nutzerfreundlicher wurden und ob mehr Bildungserfolge und mehr Bildungsgerechtigkeit erreicht wurden.

Bildung ist seither zum Mantra der deutschen Politik geworden. In fast jeder Grundsatzrede wird sie erwähnt, in jedem Parteiprogramm nimmt sie eine prominente Rolle ein. Sie wurde zur Schicksalsfrage der Nation erhoben und zur Lösung all ihrer Probleme stilisiert. Alle Parteien versprechen inzwischen bessere Bildung als Grundlage für beruflichen Aufstieg und gesellschaftliche Teilhabe. Sie steuern das Bildungswesen jedoch kaum inhaltlich und strukturell, sondern vor allem finanziell: Und so fließt immer mehr Steuergeld in das staatliche Bildungswesen.

Die Wirklichkeit Leider zeigen die meisten Studien und Statistiken, dass die Realität weit hinter dem politischen Anspruch zurückbleibt. Die Nachrichten über den maroden Zustand des Bildungswesens häufen sich: Sinkendes Leistungsniveau in den Schulen laut IQB-Bildungstrend, IGLU-und PISA-Studie, bundesweit chronischer Lehrermangel, Ausfall von einer Million Unterrichtsstunden, eine gravierende Digitalisierungslücke in den Schulen im EU-Vergleich, Studienabbruchquoten von 30 Prozent bei den staatlichen Hochschulen, Instandhaltungs- und Investitionsstau in zweistelliger Milliardenhöhe bei den öffentlichen Schulen und Hochschulen, wachsende Inanspruchnahme des Bildungsbudgets durch Pensionen und Bürokratie sind die Symptome dieser Misere.

Die öffentlichen Bildungsausgaben wurden in den vergangenen Jahren erhöht wie nie zuvor. Zwischen 2000 und 2015 verdoppelten sie sich auf rund 195 Milliarden Euro pro Jahr. Die Ausgaben pro Einwohner stiegen im gleichen Zeitraum um 71 Prozent. Bezogen auf die besonders wichtige Zielgruppe der unter 30-Jährigen, erhöhten sich 2016 die Ausgaben pro Kopf auf 5.263 Euro. Das waren fast 50 Prozent mehr als noch 2005. Jeder fünfte Euro aus öffentlichen Kassen fließt inzwischen in

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Dementsprechend kritisch sehen Bürger und Wirtschaft das Bildungswesen. Nur noch 30 Prozent der Bürger sind mit den Schulen zufrieden. 62 Prozent glauben nicht, dass sie ihre Kinder gut auf ihr späteres Berufsleben vorbereiten. Die Zufriedenheit der Wirtschaft mit den Absolventen mit Bachelorabschluss hat laut einer Umfrage des DIHK von 2015 um 30 Prozent abgenommen. Immer mehr Bürger entscheiden sich für private Schulen und Hochschulen: Diese konnten seit 2000 ihren Anteil bei Schülern und Schülerinnen verdoppeln und bei Studenten und Studentinnen verzehnfachen. Der Nationale Bildungsbericht 2016 nimmt dies zum Anlass, die Bedarfsgerechtigkeit des staatlichen Bildungssystems zu bezweifeln.

auch darin, dass immer mehr Anteile des Bildungsbudgets in bildungsferne Bereiche fließen.

Die Kultus- und Wissenschaftsminister der Länder sehen trotz der Verdopplung der Bildungsausgaben seit 2000 unverändert die „chronische Unterfinanzierung“ des Bildungswesens als Hauptursache für die Misere und fordern immer mehr Geld für ihr Bildungssystem vom Bund. Eine paradoxe Diskussion: Einerseits verteidigen die Länder die heilige Kuh des Bildungsföderalismus hartnäckig, andererseits wollen sie diese Heilige Kuh immer mehr auf den grünen Auen des Bundes weiden. Der echte Föderalismus, bei dem Gestaltungs- und Finanzierungsverantwortung in einer Hand liegen und der leistungssteigernd wirkt, ist zu einem „Nanny-­ Föderalismus“ geworden, bei dem immer mehr umverteilt wird und ein Wettbewerb nach unten stattfindet.

»Vom ständigen Messen und Wiegen wird die Sau nicht fett.«

Ein Beispiel dafür sind die „Bildungsreformen“. Die meisten von ihnen stiegen als politische Heißluftballons auf, kühlten in der Atmosphäre der gesellschaftlichen Realitäten ab und wurden irgendwann revidiert. Die Kosten für dieses reformerische „rein in die Kartoffeln, raus aus die Kartoffeln“ gehen in die Milliarden. So kostete nicht nur die Einführung des sog. Turboabiturs gigantische Beträge. Die Rückkehr zu G8 wird weitere Steuermilliarden verschlingen. Allein in Bayern sollen es zwischen 350 und 500 Millionen Euro, in Nordrhein-Westfalen gar eine Milliarde Euro sein.

Eine stetig wachsende Bildungsbürokratie, deren Kosten sich seit 2000 auf zwei Milliarden verdoppelt haben, verbraucht immer mehr Geld für Planen, Evaluieren, Kontrollieren, Akkreditieren, Regulieren, obwohl auch für das Bildungswesen gilt: „Vom ständigen Messen und Wiegen wird die Sau nicht fett.“ Bundesweit wird das Bildungswesen inzwischen durch fast 30.000 Vorschriften reguliert, die von der Benutzung von Taschenrechnern im Unterricht bis zur Qualität des Mensaessens alles zentral regeln und steuern und die Autonomie und Eigenverantwortung derer, die die eigentliche Arbeit machen, immer mehr beschneiden.

Das Problem

Ein letztes Beispiel ist die Finanzierung von Pensionen beamteter Lehrkräfte, für die 2014 bereits 18,75 Milliarden Euro, also fast zehn Prozent des Bildungsbudgets ausgegeben wurden und die in den nächsten Jahren mit der Pensionierung der „Baby-Boomer” dramatisch ansteigen und einen wachsenden Anteil des Bildungsbudgets konsumieren werden.

Betrachtet man die überproportionale Steigerung der Bildungsausgaben seit 2000, erscheint Unterfinanzierung nicht als Hauptproblem des deutschen Bildungswesens. Das zeigt der Vergleich mit Singapur, Finnland, Kanada und Hongkong, die in den PISA-Vergleichen besser als Deutschland abschneiden, aber pro Kopf weniger für die Schulbildung ausgeben. Sicherlich gibt es einzelne Bildungssegmente, in denen mehr Geld sinnvoll wäre. Generell aber gilt: Bereits mit dem vorhandenen Budget könnte deutlich mehr erreicht werden, wenn es zielgerichteter und effizienter eingesetzt und für die eigentliche Bildungsarbeit ausgegeben würde. Das Kernproblem ist nach meiner Einschätzung die vergleichsweise geringe Bildungseffizienz des Staatsbildungswesens, die sich nicht nur in konzeptionellen und strukturellen Mängeln und gravierenden Umsetzungsdefiziten äußert, sondern

All dies ist eine Folge der zunehmenden Verstaatlichung des Bildungswesens. Seit Ausrufung der „Bildungskatastrophe“ durch Georg Picht Mitte der 1960er Jahre hat sich der Staat immer mehr in Bildung und Erziehung eingemischt und überzieht sie heute von der frühkindlichen Bildung bis zur Weiterbildung mit Regulierung, Bürokratie und Planwirtschaft. Schulen und Hochschulen in Deutschland arbeiten inzwischen wie staatliche

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»Einerseits verteidigen die Länder die heilige Kuh des Bildungsföderalismus hartnäckig, andererseits wollen sie diese Heilige Kuh immer mehr auf den grünen Auen des Bundes weiden. «

Behörden und verfügen im internationalen Vergleich über wenig Autonomie zur Regelung ihrer inneren Angelegenheiten, obwohl PISA gezeigt hat, dass Bildungseinrichtungen umso effektiver sind, je autonomer sie arbeiten. Bürokratie und Planwirtschaft haben inzwischen spürbare Schneisen in das einst weltweit vorbildliche deutsche Bildungswesen gezogen: sinkendes Leistungsniveau der Schulen, wachsende Qualitätsunterschiede zwischen den Ländern, zunehmender „Mismatch“ zwischen Hochschulausbildung und Arbeitsmarkt, demotivierte Beschäftigte, Sanierungsstau in Schulen und Hochschulen, frustrierte Bürger, mit der Bildungsqualität unzufriedene Unternehmen. Der Publizist und Wirtschaftsphilosoph Gerd Habermann hat das deutsche Bildungswesen einmal als „Filiale staatlicher Sozialpolitik und Umverteilung“ bezeichnet, organisiert nach Art volkseigener Betriebe mit den üblichen Mängeln der Staatswirtschaft: falsche Anreize, Bürokratisierung, Demotivation, Anspruchsmentalität der Betroffenen und Verschwendung der Ressourcen. Diese Probleme – das zeigen die vergangenen 18 Jahre – können nicht mit immer mehr Steuergeld gelöst, sondern allenfalls übertüncht werden. Wir müssen uns endlich ehrlich machen: Auch im Bildungswesen gilt „Brooks' Law“, wonach ein ineffizientes System umso ineffizienter wird, je mehr Geld, Personal und Arbeit man hineinsteckt.

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»Auch im Bildungswesen gilt ›Brooks' Law‹, wonach ein ineffizientes System umso ineffizienter wird, je mehr Geld, Personal und Arbeit man hineinsteckt.«

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Die Herausforderung

die Bürger individuell unter Berücksichtigung ihrer Neigungen und Begabungen mit geeigneten Bildungsmaßnahmen zu fördern.

Will Deutschland mit seiner älter werdenden Gesellschaft seinen Wohlstand und seine hohen sozialen und ökologischen Standards in einer digitalisierten, vernetzten und wettbewerbsintensiver werdenden Weltwirtschaft halten, muss es deutlich innovativer, produktiver und flexibler werden. Eine der Voraussetzungen dafür ist ein modernes und effizientes Bildungssystem, das die kommenden Generationen befähigt, im globalen Wissens- und Leistungswettbewerb ganz vorne mitzuspielen. Über dieses Ziel dürfte Einigkeit bestehen. Über den Weg dorthin muss endlich ein offener, vorurteilsfreier, intensiver gesellschaftlicher Dialog eröffnet werden.

2. Staatlich lizensierte Bildungseinrichtungen erbringen im geregelten Wettbewerb die Bildungsmaßnahmen und finanzieren sich aus leistungs- und erfolgsbezogenen Entgelten. 3. Die Bürger finanzieren über die Steuern das Bildungsbudget und haben im Gegenzug einen Anspruch auf die individuelle Förderung ihrer Bildungsmaßnahmen durch den Staat, mit der sie die Leistungsentgelte bei der Bildungseinrichtung ihrer Wahl finanzieren. Institutionell könnte das zivilgesellschaftliche Bildungssystem auf folgenden Eckpfeilern beruhen:

Die Alternativen: Weiter so oder Wende in die Zukunft

1. Der bestehende „kooperative Bildungsföderalismus“ wird verfassungsrechtlich zu einer Gemeinschaftsaufgabe „Bildung und Wissenschaft“ weiterentwickelt, in der Bund und Länder gemeinsam die ordnungspolitischen Rahmenbedingungen für gute Bildung in ganz Deutschland setzen und damit den Auftrag des Grundgesetzes, gleiche Lebensverhältnisse in Deutschland herzustellen, zumindest in diesem Bereich verwirklichen.

Zwei Eckpunkte bilden den Rahmen dieses Dialogs, in dem eine zukunftsweisende Lösung erarbeitet werden kann: Das strukturkonservative „Weiter so“, das auf die weitere Verstaatlichung von Bildung und Erziehung setzt, auf noch mehr Einmischung des Staates in die Erziehungs- und Bildungsverantwortung der Bürger und auf noch mehr Entmündigung der Zivilgesellschaft durch Gleichmacherei, Umverteilung, Regulierung, Bürokratie und Planwirtschaft. Nach allen bisherigen Erfahrungen glauben wir nicht, dass es die Bildungsmisere behebt. Seine Protagonisten stehen jedoch zumindest in der Pflicht, zu erklären, warum dieses System beibehalten und wie es besser werden soll.

2. Die Kultusministerkonferenz und die Gemeinsame Wissenschaftskonferenz gehen in einer „Nationalen Bildungs- und Wissenschaftskonferenz“ von Bund und Ländern auf, die das deutsche Bildungswesen strategisch steuert, insbesondere über Bildungsbedarfe, Bildungsstandards, Abschlüsse, Qualitätssicherung, Evaluation, Grundsätze der Lizensierung und internationale Beziehungen entscheidet. Es gilt das Einstimmigkeitsprinzip.

Die innovative Wende in die Zukunft, die auf ein zivilgesellschaftlich organisiertes Bildungssystem setzt, in dem die Bürger wieder mehr Verantwortung für ihre Bildung übernehmen, in dem mehr Bildungsvielfalt, mehr Wahlfreiheit, mehr Bildungsgerechtigkeit, mehr Qualität und mehr Kundenorientierung herrschen. Im Rahmen dieses Beitrags kann dieses System nur grob skizziert werden.

3. Es wird ein „nationales Bildungsbudget“ eingerichtet, in das Bund und Länder nach einem Schlüssel einzahlen (z.B. Königsteiner Schlüssel) und aus dem die Bildungsleistungen bedarfs-, leistungs- und erfolgsorientiert finanziert werden. 4. Die Bildungsfinanzierung wird von der institutionellen auf die individuelle Förderung umgestellt. Die Bürger erhalten einen Rechtsanspruch auf die Finanzierung von Schulbildung und ggf. weiterführenden Bildungsleistungen und ein individuelles Bildungskonto, aus dem sie diese Bildung finanzieren.

Ordnungspolitisch müssten drei Prinzipien für ein solches System gelten: 1. Der Staat beschränkt sich darauf, den ordnungspolitischen, rechtlichen und finan­ ziellen Rahmen für das formelle Bildungs­ system zu setzen, die Aufsicht zu führen und

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• das Bildungsbewusstsein der Bürger zu heben und ihre Eigenverantwortung für Bildung in allen Lebensphasen wieder zu stärken;

Das individuelle Bildungskonto kann nur zweckgebunden zur Zahlung der Leistungsentgelte für Bildungsleistungen von staatlich lizensierten Bildungseinrichtungen verwendet werden. Der Staat finanziert nicht mehr leistungs- und erfolgsunabhängig die Institutionen, sondern direkt die Bildung der Bürger. Das wirkt effizienzsteigernd, weil Sickerverluste in ein anonymes System reduziert werden, so dass die Umstellung aufkommensneutral gestaltet werden kann

• das Bildungssystem zu entbürokratisieren, zu demokratisieren und durch Bildungsvielfalt, Wahlfreiheit und Differenzierung die individuelle Förderung zielgerichtet und bedarfsgerecht zu organisieren; • mehr Bildungsgerechtigkeit und bessere Bildungserfolge zu ermöglichen durch das Recht aller Bürger, die für sie geeignetsten Bildungsmaßnahmen und -einrichtungen unabhängig von ihrem sozioökonomischen Hintergrund frei zu wählen;

»Wahlfreiheit, Wettbewerb und Preissystem führen dazu, dass das System bedarfsgerechter, leistungs­ fähiger und bürgernäher wird.«

• die Bildungseinrichtungen durch Wettbewerb und Autonomie leistungsfähiger, innovativer, effektiver, flexibler und kundenorientierter zu machen;

5. Das Staatsbildungssystem wird in ein „autonomes Bildungssystem“ überführt, in dem von den Ländern lizensierte und beaufsichtigte Schulen und Hochschulen Bildungsleistungen gegen Entgelt und im Wettbewerb erbringen. Alle Bürger haben künftig Wahlfreiheit in Bezug auf die Bildungseinrichtungen und können Schulgelder oder Studienbeiträge aus ihrem Bildungskonto finanzieren. Jeder Bürger kann so die aus seiner Sicht beste Schule und Hochschule wählen. Wahlfreiheit, Wettbewerb und Preissystem führen dazu, dass das System bedarfsgerechter, leistungsfähiger und bürgernäher wird.

• das Bildungsbudget möglichst effizient und zielgerecht für die Bürger einzusetzen; • und die Partizipation der Bürger am Bildungswesen zu stärken. Epilog Die hier skizzierte Wende in die Zukunft erfordert Mut und Optimismus sowie frisches, kreatives und unkonventionelles Denken, das sich nicht scheut, Tabus, Traditionen und Denkschablonen in Frage zu stellen.

6. Die Länder führen die Aufsicht über das Bildungssystem, das heißt sie gewährleisten einen fairen Wettbewerb, wachen über die Einhaltung der Bildungsstandards, und achten auf Qualitätssicherung, Verbraucherschutz, Antidiskriminierung und eine ausgewogene regionale Bildungsstruktur. Sie administrieren auf der Basis des nationalen Bildungsbudgets die Leistungsentgelte und bewirtschaften die individuellen Bildungskonten.

Natürlich werden diejenigen, die sich im bestehenden System komfortabel eingerichtet haben und die, denen der Mut, die Kraft und die Visionen für aktive Zukunftsgestaltung fehlen, tausend staatstragende und vermeintlich altruistische Argumente für das „Weiter so“ vorbringen nach der Devise: „Das haben wir noch nie gemacht, das wäre ja noch schöner, das kann nicht funktio­ nieren! “

7. In den Ländern werden „regionale Bildungskonferenzen“ eingerichtet, in denen die für das Bildungswesen relevanten gesellschaftlichen Gruppen vertreten sind und die die regionalen Anforderungen an das Bildungssystem beraten.

Entscheidend kommt es jedoch auf diejenigen an, deren Zukunft von einem besseren Bildungssystem abhängt, auf die kommenden Generationen. Sie möchte ich zur Wende in die Zukunft ermutigen mit der Erkenntnis: „Niemand kann sagen, dass es nicht funktioniert, bevor es nicht versucht wurde!“

Ein solch freies Bildungssystem würde dazu beitragen,

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»Die skizzierte Wende in die Zukunft erfordert Mut und Optimismus sowie frisches, kreatives und unkonventio­ nelles Denken.«

Prof. Klaus Hekking war von 1985 bis 2015 CEO der SRH, einem großen privaten Bildungs- und Gesundheitsunternehmen in Deutschland. Er ist heute als Rechtsanwalt und Vorsitzender des Verbands Privater Hochschulen in Deutschland tätig.

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von Matthias Zimmer

Die LebenslĂźge meiner Generation Haben wir die richtigen Lehren gezogen?

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1965 diagnostizierte Georg Picht die »Bildungskatastrophe«. Als Antwort darauf versuchte die nachfolgende Generation, Bildung, Familie und Beruf miteinander zu vereinbaren. Haben wir aus den damaligen Fehlern die richtigen Lehren gezogen? Matthias Zimmer mit einem persönlichen Bericht.

der Bildungsexpansion, die Antwort auf Georg Pichts 1965 diagnostizierte „Bildungskatastrophe“. Wir waren vielfach die ersten in unseren Familien: Die ersten mit Abitur, die ersten an den Hochschulen. Wir waren Pioniere der Bildungspolitik, gefördert durch BaföG und bereit, neue Wege im Leben zu gehen, die Welt zu erobern.

Am Anfang scheinen alle Optionen offen, dem Anfang liegt dieser Zauber inne. Die Zukunft ist offen und die Möglichkeiten schier unbegrenzt. Erst später merkt man: Eine Begrenzung ist der Horizont der Gegenwart, des Zeitbezuges. Von Hegel hätte man das lernen können. Wir sind Kinder unserer Zeit ebenso wie ihre Gefangenen. Wir nehmen den Zeitgeist mit jedem Atemzug auf, damit auch das falsche Bewusstsein, dass sich erst viel später als ein Falsches entlarvt. Das Leben wird nach vorne gelebt und nach hinten verstanden. Lebenslügen werden nie bewusst gelebt, sondern erst mit dem Zeitlauf bewusst gemacht. So auch in unserer, in meiner Generation.

Für die Frauen in meiner Klasse war ausgemacht: Man hatte das Abitur nicht gemacht, um Hausfrau zu werden. Warum sich durch die lange Schulzeit kämpfen, begleitet von den manchmal stolzen, manchmal zweifelnden Blicken der Eltern, wenn der Bildungsgang dort endete, wo auch die Mütter und Großmütter gelandet waren? Familie ja, aber nicht als alleiniger Lebensinhalt. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf wurde erst später zum Schlagwort. Aber die Probleme waren schon damals deutlich. Vor dem Kindergarten gab es kein Betreuungsangebot. Der Anspruch auf einen dreijährigen Erziehungsurlaub sollte erst Jahre später kommen.

»Für die Frauen in meiner Klasse war ausgemacht: Man hatte das Abitur nicht gemacht, um Hausfrau zu werden.«

Aber: Anders als die Mütter und Großmütter waren die Frauen meiner Generation weitgehend gleichberechtigt. Erst in den siebziger Jahren war die absurde Vorschrift gefallen, dass die Ehefrau nur mit Einwilligung ihres Mannes arbeiten durfte. Das Scheidungsrecht wurde reformiert. Nicht mehr die Schuldfrage stand im Mittelpunkt, sondern das Zerrüttungsprinzip. Das machte Trennungen einfacher. Das Abtreibungsverbot wurde reformiert. Ich zögere, dies als Meilenstein der Gleichberechtigung zu benennen, doch von vielen Frauen wurde es genau so empfunden. Ehe, Berufstätigkeit, Kinder: All das fand für unsere Eltern in einem ganz anderen Referenzrahmen statt als für uns.

Die Pläne fürs Leben begannen zum Ende der siebziger Jahre Gestalt anzunehmen; schwankend, als mögliche Umrisse für die Lebensplanung. Was nach der Schule tun? Wenn Studium, dann was? Die Fragen wurden drängender, je näher der Termin des Abiturs rückte. Wir lebten einerseits in einer bleiernen Zeit, geprägt von hoher Jugendarbeitslosigkeit, von schlechten Berufsaussichten für viele akademische Berufe. Andererseits stand unsere Zeit spürbar unter dem Ruf nach Selbstverwirklichung. Die Unterordnung in die Zwänge der Tradition galten ebenso wenig wie feste Lebensbilder, Rollenerwartungen oder vorgefertigte Rollenmuster. Wie denn auch: Wir waren die Generation

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zögerlich, zumal die neuen Männer, die das Land dafür gebraucht hätte, eben nicht auf Wunsch zur Verfügung standen. Vielleicht konnten sie sich nicht umstandslos aus den herkömmlichen Rollenbildern befreien, vielleicht war die Idee schneller als die gesellschaftliche Wirklichkeit. Es auf jede Wand zu sprühen, wie es Ina Deter singend vorgetragen hatte, brachte die neuen Männer eben noch nicht in die Existenz.

Im Rückblick überrascht, wie viele Frauen aus meiner Generation keine Kinder bekommen haben. Oder vielleicht auch nicht, denn die Reproduktionsrate in Deutschland ist wenige Jahre nach Einführung der Pille deutlich gefallen und auf einem niedrigen Stand geblieben. Kinder wurden vielfach geplant und „passierten“ nicht einfach wie noch in der Generation vor uns. Mein Abiturjahrgang hat sich nicht mehr vollständig reproduziert, sondern ist schätzungsweise 30 Prozent unter dieser Zielmarke geblieben. Ich vermute, das ist typisch; die Kinderlosigkeit verteilt sich dabei auf Männer ebenso wie auf Frauen.

»Wir haben nicht Menschen mit staatlichen Geldern gefördert, sondern Strukturen, Objekte und Planstellen finanziert.«

Fragt man nach den Gründen, spielt zum Teil eine Rolle, dass einige Frauen bei der Frage, ob Familie und Beruf miteinander vereinbar sind, nicht die Probe aufs Exempel machen wollten. Nicht immer war das eine von Anfang an bewusste Entscheidung, vielmehr wurde der Kinderwunsch zunächst aufgeschoben und hat sich später nicht mehr realisieren lassen. Nichts symbolisierte dies mehr als eine Postkarte, die in den 1980er Jahren in Umlauf war. Darauf war eine von Roy Lichtenstein gemalte Frau abgebildet, die erschreckt ausrief: „O my God, I forgot to have kids!“

Nein, die achtziger Jahre sind zum Glück vorbei – und nicht nur wegen der „Cherry Lady“. Aber haben wir aus den Fehlern gelernt? Wie ist die Situation heute? Besser, weil wir heute die Elternzeit haben? Oder sind wir in andere Konflikte hineingeraten? Ich meine ja. Das machte die Debatte um das Betreuungsgeld deutlich. Kritiker haben die Regelung damals als „Herdprämie“ denunziert; dabei ging es eigentlich um die Entscheidungsfreiheit der Frauen und der Familien. Warum sollten Familien, die keine staatlichen Betreuungsstrukturen in Anspruch nehmen, unentgeltlich das tun, was andere durch den Staat verrichten lassen?

»Der noble Traum der Selbstverwirklichung, er hat Opfer gefordert.«

Wir haben in Deutschland die Betreuungsstruktur massiv ausgebaut und stellen sie zunehmend kostenfrei zur Verfügung: Kindergärten und Kindertagesstätten. Damit wird ein Lebensmodell von Familien indirekt bevorzugt, nämlich die Berufstätigkeit beider Eltern. Die Alternative wäre gewesen: Die kostendeckende Bezahlung der staatlichen Leistung im Gegenzug zu einer deutlichen Erhöhung staatlicher Zuwendungen an die Familien bis zur Höhe der Entgeltpflichtigkeit. Diese hätten dann entscheiden können das Geld entweder als Anerkennung staatlicher Erziehungsleistung einzubehalten oder fremde Erziehungsleistung damit einzukaufen – auch private! Das entspräche dem Prinzip der Subsidiarität. Ich will das Unbehagen zuspitzen: Wir haben nicht Menschen mit staatlichen Geldern gefördert, sondern Strukturen, Objekte, Planstellen finanziert. Haben wir damit nicht den Traum der Sozialisten erfüllt, die ohnehin der Meinung sind, Kindererziehung sei

Nein, für unsere Generation war die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ein Problem. Es waren die Frauen, die entweder beruflich oder mit dem Kinderwunsch den Kürzeren zogen. Selbst dort, wo es unter angespannter Aufbietung aller Kräfte und Ressourcen gelang, war der Preis hoch. Nicht wenige Frauen sind vor dem Erreichen der Altersgrenze bereits aus dem Berufsleben ausgeschieden, erschöpft, ausgelaugt, verbraucht durch die jahrelange Doppelbelastung. Das hat Konsequenzen für die eigenständige Alterssicherung. Am Ende, so stellt die eine oder andere Frau heute fest, ist sie genauso auf ihren Mann angewiesen wie ihre Mutter oder Großmutter. Der noble Traum der Selbstverwirklichung, er hat Opfer gefordert. Gleichberechtigung stand auf dem Papier, ja. Gelebt aber wurde sie nur

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»Die Lebenslüge meiner Generation war der Glaube an die problemlose Vereinbarkeit von Familie und Beruf als Voraussetzung einer umfassenden Selbstverwirklichung.«

Aufgabe des Staates? Tatsächlich lautete ein Argument gegen das Erziehungsgeld, damit würden für soziale schwache und bildungsferne Familien Fehlanreize gesetzt, die den Bildungschancen der Kinder abträglich seien. Der Staat weiß immer noch am besten, wie man die Bildungschancen der Kinder gewährleistet, und zwar von Anfang an. Eltern sind dabei nur störend. Der Traum des platonischen Staats, dieses Urbilds aller staatlichen Erziehungsmodelle, hier gerinnt er als Anreiz zur Realität.

Firmen den Wunsch, Familie und Beruf miteinander zu vereinen. Kindererziehung ist zwar volkswirtschaftlich notwendig, betriebswirtschaftlich betrachtet aber Kosten, die auf den Staat überwälzt werden. Den Sozialisten die Kinder, dem Kapital die Mütter: Das ist die grandiose Gesamtverwertung, die sich als Familienpolitik missversteht. Die Lebenslüge meiner Generation war der Glaube an die problemlose Vereinbarkeit von Familie und Beruf als Voraussetzung einer umfassenden Selbstverwirklichung. Als man die Probleme erkannte und benannte, hat man die Lösung in einem verhängnisvollen Irrtum gesehen: Dass nämlich der Staat diesen Konflikt dadurch lösen könne indem er Aufgaben übernimmt, anstatt Familien eine echte Wahlfreiheit zu belassen. Damit wird ein Familienmodell produziert und präferiert, das den Interessen der Wirtschaft entspricht. Die Interessen der Familien bleiben zweitrangig. Ob aus diesem Irrtum eine glücklichere Generation hervorgeht, dies mag man füglich bezweifeln.

Ist das eine unfaire Charakterisierung? Vielleicht, denn bis weit in die Reihen der Union wird dies als sozialpolitische Großtat beklatscht, obwohl sie so gar nichts mit dem Prinzip der Subsidiarität zu tun hat. Das mag damit zu tun haben, dass auch die Wirtschaft dies unterstützt. Frauen werden als Fachkräfte gesucht. Bleiben sie zuhause, können sie für den Wirtschaftsprozess nicht mehr verwendet werden. Die Bedingungen sind heute anders als vor dreißig Jahren. Heute akkommodieren viele

Prof. Dr. Matthias Zimmer MdB ist seit 2009 Mitglied des Deutschen Bundestages, seit 2011 Vorsitzender der CDA-Hessen und stellvertretender Bundesvorsitzender der CDA. Seit 2013 arbeitet er als Honorarprofessor an der Universität zu Köln.

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von Ursula Männle

Vor 50 Jahren stand die gesamte Republik Kopf. Studenten gingen auf die Straße, nicht selten wurde es brandgefährlich. Ein persön­ licher Bericht von Ursula Männle, Vorsitzende der Hanns-Seidel-­ Stiftung, über ihre prägenden Erfahrungen in der unruhigen Hoch­ schulpolitik der 68er. 1968 war ich Landesvorsitzende des Rings Christlich-Demokratischer Studenten (RCDS) Bayern, Studentin der Soziologie und Politikwissenschaft und somit im Zentrum des politischen Geschehens. Dadurch erlebte ich Welten (an zwei Universitäten), die unterschiedlicher nicht hätten sein können. 50 Jahre später verwundert es mich manchmal, wie diese Zeit rückblickend idealisiert wird, aber auch wie viele Punkte der Vergessenheit anheimfallen und fehlinterpretiert werden. Das gilt nicht zuletzt auch für meine eigene Wahrnehmung und Erinnerung.

Autoritäten wurden hinterfragt, ebenso wie traditionelle Werte. Neu waren die Diskussionen um die Sexualmoral. Sexuelle Freizügigkeit wurde gefordert und ausgelebt. Hinzu kamen neue Ausdrucksformen kultureller Art, vornehmlich in der Musik. Aber auch der Kleidungs- und Umgangsstil wurde lockerer. Heute glaubt mir niemand mehr, dass sich zu Beginn meines Studiums 1964 in München die Studenten untereinander mit „Sie“ ansprachen. Bei meinem Studienabschluss 1969 hatte sich unter den Kommilitonen dann schon längst das allgemeine „Du“ durchgesetzt.

»Autoritäten wurden hinterfragt, ebenso wie traditionelle Werte.«

Der Vietnamkrieg, Rassenunruhen und Demonstrationen an den Hochschulen in den USA und in Paris beunruhigten auch die deutsche Öffentlichkeit. 1968 in München

1968 begann viele Jahr vorher: Georg Pichts Thesen vom Bildungsnotstand sowie Ralf Dahrendorfs Formulierung von Bildung als Bürgerrecht setzten viele Reformdiskussionen in Gang – nicht vergebens übrigens, denkt man an den Ausbau von Gymnasien auf dem Lande und die zahlreichen Universitätsneugründungen. Die Notstandsgesetze wurden immer heftiger diskutiert. Die Übermacht der ersten Großen Koalition förderte zudem die außerparlamentarische Opposition sowie das Entstehen neuer Parteien wie der NPD. Die jüngere Generation warf der Vätergeneration die Verdrängung der deutschen (und damit der eigenen) Vergangenheit vor. Die Forderung nach Aufarbeitung prägte entsprechend die Berichterstattung.

Die studentischen Protestformen in München verliefen anders als in Berlin, Frankfurt oder Hamburg. Aus den Schwabinger Krawallen in den frühen 60ern hatte man gelernt. Damals hatte eine Gruppe musizierender junger Leute und das unangemessene Einschreiten der Polizei zu tagelangen Straßenschlachten geführt. Die Ausdrucksformen des studentischen Protestes Mitte der 60er waren dagegen vielfältig bunt, aber auch widersprüchlich. Einerseits fanden künstlerische Aktionen und Provokationen in der Akademie der Schönen Künste statt. Diese verselbständigten sich, blieben aber auf einen kleinen Kreis von Akteuren beschränkt. So verfolgte man das öffentlich zur Schau gestellte

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Gegen das System Der RCDS Bayern zwischen Protest und Verweigerung

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hatten sich an diesem Wochenende zu einer Konferenz in Göttingen versammelt, als die Nachricht sich verbreitete – wurde die Auseinandersetzung heftiger: Auch die nicht-studentische Bevölkerung nahm Notiz. Der Anschlag auf Rudi Dutschke und die Reaktionen darauf bildeten den Höhepunkt des Protests.

und provokante Liebesleben von Rainer Langhans und Uschi Obermeier interessiert. Daneben gab es Einzelaktionen des Kommunarden Fritz Teufel. Liebevoll belächelt, verstand kaum einer seinen Hintersinn.

»Auch in München gab es Proteste, teils mit Toten, um die Auslieferung der Bildzeitung zu verhindern.«

Und doch erfolgte 1968 die Wende durch den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten in Prag. Das von studentischer Seite propagierte Modell einer sozialistischen Gesellschaft bekam Risse. Wie konnte man die Diktatoren Chinas in Nordvietnam und auch in Osteuropa verherrlichen, ihre Bildnisse bei Demonstrationen vor sich hertragen und dabei die Unterdrückung der dortigen Bevölkerung ausblenden? Die Widersprüchlichkeit war nicht zu leugnen: Man war auf einem Auge blind.

Andererseits wurde er jedoch auch bewundert und medial stark wahrgenommen. Es gab Demonstrationszüge mit politischen Parolen, an denen ausschließlich eine kleine Gruppe Studenten teilnahm. Andererseits gab es tägliche Indoktrinationen: Der Weg an Aktivisten vorbei, die mit dichtbedruckten Flugblättern am Geschwister-Scholl-Platz standen, glich einem Hindernislauf. Der Eingang der Universität war dann übersät mit ungelesenem Zettelwerk. Störungen von Vorlesungen und Seminaren, Belagerungen von Sitzungen des Senats, gewaltsame Besetzungen von Veranstaltungspodien und ohrenbetäubender Lärm und Niederschreien Andersdenkender waren an der Tagesordnung.

»Nicht Resolutionen gegen den Schah von Persien, sondern die Verbesserung des Mensaessens war das Ziel. « Der RCDS Bayern stellte hochschul- und bildungspolitische Reformen sowie die Verbesserung der aktuellen Studiensituation in den Mittelpunkt. Zwar forderte er die Mitarbeit im Studentenparlament, in den Hochschulgremien und dem Allgemeinen Studierendenausschuss (AStA). Er lehnte aber dezidiert die Forderung der linken Gruppen nach Drittelparität und nach einem allgemeinen politischen Mandat von AStA und dem Verband Deutscher Studentenschaften (VDS) ab. Überspitzt gesagt: Nicht Resolutionen gegen den Schah von Persien, sondern die Verbesserung des Mensaessens war das Ziel. Formend für die Ausrichtung des RCDS Bayern war beispielsweise die Landesversammlung 1967. Dort wurde nach stundenlangen Diskussionen ein Gesamtkonzept zur Reform der Lehrerbildung in Bayern verabschiedet, das leider in den Schubladen der Ministerialbürokratie verschwand.

Andererseits fanden auch viele Seminare und Vorlesungen ungestört statt, vor allem wenn sie morgens um acht Uhr begannen – eine „unchristliche“ Uhrzeit, zu der sich selbst ins vollbesetzte Audimax kein Störer verirrte. Jedoch gab es auch in München Proteste, teils mit Toten, wie beispielsweise um das Pressehaus Springer in der Schellingstraße an Ostern 1968, um die Auslieferung der Bildzeitung zu verhindern. Auslöser war der Anschlag auf Rudi Dutschke in Berlin. Daneben ergingen sich kleine Zirkel hochintellektueller Studenten zunächst in nächtelangen Theoriediskussionen, glitten später dann aber in einen bewaffneten Kampf gegen das „sogenannte System“ ab (wie z. B. Rolf Pohle, der bei der RAF landete und später aus der Haft freigepresst wurde).

In den theoretischen Diskussionen um die Reform oder Ausgestaltung der Gesellschaftsordnung mit und gegen die linken Gruppen war der RCDS eher unterlegen. Nur wenige Studenten interessierten und engagierten sich hierfür – in diesem Punkt unterschied sich der RCDS München sehr vom RCDS Berlin und vom Bundesverband.

Die politische Erregung verlief in Wellen: Zunächst gab es allgemeine Forderungen nach Reformen, dann Demonstrationen der außerparlamentarischen Opposition (APO), auch gegen den „Feind“ USA. Mit der Ermordung von Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 – die RCDS-Landesvorsitzenden

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»Die RCDSler studierten eher Jura oder Medizin, nicht Philosophie.« Hochschule, die in die Universität als Fakultät integriert wurde, arbeiteten Monate vor der Eröffnung erfolgreich daran. Auch der RCDS-Landesverband wurde einbezogen. Die vereinten gemäßigten Kräfte bekamen die absolute Mehrheit. Ebenso gestalteten sich die Fachbereichs-, Fakultäts- und Senatswahlen. Dies war umso bedeutender, als die Neuordnung der Disziplinen in Fachbereiche und eine Viertelparität erprobt wurde. Hier konnte sich der RCDS erfolgreich durch seine Erfahrung in der Hochschulreformdiskussion einbringen und Ideen in die Praxis umsetzen. Die Studentenschaft konnte zur konkreten Mitarbeit gewonnen werden und wirkte so etwa an ihren eigenen Prüfungsordnungen mit. Die vielen Erstsemester aus der Region wurden erfolgreich in den hochschulpolitischen Diskurs integriert: Die Uni Regensburg wurde „ihre“ Uni.

Peter Gauweiler, der Gruppenvorsitzende der Uni München in den späten 60ern, war vielleicht eine Ausnahme. Er war einer der wenigen Herausforderer der linken Gruppen, in seinem selbstbewussten oft frechen Auftreten und seiner Rhetorik deren Wortführern ebenbürtig. Als legendär in Erinnerung habe ich seine Auftritte mit Fritz Teufel! Das „Theoriedefizit“ seiner Mitglieder wollte der RCDS München in eigens dafür vorgesehenen Schulungen abbauen. Das Interesse dafür hielt sich jedoch in Grenzen. Die RCDSler studierten eher Jura oder Medizin, nicht Philosophie. Bei den Themen Drittelparität und politisches Mandat der Gremien konnten wir noch plausible Argumente vorbringen. Argumentativ unterlegen waren wir bei Disputationen etwa über die These von der strukturellen Gewalt (mit der Folge, dass Widerstand gegenüber Institutionen legitimiert wurde) oder über die Zulässigkeit von Gewalt gegen Sachen (und damit Zerstörung und Zulässigkeit von Verwüstung). Hier überließen wir linken Theoretikern leichtfertig das Feld. Auch die politisch nicht interessierten Studenten schreckten diese Diskussion ab. Sie beteiligten sich nicht mehr an den Hochschulwahlen, sodass sich die linken Gruppen die Gremienmehrheit sicherten. Das beschleunigte den Entfremdungsprozess und vertiefte den Graben zu den politisch nicht interessierten Studenten.

Leider veränderte sich dies drei Jahre später. Die Universität wuchs schneller, als die beschriebenen Strukturen es bewältigen konnten, und die „Ignoranz“ einzelner Professoren trug ihr Übriges bei. Die Abkehr von der „Ordinarienuniversität“ war für manche Betroffene doch schwer zu verkraften. Dies zeigt eine Anekdote: Die Professoren hatten die Anschaffung von Talaren mehrheitlich als nicht mehr zeitgemäß abgelehnt. Der Rektor ließ (auf eigene Kosten, sagt man) jedoch Talare anfertigen und allen Professoren zustellen. Für viele Professoren war das Aufbegehren der Studierenden ein Schock. Sie waren durchaus kontroverse, aber gesittete, Diskurse in kleinem Kreis gewöhnt, nicht jedoch öffentliche Herausforderung durch aggressiv vorgetragene, absolute Meinungen oder sogar Störungen oder Blockaden ihrer Vorlesungen. Reagierten viele Professoren zunächst verstört und zogen sich zurück, folgten bald Anpassung oder Vermeidungsstrategien. Auf die zukünftige Ausrichtung der Hochschulen wirkte sich besonders negativ aus, dass einige Professoren, um Ruhe vor Störern zu haben, studentische Hilfskräfte aus deren Mitte einstellten. Diese verfügten nun über Zugang zu Seminaren, Bibliotheken, Räumen und Vervielfältigungsapparaten, aber auch

1968 in Regensburg Überließ man die Universität München eher einem kleinen Aktivistenkreis, so war das Interesse der bayerischen Politik an der neugegründeten Reformuniversität Regensburg, die 1967 eröffnet wurde, groß. Hier wollte man eine Störung des Modells durch revolutionäre Studentengruppen verhindern. Insbesondere die Uni selbst und die Regionalpolitiker wollten eine Zersplitterung der Studentenschaft bei der ersten Studentenparlamentswahl durch eine große sogenannte gemeinsame Regensburger Liste verhindern. CSU, SPD, sowie Studenten an der bereits existierenden theologischen

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Gericht und Büstenhalter-Verbrennungen waren öffentlichkeits­wirksame Demonstrationen der Gegenwehr, blieben aber noch vereinzelt und spontan. Erst später formte sich der Protest in Zusammenschlüssen und eigenen Publikationen.

auf zukünftige Assistentenstellen und andere Positionen. So wurden der Nachwuchs an Professoren einseitig rekrutiert oder Netzwerke von Unterstützern geschaffen. Das war eine für die Freiheit und Unabhängigkeit der Wissenschaft unerträgliche Situation. Zum Glück bewahrte die Gründung des Bundes Freiheit der Wissenschaft durch engagierte und couragierte Professoren wie Hans Maier (dem späteren bayerischen Kultusminister) die Universitäten vor größerem Schaden. „Man“ war gerade noch rechtzeitig aufgewacht und wehrte sich.

Das führte schließlich zur Entstehung einer neuen Frauenbewegung. Dies war nicht die einzige „Errungenschaft“ in Nachwirkung der 68er, aber eine nachhaltige. Im Gedächtnis blieb mir bis heute die Frage eines Kommilitonen: „Schläfst Du grundsätzlich nicht mit Linken?“ Für ihn hatte alles einen politischen Hintergrund, getreu dem Slogan „das Private ist politisch“.

Rolle der Frauen Eine Frage, die mir in späteren Jahren immer wieder gestellt wurde, ist die nach dem Beitrag der Frauen bei den 68ern. Ich selbst konnte keine besondere Rolle der Studentinnen im RCDS sehen, aber auch keine volle Gleichberechtigung.

Früher als die vielen aktiven Studentenvertreter aus den Studentenverbindungen erkannten die RCDSler die Reformnotwendigkeit in Staat, Gesellschaft und Hochschulen. Sie legten – meist leider vergeblich – viele Reformmodelle vor. Sie blieben auch in Zeiten größter Ablehnung ihrer Linie treu. Sie widerstanden als einzige parteinahe Studentenorganisation dem Sog der Radikalisierung – so überlebten sie im politischen Kampf. Mit der Entstehung der kommunistisch ausgerichteten „K-Gruppen“ an den Unis und dem Terrorismus der RAF (mit erstaunlicher Brutalität und Wirkmacht der Frauen) verschwand die stillschweigende Duldung durch die Masse der Studenten. Pragmatische Hochschulführer gewannen wieder die Oberhand. Die notwendigen Reformen wurden durchgeführt und begannen zu wirken.

»Aus meiner Perspektive wurde im RCDS die ›Frauenfrage‹ nicht problematisiert.« Über Ursachen möchte ich nicht spekulieren, aber der Frauenanteil bei den Studenten war noch äußerst gering. Die Mehrzahl der Frauen studierte an den pädagogischen Hochschulen, die noch nicht den Universitätsstatus hatten und ein Eigenleben führten. Damals betrug die Studienzeit für das Lehramt an der Volksschule lediglich vier Semester. Wenn sie Naturwissenschaften studierten, dann höchstens Pharmazie. Aus meiner Perspektive wurde im RCDS die „Frauenfrage“ nicht problematisiert. Verwundert nahmen wir jedoch bald wahr, dass die propagierte sexuelle Freiheit auf dem Rücken der Frauen ausgetragen wurde.

Als ich 1976 zur Professorin an einer Fachhochschule für Sozialwesen berufen wurde und Politikwissenschaft lehrte, hat mich das Auftreten der Studenten (selbst dort) doch sehr erstaunt. Manchmal kam ich mir wie ein Relikt aus vergangenen Zeiten vor und nicht selten bedauerte ich die mangelnde Kritikfähigkeit und Diskussionsunwilligkeit der Studierenden. So schnell änderten sich die Zeiten!

Auch die linken Frauen waren nur „schmückendes“ Beiwerk, als Gespielinnen jederzeit verfügbar und sofort austauschbar. Wir alle kennen den 68er-Spruch „Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment“. An den politischen Diskussionen beteiligten sich Frauen nicht oder wurden nicht ernst genommen. Ihre Reaktionen blieben jedoch nicht aus: Die Tomatenwürfe gegen die Männer bei Kongressen der Sozialistisch-demokratischen Studierendenverbands (SDS) verblüfften die Öffentlichkeit gleichermaßen wie die Ge- und Betroffenen. Nackte Busen vor

Dass ich – als Vor- und Einzelkämpferin, als Frau – den Aufstieg zur Bundestagsabgeordneten und bayerischen Ministerin schaffte, verdanke ich dem RCDS. Gestählt durch nächtelange Diskussionen auf Versammlungen mit allen Geschäftsordnungstricks oder durch Auseinandersetzungen mit extremistischen oder reaktionären Positionen, hat mich der parteiinterne Konkurrenzkampf nicht mehr erschüttert. Der RCDS war meine Schule fürs politische Überleben.

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»Dass ich – als Vor- und Einzelkämpferin, als Frau – den Aufstieg zur Bundestagsabgeordneten und bayerischen Ministerin schaffte, verdanke ich dem RCDS.«

Prof. Ursula Männle war 1966/67 Landesvorsitzende des RCDS Bayern und ist Herausgeberin von CIVIS mit Sonde. Die ehemalige bayerische Staatsministerin für Bundesangelegenheiten (1994-1998) und langjährige Bundes- und Landtagsabgeordnete ist seit 2014 Vorsitzende der Hanns-Seidel-Stiftung.

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Michael Borchard:

Chuzpe auf Rheinländisch von Sebastian Hass

Wenn man in München geboren ist, in Bonn Schulund Universitätszeit verbringt, später in Erfurt arbeitet und letztlich in Berlin landet – was ist man dann? „Wohl ein bundesdeutscher Multikulti“, antwortet Borchard und lächelt. Die frühen Münchener Jahre begründen seine Liebe zum FC Bayern, die Jugendjahre in Bonn seinen rheinisch-jovialen Akzent.

und dessen Mitarbeiter zurück zum Hubschrauber. „Ich erwarte Sie zum Dienstbeginn am 1. Oktober!“, ruft Vogel Borchard zu, als dieser die schmale Leiter hochklettert. Borchard zieht nach Erfurt. Ein richtiger Kulturschock ist es nicht; schon zu Schulzeiten hat er den Osten des Landes ein halbes Dutzend Mal besucht und Eindrücke von diesem – für damals viele noch unbekannten – Teil Deutschlands gewinnen können. Die Jahre in Erfurt prägen ihn. Vogel fordert stets eigene Meinungen ein und diskutiert leidenschaftlich mit seinem Redenschreiber. Mehr als 4.000 Texte ersinnt, schreibt oder überarbeitet Borchard, vom Grußwort bis zur Regierungserklärung.

In Bonn studiert er Zeitgeschichte und Journalismus. Nach seiner Promotion bei Hans-Peter Schwarz rät ihm dieser zur Habilitation, Borchard aber sieht sich nicht so recht in der Wissenschaft. Stattdessen treibt es ihn ins Bundeskanzleramt. Er schreibt gut und fundiert: Ein Glanzstück ist sein Beitrag über Franz Stock, den „Seelsorger der Hölle“. Der Kanzler ist begeistert von dem jungen Autor – Borchard wird Redenschreiber.

Der Amoklauf von Erfurt im Jahr 2002 schockiert Deutschland. In einer so kleinen Stadt ist jeder im wahrsten Wortsinne betroffen. Die Frau eines Kollegen ist unter den Opfern. Die Rede des Ministerpräsidenten zur Gedenkfeier entsteht in enger Zusammenarbeit mit Vogel – allen Verpflichtungen und Terminen zum Trotz. Wenn Borchard von

Mit der Abwahl Kohls 1998 endet Borchards Zeit im Kanzleramt, doch der Übergang ist fließend. Bernhard Vogel ist auf den jungen Mann aufmerksam geworden. Nach einer Veranstaltung im thüringischen Altenburg begleitet Vogel den Kanzler

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diesen Tagen und „seiner“ schwierigsten Rede spricht, wird er leise. Nachdem Bernhard Vogel im Jahr darauf die Regierungsgeschäfte in die Hände von Dieter Althaus legt, widmet er sich seinem Amt als Vorsitzenden der Adenauer-Stiftung. Borchard zieht mit nach Berlin. „Sie können den Arbeitgeber wechseln, aber nicht den Chef!“, hatte ihm der Pfälzer vorher zugerufen. Nach kurzer Zeit leitet Borchard die Hauptabteilung Politik und Beratung; fortan arbeitet er beharrlich daran, die Abteilung zu einem schlagfertigen Think Tank auszubauen. Dass ausgerechnet Sigmar Gabriel Borchards Abteilung später als „best practice“-Beispiel für eine moderne Ideenschmiede hervorhob, an der sich die Ebert-Stiftung ein Vorbild nehmen könne, hat ihm gefallen.

im Ausnahmezustand und ein unbeugsames Volk: furchtlos im Angesicht terroristischer Bedrohung und zugleich unverbrüchlich an seiner Demokratie festhaltend. Borchard nutzt den breiten Spielraum, der sich ihm bietet: Den Internationalen Sekretär des LIKUD etwa, der leise Zweifel an der Begeisterung der CDU-Mitglieder für Israel äußerte, lud er zum CDU-Bundesparteitag ein und vermittelte ihm dutzende Begegnungen mit Spitzenpolitikern, Delegierten und einfachen Gästen. Das Bild seines Mitreisenden auf die CDU und ihre klare Positionierung an der Seite Israels ist danach ein gänzlich anderes, berichtet Borchard zufrieden. Mittlerweile ist er wieder in Deutschland, auch mit Rücksicht auf die Familie. Der studierte Historiker führt nunmehr die Hauptabteilung Wissenschaftliche Dienste/Archiv für Christlich-Demokratische Politik. Auch hier hat er viel vor, man darf gespannt sein. Helfen werden ihm auch dabei zwei Dinge, die für sich aus Israel mitgebracht hat. Welche das denn seien, frage ich nach. „Chuzpe und Tacheles“, sagt er.

Im Jahr 2014 zieht er mit seiner Familie nach Jerusalem und leitet das KAS-Büro in Israel. Ein Herzenswunsch. Die Faszination für das Land und seine Menschen in all ihrer Widersprüchlichkeit hatte ihn schon viele Jahre zuvor ergriffen. Seine erste Israel-Reise absolviert er 2004, inmitten der ersten Intifada. Er erlebt ein Land

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GroĂ&#x;er Tiergarten, Berlin Denkmal fĂźr die im Nationalsozialismus verfolgten Sinti und Roma Europas



03 — 2018

Impressum CIVIS mit Sonde Paul-Lincke-Ufer 8b, 10999 Berlin Tel: +49 (0)30 616518-11 Fax: +49 (0)30 616518-40 E-Mail: info@civis-mit-sonde.de Leserbriefe: leserbriefe@civis-mit-sonde.de ISSN: 1432-6027 Preis: 8,00 Euro (ermäßigt 4,00 Euro) Abo- und Einzelheftbestellung: www.civis-mit-sonde.de Druck: Westermann Druck Zwickau GmbH, www.westermann-zwickau.de

Chefredakteur: Erik Bertram Geschäftsführer: Michael Lönne Konzeption & Art Direction: Jonas Meyer, jmvc.de Fotografie: Maximilian König, maximilian-koenig.com Illustrationen: Roland Brückner, bitteschoen.tv Redaktion: Christina von Busch, Barbara Ermes, Leonard Falke, Sebastian Hass, Christine Hegenbart, Anja Pfeffermann, Carl-Philipp Sassenrath und Sebastian Weise Herausgeber: Dorothee Bär, Ursula Männle, Arnold Vaatz, Mario Voigt, Matthias Wissmann und Henrik Wärner als Bundesvorsitzender des RCDS Beirat: Christoph Brand, Stephan Eisel, Matthias Graf von Kielmansegg, Jürgen Hardt, Johannes Laitenberger, Gottfried Ludewig, Fabian Magerl, Peter Radunski, Hans Reckers, Christian Schneller, Wulf Schönbohm, Axel Wallrabenstein und Johannes Zabel

Die nächste Ausgabe von CIVIS mit Sonde erscheint im Frühjahr 2019.

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Unser neuer Großer steht unter Strom. Emissionsfrei. Wirtschaftlich. Praktisch. Er hat Elektroantrieb, stemmt eine Tonne Zuladung und schafft problemlos eine Tagestour pro Batterieladung – der neue StreetScooter Work XL. Er ist der jüngste Zuwachs in unserer E-Fahrzeugflotte, mehr als 8.000 Zustellfahrzeuge fahren nun bereits elektrisch. Bis 2050 wollen wir alle logistikbezogenen Emissionen auf null reduzieren. n

Entwickelt von der Deutschen Post, gebaut von Ford.

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Dank StreetScooter bereits jetzt jährlich 26.000 Tonnen weniger CO²-Emissionen.

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Für bessere Luft, gegen den Klimawandel.

Mehr Informationen unter dpdhl.com/de/verantwortung/umweltschutz.html


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