CIVIS mit Sonde 2018/2

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02 — 2018

Schöne neue Weltordnung

CIVIS & SONDE



CIVIS & SONDE


»What we may be witnessing is not just the end of the Cold War, or the passing of a particular period of postwar history, but the end of history as such: that is, the end point of mankind's ideological evolution and the universalization of Western liberal democracy as the final form of human government.« Francis Fukuyama im Sommer 1989 über das ›Ende der Geschichte‹

»Und so wird die westliche Welt, wie wir sie kannten, vor unseren Augen versinken.« Joschka Fischer in seinem 2018 erschienenen Buch ›Der Abstieg des Westens‹

Mauer-Denkmal „East Side Gallery“ in Berlin-Friedrichshain

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Liebe Leserin, lieber Leser, Unser Land und seine Bürgerinnen und Bürger profitieren von der globalisierten Welt, ihren Friedens- und Handelsregeln. Eines der international prominentesten Beispiele erfolgreicher globaler Ordnungspolitik dürften die westlichen Winkelzüge sein, die letztlich den Fall der Berliner Mauer beförderten.

„Der Abstieg des Westens“ titelt Joschka Fischer, „Welt in Gefahr“ heißt es bei Wolfgang Ischinger, „Weltunordnung“ bei Carlo Masala. Die liberale Weltordnung steht – glaubt man der Analyse zahlreicher Medien – am Scheideweg. Mittendrin steht Deutschland, das den Entwicklungen ausgeliefert zu sein scheint und das zugleich wenig Einfluss zur Bewältigung der Krisen geltend machen kann. Das jedenfalls scheint das Muster zu sein, das man mit Blick auf die Politik Donald Trumps oder die russischen und chinesischen Angriffe auf die Freiheit des Internets beobachtet.

Es besteht immer wieder Anlass sich daran zu erinnern, wie kürzlich am 57. Jahrestag des Mauerbaus – oder einfach nur bei einem Gang durch Berlin. Die Beiträge dieses Hefts sind deswegen in eine Fotoserie zum ehemaligen Mauerverlauf gebettet. Der Fall der Mauer ist für uns Sinnbild dafür, wie die liberale Weltordnung den Menschen ein geeintes Land in Frieden und Freiheit geschenkt hat, und dass wir bei allen Problemen nicht verzagen sollten.

CIVIS mit Sonde jedoch meint: Trotz aller berechtigter Sorgen gibt es keinen Grund in Alarmismus zu verfallen. Im Gegenteil: Jetzt ist der Zeitpunkt, sich und anderen die Erfolge des liberalen Ordnungs­modells zu vergegenwärtigen – und mit neuer Energie und einer selbstbewussten Haltung für die liberale Ordnung einzutreten. Dafür gibt es schließlich gute Gründe. Die Erfolge der liberalen Weltordnung haben sich im Alltag der Menschen weltweit niedergeschlagen. Es gibt so viele Demokratien wie nie zuvor. Die jahrzehntelange Bekämpfung der Armut trägt Früchte. Im weltweiten Kampf gegen HIV sind große Fortschritte zu verzeichnen. Liberale Ordnungspolitik funktio­niert auch im Hinblick auf die globale Wissenschaftskooperation oder die globale Gesundheitspolitik. Die Prinzipien des Multilateralismus, des Völkerrechts und der Menschenrechte gilt es hochzuhalten. Als Mitglied im Weltsicherheitsrat wird Deutschland in den kommenden zwei Jahren für den Erhalt unserer liberalen Ordnung besondere Verantwortung tragen.

Ich danke allen Autorinnen und Autoren und wünsche Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, viel Vergnügen bei der Lektüre dieser neuen Ausgabe! Herzlichst,

Ihr Erik Bertram

PS: In Zukunft freuen wir uns auch über interessante Leserbriefe von Ihnen an leserbriefe@civis-mit-sonde.de

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Grundriss der alten VersĂśhnungskirche an der Bernauer StraĂ&#x;e in Berlin. Mit dem Bau der Mauer geriet die Kirche in die Sperranlagen der DDR und wurde unzugänglich. 1985 wurde sie gesprengt.


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»Wir werden mehr Verantwortung übernehmen müssen« | Im Gespräch CIVIS mit Sonde trifft CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer

24 Angriff auf die liberale Weltordnung | Standpunkt Andreas Nick mit einem Beitrag über die Logiken internationaler Politik

30 Internetfreiheit unter Druck | Standpunkt Christine Hegenbart über Systemkonflikte in der digitalen Welt

38 Raus aus der Defensive | Aus eigener Feder Die Redaktion von CIVIS mit Sonde fordert zu Mut und Entschlossenheit auf

40 Im Westen was Neues | Standpunkt Christian E. Rieck glaubt an die Freiheit der Wissenschaften

44 Jedes Leben zählt | Standpunkt Andrew J. Ullmann über das Ziel globaler Gesundheit in einer globalisierten Welt

50 Tweets machen noch keine Außenpolitik! | Standpunkt Andrea Rotter denkt, dass wir trotz aller Probleme nicht verzagen sollten

56 Gute Zeiten, beste Zeiten! | Faktencheck Zahlen und Daten für einen optimistischen Blick auf die Welt

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58 Wir sind gefordert | Aus aktuellem Anlass Christoph Heusgen darüber, wie Deutschland die regelbasierte Ordnung verteidigen will

64 Deutschland als Retter der »regelbasierten internationalen Ordnung«? | Aus aktuellem Anlass Hannah Birkenkötter fordert, dass Deutschland Brüche der Rechtsordnung klar benennen muss

68 Abonnement 70 Der Kampf um Sprache | Aus aktuellem Anlass Clemens Escher glaubt, dass ernste Zeiten sprachlicher Konzentration und Klarheit bedürfen

80 »Wohlstand für alle« | Standpunkt Lars P. Feld über das Wohlstandsversprechen der Sozialen Marktwirtschaft

86 Ulrich Schröder: einer der führenden Banker Deutschlands | In Memoriam Hans Reckers blickt zurück auf seine gemeinsamen Jahre mit Schröder im Studium

90 Mit Helmut Kohl auf der Schulbank | Aus aktuellem Anlass Ulrich Schnakenberg über eine bislang unbekannte Facette des Altkanzlers

94 Politik – eine Herzensangelegenheit | Getroffen Die Bundestagsgeordnete Prof. Dr. Claudia Schmidtke portraitiert von Christine Hegenbart

98 Impressum

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»Wir werden mehr Verantwortung übernehmen müssen« Kein anderer Ort versprüht so sehr internationales Flair wie das „Haus der Kulturen der Welt“ in Berlin. Dort traf sich die Redaktion von CIVIS mit Sonde mit CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer. Ein Gespräch über vergangene Migrations­ bewegungen, die liberale Weltordnung und die Zukunft der CDU.

Interview: Erik Bertram & Christine Hegenbart Fotografie: Steven Lüdtke


CIVIS: Dieses Jahr begehen wir den 400. Jahrestag des Beginns des 30-jährigen Krieges. Es hat Jahrzehnte gedauert, Frieden in Europa zu finden. Was ist Ihrer Meinung nach heute übrig geblieben von dieser Auseinandersetzung, die damals als Reli­ gionskrieg begann? Sehen Sie Verbindungen zur heutigen Zeit?

hineingeboren. Das hat zu unsäglichem Leid in ganz Europa geführt. Auch meine eigene Heimat­ region war am Ende des Krieges fast komplett entvölkert. Gerade in dieser Zeit spielte die Migration in Europa eine wichtige Rolle. Sie hat die Grundlage dafür gelegt, dass sich die Bevölkerung - auch die des heutigen Saarlandes - wieder erholen konnte. Insofern ist der Krieg auch in seiner ganzen Schrecklichkeit eines der zentralen Ereignisse gewesen, das Europa zu dem gemacht hat, was es heute ist.

»Die Migration hat die Grundlage dafür gelegt, dass sich die Bevölkerung wieder erholen konnte.«

CIVIS: Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler zieht Parallelen zwischen dem 30-jährigen Krieg und der aktuellen Situation im Nahen Osten. Die blutigen Konflikte in dieser Region sind zum großen Teil dafür verantwortlich, dass die Menschen – auch in Deutschland – das Gefühl haben: „Die Welt ist aus den Fugen geraten“. Haben Deutschland und Europa hier zu lange weggesehen?

AKK: Die Erfahrung aus dem 30-jährigen Krieg ist, dass getroffene Vereinbarungen nicht viel länger als eine Generation gehalten haben. Die nachfolgenden Generationen wurden also in den Konflikt

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»Europa muss verstehen, dass es noch eine lange Zeit ein Sehnsuchtsort für viele Menschen bleiben wird.« AKK: Ich bin bei historischen Parallelen immer etwas vorsichtig. Fakt ist aber sicher, dass wir nicht nur in Syrien, sondern in der gesamten Region eine schreckliche Auseinandersetzung erleben. Da handelt es sich auch um einen Konflikt zwischen verschiedenen Religionsgemeinschaften, Sunniten und Schiiten, sowie zwischen ihren jeweiligen Schutzmächten. Solche Konflikte sind von Deutschland und Europa gar nicht so weit entfernt. Geografisch gesehen spielen sie sich praktisch vor unserer Haustür ab.

AKK: Punkt eins: Europa muss verstehen, dass es noch eine lange Zeit ein Sehnsuchtsort für viele Menschen bleiben wird. Wenn man sich die Lage in unserer Nachbarschaft ansieht – geografisch, politisch und wirtschaftlich – stellt man fest: Europa ist eine Insel von Sicherheit und Wohlstand, die Menschen anzieht. Auf eine ähnliche Weise haben die Menschen früher die Vereinigten Staaten von Amerika gesehen, eben als ein Ort, an dem man ein besseres Leben finden konnte. Punkt zwei: Wenn wir ein Europa der offenen Binnengrenzen erhalten wollen, müssen wir auch zu einem gemeinsamen Außengrenzschutz kommen, den wir derzeit leider noch unvollkommen organisiert haben. Dazu brauchen wir ein Netz aus Sicherheits­ partnerschaften in den benachbarten Regionen.

»Geografisch gesehen spielen sich viele Konflikte praktisch vor unserer Haustür ab.« Das führt in unserer Zeit der grenzenlosen Vernetzung dazu, dass sich Menschen als Flüchtlinge auf den Weg zu uns machen. Meiner Meinung nach erwächst daraus die Erkenntnis, dass wir Innen- und Außenpolitik nicht länger trennen können, wie wir das die letzten Jahrzehnte gewohnt waren. Es liegt also im ureigenen Interesse Deutschlands, an der Entwicklung einer Friedensordnung für die Region aktiv mitzuwirken. Ähnliches gilt im Übrigen auch für den afrikanischen Kontinent. Wir sollten unseren Blick noch stärker dorthin richten. CIVIS: Insbesondere das Thema Migration ist ein offenes Streitthema in der EU. Die europäische Zusammenarbeit funktioniert nicht reibungslos. Nationale Alleingänge stellen das gesamte europäische Einigungsprojekt infrage. Wie muss sich Europa zukünftig aufstellen, um für solche Krisen gewappnet zu sein?

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Punkt drei: Mit Blick auf die Bewegungen im Inneren von Europa müssen wir unsere Systeme und Verfahren so anpassen, dass es möglichst wenig Unterschiede in den Aufnahmeverfahren gibt. Erst wenn wir in Europa die Steuerung der Binnenmigration gemeinsam tragen, dann werden wir erfolgreich sein. Daneben geht es nicht nur um Probleme der Zuwanderung an sich, sondern um die Integration der vielen Menschen, die zu uns kommen, darunter sehr viele Muslime. Ich stelle mir oft die Frage, ob man gesamteuropäisch nicht in der Lage sein muss, eine gemeinsame Lesart eines Islam zu finden und zu vertreten, die verträglich mit einer offenen Gesellschaft ist. Das ist eine der zentralen Integrationsfragen, vor der wir stehen und die Auswirkungen über die nationalen Grenzen hinweg hat. CIVIS: Haben Sie eine Erklärung dafür, warum manche unserer osteuropäischen Partner sich von der liberalen Weltordnung abwenden?


AKK: Ich glaube, es geht um eine Auseinandersetzung in den jeweiligen Gesellschaften. Da gibt es politische Kräfte, die ihr Land eher „homogen“ aufstellen wollen und solche, die ein offenes Weltbild verfolgen. Im Moment haben meistens erstere die Mehrheit. Hinzu kommt, dass die genannten Staaten des ehemaligen Ostblocks aufgrund ihrer Erfahrung aus der Sowjetunion beim Kampf um ihre eigene Souveränität in einem viel stärkeren Maß sensibel sind, vor allem wenn sie den Eindruck haben, dass ihre Souveränität durch europäische Vorgaben eingeschränkt wird.

»Es darf nicht sein, dass jeder Staat sich nur noch das Positive aus der EU etwa in Form von Förderprogrammen herauspickt.« Das führt allerdings zu folgendem Konflikt: Es darf nicht sein, dass jeder Staat sich nur noch das Positive aus der EU, etwa in Form von Förderprogrammen, herauspickt und sich dort, wo es um die Lastenverteilung geht – zum Beispiel beim Klimaschutz oder der Migrationspolitik – zurückzieht. Das würde aus der EU am Ende weit weniger machen als eine Wertegemeinschaft. Das würde sie zu einer Art Freihandelszone degradieren. Das kann nicht der richtige Weg sein. CIVIS: Der Streit in der EU spielt Staatenlenkern wie Erdogan, Putin und Kim Jong-Un in die Hände. Sehen Sie eine Möglichkeit, mehr Einheit in der EU zu schaffen? AKK: Ich sehe es als großes Problem, wenn beispielsweise der türkische Präsident EU-Bürger mit einer zweiten, türkischen Staatsangehörigkeit in einen echten Loyalitätskonflikt stürzt. Außerdem beobachten wir eine neue Dimension etwa von Seiten Russlands, die Innenpolitik eines Landes zu beeinflussen. Doch kann eine derartige Situation auch heilsam sein, nämlich wenn die EU sieht, dass sie ihre Interessen nur erfolgreich vertreten kann, wenn sie dies geschlossen tut. Wenn das jeder EUStaat alleine angeht, wird er damit scheitern. Das gilt auch für ein so großes und wirtschaftlich starkes Land wie Deutschland.

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»Wir werden uns daran gewöhnen müssen, auch im militärischen Bereich mehr Verantwortung zu übernehmen.« CIVIS: Die USA – der maßgebliche Architekt der liberalen Weltordnung – haben mit Donald Trump einen Präsidenten, dem diese Ordnung nicht viel Wert zu sein scheint. Wie bewerten Sie die derzeitige Rolle der USA in der Weltpolitik?

fehlt mir die Fantasie, wie in Zukunft die Interaktion zwischen Staaten überhaupt stattfinden sollte. Europa basiert auf Regeln. Unser gesamtes System, auch das der sozialen Marktwirtschaft, basiert auf Regeln. Regeln für einen fairen Wettbewerb, Verlässlichkeit und Sicherheit und wie man mit Vertragspartnern umgeht. Wir müssen für eine regelbasierte Ordnung sehr viel stärker kämpfen als zuvor.

AKK: Trump setzt Impulse nach denen ausverhandelte Vereinbarungen für ihn keine entscheidende Rolle mehr spielen. Sämtliche Abrüstungsabkommen zum Beispiel basieren aber auf der Verlässlichkeit der Vertragspartner. Wenn man heute hingeht und bereits geschlossene Verträge einfach aufkündigt, schafft man damit eine große Unsicherheit. Das fördert übrigens auch in Deutschland politische Stimmen, die behaupten, der Multilateralismus sei tot und wir würden zukünftig alles national regeln können . Das halte ich für fatal. Es geht um den Kern der liberalen Weltordnung, die wir unter großen Mühen seit dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut haben.

Des Weiteren müssen wir uns überlegen, wie wir mit diesem Druck, der ja auch in die Innenpolitik hinein wirkt, umgehen. Diesen Druck spüren wir unter anderem in der Migrationsdebatte. Da sagen manche Staaten: Schau, das alles europäisch zu lösen, ist vergleichsweise schwierig, dauert lange und ist auf den ersten Blick auch nicht immer gleich erfolgreich, deshalb sollten wir das lieber national machen. Beim Handel ist es ähnlich. Wenn man sagt, jeder macht was er will und dann schauen wir, wer wo bleibt, übt das einen großen innenpolitischen Druck aus. Die Frage ist, ob wir in der Lage sind, diesem Druck zu widerstehen. Das ist der Unterschied zwischen populistischer Politik und der Politik, die auf das Prinzip Verantwortung setzt.

»Wenn man heute hingeht und bereits geschlossene Verträge einfach aufkündigt, schafft man damit eine große Unsicherheit.«

CIVIS: Die Kanzlerin sagte vor kurzem: „Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten, die sind ein Stück vorbei.“ Was ist damit im Hinblick auf die USA konkret gemeint?

CIVIS: Wieso setzt Deutschland sich für eine regelbasierte Ordnung ein? Das Ziel dieser Ordnung ist doch, durch Berechenbarkeit Sicherheit zu schaffen. Sieht man nicht am Beispiel Trumps, aber auch Putins, wie wenig erfolgreich Berechenbarkeit als politisches Prinzip ist – und wie viel erfolgreicher Unberechenbarkeit ist?

AKK: Wir müssen ganz offen sagen, dass wir in den letzten Jahrzehnten vor allem deshalb in Freiheit und Sicherheit leben konnten, weil die USA Schutzmacht waren. Deshalb müssen wir, wenn wir dieses Bündnis auf Dauer weiterführen wollen, zu einer faireren Lastenteilung kommen. Es ist in der Tat so, dass Deutschland mit Blick auf seine eigene Geschichte bei internationalen Einsätzen eher zurückhaltend agiert hat. Nun sind wir an

AKK: Berechenbarkeit ist die Grundlage für das friedliche Zusammenleben zwischen Staaten. Wenn Unberechenbarkeit zum Prinzip würde,

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einen Punkt gelant, an dem diese Phase endet. Das heißt: Wir werden uns daran gewöhnen müssen, auch im militärischen Bereich mehr Verantwortung zu übernehmen. Das wird mehr Geld kosten, sei es durch weitere Investitionen in die Bundeswehr, in europäische Projekte oder in die NATO. Das wird meiner Meinung nach in Deutschland noch einige Debatten hervorrufen. Einen kleinen Vorboten haben wir schon durch die Diskussion, ob wir über Aufrüstung oder Ausrüstung sprechen. Dennoch muss uns bewusst sein, dass wir eine andere Rolle spielen werden und auch spielen müssen als das in der Vergangenheit der Fall war.

zu sagen, dass wir wieder mehr tun müssen. Da gibt es gerade mit Blick auf die Bundeswehr ein klares Bekenntnis, dass wir dort mehr Geld in die Hand nehmen sollten. Der Befund ist aber mitnichten so, dass das in der Gesamtbevölkerung ein populäres Thema ist. Das ist, glaube ich, eine klassische Aufgabe, in der politische Führung gefragt ist. CIVIS: Mit seinem Buch „Factfulness“ versucht Hans Rosling einen Kontrapunkt zu den täglichen Medien zu setzen, die suggerieren, es würde alles immer schlimmer werden. Tatsächlich – das zeigen Statistiken – hat die Menschheit in vielen Bereichen große Fortschritte erzielt. Woher stammt die Angst vieler, am Ende als Verlierer dazustehen?

CIVIS: Hören Sie das auch auf ihrer „Zuhör-Tour“? Kürzlich erschien wieder eine Umfrage, dass die Menschen in Deutschland nicht bereit sind, stärker in Verteidigung zu investieren. Und trotzdem sehen wir die sicherheitspolitische Notwendigkeit. Ist das ein Thema, das eine Rolle spielt, und wie kan die CDU die Menschen davon überzeugen?

AKK: Es ist in der Tat so, dass man positive Entwicklungen schnell ins Unterbewusstsein verdrängt, während man negative viel stärker wahrnimmt. Ich glaube, dass wir in Deutschland erstmals in einer Generation leben, in der man stärker hinterfragt, ob das Wohlstandsversprechen der sozialen Marktwirtschaft irgendwann an ein Ende gelangen könnte.

AKK: Ja, dieses Thema spielt eine Rolle. Die Meinung unserer Mitglieder geht allerdings eher dahin

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»Die Diskussion, ob das Konservative in der CDU zu kurz kommt, reicht nicht aus, weil es ›das Konservative‹ nicht gibt.« AKK: Ich sehe die CDU - zumindest ist das eines meiner großen Ziele - in zehn Jahren nach wie vor als eine lebendige Volkspartei, die auf einem wertebasierten Programm beruht. Es gibt einen Druck - gerade mit Blick auf andere europäische Staaten hin in Richtung Sammlungsbewegungen über politische Lager hinweg, die meistens von einer Person zusammengehalten werden. Ich glaube, dass gerade in turbulenten Zeiten der Zusammenhalt über gemeinsame Werte und Programme ein Wert an sich ist, für den es sich zu kämpfen lohnt. Ich sehe die CDU als die Partei in Deutschland, die es schafft, eine sich immer stärker ausdifferenzierende Gesellschaft zu spiegeln und die es schafft, diese unter einem gemeinsamen Band zu vereinen. Das heißt: Unsere Aufgabe im Grundsatzprogrammprozess ist es, die Hauptlinien der CDU, auf denen wir basieren, noch einmal neu zu begründen und im Kontext der heutigen Zeit zu definieren. Damit die Menschen merken: Diese Partei bietet Raum in der Programmatik und verfügt auch über das entsprechende personelle Angebot.

Wir spüren gerade mit Blick auf den demografischen Wandel, dass unsere sozialen Sicherungssysteme unter Druck stehen. Wir sehen den internationalen Konkurrenzdruck. China wurde unlängst in einem Ranking unter die 20 innovativsten Nationen aufgenommen. Das heißt, die Zeiten, in denen man China als die verlängerte Werkbank Europas gesehen hat, sind längst vorbei. Das ist zuerst einmal eine Herausforderung. Allerdings eine, die man gerade auch in wirtschaftlich erfolgreichen Zeiten annehmen muss. Das ist eine der Hauptfragen an die Politik: Schafft es die politische Führung, diesen Impuls mit Zuversicht aufzunehmen und in eine positive Entwicklung umzuwandeln? Diese wichtige Frage hat die deutsche Politik in den nächsten Jahren zu beantworten.

CIVIS: Viele Konservative fühlen sich derzeit nicht mehr von der CDU repräsentiert. Armin Laschet sagt: „Der Markenkern der CDU ist nicht das Konservative.“ AKK: Um Armin Laschet nochmal richtig zu zitieren: Er hat gesagt, dass das Bekenntnis zum Konservativen erst nachlaufend ins Grundsatzprogramm aufgenommen worden ist. Das hatte damals auch mit einer Abkehr von gewissen Weimarer Tradi­tionen zu tun, wo das Konservative für etwas ganz anderes stand als das Konservative, wie wir es heute verstehen. Für mich war eines der interessantesten Erlebnisse bisher auf der „Zuhör-Tour“:

CIVIS: Lassen Sie uns noch etwas über die Union sprechen. Was muss eine Partei wie die CDU tun, um auch in Zukunft noch als Volkspartei relevant zu sein? Oder anders gefragt – an Sie als neue CDU-Generalsekretärin: Wo soll die CDU in zehn Jahren stehen?

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CIVIS: Macht es Ihnen Sorgen, wenn eine traditionsreiche Partei wie die SPD zeitweise nur noch bei 17 Prozent liegt?

Ich war in drei als konservativ geltenden Verbänden, in Fulda, in Wetzlar und in Münster. Jeder dieser Verbände hat das Konservative aber auf eine ganz andere Art und Weise für sich definiert. In Fulda ging es dabei sehr stark um das Thema „Schutz des Lebens“, in Wetzlar sehr stark um das Thema Ordnungspolitik und in Münster sehr stark um das Thema der katholischen Soziallehre. Allein diese drei Stationen haben mir deutlich gemacht, dass allein die Diskussion, ob das Konservative in der CDU zu kurz kommt, nicht ausreicht, weil es „das Konservative“ nicht gibt. Wenn heute gesagt wird, es ist besonders konservativ, wenn Gesetze in der Bundesrepublik eingehalten werden, dann macht das keinen Sinn, denn das erwarten alle Menschen von einem Staat. Das muss die Politik, egal welcher Couleur, am Ende sicherstellen. Das hat etwas mit Grundvertrauen in staatliche Institu­ tionen und in die Einhaltung von Regeln zu tun.

»In der Vergangenheit war es für die Ausgewogenheit und für die Stabilität in Deutschland gut, dass es zwei große Volksparteien gab, die unterschiedliche Wurzeln und Programme hatten.« AKK: Ja, das macht mir Sorgen. Es ist insgesamt für das gesamte politische System ein schlechter Befund. In der Vergangenheit war es für die Ausgewogenheit und für die Stabilität in Deutschland gut, dass es zwei große Volksparteien gab, die eben auch unterschiedliche Wurzeln und Programme hatten.

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»Weimar ist nicht deshalb gescheitert, weil die Ränder so stark waren, sondern weil die Mitte so schwach war.« CIVIS: Sind Sie besorgt, wenn eine Partei wie die AfD stärker ist als die SPD?

Aber: Das ist eine Frage, die die SPD für sich selbst lösen muss. Was wir als CDU auf keinen Fall tun dürfen, ist uns zurückzulehnen und uns zu freuen, dass wir irgendwo bei 30 Prozent stehen und die SPD nur bei 17. Ganz im Gegenteil: Wir haben den gleichen Druck wie die SPD, uns als Volkspartei auf Dauer zu behaupten.

AKK: Natürlich, das kann einen überhaupt nicht kalt lassen. Das gilt im Übrigen auch für eine Partei wie Die Linke. Es ist ein Befund dafür – das sehen wir auch in anderen europäischen Staaten und anderswo in der Welt –, dass populistische Kräfte, egal ob von links oder von rechts, einen großen Aufschwung erleben. Deshalb bleibe ich bei dem alten Satz: Weimar ist nicht deshalb gescheitert, weil die Ränder so stark waren, sondern weil die Mitte so schwach war. Und das sollte uns Lehre genug sein - auch für die heutige Zeit.

CIVIS: Wie sehen Sie die Zukunft der Volksparteien, wenn das Parteienspektrum immer mehr zerfasert? AKK: Eine der großen Herausforderungen besteht darin, die verbindenden Punkte in einer Gesellschaft zu definieren. Früher hatte man sozusagen ein gemeinsames Milieu. Heute spielt die Individualisierung eine große Rolle. Dafür ist die CDU von ihrer DNA her gut aufgestellt. Sie ist nach dem Zweiten Weltkrieg bewusst – auch aus den Erfahrungen von Weimar, wo die Unfähigkeit, Trennendes zu überwinden den Weg für die Nationalsozialisten erst freigemacht hat – als Union gestartet. Wir haben als politische Partei bereits in unserem Namen verankert, dass wir möglichst viele unterschiedliche Personen zusammenbinden. Das ist eine zentrale Fähigkeit, die wir stärker aktivieren müssen, um in einer Gesellschaft wie der unseren erfolgreich zu sein. Dafür machen wir ein Angebot.

CIVIS: Frau Kramp-Karrenbauer, haben Sie vielen Dank für das Gespräch!

Wir danken dem Berliner „Haus der Kulturen der Welt“ sehr herzlich für die Gastfreundschaft!

Annegret Kramp-Karrenbauer ist seit 2018 Generalsekretärin der CDU Deutschlands. Zuvor war sie von 2011 bis 2018 Ministerpräsidentin des Saarlandes und Vorsitzende der CDU Saar.

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Angriff auf die liberale Weltordnung Was fĂźr Deutschland nun zu tun ist

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von Andreas Nick

Nicht nur die USA fordern die welt­politische Bühne derzeit heraus. Auch ein revisionistisches Russland sowie ein aufstrebendes China setzen die internationale Ordnung kontinuierlich unter Druck. Ein Beitrag über neue Logiken der internationalen Politik.

Die liberale Weltordnung und ihre nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffenen Institutionen werden zunehmend herausgefordert: Grundsätze multilateraler Zusammenarbeit, Prinzipien des Völkerrechts und die Grundlagen des regelbasierten Welthandelssystems stehen unter Druck, werden missachtet oder gar aufgekündigt. Daraus ergeben sich klare Konsequenzen: Europa muss sein Schicksal stärker selbst in die Hand nehmen, mit größerer Einigkeit und verbesserter Handlungsfähigkeit. Auch Deutschland wird in deutlich höherem Maße als in der Vergangenheit Stabilität und Sicherheit selbst erzeugen und „exportieren“ müssen – und sich Fragen der Geostrategie und Geoökonomie in bisher nicht gekannter Weise stellen müssen.

Konflikt in der Ost-Ukraine traurige Realität. Russland hat damit die europäische Friedensordnung der Charta von Paris 1990 verletzt und verfolgt offenbar das Ziel, die eigene Einflusssphäre im sogenannten „post-sowjetischen“ Raum auch in zunehmend aggressiver Weise zu bewahren und auszudehnen. Während China bis vor wenigen Jahren noch die Doktrin des friedlichen Aufstiegs (peaceful rise) verkündete, verfolgt die chinesische Außen-, Sicherheits- und Wirtschaftspolitik nunmehr deutlich bestimmter die Rückkehr des „Reiches der Mitte“. China setzt auch auf geografische Ausdehnung und baut seinen Einfluss im Südchinesischen Meer aus. Außerdem schafft Beijing alternative Institutionen der multilateralen Zusammenarbeit wie etwa die Asiatische Infrastrukturinvestmentbank oder die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit.

Herausforderungen für die liberale Ordnung Die seit 70 Jahren bestehende liberale Ordnung sieht sich heute einer dreifachen Herausforderung gegenüber: einem revisionistischen Russland, einem aufstrebenden China und der Tatsache, dass sich die Vereinigten Staaten von Amerika aus ihrer Rolle als Architekt und Garant der internationalen Ordnung zurückziehen (abdication, wie Richard Haass es nennt).

Die aktuell einschneidendste Herausforderung ist jedoch der Rückzug der USA aus der Rolle des Garanten der liberalen Ordnung: Im Verständnis der neuen Administration ist die Welt nicht mehr eine „globale Gemeinschaft“, sondern eine Arena, in der Nationen, nichtstaatliche Akteure und Unternehmen um Vorteile konkurrieren. Inzwischen stellen die USA die liberale Ordnung zunehmend aggressiv in Frage gestellt. Ex-CIA Chef General Michael Hayden hat sein Land daher kürzlich sogar als die derzeit „am meisten destabilisierende Kraft der Welt“ bezeichnet.

Die veränderte russische Politik, angekündigt bereits in der Rede von Präsident Putin auf der Münchener Sicherheitskonferenz 2007, wurde mit dem Georgien-Konflikt 2008, der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim 2014 und dem anhaltenden

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Einerseits stellt die von der Trump-Administration verfolgte Politik einen elementaren Bruch in der US-Außenpolitik dar – andererseits hat diese Entwicklung nicht erst mit dem aktuellen Präsidenten begonnen und wird wohl auch nicht mit seiner Amtszeit enden.

greifen auch in Europa um sich. Westliche Demokratien werden zunehmend durch populistische und anti-globalistische Gruppierungen auch von innen infrage gestellt. Im „Wettbewerb der Narrative“ verlieren liberale Narrative und Paradigmen scheinbar zunehmend an Einfluss.

Vom internationalen Rückzug der USA und dem entstehenden Machtvakuum profitieren besonders Russland und China. In einer G-Zero-Welt handelt jedes Land für sich selbst. Und durch den Rückzug der USA wird die innere Stabilität Europas wie Asiens gefährdet: Ohne das Gegengewicht der USA als balancer from across the sea ergäbe sich für Russland und China rein geostrategisch dort jeweils eine natürliche Vormachtstellung.

Deutsche Antwort: Transatlantisch bleiben, europäischer werden Aus den beschriebenen Veränderungen ergeben sich grundlegende Herausforderungen für die deutsche Politik. Denn Deutschland profitiert wie kaum ein anderes Land von der Globalisierung und der offenen, freien und sicheren Weltordnung, die sie möglich macht. Wie die Studie „Neue Macht, Neue Verantwortung“ von Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) und German Marshall Fund (GMF) schon 2013 feststellte, ist es deshalb das überragende strategische Interesse unseres Landes, diese Ordnung zu bewahren und weiterzuentwickeln.

Neben Fragen der Geostrategie gewinnt auch die Geoökonomie herausragende Bedeutung: Macht wird nicht nur militärisch, sondern auch stärker wirtschaftlich projiziert. Differenzen werden zunehmend durch wirtschaftliche Maßnahmen und auch im Cyber-Raum ausgetragen. Staatliche Infrastrukturfinanzierungen sind zu einem wichtigen Werkzeug der Außen- und Entwicklungspolitik geworden, durch die auch gefährliche neue Abhängigkeiten geschaffen werden können. Hier ist beispielsweise die chinesische Infrastrukturinitiative Neue Seidenstraße (One Belt, One Road) zu nennen, die bislang über 900 Projekte in über 60 Ländern umfasst. Für die traditionell auf Marktwirtschaft setzende liberale Ordnung ist die neue Form von Staatskapitalismus, in der Staatsunternehmen auch unter politisch-strategischen Gesichtspunkten agieren und investieren, eine besondere Herausforderung.

Wenn die Zeiten vorbei sind, in denen wir uns auf „andere völlig verlassen konnten“, wie Bundeskanzlerin Angela Merkel bereits im Frühjahr 2017 in Trudering feststellte – dann müssen wir als Deutsche und Europäer unser Schicksal stärker selbst in die Hand nehmen. Dabei gilt grundsätzlich, wie es auch im Koalitionsvertrag heißt: Wir wollen transatlantisch bleiben und europäischer werden. Die deutsche und europäische Strategie im Umgang mit den USA im ersten Jahr der Trump-Administration wurde von Constanze Stelzenmüller (sie leitete die oben erwähnte Studie; Anm. d. Red.) als hugging and hedging beschrieben: Einerseits also der Versuch, in den USA auch bei der neuen Administration intensiv für ein besseres Verständnis europäischer Interessen, gemeinsamer Ziele und die Verteidigung geteilter Prinzipien zu werben, andererseits aber auch Vorsorge zu treffen für den Fall einer möglichen weiteren Entfremdung des bisher wichtigsten Bündnispartners. Die Erfahrungen der letzten Monate im Umgang deuten auf die ebenso unerfreuliche wie unbequeme Erkenntnis hin, dass sich der Schwerpunkt künftig noch stärker auf die zweite Komponente des Hedging wird verlegen müssen.

»Wir sollten auf den tiefgreifenden Wandel in den Beziehungen zu den USA auch mit einer Intensivierung des transatlantischen Dialogs reagieren « Wirksamer Interessenausgleich wie die Berechenbarkeit internationaler Akteure leidet zunehmend auch darunter, dass die Gestaltungsmächte, aber auch andere Staaten in ihrer Außen-, Handels-, und Sicherheitspolitik zunehmend einer jeweils kurzfristigen innenpolitischen Logik folgen. Neue Nationalismen, autoritäre und illiberale Tendenzen

Nichtsdestotrotz sollten wir auf den tiefgreifenden Wandel in den Beziehungen zu den USA auch mit einer Intensivierung des transatlantischen

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»Es ist ein ausgesprochener Glücksfall für Deutschland, gerade mit Macron einen ebenso gleichgesinnten wie führungsstarken Partner im Élysée-Palast zu wissen.« Dialogs reagieren – und zwar nicht nur mit der Administration, sondern vor allem auch auf der Ebene der Parlamentarier und der Zivilgesellschaft in den Vereinigten Staaten, gerade auch mit Zielgruppen außerhalb der etablierten Zentren an der Ost- und Westküste. Denn trotz der Politik des gegenwärtigen Präsidenten verbinden uns mit den USA gemeinsame Werte und eine Geschichte der Freiheit und Demokratie, die bis zur deutschen Freiheitsbewegung des 19. Jahrhunderts zurückreicht. Kern einer deutschen Antwort auf die eingangs beschriebenen Herausforderungen muss aber die nachhaltige Verstärkung des europäischen Engagements sein, vor allem in engster Zusammenarbeit mit unseren französischen Partnern. Es ist dabei ein ausgesprochener Glücksfall für Deutschland, gerade zu diesem Zeitpunkt mit Emmanuel Macron einen ebenso gleichgesinnten wie führungsstarken Partner im Élysée-Palast zu wissen. Zur Entwicklung eigener Initiativen und zur Stärkung der liberalen Weltordnung benötigt Europa mehr strategische Handlungsfähigkeit. Beim Ministertreffen in Meseberg haben sich Kanzlerin Merkel und Präsident Macron auf die Prüfung der Möglichkeiten zur Einsetzung eines EU-Sicherheitsrates und für Mehrheitsentscheidungen im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik ebenso wie auf die Herausbildung einer gemeinsamen strategischen Kultur durch die Europäische Interventionsinitiative geeinigt. Auch haben Merkel und Macron bekräftigt, die Europäische Union werde „den Multilateralismus entschieden verteidigen, reformieren und stärken“. Die deutsch-französische Zusammenarbeit ist Motor und zentrale Achse der europäischen Integration. Nur gemeinsam können Deutschland und Frankreich wichtige Impulse zur Erneuerung der EU und zur Stärkung ihrer Rolle in den internationalen Beziehungen setzen.

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Aufgaben für die deutsche Politik

Deutschland und seine europäischen Partner sollten zur Stärkung der liberalen Ordnung ihre Partnerschaft und Zusammenarbeit mit gleichgesinnten Mittelmächten wie zum Beispiel Japan, Kanada und Australien, aber auch Indien, Brasilien, Argentinien oder Südkorea und Staaten-Gemeinschaften wie ASEAN, in Südamerika oder Afrika deutlich vertiefen. Ein Netzwerk von Freihandelsabkommen ebenso wie engere Zusammenarbeit im Rahmen der G7, der G20 und der Vereinten Nationen bietet hier zusätzliche strategische Gestaltungsmöglichkeiten.

Auch innenpolitisch müssen wir uns mit der Notwendigkeit höherer strategischer Handlungsfähigkeit auseinandersetzen, denn in einer sich verändernden Welt müssen wir deutsche Interessen noch klarer und konkreter definieren. Seit langem existieren Vorschläge zur Weiterentwicklung des Bundessicherheitsrats und die Entwicklung einer langfristigen nationalen Sicherheitsstrategie. Die strategische Vorausschau muss verbessert werden, eine engere Abstimmung und weniger Rivalität zwischen den zuständigen Ressorts wäre notwendig. Auch das Parlament wäre gefordert: Eine jährliche Grundsatzdebatte zur nationalen Sicherheitsstrategie und eine Reform des Parlamentsbeteiligungsgesetzes im Hinblick auf die Anforderungen einer Europäischen Verteidigungsunion wären notwendig.

»Eine jährliche Grundsatzdebatte zur nationalen Sicherheitsstrategie wäre notwendig.« Ab 2019 wird auch das deutsche Engagement bei den Vereinten Nationen noch stärker im Mittelpunkt stehen, denn im Juni 2018 wurde Deutschland mit einem hervorragenden Ergebnis für die Jahre 2019 und 2020 als nicht-ständiges Mitglied in den UN-Sicherheitsrat gewählt. 2019 werden im Sicherheitsrat fünf Länder, also ein Drittel der Mitglieder, aus Europa stammen: Eine engere Koordinierung und „Europäisierung“ ist daher ein zentrales Ziel, das wir insbesondere gemeinsam mit Frankreich intensiv verfolgen werden. Und natürlich ist ein noch engerer Dialog mit den drei Vetomächten Russland, China und USA unverzichtbar, um durch notwendige Reformen die Legitimation und Effektivität der Vereinten Nationen zu stärken.

Gleichzeitig sollten die institutionelle Aufstellung und der Ressortzuschnitt überprüft werden. So könnte ein um die Verantwortung für Außenwirtschaft und Außenhandel aufgewertetes Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung angesichts neuer Herausforderungen der Geoökonomie zum zentralen Ressort für die Koordinierung deutscher Außenwirtschaftspolitik werden. Dies würde auch den Anforderungen zur Umsetzung der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung Rechnung tragen, die richtigerweise in der Mobilisierung privater Investitionen und privaten Kapitals den entscheidenden Hebel für die Erreichung globaler Entwicklungsziele sieht.

Dr. Andreas Nick MdB ist seit 2013 direkt gewählter Abgeordneter für den Wahlkreis Montabaur in Rheinland-Pfalz. Er ist Mitglied im Auswärtigen Ausschuss und dort Berichterstatter der CDU/CSU-Fraktion unter anderem für die Beziehungen zur Türkei und zu Lateinamerika sowie zu Fragen der Vereinten Nationen und der Internationalen Ordnung.

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von Christine Hegenbart

Internetfreiheit unter Druck Ăœber Systemkonflikte in der digitalen Welt

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Das Internet als Ort grenzenloser Freiheit? Das Gegenteil ist der Fall: Laut einer aktuellen Studie nimmt die Internetfreiheit seit Jahren immer weiter ab. Vor allem autoritär geführte Regime wie China oder Russland schränken die freie Meinung im Online-Raum massiv ein. Ein kritischer Blick auf das Ausmaß internationaler Regulierungen.

„Regierungen der industriellen Welt, ihr müden Riesen aus Fleisch und Stahl, [...] Ihr seid nicht willkommen unter uns. Ihr habt keine Souveränität, wo wir uns versammeln. [...] Wir erschaffen [mit dem Cyberspace] eine Welt, die alle betreten können ohne Bevorzugung oder Vorurteil bezüglich Rasse, Wohlstand, militärischer Macht und Herkunft. Wir erschaffen eine Welt, in der jeder Einzelne an jedem Ort seine oder ihre Überzeugungen ausdrücken darf, wie individuell sie auch sind.“

eines Cyber-Raums, in dem Regierungen keine Legitimation und Macht haben, war wohl nie realistisch. Lange Zeit galt das Internet als demokratischer Heilsbringer. Doch diese Hoffnung scheint sich ins Gegenteil zu verkehren. Dabei spiegeln sich die Systemkonflikte der analogen Welt in der digitalen Welt wieder: Demokratische Staaten werben für ihre Vorstellung des „offenen und freien“ Internets, wohingegen autoritäre Staaten versuchen, ihre Vorstellung eines „geschlossenen und unfreien“ Internets durchzusetzen. Besonders deutlich wird dieser Konflikt, wenn man einen Blick auf die internationale und die nationale Regulierung des Internets wirft.

– Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace

Als Perry John Barlow, der Internet-Pionier und Mitgründer der Electronic Frontier Foundation (EEF), am 8. Februar 1996 beim Weltwirtschaftsforum in Davos die „Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace“ verkündete, war der Cyber-Raum tatsächlich noch Neuland: Das Internet stand am Anfang seiner Internationalisierung und Kommerzialisierung. Es hatte weltweit rund 36 Millionen Nutzer, die monatlich etwa eine halbe Stunde online gingen, und dabei auf weniger als eine Million Websites Zugriff hatten. Die nicht-staatlichen Organisationen, die das Internet heute koordinieren, waren gerade im Aufbau begriffen.

Internationale Regulierung des Internets Von seinem Ursprung her ist das Internet dezentral organisiert, basiert auf grenzüberschreitenden Informationsströmen und besteht aus der elek­ tronischen Verbindung von privaten Rechnernetzwerken. Das bisherige System der internationalen Regulierung, die Internet Governance, ist nach diesem Bauprinzip ausgerichtet. Statt einer zentralen, übergreifenden Struktur, wird das Internet bisher über einen Multistakeholder-Ansatz organisiert und reguliert. Internationale Vertreter von Regierungen, Unternehmen, Wissenschaft und Zivilgesellschaft beteiligen sich in nicht-staat­ lichen Organisationen und Foren daran, Normen für das Internet auszuarbeiten und umzusetzen. Allerdings haben die USA – das Land, in dem das Internet als Forschungsprojekt des US-Verteidigungsministeriums entwickelt wurde – eine Vormachtstellung inne.

»Barlows Vision eines CyberRaums, in dem Regierungen keine Legitimation und Macht haben, war wohl nie realistisch.« Heute haben über vier Milliarden Menschen Zugang zum Internet. Es gilt als wichtigste Kommunikations- und Informationsinfrastruktur, die aus privatem und beruflichem Alltag nicht mehr wegzudenken ist. Je bedeutender der von Menschen geschaffene virtuelle Raum wurde, desto mehr Einfluss sicherten sich auch Staaten. Barlows Vision

Es ist im Interesse der demokratischen Staaten, den bestehenden Multistakeholder-Ansatz der Internet Governance grundsätzlich beizubehalten und der Forderung nach einer stärkeren nationalen

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»Cyber-Angriffe können gefährlicher sein für die Stabilität von Demokratien und Unternehmen als Panzer und Gewehre.«

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großen Stil statt. Beispielsweise werden alle Seiten gelöscht, die über eine neu entdeckte, räuberische Käferart berichten, die nach dem chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping benannt wurde. Die Strafen für regierungskritische Äußerungen im Netz sind oft hart: Ein Online-Aktivist im Osten Chinas wurde zu fünf Jahren Haft verurteilt. Er hatte ein Foto von sich mit einem Plakat gepostet, das die wachsende Ungerechtigkeit in der Ein-­ Parteien-Diktatur der Kommunistischen Partei kritisiert.

Regelsetzung in der virtuellen Welt entgegenzutreten. Größerer Einfluss von Staaten würde andere Akteure von der gemeinsamen Gestaltung des Internets ausschließen. Er birgt zudem die Gefahr, dass die offene und freiheitliche Struktur des Internets geschwächt wird. Innerhalb dieses Modells sollte jedoch über eine Neuausrichtung der Internetverwaltung nachgedacht werden, die einerseits die US-Dominanz eindämmt und andererseits die berechtigten Forderungen anderer Staaten nach mehr Beteiligung berücksichtigt. Aufgrund des Systemkonflikts, der hinter dieser Reform steht, gestaltet sich die Konsenssuche jedoch als lang­ wierig und schwierig.

Auch Internetnutzer, die über private Messenger-­ Dienste die chinesische Führung kritisieren, müssen damit rechnen, mehrere Tage festgehalten zu werden. Die bisher vorhandenen Möglichkeiten der Online-Überwachung reichen der chinesischen Führung allerdings nicht aus. Derzeit läuft ein Pilotprojekt eines internetbasierten „Sozial­ kreditsystems“, welches das Verhalten der Menschen komplett kontrollierbar macht. Bis 2020 soll das Überwachungssystem flächendeckend eingeführt werden.

»Laut einer aktuellen Studie nimmt die allgemeine Internetfreiheit seit Jahren insgesamt ab.« Nationale Regulierung des Internets

China und andere autoritäre Staaten arbeiten so an ihrer Vorstellung eines „geschlossenen und unfreien“ Internets. Im Gegensatz dazu halten viele westliche, demokratisch regierte Staaten die Idee des „offenen und freien “ Internets hoch. Trotz der geheimdienstlichen Überwachung, deren Umfang durch die Enthüllungen von Edward Snowden 2013 ans Tageslicht kamen, ist in den westlichen Demokratien die Internetfreiheit wesentlich höher als in Autokratien.

Auf nationalstaatlicher Ebene regulieren demokratische und autoritäre Staaten den Zugang zu und die Verbreitung von Informationen im Internet auf verschiedene Weisen und zu unterschiedlichen Zwecken. Dies hat Auswirkungen auf die Menschen- und Freiheitsrechte. Laut der aktuellen Studie Freedom on the Net 2017 von Freedom House nimmt die allgemeine Internetfreiheit seit Jahren insgesamt ab. Am unteren Ende der Skala befinden sich ausschließlich autoritär regierte Länder wie China, Kuba, Iran, Russland, Saudi-Arabien oder Syrien.

In Deutschland leben wir, wie eine Studie von Freedom House belegt, in einem der Länder mit größter Internetfreiheit weltweit. Der Staat beschränkt nicht den Zugang zu Informations- und Kommunikationstechnik, wie beispielsweise zu Verschlüsselungsprogrammen. Persönliche Daten sind geschützt und es findet keine staatliche Zensur, etwa durch Webseitenfilter, statt.

Um ihr politisches System zu schützen, schränken diese Staaten die freie Meinungsäußerung im Internet ein, sie erschweren oder verunmöglichen den Zugang zu objektiven Informationen und verbieten verschlüsselte Messenger-Dienste sowie sichere VPN-Verbindungen. Um dies durchzusetzen, haben sie sich die notwendigen technischen Fähigkeiten angeeignet sowie die institutionellen Strukturen und rechtlichen Rahmenbedingungen geschaffen. Immer öfter gehen die Machthaber jedoch ohne gesetzliche Grundlage gegen ihre Kritiker vor.

Doch auch liberale Demokratien regulieren das Internet über Gesetze. Ein aktuelles Beispiel aus Deutschland ist das im vergangenen Jahr verabschiedete Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG), das in der Studie kritisch erwähnt wird. Es verpflichtet mitgliederstarke soziale Netzwerke dazu, strafbare Inhalte innerhalb von 24 Stunden zu löschen. Das Gesetz hat jedoch nicht, wie von vielen befürchtet, zum Untergang der Netzfreiheit in

China ist das Land mit der größten Internetunfreiheit weltweit: Dort findet Internetzensur im

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Deutschland geführt. Experten sehen auf Grundlage der im Juli 2018 veröffentlichten ersten Halbjahresberichte der Betreiber kein „Overblocking“ und somit keine Einschränkung der Meinungsfreiheit. Das Beispiel zeigt, dass auch demokratische Staaten ein gewisses Maß an Regulierung als notwendig ansehen, gerade damit das Internet offen und frei bleiben kann. Dies beschreiben Mirko Hohmann und Thorsten Benner ausfürhlich in einer aktuellen Studie des Berliner Think Tanks Global Public Policy Institute mit dem Titel „Getting ‚Free and Open’ Right“ . Wie in der realen Welt sind Gesetze und staatliche Regulierung notwendig, um Grundrechte der Bürger zu schützen. Demokratische Staaten, so die Idealvorstellung, stellen sich nicht nur in der analogen Welt, sondern auch in der digitalen schützend vor Menschen und Wirtschaft.

geführten Staaten“. Der EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker fand in der Rede zur Lage der Union im September 2017 dafür deutliche Worte: „Cyber-Angriffe können gefährlicher sein für die Stabilität von Demokratien und Unternehmen als Panzer und Gewehre.“

Diese Auffassung von gutem Regierungshandeln wird durch die Gewaltenteilung und den Parteienwettbewerb kontrolliert. Zudem debattiert die Gesellschaft darüber, welche technischen und legislativen Maßnahmen angemessen sind. Sind zum Beispiel die Vorratsdatenspeicherung, der Einsatz von Staatstrojanern oder digitale Gegenschläge notwendig und legitim? Und wenn ja, in welcher Weise?

Mehrere hunderttausend Euro lässt sich der Kreml seine Trollfabriken monatlich kosten, die russische Propaganda über das Netz verbreiten. Am drastischsten sind wohl die Versuche, Wahlen zu beeinflussen und das Vertrauen in demokratische Prozesse zu untergraben, wie bei den Präsidentschaftswahlen in den USA 2016 und in Frankreich 2017. Dabei zeigt sich: Da Demokratien sich zum offenen und freien Internet bekennen, sind sie angreifbarer gegenüber Manipulationsversuchen autoritärer Staaten. Sie können bestimmte Instrumente der Verteidigung – wie etwa Internetzensur – nicht nutzen, die gegen Einmischung von außen schützen.

So nutzt China den Cyber-Raum im großen Stil zur Informationsgewinnung: Das Land der Mitte nimmt mittels Cyber-Spionage staatliche und wirtschaftliche Ziele in westlichen Staaten in den Blick. Dies untergräbt das Vertrauen in demokratische Staaten, Daten vor fremdem Zugriff zu schützen. Auch Russland betreibt Spionage. Der Fokus des Kremls liegt jedoch darauf, die öffentliche Meinung in demokratischen Staaten in seinem Sinne zu beeinflussen. Denn auch falsche Informationen verbreiten sich schnell.

Um nicht mit autoritären Regierungen in einen Topf geworfen zu werden, müssen die demokratischen Staaten ein Leitbild, ein eigenes Selbstverständnis, für die demokratische Regulierung von Inhalten entwickeln. Aus diesem muss klar hervorgehen, dass auch in der digitalen Welt eine freie und offene Gesellschaft von Regeln abhängig ist, die die Freiheit und Sicherheit der Bürger gewährleistet.

Angesichts dessen müssen wir verhindern, dass die Waagschale sich zugunsten autoritärer Systemvorstellungen neigt. Es sind neue Strategien notwendig, um derartige Manipulationen und Einflussnahmen erfolgreich zu begegnen – allerdings ohne uns von unseren eigenen Werte abzuwenden. Auf internationaler Ebene ist es notwendig, den Multistakeholder-Ansatz zu verteidigen und die Good Governance zu stärken – mit langem Atem und trotz der hohen Hürden. Auf nationaler Ebene müssen wir die Standards, die wir an die Regulierung des Internets anlegen, deutlich von denen der nicht-demokratischen Staaten abgrenzen.

Weniger Regulierung schafft mehr Freiheit – aber macht angreifbar Die heutige Realität im Cyber-Raum bildet einen krassen Kontrast zur Unabhängigkeitserklärung von Barlow, in der er den Cyberspace als „ganz unabhängig von der Tyrannei“ von staatlicher Intervention beschreibt. Seine Vision, in der Staaten keine Macht im Cyber-Raum besitzen, hat sich als Illusion erwiesen.

Damit diese Bemühungen erfolgreich sind, müssen Staaten, Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft weltweit zusammenarbeiten. Nur so wird das offene und freie Internet das demokratische Ideal bleiben und kein Auslaufmodell werden.

Der Demokratieforscher Christopher Walker sieht im Internetzeitalter eine „neue Epoche des Wettbewerbs zwischen autokratisch und demokratisch

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»Mehrere hunderttausend Euro lässt sich der Kreml seine Trollfabriken monatlich kosten.«

Dr. Christine Hegenbart ist Expertin für Außen- und Sicherheitspolitik und beschäftigt sich seit fast zehn Jahren mit den Herausforderungen des Cyber-Raums. Sie arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Büro eines Bundestags­abgeordneten und ist Mitglied der Redaktion von CIVIS mit Sonde.

Der Text gibt die persönliche Meinung der Autorin wieder.

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Basketballplatz im Berliner Mauerpark, dem ehemaligen Mauerstreifen zwischen den Stadtteilen Prenzlauer Berg und Wedding

Aus eigener Feder CIVIS & SONDE 02 — 2018



Raus aus der Defensive Der „Welt aus den Fugen“-Rhetorik ein Ende setzen – ein Beitrag der Redaktion von CIVIS mit Sonde

Immer wieder stellen uns internationale Krisen vor große Heraus­forderungen, das Ende der liberalen Weltordnung scheint gekommen. Jetzt gilt es, nicht zu verzagen. Mit Mut und Entschlossenheit müssen wir die liberalen Ordnungsprinzipien vertreten. Vier Wegmarken zu einem vorwärtsgewandten Engagement Deutschlands in der Welt. Die Welt ist aus den Fugen geraten – mit jener Feststellung beginnen dieser Tage die meisten außenpolitischen Grundsatzreden und nicht wenige weltpolitische Sachbücher. Die These findet ein breites Publikum. Sie kann schließlich kaum in Frage gestellt werden. Die Finanz- und Wirtschaftskrise, der Brexit, die Entfremdung der USA von vielen einstigen Partnern, zudem die als gescheitert bewerteten Interventionen der vergangenen Jahrzehnte in Afghanistan, im Irak, in Libyen. Hinzu kommen der Klimawandel, weltweite Armut, Pandemien und Menschenrechtsverletzungen. Die Liste an globalen Krisen und Problemen ließe sich beliebig fortführen.

die Symptome, ihre Entwicklung ist tiefgründiger. Und so bezeichnet das „aus den Fugen“ nicht nur eine Welt, die sich kontinuierlich – mal schneller, mal langsamer – verändert. Vielmehr hat es einen Bruch gegeben. Die alte Ordnung ist erodiert, und noch gibt es kein neues Ordnungsmodell. Das spürt man auch bei uns. Die deutsche Eigenverortung in der Welt fällt plötzlich schwerer. Nachhaltig werden gewachsene Erwartungen enttäuscht: Wir merken, dass wir nicht mehr gegen die Auswirkungen internationaler Krisen immun sind. Wir werden Zeuge, wie auf europäischem Boden neue Grenzen gezogen werden. Und wir beobachten, wie Handelskonflikte unsere wirtschaftliche Stärke gefährden.

Aus deutscher Sicht wiegen vor allem die durch Staatszerfälle im Nahen und Mittleren Osten ausgelösten Flüchtlingsbewegungen, das völkerrechtswidrige Handeln Russlands auf der Krim und in der Ostukraine, die Uneinigkeiten innerhalb der Europäischen Union und der Austritt Großbritanniens aus der EU, sowie die Zerwürfnisse in der transatlantischen Partnerschaft schwer.

Dies mag zu dem Schluss führen, dass die Besinnung auf uns selbst uns am besten schützt. Sieht man die bestehenden innenpolitischen Herausforderungen, gibt es durchaus gute Gründe dafür, sich zunächst auf deren Bewältigung zu konzentrieren. Doch mit den inneren Herausforderungen im Vordergrund müssen auch die äußeren Entwicklungen am Horizont im Blick behalten werden. Dafür sind vier Wegmarken entscheidend:

Bei all dem handelt es sich nicht ausschließlich um eine Häufung von Einzelproblemen. Sie bilden nur

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Nachdrücklich auftreten. Deutschland muss eigene ordnungspolitische Ideen offensiv vertreten. Es wird nicht ausreichen, den ordnungs- und geopolitischen Entwürfen globaler Akteure bloß mit Stückwerk und rein moderierend entgegenzutreten. Insbesondere China möchte sich als ökonomische und rechtsstiftende Supermacht etablieren. Das setzt aus chinesischer Sicht zunächst voraus, die westliche Prägung des Ordnungssystems zu durchbrechen. Multipolarität ist dabei eine Durchgangsstation zu chinesischer Dominanz. Westliche Konzepte und Werte werden in scheinbarer Kooperationsbereitschaft aufgegriffen. Das Land sammelt dafür kontinuierlich Verbündete. Erst jüngst haben sich die BRICS-Staaten zu regelbasierter Ordnung und Multipolarität bekannt. Tatsächlich vertritt China jedoch im Hinblick auf Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte gänzlich andere Konzepte. Das Land hofft, dass die aus ihrer Sicht westlichen Konzepte in den Mühlen der Multipolarität zermahlen werden, um sie anschließend endgültig zu kapern und umzuwidmen. Es sollte Deutschland und seinen Partnern nicht darum gehen, diesen Prozess zu bekämpfen. Dennoch muss man ihn verstehen, um die eigenen Positionen wirksam vertreten zu können. Deswegen muss auch die eigene Herangehensweise geprüft werden. Deutschland betreibt an vielen Stellen Realpolitik.

Erkennen. Die Analyse der ordnungspolitischen Unsicherheit fällt verhältnismäßig leicht. Nicht durchgesetzt hat sich in weiten Teilen der deutschen Bevölkerung bisher eine andere Erkenntnis: Dass nur wenige Länder in gleicher Weise von der bisherigen Ordnung so profitiert haben wie Deutschland. Wir sind Exportweltmeister, in Frieden geeint, von Freunden umgeben. Aus deutscher Sicht wäre ein Festhalten an dieser Ordnung nur wünschenswert. Im Umkehrschluss heißt das aber auch: Sobald jene Ordnung nicht mehr funktioniert oder aber schon gar nicht mehr existiert, müssen wir uns – im eigenen Interesse – für eine neue Ordnung einsetzen. Mut fassen. Allein aufgrund der oben genannten Konflikte könnte man leicht in Alarmismus verfallen. Das ist jedoch weder begründet noch vernünftig. Insgesamt leben wir in Deutschland schließlich immer noch in Frieden und Wohlstand. Damit es so bleibt, brauchen wir eine vorwärtsgewandte Haltung gegenüber weltpolitischen Herausforderungen. Dabei soll es sich nicht nur um Zweckoptimismus handeln. Denn allzu leicht übersehen wir die vielen positiven Entwicklungen weltweit: gestiegene Einkommensverhältnisse, bessere Gesundheitsversorgung, stärkere Verbreitung der Demokratie sowie eine gesunkene Kindersterblichkeitsrate. Darüber hinaus ist es stets leichter das Geschehene skeptisch zu beurteilen, als über die vielen möglichen Krisen nachzudenken, die – der funktionierenden Normen und Institutionen sei Dank – verhindert werden konnten.

Wir müssen ehrlicher zu uns selbst sein: Menschenrechtsverstöße von Partnern, Waffenexporte in Krisengebiete, Völkerrechtsverstöße von Verbündeten – vieles ist mit unseren inneren Auffassungen schwer vereinbar. Realpolitik mag im Hinblick auf begrenzte Ressourcen und nötige Allianzen erforderlich sein, um kurzfristige Erfolge zu erzielen. Gleichzeitig müssen wir mit neuem Elan klarstellen, was langfristig unsere eigentlichen Werte und Ziele sind.

Partner finden. Die Europäische Union als supranationaler Verbund besitzt weltweit den größten ordnungspolitischen Erfahrungsschatz. Diesen wirksam in die ganze Welt ausstrahlen zu können, setzt Gewissheit über den gemeinsamen Wertekanon voraus. Es ist misslich, dass dieser Kanon just in gegenwärtigen Zeiten umstrittener denn je ist. Dennoch: Auch außerhalb der EU gibt es vehemente Ordnungspolitiker, etwa in Kanada oder Japan. Eine Vertiefung der Kooperationen mit diesen Staaten – ob wirtschaftlich oder politisch – wird sich langfristig für uns auszahlen. Dass die EU gerade mit diesen beiden Staaten umfassende Wirtschafts- und Handelsabkommen aushandeln konnte, ist eine gute Basis für weitere Zusammenarbeit.

Diese differenzierte und zugleich kraftvolle Rhetorik muss Deutschland gegenüber der eigenen Bevölkerung wie auf der internationalen Bühne bedienen. Die Schwierigkeit dieser Zweigleisigkeit wird kommunikativer Innovationen in der Diplomatie bedürfen. Die häufig eingenommene Vermittlerrolle steht klaren deutschen Positionierungen manchmal im Weg. Deutschland sollte gegenüber bestimmten Antagonisten zukünftig mit größerer Nachdrücklichkeit auftreten.

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von Christian E. Rieck

Der Westen wird abgehängt – das gilt jedenfalls nicht für den Wettbewerb und den Austausch in der globalen Wissenschaft. Hier sind die westlichen Ideale, insbesondere die Freiheit der Wissenschaften, ein Erfolgsrezept. Und sie entfalten Anziehungskraft und Kooperationspotentiale über den Westen hinaus.

Es ist leichtfertig, im Angesicht wachsender Unübersichtlichkeit in der Welt vom Untergang des Abendlandes zu sprechen. Überall wittert die Außen- und Sicherheitspolitik neue Gefahren und neue Herausforderer, denen der Westen nicht oder nicht mehr gewachsen scheint. Die Welt scheint aus den Fugen, so das allgegenwärtige Narrativ. Dieser „déclinisme occidental“ ist die Kehrseite der westlichen Fähigkeit zur Selbstreflexion, die zwar lernfähig macht – aber oft auch grüblerisch und zaghaft.

von verschiedenen Akteuren in Finanzierung, Forschung, Lehre und Entwicklung beteiligt ist. Zentren der Wissensproduktion sind dabei zunächst einmal die Universitäten, die heute selbst zu globalen Orten geworden sind. Forschung findet jedoch nicht nur in Oxford oder Harvard, sondern dezentral an vielen anderen Wissenschaftsorten statt – seien es außeruniversitäre Forschungseinrichtungen oder die Industrieforschung. Deshalb muss die Internationalisierung auch diese Akteure mitdenken: Durch Cluster-Bildung werden die verschiedenen Akteure an einem Standort vernetzt und die Arbeitsteilung und die Spezialisierung befördert. Dass dieses Instrument der Innovations- und Strukturpolitik auch über eine Internationalisierung wirkt, beweisen neuere Auslandsgründungen der Max-Planck-Gesellschaft in Florida und der Fraunhofer-Gesellschaft im Silicon Valley, die die deutsche Wissenschaft nicht nur in diesen Innovationsregionen verankern, sondern so auch die Technologieförderung daheim in Deutschland unterstützen sollen.

Vergessen werden dabei häufig die Stärken des Westens, die in seinen dynamischen, kreativen und liberalen Gesellschaften gespeichert sind. Die westliche Wissenschaft lebt von dieser Offenheit – und sie wird auf absehbare Zeit in der globalen Wissensproduktion der größte und produktionsstärkste Knoten bleiben. In der Wissenschaftskooperation und dem Wissenschaftleraustausch ist die freiheitliche Idee des Westens quicklebendig. Vier Thesen zur Zukunft der westlichen Wissenschaft in der Welt: Globale Wissenschaft braucht mehr als nur globale Universitäten

Darüber hinaus kann über den Wissenschaftleraustausch Know-how schneller und nachhaltiger globalisiert werden als über die Strukturen im wissenschaftlichen Publikationswesen. Exzellente Forscher gibt es nämlich auch an kleinen Standorten ohne große internationale Ausstrahlung. Folge-

Wissenschaft ist heute ein System global vernetzter Wissensströme, das über Grenzen hinweg arbeitsteilig organisiert und an dem eine Vielzahl

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Im Westen was Neues Globale Wissenschaft vernetzt nicht nur den Westen, sondern auch neue Partner

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Sozialwissenschaften. Doch das muss nicht so bleiben: In Istanbul steht die erste deutsche Volluniversität im Ausland.

richtig ist der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) mittlerweile zur weltweit größten Austauschorganisation im Wissenschaftsbereich avanciert.

Es geht der Außenwissenschaftspolitik also um die Vernetzung innerhalb des Westens sowie mit dem Westen, mit neuen Partnern an der Peripherie des Westens (zum Beispiel in Chile oder Brasilien) – sowie mit neuen Zentren der Wissensproduktion in aufstrebenden Weltregionen (insbesondere in China). Vernetzung, vor allem wenn sie institutionell verstanden wird, also als langfristige und auf gegenseitigen Nutzen angelegte Verbindung zwischen verschiedenen Orten der Wissensproduktion, ist zugleich Infrastrukturförderung und Standortpolitik – und zwar im Ausland wie auch hier in Deutschland.

Außenwissenschaftspolitik wird zu einem strategischen Feld deutscher Außenpolitik Wissenschaftspolitik wird schon lange nicht mehr nur national verstanden, sondern gezielt als „strategische Internationalisierungspolitik“. Schon im Jahr 2008 hat die Bundesregierung ihre Bemühungen zur globalen Vernetzung der deutschen Wissenschaft in ihrer ersten Internationalisierungsstrategie gebündelt. Spätestens damit ist Außenwissenschaftspolitik ein strategisches Feld deutscher Außenpolitik geworden.

Globale Wissenschaft bleibt zutiefst westlich geprägt

Sie ist weit mehr als nur reine Wissenschaftsdiplomatie, also der Einsatz von Instrumenten der Wissenschaftskooperation zur Erreichung außenpolitischer Ziele: Indem sie in Entwicklungs- und Schwellenländern durch Forschungsförderung und Wissenschaftleraustausch dabei hilft, die dortigen Wissenschaftsstrukturen zu professionalisieren und sie an die globalen Wissensströme anzuschließen, leistet sie auch einen genuin entwicklungspolitischen Beitrag. Das geschieht zum Beispiel bei den „Grünen Innovationszentren“ in der Agrarund Ernährungswirtschaft, die die Bundesrepublik in 14 Partnerstaaten in Subsahara-Afrika finanziell unterstützt.

Globale Wissenschaft lebt von internationaler Vernetzung. Für den Wissenschafts- und Produktionsstandort nimmt die Bedeutung eines wettbewerbsfähigen Wissenschaftssystems weiter zu. Ein Grund ist der steigende Technologiegehalt unserer Volkswirtschaften, der eine stärkere Verzahnung zwischen Wissenschaft und Anwendung verlangt. Ein weiterer Grund ist die zunehmende Interdisziplinarität in der Wissenschaft selbst, die kosten- und personalintensiv ist und daher auf viele Schultern im globalen Wissenschaftssystem verteilt werden muss. Dieses System baut auf die Initiative des Einzelnen, auf Entscheidungsfreiheit und „marktwirtschaftliches“ Denken (wenngleich ohne Preisbildung). Freiheit als Voraussetzung für wissenschaftlichen Erfolg ist ein zutiefst westliches Prinzip. Nicht umsonst ist die Innovationsfähigkeit in freien Wissenschaftssystemen weit höher als in Wissenschaftssystemen, die zwar wie in Saudi-Arabien oder China finanziell gut ausgestattet sein mögen, doch über keine Kultur der angstfreien kritischen Reflexion verfügen.

»Freiheit ist die Voraussetzung für wissenschaftlichen Erfolg.« Bei alledem kommt den deutschen Auslandshochschulen eine zentrale Rolle als Schaufenster und Kooperationsknoten der deutschen Wissenschaft zu, die eine strategische Partnerschaft mit Schwellenländern ausgestalten helfen können, indem sie Kooperation und Freiheit in der Wissenschaft vorleben. In Vietnam, Ägypten und den Vereinigten Arabischen Emiraten bestehen bereits vollwertige Auslandshochschulen, die in Kooperation mit einer Partnerhochschule in Deutschland Forschung, Studium und Lehre nach deutschen Vorgaben ermöglichen. Noch ist das Interesse in diesen aufstrebenden Mächten an technischen und ingenieurwissenschaftlichen Fächern größer als an den potentiell regimekritischen Geistes- und

Auch wenn die strategische Internationalisierung wegen ihres Werts für die Wertschöpfung und der hohen Kosten für deren Ausstattung derzeit vor allem in den MINT-Fächern mit großen Schritten voranschreitet: Auch in den Kultur-, Geistes- und Sozialwissenschaften ist Internationalisierung selbstverständlich. Die ersten Auslandsinstitute der deutschen Wissenschaft waren Institute in den Geschichtswissenschaften, der Archäologie und

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»In der globalen Wissenschaft gibt es kaum Gegenmachtbildung zur westlichen Dominanz.« Wissenschaftsfreiheit – in liberalen Demokratien ebenso wie unter illiberalen Regimen.

der Kunstgeschichte. Schon damals waren sie Mittlerorganisationen, die eine diplomatische Funktion erfüllten. Diese Institute sollten seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert jedoch auch die Grundlagen unserer westlichen Kultur in Italien, Griechenland und Kleinasien ergründen. Eine Selbstversicherung des Westens sozusagen.

Spannend ist hierbei, dass es in der globalen Wissenschaft kaum Gegenmachtbildung zur westlichen Dominanz gibt. Das Gegenteil ist der Fall: Nichtwestliche Akteure bemühen sich um Zugang zu den Netzwerken globaler Wissensproduktion und werden umgekehrt immer stärker zu tragenden Säulen dieses dynamischen Verbunds. Die Einbindung neuer Akteure in die globale Wissenschaft hat bisher also neue Stakeholder für die Wissenschaft geschaffen und keine neuen Gegner.

Der Nichtwesten muss gleichberechtigter Teil der globalen Wissenschaft werden Spezifisch für das Politikfeld der globalen Wissenschaftskooperation ist nicht nur der Grad an internationaler Arbeitsteilung, sondern auch der kollaborative Charakter der Wissensgenerierung, bei dem die Herkunft seiner Schöpfer oder der Standort ihrer Hochschule immer weniger eine Rolle spielt. Es ist dieser Kosmopolitismus, jene Offenheit für neue Akteure und deren Ideen, die dieses Politikfeld auszeichnet.

All diese Entwicklungen nutzen dem deutschen Wissenschaftsstandort ebenso wie dem Ansehen der Bundesrepublik in der Welt als global vernetzte Mittelmacht, die sich der liberalen Weltordnung verschrieben hat. Die Freiheit der Wissenschaft ist dabei ein kostbares Gut, das wir im Inland vehement gegen kurzsichtige Spar- und Sachzwänge in der Forschungsförderung verteidigen müssen, um weiter exzellente Wissenschaft zu produzieren. Nur dann kann die Attraktivität der westlichen Wissenschaftssysteme den Nichtwesten anreizen, ebenfalls den Weg der Innovationsförderung durch Internationalisierung zu beschreiten.

Exzellenzzentren in ganz Deutschland, die ihre Personalpolitik gezielt international gestalten, sind Sinnbilder für diesen kooperativen Geist, ebenso bilaterale Institute oder Forschergruppen deutscher Wissenschaftsorganisationen in aufstrebenden Demokratien wie Indien, Argentinien oder Brasilien.

Wir sollten diesen Weg beherzt weitergehen, nicht zuletzt weil die Kooperationslogik der globalen Wissenschaft unsere Angst vor der Multipolarität wenn nicht gänzlich zu überwinden, so doch zu dämpfen vermag.

Dem Staat als Förderer der Wissenschaft kommt hier eine zentrale Rolle zu, als Steuerer dieser strategischen Internationalisierung, aber auch als Ermöglicher globaler Forschung und als Garant der

Christian E. Rieck ist Senior Analyst für Regionalmächte und Regionalintegration am Global Governance Institute in Brüssel und lehrt Zeitgeschichte und Internationale Beziehungen an der Universität Potsdam sowie an der HU Berlin. Für das Auswärtige Amt verfasste er eine Studie zur Zukunft der Außenwissenschaftspolitik.

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Jedes Leben zählt Globale Gesundheit in einer globalisierten Welt muss mÜglich sein

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von Andrew J. Ullmann

Von der Forschung vernachlässigte Tropenkrankheiten sind Bremser für wirtschaftliches Wachstum und Prosperität – gerade in Entwicklungsländern. Medizinische Entwicklungshilfe ist indirekte Weltwirtschaftspolitik. Ein Beitrag über globale Gesundheit und vernachlässigte Tropenkrankheiten. sind von den vernachlässigten Tropenkrankheiten bedroht. Tausende sterben jährlich daran, obwohl es bereits möglich ist, viele der Krankheiten durch gezielte Behandlungsprogramme und Forschungsvorhaben zu bekämpfen und auf lange Sicht sogar auszurotten. Vernachlässigte Tropenkrankheiten verhindern Wohlstand, wirtschaftliches Wachstum und höhere Lebenserwartungen. In einer Weltwirtschaft, in der nicht Grenzen, sondern die weltweite Kooperation die Zukunft ist, betreffen die vernachlässigten Tropenkrankheiten uns alle. Ihre Auslöschung kann ein Wachstumsbeschleuniger sein, ihr weiträumiges Fortbestehen ist wie ein nicht geräumtes Minenfeld.

Die Geschichte beginnt mit einem Mückenstich. Fadenwürmer (Brugia malayi, Wucheria bancrofti) gelangen in den Organismus und siedeln sich in den Lymphgefäßen und -knoten des Menschen an. Leichte Rötungen und Schwellungen an Armen und Beinen bis hin zu starken Fieberschüben folgen. Ohne Behandlung kommt es durch den gestörten Lymphabfluss zu massiven Schwellungen an den Beinen und Genitalien. Die Betroffenen leiden unter großen Schmerzen und der sichtbaren Entstellung, werden stigmatisiert und ausgegrenzt. Eine vollständige Heilung ist zu diesem Zeitpunkt nicht mehr möglich.

»Rund zwei Milliarden Menschen sind von den vernachlässigten Tropenkrankheiten bedroht.«

Baustein für universelle Gesundheit Vor rund 40 Jahren wurde im Zuge der Konferenz zur primären Gesundheitsversorgung in Alma- Ata das ambitionierte Ziel gesetzt: Gesundheit für alle, für jeden einzelnen Menschen bis zum Jahr 2000. Diese Mission wurde mit der Millenniumserklärung der Vereinten Nationen und den daraus abgeleiteten nachhaltigen Entwicklungszielen im Jahr 2015, in denen die Gesundheit eine zentrale Rolle spielt, fortgeführt. Erstmals wurden konkrete Schritte und Vorgaben formuliert. So soll bis 2030 jeder Mensch ohne finanzielles Risiko Zugang zu einer qualitativ hochwertigen Gesundheitsversorgung haben.

Es handelt sich hierbei um Elephantiasis tropica, eine von 20 vernachlässigten Tropenkrankheiten, die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) prioritär gelistet werden. Vor allem dort, wo Armut, mangelnde Hygiene und ein schwaches Gesundheitssystem vorherrschen, führen diese Krankheiten, die eigentlich gut zu behandeln sind, oft zu schweren Einschränkungen, Behinderungen oder sogar zum Tod. Rund zwei Milliarden Menschen

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»Vernachlässigte Tropenkrankheiten verhindern Wohlstand, wirtschaftliches Wachstum und höhere Lebenserwartungen.«

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der Erfolg ist noch keineswegs sicher. Die letzten Meter sind bekanntlich die schwersten. In der Vergangenheit haben wir zu oft die bittere Erfahrung gemacht, dass am Ende der Kampf gegen eine Krankheit Opfer seines eigenen Erfolgs wird. Je seltener nämlich ein Leiden auftritt, desto weniger wird es als Problem in der Öffentlichkeit wahrgenommen. Folglich schrumpfen Interesse und Unterstützung der Geldgeber.

Bei der Realisierung dieses Ziels spielt die Bekämpfung der vernachlässigten Tropenkrankheiten eine entscheidende Rolle. Sie trägt zur nachhaltigen Stärkung der Gesundheitssysteme dutzender Länder bei, fördert deren wirtschaftlichen Fortschritt und bildet somit einen integralen Baustein für eine universelle Gesundheitsversorgung. Dementsprechend widmete die internationale Gemeinschaft dem Thema nach und nach mehr Aufmerksamkeit. Meilensteine des gemeinsamen Engagements sind die WHO Roadmap zu vernachlässigten Tropenkrankheiten sowie die Londoner Deklaration 2012, in der sich die Unterzeichner das Ziel setzten, zehn der vernachlässigten Tropenkrankheiten einzudämmen.

Herausforderungen Die derzeitige Periode der politischen Unsicherheit und der drohenden politischen Abschottung stellt eine neue Herausforderung für den Kampf gegen die vernachlässigten Tropenkrankheiten dar. Seit langem sind die USA die wichtigsten Geldgeber für globale Gesundheitsprogramme. Laut OECD investierten die Vereinigten Staaten mit 8,6 Milliarden Dollar im Jahr 2015 weltweit am meisten in gesundheitsbezogene Entwicklungshilfe. Auch was die Förderung von Forschung und Entwicklung im Bereich armutsbedingter und vernachlässigter Krankheiten anbelangt, sind sie laut G-Finder Bericht 2017 absolute Spitzenreiter.

»Mit Präsident Donald Trump werden die Regeln neu geschrieben.« Ein Happy End in Aussicht? Politischer Einsatz der internationalen Gemeinschaft, das koordinierte Engagement auf multilateraler und bilateraler Ebene, Medikamentenspenden von Pharmaunternehmen, die Unterstützung der Zivilgesellschaft und die Systemstärkung der ärmsten Ländern führten in den vergangenen Jahren zu großen Fortschritten im Kampf gegen die vernachlässigten Tropenkrankheiten. Laut Angaben der WHO erhalten jährlich rund eine Milliarde Menschen eine präventive Behandlung gegen vernachlässigte Tropenkrankheit unter höchster Kosteneffizienz (0,1-0,5 USD pro Person jährlich). So wurden 560 Millionen Menschen im Jahr 2015 vorbeugend gegen Elephantiasis tropica behandelt. Bei der Schlafkrankheit konnte ein Rückgang von 68 Prozent der Fälle, von 6.747 Erkrankungen im Jahr 2011 auf 2.184 Fälle im Jahr 2016 verzeichnet werden. Die Guinea-Wurmkrankheit steht unmittelbar vor der Ausrottung. Von 1.060 Fällen im Jahr 2011 wurde die Erkrankung auf 26 im Jahr 2017 reduziert, das entspricht einer Abnahme von 98 Prozent. Die WHO bestätigt ebenfalls positive Entwicklungen im Kampf gegen Trachom und Flussblindheit. Sie konnte in vielen Ländern als öffentliches Gesundheitsproblem beseitigt werden.

Aber mit Präsident Donald Trump werden die Regeln neu geschrieben. Die Verlässlichkeit der USA gerät ins Wanken und Zweifel an den Versprechen des Partners machen sich breit. Umso mehr stehen andere Staaten in der Pflicht, sich zu engagieren und Verantwortung zu übernehmen. In diesem Moment blickt die Welt hoffnungsvoll auf Deutschland, das sich im Zuge der G7 und G20 Präsidentschaft das Thema globale Gesundheit auf die Fahne schrieb und vom ehemaligen Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe zum „Markenzeichen der internationalen Verantwortung“ erklärt wurde. Auch im aktuellen Koalitionsvertrag finden sich globale Gesundheit und vernachlässigte, armutsassoziierte Krankheiten wieder. Demnach soll eine Strategie erarbeitet, Gesundheitssysteme in Entwicklungsländern unterstützt, internationale Partnerschaften erweitert und die WHO gestärkt werden. Außerdem soll in öffentliche Forschung investiert werden, um vor allem vernachlässigte, armutsassoziierte Krankheiten zu bekämpfen. Aber was steckt dahinter? In der Vergangenheit glänzte Deutschland zwar mit großen Ankündigungen, aber es mangelte an engagierter Umsetzung. Die Ausgaben für gesundheits-

Wir haben jetzt die Chance, viele der vernachlässigten Tropenkrankheiten auszurotten. Doch so bedeutsam diese Fortschritte auch sein mögen,

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der vernachlässigten Tropenkrankheiten zufolge, sind die Aktivitäten im internationalen Vergleich unterrepräsentiert und heterogen. Zwar gibt es viel biomedizinische Grundlagenforschung, aber bei der transnationalen Forschung und Entwicklung zur Kontrolle und Behandlung besteht laut Experten Verbesserungsbedarf.

bezogene Entwicklungshilfe laut der vom Deutschen Netzwerk für Tropenkrankheit in Auftrag gegebenen Studie zur integrierten Umsetzung der Bekämpfung der vernachlässigten Tropenkrankheiten-Potenziale Deutschlands sind zwar seit 2005 um 94 Prozent auf 1,1 Milliarden Dollar gestiegen, liegen aber immer noch weit hinter den der USA (Anstieg von 136 Prozent auf 8,6 Milliarden) und Großbritannien (Anstieg von 136 Prozent, auf 2,8 Milliarden Dollar). Deutschland muss endlich das WHO Finanzierungsziel von 0,1 Prozent des Bruttonationaleinkommens für Entwicklungshilfe im Gesundheitssektor sowie die Empfehlung der Vereinten Nationen von 0,7 Prozent des Brutto­ nationaleinkommens für öffentliche Entwicklungszusammenarbeit (ODA) ernsthaft verfolgen. Während 2016 die 0,7 Prozent Vorgabe zum ersten Mal erreicht wurde, sank die ODA-Quote 2017 auf 0,66 Prozent.

Fazit Wenn wir das visionäre Ziel „Gesundheit für alle“ von Alma Ata ernst nehmen, dann müssen wir damit beginnen, unser Engagement zur Ausrottung der vernachlässigten Tropenkrankheiten zu verstärken. Dabei sind sektorenübergreifende Partnerschaften zwischen multilateralen Organisation, der Wissenschaft, Pharmaindustrie und Zivilgesellschaft unerlässlich. Mehr Gelder müssen zur Verfügung gestellt werden, um Medikamente zu entwickeln, Therapie, Diagnostik und Prävention zu verbessern, existierende Behandlungsmöglichkeiten erfolgreich umzusetzen, Continuum of Care zu erreichen sowie lokale Kapazitäten in den Entwicklungsländern zu stärken. Das führt zu besseren Lebensbedingungen und mehr Gesundheit vor Ort und davon profitieren wir in einer globalisierten Welt alle.

Der Trend setzt sich fort. Zwar steigt im aktuellen Haushalt das Etat des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung um mehr als 10 Prozent auf 9,4 Milliarden Euro, die ODA-Quote aber bleibt auf 0,5 Prozent und droht laut Haushaltsentwurf 2019 und Finanzplan 2022 sogar auf 0,48 Prozent zu fallen. Obwohl die Bundesregierung sich im Koalitionsvertrag das Erreichen einer ODA-Quote nach UN-Empfehlung zum Ziel gesetzt hat, kommt Deutschland seiner internationalen Verantwortung als größte europäische Wirtschaftskraft nicht nach.

Für all dies sind die globalen Finanzmittel immer noch nicht ausreichend. So werden laut Weltbank durchschnittlich nur 0,6 Prozent der globalen Gesundheitsausgaben für den Kampf gegen vernachlässigte Tropenkrankheiten eingesetzt, obwohl eine Milliarde Menschen davon betroffen ist.

Die Investitionen für die Bekämpfung globaler Gesundheitsprobleme vor allem im Bereich der vernachlässigten und armutsassoziierten Krankheiten müssen ebenfalls dringend erhöht werden, das verdeutlichten die Ergebnisse des G-Finder-Berichts 2017. Die auf das Bruttoinlandsprodukt bezogenen Ausgaben Deutschlands fallen im Ländervergleich bescheiden aus und liegen weit hinter den Anstrengungen von Großbritannien, Schweden, Niederlande und Frankreich. Hier müssen wir als verantwortungsvoller Staat und als Gesellschaft aufholen, das finanzielle Engagement steigern und dabei darauf achten, dass die Aufwendungen nicht zur Daueralimentation führen, sondern Hilfe zur Selbsthilfe sind.

Auch Deutschland muss sich seiner Verantwortung stellen und mehr Investitionen in medizinische Entwicklungshilfe tätigen sowie Forschungsaktivitäten im Feld der globalen Gesundheit stärken. Bei der Schließung von Forschungslücken kann der Ausbau von interdisziplinären Netzwerken eine entscheidende Rolle spielen und sollte europaweit im Rahmen der deutschen EU- Ratspräsidentschaft vorangetrieben werden. Auf gesellschaftlicher Ebene braucht es eine bessere Vermittlung von globalen Zusammenhängen, um das Bewusstsein zu stärken, das angesichts der vernetzten Welt kein Staat mehr isoliert ist. Das Verständnis dafür, dass der Aufbau von Gesundheitsstrukturen anderer Länder, in unserem eigenen Interesse liegt, muss vermittelt werden. Denn eines steht fest: Die Gesundheit jedes Einzelnen ist relevant für die Gesundheit aller anderen.

Auch in der deutschen Forschungslandschaft gibt es Nachholbedarf. Der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung in Auftrag gegebenen Studie zur aktuellen deutschen Forschung im Bereich

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»Die Gesundheit jedes Einzelnen ist relevant für die Gesundheit aller anderen.«

Prof. Dr. Andrew J. Ullmann wurde 1963 in Los Angeles geboren. Er ist Universitätsprofessor für Infektiologie an der Uni Würzburg und seit September 2017 Bundestagsabgeordneter für die FDP. Der Autor ist verheiratet und Vater zweier Kinder.

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von Andrea Rotter

Tweets machen noch keine AuĂ&#x;enpolitik! Die EU muss der Politik Ă la Trump die Stirn bieten

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Ist Trump der Totengräber der liberalen Weltordnung, wie allgemein behauptet wird? Oder sind die Probleme auch anderswo zu verorten? Eine kritische Analyse der Krise, angesichts derer wir trotz aller Schwierigkeiten nicht kapitulieren sollten.

Nationalen Sicherheitsstrategie auf die Rückkehr der Großmachtrivalität ein. Neu an der gegenwärtigen Debatte ist, dass die liberale Weltordnung unter Trumps America First ihren mächtigsten Schirmherrn verlieren könnte.

„Liberale Weltordnung – sie ruhe in Frieden“, titelt Richard Haass, Präsident des Council on Foreign Relations dieses Frühjahr. Gemeint ist das Ende des internationalen Systems, das die USA nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges etabliert und seither gefördert haben. Diesem Ordnungsmodell liegt ein regelbasiertes Miteinander souveräner Staaten zugrunde, die sich liberalen demokratischen Normen verschreiben und im Rahmen von internationalen Institutionen zur Friedenssicherung (UNO), zur Förderung des Freihandels (WTO) und in sicherheitspolitischen Fragen kooperieren.

Solche Nachrufe sind verfrüht und zu undifferenziert. Die Lage ist ernst, doch zusammengebrochen ist die liberale Weltordnung noch nicht. Der Austritt der USA aus der Transpazifischen Partnerschaft (TPP), die Strafzölle auf Aluminium und Stahl sowie die WTO-kritische Haltung der Administration haben dem internationalen Freihandel schwer zugesetzt. Betrachtet man hingegen die transatlantische Sicherheitskooperation, eine weitere Säule der liberalen Ordnung, so ist diese bislang von einer relativen Kontinuität geprägt.

Maßgeblich dafür sind die Sicherheitsgarantien der USA gegenüber NATO-Verbündeten und asia­ tischen Staaten. Die Etablierung dieser Ordnung wäre ohne die Hard Power der USA nicht möglich gewesen, doch unterscheidet sie sich von Vorangehenden durch ihren freiwilligen Charakter („empire by invitation“). Während sich dieses Modell anfänglich auf den Westen beschränkte, erhoffte man sich nach dem Ende der Blockkonfrontation eine globale Strahlkraft. Heute stellt sich aber Ernüchterung ein. Seit der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der USA vergeht kein Tag, an dem nicht ein Klagelied auf die liberale Weltordnung gesungen wird.

»Ohne ehrliche (Selbst-)Reflexion werden Europas Versuche, die liberale Weltordnung zu retten und ihre künftige Entwicklung positiv mitzugestalten, nicht fruchten.« Undifferenzierte Nachrufe und eine einseitige Fokussierung auf Trump lassen zu wenig Raum für eine kritische Auseinandersetzung mit den grundlegenden Ursachen, weshalb die liberale Weltordnung dieser Tage bedroht ist. Trump ist nicht Auslöser der Krise, sondern eine Konsequenz.

Zusammengebrochen ist die liberale Weltordnung noch nicht Solche Nachrufe sind zunächst nichts Neues. Bereits vor zehn Jahren widmete sich Fareed Zakaria der „postamerikanischen Welt“, die durch den Aufstieg anderer Akteure im internationalen System bedingt werde. Obgleich sich Thesen über Amerikas Niedergang bislang nicht bestätigten, deutet sich eine geopolitische Machtverschiebung an, die die jetzige Ordnung herausfordern und verändern wird. Washington stellt sich in der neuen

Aufgrund der Machtposition der USA wirkt sein Handeln aber als Katalysator für geopolitische Entwicklungen. Ohne ehrliche (Selbst-)Reflexion werden Europas Versuche, die liberale Weltordnung zu retten und ihre künftige Entwicklung positiv mitzugestalten, nicht fruchten.

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Trumps America First-Imperativ untergräbt die liberale Weltordnung

Pariser Klimaabkommen, dem Nuklearabkommen mit dem Iran sowie aus UN-Gremien (UNESCO, Human Rights Council) zeugen davon, dass Trump nicht zögert unilateral zu handeln. Diese Schritte unterminieren die internationalen Institutionen und verursachen Risse im Fundament der liberalen Weltordnung, die die Staatengemeinschaft und allen voran wir Europäer nur schwer kitten können. Doch es bedarf einer differenzierten Analyse, da seine Rhetorik trotz des medialen Hypes nicht auto­matisch in US-Politik übergeht.

Mit Donald Trump veränderten sich die Vorzeichen amerikanischer Außenpolitik: Trump glaubt nicht an eine globale Gemeinschaft, sondern sieht Weltpolitik als Arena, in der Akteure bedingungslos um Vorteile ringen. In dieser Welt spielt Soft Power keine Rolle, allein militärische und wirtschaftliche Dominanz sind entscheidend. Diese Nullsummenspiel-Auffassung geht mit einer Skepsis gegenüber multilateralen Foren und internationalen Institutionen einher. Amerikas langjährige militärische Allianzen und Wirtschaftskooperationen empfindet er als kostspielig, ungerecht und lästig. Dies belegen Trumps jüngste Auftritte beim G7-Gipfel in Kanada oder beim NATO-Summit in Brüssel. Er bevorzugt bilaterale Verhandlungen, da die USA als Supermacht so ihre Interessen stets aus der Position des Stärkeren durchsetzen können.

Tweets eines Präsidenten machen noch keine Außenpolitik Viel wurde über Trumps harsche Kritik an der NATO berichtet. Trotz der nahezu täglichen Schelte von NATO-Verbündeten und seinem Hauptziel Deutschland, ist der befürchtete radikale Bruch in der US-Außenpolitik bislang ausgeblieben. Auch unter Trump leisten die USA weiterhin einen essentiellen Beitrag für die europäische Sicherheit. Dies spiegelt sich einerseits in ihrer Rolle im Rahmen der NATO Enhanced Forward Presence wider. Die USA führen eine der vier multinationalen Battlegroups in Osteuropa an, die 2016 als Reaktion auf Russlands völkerrechtswidrige Annexion der Krim zur Abschreckung Moskaus und Rückversicherung der osteuropäischen Länder beschlossen wurde.

Das erklärt wiederum sein Desinteresse an einer gesunden EU. In seinem transaktionalen Verständnis von Außenpolitik spielen normative Vorstellungen kaum eine Rolle. Für ihn steht eine Kosten-Nutzen-Rechnung im Vordergrund, die weder Freund noch Feind unterscheidet: Während er die bislang von den USA protegierte EU als Feind charakterisiert und beim letzten NATO-Gipfel sogar drohte, die USA aus dem Bündnis abzuziehen, gerät der Präsident in Helsinki gegenüber einem autoritären Herrscher nahezu ins Schwärmen. Donald Trump, so scheint es, verfolgt seine eigene Version der carrot and stick-Politik, nur, dass er die Peitsche ausschließlich für Amerikas Bündnispartner vorsieht.

»Für Trump steht eine KostenNutzen-Rechnung im Vordergrund, die weder Freund noch Feind unterscheidet.«

Andererseits zeigt sich Amerikas Engagement unter dem Stichwort Operation Atlantic Resolve unter anderem in einer zusätzlichen Truppenpräsenz in osteuropäischen Staaten sowie im Schwarzen Meer. Als Indikator für Amerikas Engagement lohnt zudem ein Blick auf eine Initiative von Präsident Obama, die heute unter dem Namen European Deterrence Initiative rund 4,78 Milliarden Dollar zur Verfügung stellt. Die Haushaltsplanung für 2019 sieht sogar eine Erhöhung auf 6,53 Milliarden Dollar vor.

Seine Interpretation internationaler Politik und die daraus abgeleiteten America First-Imperative stehen klar im Widerspruch zur liberalen Weltordnung. Er ist der erste US-Präsident, der die Ordnung und Amerikas Rolle darin bewusst in Frage stellt und untergräbt. Selbst wenn das internationale System im Chaos versinkt, so das Kalkül von Trump, gehen die USA immer noch als stärkste Macht hervor. Die Austritte der USA aus dem

Ungeachtet des bizarren Helsinki-Treffens ist zudem ein Schulterschluss zwischen Trump und Wladimir Putin auf Kosten der Ukraine oder östlichen NATO-Staaten bislang nicht erfolgt. Stattdessen verhängten die USA neue Sanktionen, wiesen russische Diplomaten aus und unterstützen Kiew mit Waffenlieferungen. Dies ist nicht zuletzt den moderaten, protransatlantischen Beratern um Verteidigungsminister James Mattis zu verdanken, die bedauerlicherweise weniger geworden sind, sowie

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»Selbst wenn das internationale System im Chaos versinkt, so das Kalkül von Trump, gehen die USA immer noch als stärkste Macht hervor.« deutlich moniert und mehr Eigenverantwortung für die Sicherheit in der unmittelbaren Nachbarschaft eingefordert. Dem zugrunde liegt schlichtweg ein zunehmender Bedeutungsverlust Europas im sicherheitspolitischen Diskurs der USA. Bedingt durch die relative Stabilität Europas, Amerikas kostspieligem Engagement im Mittleren Osten und den Aufstieg Chinas verlagerte sich der strategische Fokus weg von Europa. Erst Russlands Agieren 2014 veranlasste die USA, sich wieder stärker in Europa zu engagieren. Daneben sieht sich die Supermacht zur strikten Prioritätensetzung gezwungen, da selbst ihre Kapazitäten begrenzt sind.

der Kontrolle des Kongresses, der es Trump per Gesetz unmöglich macht, die US-Sanktionen gegen Russland alleine zu beenden. Für eine gewisse Normalität in den transatlantischen Beziehungen sorgt außerdem der Washingtoner Bürokratie-Apparat. Entgegen vieler Befürchtungen wurde der Dialog auf operativer Ebene sichtlich intensiviert, um die negativen Konsequenzen der trump’schen Twitterdiplomatie einzudämmen. Die relative Kontinuität bietet uns Europäern aber keinen Anlass, uns zurückzulehnen. Zwar scheint es Trumps Verhandlungsstrategie zu sein, durch „lautes Poltern“ die Verbündeten zu mehr Zugeständnissen zu bewegen. Dennoch vermag niemand vorherzusagen, wie sich der volatile Präsident verhalten würde, wenn tatsächlich der Bündnisfall gemäß Artikel 5 des NATO-Vertrages eintritt. Schon jetzt ist ein Vertrauensverlust in die USA als verlässlicher Partner ist deutlich spürbar. Dies ist insofern problematisch, da nicht nur Amerikas Alliierte an Washingtons Sicherheitsgarantien zweifeln könnten, sondern auch Staaten wie Russland. Abschreckung basiert auf dem glaubhaften Vermitteln an die Gegenseite, dass auf eine Aggression eine angemessene Reaktion folgt, so dass die Kosten des Angriffs klar gegenüber den Vorteilen überwiegen. Die Unberechenbarkeit des Präsidenten unterminiert somit die Abschreckungsstrategie des Bündnisses.

»Der Politikstil des Präsidenten ist kritikwürdig, doch müssen wir Europäer uns eingestehen, dass seine Kritik weder unberechtigt noch neu ist.«

Trump ist nicht das einzige Problem der liberalen Weltordnung

Anzeichen für Amerikas neue geopolitische Ausrichtung waren also schon lange vor Trump festzustellen. Was uns Europäern jetzt vor die Füße fällt, ist die Tatsache, dass Trump zwar wie sein Vorgänger die Machtverschiebung und Begrenztheit amerikanischer Ressourcen wahrnimmt, allerdings andere Schlüsse daraus zieht. War Obama noch davon überzeugt, Amerikas Stärke sei unmittelbar an die Aufrechterhaltung der liberalen Ordnung geknüpft, sieht sein Nachfolger darin die Ursache allen Übels.

Nun wäre es einfach, die Probleme des transatlantischen Bündnisses und der liberalen Weltordnung allein auf Trump zu schieben. Der Politikstil des Präsidenten ist kritikwürdig, doch müssen wir Europäer uns eingestehen, dass seine Kritik weder unberechtigt noch neu ist. Bereits unter Präsident Obama wurde die mangelnde Zahlungs- und Leistungsbereitschaft der NATO-Verbündeten

Zudem wird ein personeller Wechsel im Weißen Haus nicht den Status quo von 2016 wiederherstellen. Die wachsende transatlantische Interessensdivergenz und Amerikas Forderungen an Europa werden sich im Kern nicht verändern. Der nächsten Administration wird es schwerfallen, vom neuen „Normalzustand“ abzuweichen, den der Präsident mit seinen Tabubrüchen zementiert.

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mit dem revisionistischen Auftreten Russlands und Chinas deutlich, dass die liberale Weltordnung primär ein westliches Gebilde und nicht universell akzeptiert ist. Aus Sicht aufsteigender Mächte stellen die Institutionen der liberalen Weltordnung seit jeher ein Instrument amerikanischer Machtprojektion dar. Diese Staaten fühlen sich durch Trumps Politik bestätigt und beanspruchen, die gegenwärtige Ordnung nach ihren Vorstellungen umzugestalten.

Trump gewann die Präsidentschaftswahl nicht trotz, sondern wegen seiner Skepsis gegenüber Amerikas traditioneller Außenpolitik. Ganze 63 Millionen Amerikaner haben ihn gewählt und rund 90 Prozent seiner republikanischen Anhänger befürworten seine Politik samt internationalen Drohgebärden. Für einen wesentlichen, möglicherweise erneut wahlentscheidenden Teil der Bevölkerung ist eine nationalistische America First-Politik der Führungsrolle in der liberalen Weltordnung vorzuziehen. Zwar regt sich in Amerika erheblicher Widerstand gegen diesen Kurs, doch die wachsende innenpolitische Zerrissenheit kann die USA langfristig in ihrer Außenpolitik lähmen.

Europa muss auf Trump Antworten finden Bis heute sucht man in Europas Hauptstädten nach der besten Strategie im Umgang mit dem US-Präsidenten. Am besten bewährte sich bislang eine geschlossene europäische Haltung mit (und notfalls gegen) die USA. Gleichzeitig muss sich Europa als profitabler Partner präsentieren, da seine Sicherheit noch auf lange Zeit an die USA gebunden ist. Brüssel muss es also gelingen, in wesentlichen Fragen einen europäischen Konsens zu erreichen und die Versäumnisse der vergangenen Jahre zu beheben.

»Aus Sicht aufsteigender Mächte stellen die Institutionen der liberalen Weltordnung seither ein Instrument amerikanischer Machtprojektion dar.« Die liberale Weltordnung kennt nicht nur Gewinner

Mit Blick auf die europäische Verteidigungskooperation kann man Trump (und dem Brexit) eine positive Wirkung zuschreiben. Unter der Zielsetzung „mehr strategische Autonomie“ konnten innerhalb der letzten beiden Jahre nennenswerte Fortschritte in der EU erzielt werden: der CARD-Prozess zur jährlichen Koordination der nationalen Verteidigungsplanungen; der Europäische Verteidigungsfonds (EVF), in dem die EU erstmals Mittel für die Forschung und Entwicklung gemeinsamer Rüstungsprojekte zur Verfügung stellt; sowie die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit (PESCO), in der sich 25 der 28 EU-Mitgliedstaaten darauf einigten, gemeinsam militärische Fähigkeiten zu entwickeln. Allerdings täuschen die 17 PESCO-Projekte und die hohe Beteiligungsbereitschaft nicht darüber hinweg, dass die bislang initiierten Projekte nicht ausreichen, um die operativen Fähigkeitslücken (z.B. Luftbetankung) zu schließen. Dies muss bei der Konzeption der nächsten Projekte beachtet werden, will man nicht in reiner Symbolpolitik verharren.

Man muss jedoch nicht erst über den Atlantik spähen, um zu erkennen, dass die liberale Weltordnung nicht (mehr) von jedem als erstrebenswert erachtet wird. Sie hat eben nicht nur „Gewinner“ hervorgebracht, da länderübergreifend ganze Bevölkerungsteile von Freihandel und Globalisierung nicht profitieren. Zugleich vermitteln technologischer Wandel und komplexe Sicherheitsbedrohungen den Eindruck, dass die liberale Ordnung mitsamt ihrem demokratischen Kern nicht mehr in der Lage ist, den Schutz und die Prosperität der Menschen zu garantieren. Populistische Strömungen versprechen einfache Lösungen und schnelles Handeln. Gegen Fremdbestimmung von außen suchen Menschen die Flucht in Nationalismen, gegen die scheinbare Trägheit und fehlende Reaktionsfähigkeit der Demokratie den autoritär aber stark geführten Staat. So stört sich ein beachtlicher Teil der Amerikaner nicht daran, dass ihr Präsident die demokratischen Institutionen unterminiert und die Medien zum Staatsfeind deklariert. In Europa attestieren Brexit und umstrittene Verfassungsreformen in Polen, Ungarn und der Türkei einen Trend zu Abschottung und Machtkonzentration. Gleichzeitig wird

Die angestoßenen Initiativen müssen langfristig finanziell unterfüttert werden. Die Finanzierung des EVF ist bis 2020 gesichert, darüber hinaus muss das Budget erst zur Verfügung gestellt und der Austritt Großbritanniens kompensiert werden. Auch führt kein Weg daran vorbei,

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anderen Staaten das Freihandelsprojekt ohne die USA weiterverfolgt hatten.

die individuellen Verteidigungsbudgets zu erhöhen. Zwar deutet sich in der NATO ein positiver Trend zu höheren Verteidigungsausgaben an. Doch gerade von den wirtschaftsstärkeren Mitgliedern erwarten die USA deutlich mehr Investitionen bis hin zum 2018 erneut deklarierten Zwei-Prozent-Ziel. Die von Kanzlerin Merkel präsentierte Planung, bis 2025 1,5 Prozent des BIP für die Verteidigung auszugeben, wird für Washington nicht akzeptabel sein. Neben höheren Verteidigungsinvestitionen muss auch ein gesamtgesellschaftlicher Mentalitätswandel stattfinden. Laut Pew Research sprach sich 2017 eine Mehrheit von 53 Prozent in Deutschland dagegen und 40 Prozent dafür aus, einem Bündnispartner im Falle einer ernsten Konfrontation mit Russland notfalls militärisch beizustehen. Gleichzeitig erwarteten 62 Prozent der Befragten, dass die USA militärischen Beistand leisten würden. Hier müssen wir unsere eigene Glaubwürdigkeit im Bündnis, die wir bei Trump vermissen, kritisch hinterfragen.

Totgesagte leben länger Die liberale Weltordnung ist dem Wandel inbegriffen, doch aufgeben sollte man sie nicht. Das Ende des unipolar moment durch neue Machtpole bedeutet nicht automatisch das Ende der US-Vormachtstellung, noch der bestehenden Ordnung. Überdies offenbart sich in der Krise ihre größte Stärke: Nicht Zwang, sondern das freiwillige Bekenntnis zu ihren Normen und Institutionen macht ihren Kern aus. Während Trump die liberale Weltordnung in Teilen untergräbt, bemüht sich die Mehrheit der Staatengemeinschaft um ihren Fortbestand. Selbst China hält selektiv an ihr fest, da es vom Freihandel profitiert. In einem Zeitalter, das durch die Erosion des Staatsmonopols geprägt ist, arbeiten nichtstaatliche Akteure wie multinationale Unternehmen und NGOs darauf hin, die Strukturen der liberalen Weltordnung zu stützen, anstatt sie auszuhöhlen.

Zuletzt bedarf es einer ernsten Auseinandersetzung mit der Natur der liberalen Weltordnung jenseits von sicherheitspolitischen Fragen. Wie kann die liberale Weltordnung reformiert werden? Wie kann sie gerechter und repräsentativer gestaltet werden, um ihre Anziehungskraft zu erneuern und den Aufstieg anderer Mächte zu integrieren? Unter Donald Trump laufen die USA derzeit Gefahr, sich von der exzeptionellen Supermacht zu einer historisch gesehen gewöhnlichen Weltmacht zu entwickeln, die ihre Interessen kompromisslos durchsetzt. Darunter leidet die Überzeugungskraft der liberalen Ordnung. Zudem ermöglichen einige von Trumps Entscheidungen geopolitische Freiräume, von denen ausgerechnet die Herausforderer der liberalen Ordnung profitieren. Anlass zur Hoffnung geben Anzeichen, dass die USA die Ausrichtung ihrer Außenpolitik angesichts drohender Kosten stellenweise überdenken. So erwägt Washington erneut TPP beizutreten, nachdem die

Nicht zuletzt wurde auch in der Zivilgesellschaft das Bewusstsein für die liberale Weltordnung als schützenswertes Gut gestärkt. Den Europaskeptikern stellen sich hierzulande Tausende der Pulse of Europe-Bewegung entgegen. Die USA erleben die Stärke demokratischer Insti­tutionen und ein Revival ihrer Protestkultur. In Umfragen des Chicago Council on Global Affairs wünscht sich die amerikanische Bevölkerung ausdrücklich eine aktive internationale Rolle der USA. Und auch die Verteidigungsallianz bekommt neuen Auftrieb: Sowohl Amerikaner als auch Europäer sehen die NATO heute in einem weitaus positiveren Licht als vor dem Amtsantritt von Donald Trump. Die Verteidiger der liberalen Weltordnung haben den Kampf also lange noch nicht aufgegeben. Es wäre zynisch von uns politischen Analysten, diesen Rettungsversuchen bereits mit Nachrufen zu begegnen.

Der Text gibt die persönliche Meinung der Autorin wieder.

Andrea Rotter ist Expertin für transatlantische Beziehungen und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin der Akademie für Politik und Zeitgeschehen der Hanns-SeidelStiftung. Im Frühsommer verbrachte sie zwei Monate als GMF/AICGS-Visiting Fellow des „American-German Situation Room“ in Washington D.C.

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Gute Zeiten, beste Zeiten! Fakten für einen optimistischen Blick auf die Welt „Die Welt wird immer schlechter“ – wie oft am Tag hört man Sätze wie diesen? Dabei sprechen die Zahlen eine ganz andere Sprache: Tatsächlich hat sich die Welt in vielen Bereichen unseres Lebens in den vergangenen Jahren zum Besseren entwickelt. Ein optimistischer und ermuti­gender Blick auf den Status quo.

Deutlicher Rückgang von Armut auf der Welt

Seit 1990 verringerte sich die Zahl der Menschen, die in extremer Armut leben, im Schnitt um 100 Millionen pro Jahr. Quelle: World Bank, Development Research Group

Weltweit stetiger Anstieg der Lebenserwartung

Weltweit hohe Unterstützung für demokratische Ordnungen

Allein seit dem Jahr 2000 hat sich die weltweite Lebenserwartung um 5,5 Jahre verlängert. Dies bedeutet, dass seit 2000 die Lebenserwartung weltweit jeden Tag um etwa zehn Stunden angewachsen ist.

Laut einer weltweiten Umfrage geben 78% der Befragten an, dass sie eine repräsentative Demokratie wertschätzen und für ein gutes Regierungssystem halten. Die direkte Demokratie befürworten darüber hinaus 66%.

Quelle: WHO | Global Health Observatory (GHO)

Quelle: Pew Research Center

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Große Fortschritte im weltweiten Kampf gegen HIV

– 40%

– 40%

2% → 53%

Die Zahl dokumentierter HIVNeuerkrankungen ist seit dem Jahr 2000 um 40% gefallen.

Die Zahl der Todesopfer, die an AIDS gestorben sind, ist seit 2000 um knapp 40% gefallen.

Anstieg der Zahl der HIV-Infizier­ten mit Zugang zu notwendigen Medikamenten seit 2000.

Quelle: UNAIDS, World Bank

Quelle: UNAIDS

Quelle: UNAIDS, World Bank

Starker Rückgang der globalen Einkommensungleichheit

Halbierung der weltweiten Kindersterblichkeitsrate

Millionen Menschen

2010

1990

1970

300

2016

200

100

93,4 Todesfälle / 1.000 Kinder $1

$ 10

40,8 Todesfälle / 1.000 Kinder

Seit dem Jahr 1990 ist die Sterblichkeitsrate bei unter Fünfjähringen um mehr als 56% gesunken.

$ 100

Einkommen pro Tag

Quelle: OECD, Spiegel

Quelle: UNICEF

Starker Anstieg der weltweiten Alphabetisierungsrate

Vervierfachung des Bruttoinlandsprodukts weltweit

MENA-Region

Südasien

22,6 → 80,7 Billionen Dollar

1990: 57,8%

1990: 45,4% 2016: 71,0%

Das weltweite Bruttoinlandsprodukt hat sich von

2016: 79,6%

22,6 Billionen Dollar im Jahr 1990 auf 80,7 Billionen

Weltweite Alphabetisierungsrate bei über 15-Jährigen.

Dollar im Jahr 2016 fast verfierfacht.

Quelle: UNESCO Institute for Statistics

Quelle: World Bank, OECD

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Wir sind gefordert Deutschland mรถchte im Weltsicherheitsrat die internationale regelbasierte Ordnung verteidigen

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von Christoph Heusgen

Wie zuletzt 2011/2012 zieht Deutschland wieder in den Weltsicherheitsrat ein. Seitdem hat sich die Weltlage erheblich verändert. Welche Prioritäten die Bundesrepublik für die bevorstehende Mitgliedschaft setzt, skizziert Deutschlands Ständiger Vertreter am East River, Christoph Heusgen, mit zehn Thesen.

2. Das internationale Regelwerk steht unter Beschuss

Mit 184 Stimmen wurde Deutschland am 8. Juni 2018 in den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (VN) gewählt. Dieses klare Ergebnis drückt einerseits einen großen Vertrauensvorschuss aus, gleichzeitig aber auch eine Erwartungshaltung: In einer Situation, in der der Sicherheitsrat oft blockiert ist, soll Deutschland sein Gewicht einbringen, um die Vereinten Nationen, ihre Charta und damit eine regelbasierte internationale Ordnung zu verteidigen.

Die Wahl Deutschlands in den Sicherheitsrat erfolgt zu einem Zeitpunkt, in dem die internationale regelbasierte Ordnung auf der Kippe steht. Russland hat mit der Invasion der Ukraine, der Annexion der Krim und mit der Besetzung des Donbass die VN-Charta und bestehende Abkommen mit den Füßen getreten. Russland gewährt dem syrischen Diktator Assad Schutz, so dass dieser weiter schwerste Menschenrechtsverletzungen begehen und ungestraft international geächtete Chemiewaffen gegen seine eigene Bevölkerung einsetzen kann.

1. Mit den VN unterstützt Deutschland eine regelbasierte internationale Rechtsordnung Deutschland gehörte schon immer zu den stärksten Unterstützern der Vereinten Nationen. Sowohl finanziell als auch – und vor allem – ideell. Denn Deutschland war „verantwortlich“ für ihre Gründung. Nach der unbeschreiblichen Katastrophe, die der Nationalsozialismus mit dem Zweiten Weltkrieg verursacht hatte, wurde mit der Weltorganisation am East River eine Institution geschaffen, die dem Miteinander der Staaten ein klares Regelwerk verschrieben hat. Konflikte sollten nicht mehr durch das Recht des Stärkeren, sondern durch die Stärke des Rechts gelöst werden. Dieses Prinzip liegt auch dem deutschen Grundgesetz wie den Verträgen der Europäischen Union zugrunde. Deutschland ist mit diesen Regelwerken gut gefahren, hat ihnen nicht nur seinen Wohlstand, sondern auch seinen Platz in der internationalen Staatengemeinschaft zu verdanken. Es ist nur konsequent, dass Deutschland 2016 der zweitgrößte Beitragszahler für das VN-System war.

»Auch die USA verabschieden sich vom internationalen Regelwerk.« Die Volksrepublik China unterdrückt die Menschenrechte zuhause, bedrängt ihre Minderheiten und verhält sich aggressiv und expansiv im Südchinesischen Meer, wo es gegen das Internationale Seerecht verstößt und Schiedsgerichtssprüche einfach ignoriert. Aber auch die Vereinigten Staaten von Amerika, die einst bei der Gründung der VN Pate standen, verabschieden sich vom internationalen Regelwerk. Die Trump-Administration verlässt die UNESCO, beteiligt sich nicht am Globalen Pakt zur Migration, kündigt ihre Beteiligung am Nuklearabkommen mit dem Iran, ignoriert mit

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der Weltöffentlichkeit ja nicht verborgen geblieben waren, rechtzeitig vom Sicherheitsrat thematisiert worden wären. Es gibt eine Reihe von Indikatoren für beginnende Konflikte. Dazu gehört die massive Verletzung von Menschenrechten, wie wir sie in Myanmar, aber auch in Syrien erlebt haben.

der Verlegung der US-Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem eine verbindliche Resolution des Sicherheitsrats und löst unter Missachtung von WTO-Grundregeln mit der Verhängung von Strafzöllen möglicherweise einen internationalen Handelskrieg aus. 3. Deutschland als Verteidiger internationaler Regeln

»Klimaveränderungen können zu bewaffneten Auseinandersetzungen führen«

Vornehmste Aufgabe Deutschlands muss es in dieser Situation sein, die regelbasierte internationale Ordnung zu verteidigen, allen Partnern immer wieder die Vorteile dieser Ordnung zu erläutern und mitzuhelfen, für die im Sicherheitsrat auf die Tagesordnung kommenden Konflikte Lösungen zu suchen, die dieser Ordnung entsprechen. Das gilt für den Ukraine-Konflikt, wo sich Deutschland ja bereits im sogenannten Normandie-Format engagiert, das gilt für die Konflikte in Syrien oder Jemen, wo Deutschland zu denen gehört, die am meisten dazu beitragen, das unermessliche Leid der Menschen zu mildern; und das gilt auch für die vielen Konflikte in Afrika, die regelmäßig auf der Agenda des Sicherheitsrats stehen. Dazu gehört zum Beispiel der Konflikt in Mali, wo sich Deutschland mit fast 1.000 Soldaten an der VN-Friedenstruppe MI­­NUSMA beteiligt.

Klimaveränderungen und die durch sie ausgelöste Migration können zu bewaffneten Auseinandersetzungen führen, wie wir sie in der Region um den (austrocknenden) Tschadsee verfolgen können. Ausbrüche von Pandemien können eine Gefahr für Frieden und Sicherheit darstellen. Gleiches gilt für die weite Verbreitung von Kleinwaffen. Die Diskriminierung von und sexuelle Gewalt gegen Frauen und der Einsatz von Kindersoldaten sind Indikatoren bzw. traurige Begleiterscheinungen von Konflikten. Alle diese Themen – Menschenrechte, Klima und Wasser, Gesundheit, Kleinwaffen, Frauen und Kinder – wird Deutschland im Auge behalten. 5. Deutschlands Vorsitz im Sicherheitsrat: Klima und Frauen

»Es gibt Indikatoren für beginnende Konflikte: Menschenrechtsverletzungen, Klimaveränderungen, Pandemieausbrüche.«

Ohne dies vorab schon definitiv festlegen zu können, plant Deutschland zwei dieser Themen aufzugreifen, wenn wir die Präsidentschaft im Sicher­ heitsrat ausüben werden, was voraussichtlich im April 2019 und im Juni 2020 der Fall sein wird: Klima und Sicherheit sowie Frauen, Frieden und Sicherheit. Das Thema Klima hatte Deutschland schon bei seiner letzten Mitgliedschaft 2011/2012 mit einer Debatte im Sicherheitsrat und einer Präsidentschaftserklärung aufgegriffen. Hieran soll angeschlossen werden, wobei seit 2011/12 die Probleme ja nicht kleiner geworden sind. Das Thema Frauen ist weltweit in den letzten Jahren vermehrt auf die Tagesordnung gekommen. Ihre Diskriminierung, sexuelle Gewalt gegen sie (massiv wieder in Myanmar), ihre Beteiligung an Entscheidungen und ihr Aufrücken in Führungspositionen, ihr Einsatz als Vermittler und Mediatoren, alles das sind Aspekte, denen sich Deutschland widmen möchte. Ein Schwerpunkt ist Afrika, wo wir uns etwa als Ko-Vorsitz der Freundesgruppe „afrikanische Frauen in Führungspositionen“ einbringen.

4. Schwerpunkt Krisenverhütung Neben dem Bemühen, einen Beitrag zur Bewältigung der aktuellen Krisen zu leisten, beabsichtigt Deutschland aber auch eigene Akzente zu setzen, insbesondere bei der Verhütung von Konflikten. Hier weiß sich Deutschland einig mit VN-Generalsekretär Guterres, der das gleiche Thema in den Vordergrund seiner Reformanstrengungen gestellt hat. Es geht darum, sich entwickelnde Krisen auf die Tagesordnung des Sicherheitsrats zu setzen, der sich frühzeitig einschalten sollte und nicht erst, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist. So hätten vielleicht die massenhaften Greueltaten gegen alle Rohingya verhindert werden können, wenn die sich verschärfenden Spannungen in Myanmar, die

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»Wir sollten alles daran setzen, gemeinsame europäische Positionen zu vertreten.«

7. Zusammenarbeit im Sicherheitsrat

Die Herausforderung wird darin bestehen, durch die Befassung des Sicherheitsrats nicht nur Aufmerksamkeit auf diese Themen zu lenken, sondern operative Entscheidungen zu treffen. Nützlich kann dabei die enge Anbindung der „Peace Building Commission“ an den Sicherheitsrat sein, wie dies auch von Generalsekretär António Guterres befürwortet wird. In dieser Kommission der Mitgliedsstaaten, die aus dem Sekretariat heraus und durch einen Fonds unterstützt wird, hat Deutschland derzeit den stellvertretenden Vorsitz inne.

Deutschland wird alles das, was es sich vorgenommen hat, alleine nicht erreichen können. Es wird nur gemeinsam gelingen mit den Ständigen Mitgliedern und den Nicht-Ständigen Mitgliedern. Die Ständigen Mitglieder sind dabei im Vorteil, weil sie über eine etablierte Machtposition im Sicherheitsrat und über die einschlägige Erfahrung verfügen. Drei von ihnen – wie vorne ausgeführt – nehmen dabei leider nicht immer eine konstruktive Haltung ein. Umso wichtiger wird für Deutschland die enge (und bewährte) deutsch-französische Zusammenarbeit sein. Großes Interesse haben wir aber auch daran, Großbritannien einen engen Schulterschluss anzubieten. Großbritannien, Frankreich und die sich 2019 im Sicherheitsrat befindlichen Nicht-Ständigen Mitglieder Belgien, Polen sowie wir sollten alles daran setzen, regelmäßig gemeinsame, europäische Positionen zu vertreten, einen „EU-Caucus“ zu etablieren.

6. „Rechenschaft“ und Verhütung von „Straflosigkeit“ Ein Thema, das Deutschland nicht nur im Sicherheitsrat, sondern auch in der Generalversammlung hochhalten will, ist „Rechenschaft“ und die Verhütung von „Straflosigkeit“. Ein Rechtssystem funktioniert nur dann, wenn diejenigen, die dagegen verstoßen, sanktioniert werden. Wenn zum Beispiel Menschenrechtsverletzer das Gefühl oder sogar die Gewissheit haben, dass sie bis zu ihrem Lebensende wegen ihrer Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden können, dann wirkt dies präventiv. Wir schulden es auch den Opfern von (Menschen-)Rechtsverletzern, dass den Schuldigen ihre Strafe nicht erspart bleibt.

Angesichts des Desinteresses der USA kommt einer gemeinsamen europäischen Haltung, an die sich andere erfahrungsgemäß gerne anlehnen, eine noch höhere Bedeutung zu als in der Vergangenheit. Aber auch mit den anderen Nicht-Ständigen Sicherheitsratsmitgliedern will Deutschland eng zusammenarbeiten. Um das Ziel, eine gleiche Verteilung der Zuständigkeiten zu erreichen, wird es unumgänglich sein, sich etwa mit Südafrika, Indonesien, Peru oder Kuwait eng abzustimmen. Das Gleiche gilt für die afrikanischen Staaten, die eine größere Rolle bei der Federführung für die zahlreichen Friedensmissionen auf ihrem eigenen Kontingent spielen und damit mehr Eigenverantwortung übernehmen sollten.

Zur Durchsetzung des Rechts wird Deutschland weiterhin die entsprechenden Institutionen, angefangen vom Internationalen Gerichtshof über den Internationalen Strafgerichtshof, den Internationalen Seegerichtshof und Schiedsgerichte, bis hin zu neuen Mechanismen wie den IIIM (Internationaler Mechanismus zur Strafverfolgung schwerster Verbrechen in Syrien) konkret unterstützen.

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8. Rückbindung an regionale Gruppen in den VN

International, Human Rights Watch, aber auch politische Stiftungen stehen in vielen Ländern unter Druck. Sie zu unterstützen wird ein wichtiges deutsches Anliegen bleiben. Im Gegenzug haben sie sich immer wieder auch als Ideengeber verdient gemacht, etwa wenn es um die Frage geht, wie das wichtige Thema „Rechenschaft“ und Verhütung von „Straflosigkeit“ vorangebracht werden kann.

Deutschland hat im „Wahlkampf“ für den Sicherheitsratssitz bei den verschiedenen regionalen Gruppen um Unterstützung geworben – und diese auch erhalten. Im Gegenzug beabsichtigt Deutschland, diese Ländergruppen während der beiden Sicherheitsratsjahre regelmäßig über das Geschehen in diesem zumeist hinter verschlossenen Türen tagenden Gremium zu unterrichten bzw. vor wichtigen Debatten die jeweiligen Meinungen zu den Themen abzufragen. Die engste Abstimmung wird es mit der wöchentlich tagenden Runde der EU-Botschafter geben. Aber auch mit der afrikanischen Gruppe oder den kleinen Inselstaaten wird sich Deutschland regelmäßig treffen. Mit letzteren steht naturgemäß das Thema Klima im Mittelpunkt, für eine Gruppe wie CARICOM (Caribbean Community and Common Market) haben die Kleinwaffen eine große Bedeutung.

»Die Bäume werden nicht in den Himmel wachsen.« 10. Bilanz Die Bäume werden nicht in den Himmel wachsen, aber Deutschland wird sich in den zwei Jahren seiner Mitgliedschaft nach Kräften bemühen, im Zusammenspiel mit gleichgesinnten Partnern einerseits konkrete Konflikte einer Lösung näher zu bringen, die das mit ihnen regelmäßig verbundene menschliche Leid mildern, andererseits das den Vereinten Nationen zugrundeliegende Regelwerk zu verteidigen und – wenn die Umstände dies erlauben – zu stärken. Bleibt zu hoffen, dass die Bilanz Ende 2020 nicht zu ernüchternd ausfällt. Selbst wenn dies der Fall sein sollte, aber natürlich auch, wenn auf eine erfolgreiche Sicherheitsratszeit zurückgeblickt werden kann, wird Deutschland nicht aufhören, an einer regelbasierten Internationalen Weltordnung festzuhalten. Dies schulden wir unserer Geschichte. Und dies entspricht auch unserer festen Überzeugung.

9. Kontakte mit der Zivilgesellschaft Ebenfalls bereits vor den Sicherheitsratswahlen hat sich Deutschland mit Vertretern der Zivilgesellschaft getroffen. Deren Anliegen – ebenfalls Klima, aber vor allem Menschenrechte – haben Eingang in Positionen gefunden, die Deutschland regelmäßig im Sicherheitsrat vertreten wird. Auch um gegenüber der Zivilgesellschaft Rechenschaft abzugeben und um ihre Meinungen abzufragen, sind regelmäßige Treffen mit Vertretern von Nichtregierungsorganisationen geplant. Amnesty

Der Text gibt die persönliche Auffassung des Autors wieder.

Dr. Christoph Heusgen ist seit Juli 2017 Ständiger Vertreter Deutschlands bei den Vereinten Nationen. Zuvor war er zwölf Jahre außen- und sicherheitspolitischer Berater der Bundeskanzlerin.

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Deutschland als Retter der Âťregelbasierten internationalen OrdnungÂŤ?

Im Sicherheitsrat muss die Bundesregierung ihre Rechtsauffassungen begrĂźndet artikulieren

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von Hannah Birkenkötter

Im Einsatz für eine »regelbasierte internationale Ordnung« muss die Bundesregierung im UN-Sicherheitsrat ihre Rechtsauffassung auch in politisch brisanten Situationen klar artikulieren – indem sie begründet darlegt, welchen internationalen Normen Rechts­ charakter zukommt und wie sie sich zueinander verhalten. Außerdem muss sie Brüche der Rechtsordnung klar benennen. Dabei kann sie eine Änderung des Völkerrechts fordern. Eine solche politische Debatte erfordert aber, dass zunächst Rechtsklarheit herrscht.

Die „regelbasierte internationale Ordnung“ ist ein Eckpfeiler der deutschen Sicherheitsrats­ mitgliedschaft, die am 1. Januar 2019 beginnen wird. Bereits in der offiziellen Kampagnenbroschüre der Bundesregierung hieß es: „Als global vernetztes Land setzen wir uns für eine regelbasierte Weltordnung ein, die von der Stärke des Rechts und nicht durch das Recht des Stärkeren geprägt ist.“ Die Herrschaft des Rechts als Dreh- und Angelpunkt in einer „Welt aus den Fugen“: Hierfür steht die Bundesregierung nach eigener Aussage. Aber was ist mit dem Einsatz für eine "regelbasierte internatio­nale Ordnung" konkret gemeint?

54 ff.) heißt es: „Vornehmste Aufgabe Deutschlands muss es in dieser Situation sein, die regelbasierte internationale Ordnung zu verteidigen“. Das Völkerrecht: umfangreich und fragmentiert Das erfordert zunächst einmal Klarheit darüber, um welche Regeln des Völkerrechts es geht. Noch nie gab es so viele internationale Rechtsregeln wie heute: Allein der Generalsekretär der Vereinten Nationen verwahrt über 560 multilaterale Verträge; über 55.000 völkerrechtliche Verträge sind bei den UN nach Art. 102 UN-Charta registriert (Stand April 2018). Dazu kommt eine Vielzahl von völkergewohnheitsrechtlichen und sogenannte „soft-law-Normen“, die häufig mehr oder weniger geschlossene Systeme bilden. Das Spektrum reicht von zahlreichen Abrüstungsabkommen und Menschenrechtsverträgen, dem internationalen Handelsrecht, dem Völkerstrafrecht und dem internationalen Umweltrecht bis zum Recht der zivilen Luftfahrt oder dem Weltraumrecht.

In einer öffentlichen Vorstellungsrunde der Kandidaten für den nicht-ständigen Sitz erläuterte Christoph Heusgen, Deutschlands Ständiger Vertreter bei den Vereinten Nationen: Die internationale Ordnung sei unter Beschuss und Deutschland werde alles daran setzen, diese Ordnung vor denen zu schützen, die sie missachteten. Und in seinem Beitrag für CIVIS mit Sonde (aktuelles Heft, Seite

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wichtig sein, für die sie sich während ihrer Sicherheitsratsmitgliedschaft besonders einsetzen möchte: Frauen, Frieden und Sicherheit, Klimaschutz als Sicherheitsthema, Prävention, Kinder und bewaffneter Konflikt.

Angesichts dieser Vielzahl sich überlappender und auch nicht immer widerspruchsfreier Regelkomplexe diskutiert die Völkerrechtswissenschaft seit über einem Jahrzehnt die Frage, wie mit einer drohenden Fragmentierung des Völkerrechts umzugehen sei. Hier stellen sich unter anderem die Fragen: Welches Recht? Wie ist es auszulegen? Wie sind verschiedene Rechtsregeln miteinander in Einklang zu bringen? Hier sollte die Bundesregierung durch klar artikulierte Rechtsauffassungen zur Rechtssicherheit beitragen – gerade in der Frage, welche Regeln Vorrang haben.

In all diesen Bereichen geht es auch um rechtliche Einordnungen: Handelt es sich beispielsweise bei der Beteiligung von Frauen an Friedensprozessen lediglich um ein politisches „Nice-to-have“ oder um eine in internationalen Menschenrechten wurzelnde Rechtspflicht? Sollen Klimakatastrophen als Bedrohung des Friedens eingeordnet werden und so den Handlungsspielraum des Sicherheitsrats erweitern, oder lediglich als sicherheitsrelevantes Thema benannt werden? Erwachsen aus einem Fokus auf Prävention Pflichten rechtlicher Art?

»Klar artikulierte staatliche Rechtsauffassungen schaffen Rechtssicherheit.«

Hier sollte die Bundesregierung klar artikulieren, wo sie Standards als rechtlich verbindlich ansieht und diese so sichern. Vor allem stellt sich die Frage: Hat der Schutz der Menschenrechte als „harter Kern“ der Sicherheit, wie es in einem anderen Beitrag von Christoph Heusgen heißt, völkerrechtliche Folgen im Friedenssicherungsrecht? Ist die humanitäre Intervention als Rechtsfigur wünschenswert? Die Bundesregierung muss hier klar Position beziehen.

Staaten als Protagonisten des Völkerrechts Das Völkerrecht ist dezentral organisiert und keine hierarchische Struktur mit klarem Letztentscheider. Daher sind alle Protagonisten des Völkerrechts relevant, wenn es um dessen Sicherung, Auslegung und Anwendung geht. Und diese Protagonisten sind nach wie vor in erster Linie Staaten, trotz der zunehmend wichtigen Rolle internationaler Organisationen, internationaler Gerichte und anderer transnational agierender Akteure. Die staatliche Rechtsauffassung spielt nicht nur für die Fortentwicklung des Völkergewohnheitsrechts eine Rolle, sondern ist unabdingbar für jede „regelbasierte Ordnung“: Denn eine klar artikulierte Rechtsauffassung schafft Rechtssicherheit.

Durchsetzung sichern: Rechtsbrüche klar benennen Das hat sie zuletzt nach den Luftangriffen auf syrische Chemiewaffenarsenale versäumt. Weder hat die Bundesregierung ihre Rechtsauffassung klar geäußert, noch hat sie den Wunsch nach einer Rechtsänderung artikuliert. Nach nahezu einhelliger Auffassung waren die Luftangriffe rechtswidrig. Wenn die Bundesregierung hier anderer Ansicht ist, dann sollte sie dies klar formulieren. Sonst sollte sie Rechtsbrüche als solche benennen.

Das gilt auf drei Ebenen: Erstens bedarf es zur Sicherung bereits erreichter Standards ihrer Bestätigung und Bekräftigung als geltendes Recht. Zweitens sind viele Regeln des Völkerrechts zu ihrer Anwendung und gerade auch im Verhältnis untereinander auslegungsbedürftig – auch hierzu bedarf es klarer und begründeter Äußerungen. Und drittens ist die Durchsetzung des Völkerrechts in besonderem Maße darauf angewiesen, dass Rechtskonformität wie Rechtsverstöße klar benannt werden.

Das kann sie natürlich mit einer Forderung nach einer Rechtsänderung verbinden. Aber diese rechtspolitische Diskussion kann nur dann geführt werden, wenn die eigenen Auffassungen zum geltenden Recht und gewünschten Rechtsveränderungen klar artikuliert werden. Politisch mag es verständlich sein, dass die Bundesregierung nicht drei Bündnispartner mit der Benennung eines Rechtsverstoßes brüskieren wollte. Einer regelbasierten Ordnung, die auf Rechtsklarheit angewiesen ist, dient ein solches Verhalten aber nicht.

Standards sichern: Recht klar benennen Rechtssicherung und Rechtsauslegung sollten der Bundesregierung gerade in den Themenbereichen

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»Noch nie gab es so viele inter­­natio­ nale Rechtsregeln wie heute.« Das Völkerrecht ist relevant

Wo sie eine andere Rechtsauffassung vertritt, sollte sie dies deutlich machen und vorgebrachte Rechtsargumente mit eigenen Argumenten entkräften. Denn das Völkerrecht hat ein Legitimierungspotenzial in seiner Eigenschaft als Recht und dient damit durchaus der Begrenzung von Handlungsspielräumen – und zwar als unabhängiger Faktor in der internationalen Politik.

Natürlich kann sich die internationale (oder irgendeine) Rechtsordnung nicht von faktischen Machtkonstellationen befreien. Daraus folgt aber nicht, dass das Recht obsolet ist. Gerade im Sicherheitsrat sollte die Bundesregierung ihre Rechtsauffassung klar artikulieren und begründen. Denn auch andere Akteure – Russland nach der Besetzung der Krim, das Vereinigte Königreich und Frankreich nach den Luftangriffen auf Syrien – haben das Recht in Stellung gebracht, um ihren Handlungen Legitimität zu verleihen.

Dem Sicherheitsrat kommt als einzigem Organ der Vereinten Nationen, dessen Entscheidungen Staaten rechtlich binden können, eine herausgehobene Bedeutung für die Fortentwicklung des Völkerrechts zu. Deswegen wird hier besonders genau hingeschaut, wie Staaten ihre Rechtsauffassungen artikulieren – zuletzt etwa nach den umstrittenen Luftangriffen in Syrien. Gerade deswegen sollte sich Deutschland hier nicht nur klar zum Völkerrecht bekennen, sondern es auch klar benennen: Auf der Ebene der Rechtssicherung, der Rechtsanwendung und der Rechtsdurchsetzung.

Dabei wird die Interpretationsbedürftigkeit des Rechts natürlich auch für die eigenen Zwecke genutzt. Aber gerade weil zentrale Akteure sich trotz ihrer faktischen Machtposition nicht außerhalb des Rechts stellen, sollte die Bundesregierung Argumente, die im Sicherheitsrat in der Sprache des Rechts formuliert sind, ernstnehmen.

Dieser Beitrag erschien auf dem Peacelab-Blog (www.peacelab.blog/2018/07/deutschland-als-retter-der-regelbasierten-internationalen-ordnung); eine frühere Version zudem auf dem Verfassungsblog ("Völkerrecht klar benennen: Deutschland im Sicherheitsrat und der Einsatz für die „regelbasierte internationale Ordnung”, VerfBlog, 2018/6/12, www.verfassungsblog.de/voelkerrecht-klar-benennen-deutschland-im-sicherheitsratund-der-einsatz-fuer-die-regelbasierte-internationale-ordnung)

Hannah Birkenkötter ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Humboldt-Universität zu Berlin (Prof. Dr. Christoph Möllers) in der DFG-Forschungsgruppe „Overlapping Spheres of Authority and Interface Conflicts“ und Mitglied im Bundesvorstand der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen. Sie forscht im allgemeinen Völkerrecht sowie schwerpunktmäßig zum System der Vereinten Nationen und zu rechtsstaatlichen Elementen jenseits des Staates.

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von Clemens Escher

Die Revolution, die nicht die Produktionsmittel besetzt, sondern Begriffe – das trieb die Union in den 1970er Jahren um. Eine AG Semantik wurde im Bonner Konrad-Adenauer-Haus gegründet. Ein Beitrag über Kampfbegriffe vom konservativen »Wohlstand für alle« über die sozialistische »Ehe für alle« bis hin zum AfDSprech von der »Lügenpresse«. methodisch Begriffe besetzt (eine von Biedenkopf bei eben jenem Parteitag in den deutschen Sprachgebrauch erstmals eingeführte Metapher).

„Deshalb, meine Freunde, ist die Auseinandersetzung mit der politischen Sprache von so großer Bedeutung. Wir erleben heute eine Revolution, die sich nicht der Besetzung der Produktions­mittel, sondern der Besetzung der Begriffe bedient.“

Dazu gehörten der Physik entlehnte Begriffe wie „Entspannung“ und „Gleichgewicht“; den sprießenden Sozialwissenschaften wurde mit Begriffen wie „gesellschaftlicher Relevanz“ Rechnung getragen. Die „Außenpolitik“ transformierte zu dem Edelsubstantiv „Friedenspolitik“ , analog dazu die Innenpolitik zur „Reformpolitik“; die „Gesellschaft“ lief dem „Staatswesen“ den Rang ab, selbst die Staatsform „Demokratie“ wurde erweitert zu einer „Demokratisierung“, die sich gleich in mehreren Lebensbereichen semantisch Bahn brach. Kurzum: Genosse Trend fuhrwerkte im allgemeinen Politdeutsch herum.

(Kurt Biedenkopf auf dem Bundesparteitag der CDU 1973 in Hamburg) „Wir dürfen uns nicht im Kampf um die Sprache von den Sozialisten verdrängen lassen. Denn den Rückschlag der 1970er Jahre haben wir nicht zuletzt der Tatsache zu verdanken, daß die anderen sich der Sprache bemächtigt haben, die Sprache als Waffe benutzt haben, dass sie Begriffe herausgestellt, mit anderem Inhalt gefüllt und dann als Wurfgeschosse gegen uns – nicht ohne Erfolg – verwendet haben. Und darum ist für mich der Kampf um die Sprache eine der wesentlichsten Voraussetzungen für die geistige Selbstbehauptung.“

Wie die Münchener Zeithistorikerin Martina Steber in ihrer lesenswerten letztjährig veröffentlichen Habilitationsschrift (eine vergleichende Studie mit dem Titel: „Die Hüter der Begriffe, Politische Sprachen des Konservativen in Großbritannien und der Bundesrepublik Deutschland 1945 – 1980“) herausarbeitet, war der Befund, sprachlich ins Hintertreffen geraten zu sein, interessanterweise nicht auf die kontinentaleuropäische Christdemokratie beschränkt. Margaret Thatcher (seit 1975 Parteivorsitzende der britischen Konservativen) kündigte in London den linken Sprachstrategen ebenfalls einen war of words an.

(Franz Josef Strauß auf dem Deutschlandtag der Jungen Union 1979 in Hamburg)

Ob „Besetzung der Begriffe“ oder „Sprache als Wurfgeschosse“ – es war eine bellizistische Sprache, mit der führende Unionspolitiker vor vier Jahrzehnten dem politischen Gegner einen luziden Sprachraub unterstellten. Welcher Sprachraub? Mit dem Ende der Großen Koalition (1966 bis 1969) hatten Sozialdemokraten mehr oder minder

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Der Kampf um Sprache Ernste Zeiten bedĂźrfen sprachlicher Konzentration und Klarheit

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trug Früchte. Erster Ertrag war die Drillingsformel „sicher, sozial, frei“, die fortan das Logo schmückte und noch immer in mancher Kreisgeschäftsstelle vergilbt zu finden ist. Ohne die Konzentration auf sprachliche Klarheit hätte es den 1976-Gegensatz-Slogan „Freiheit statt Sozialismus“ der CDU wahrscheinlich nie gegeben, wobei die bayerische Schwester ihre Plakate mit „Freiheit oder Sozialismus“ weiter anschärfte.

Während der Kanzlerschaft von Konrad Adenauer, dem vom Hamburger Presseadel ein reichlich beschränkter Wortschatz bescheinigt wurde, war das, was man seit Barack Obamas 2008er-Kampagne auch hierzulande als politisches Framing bezeichnet, noch außerordentlich erfolgreich gewesen: Im Gründungsjahrzent der Bundesrepublik erfüllten Begriffe, Formeln und Chiffren wie „Soziale Marktwirtschaft“, „Lastenausgleich“, „Dynamische Rente“, „Westintegration“, „Westliches Verteidigungsbündnis“, „Sowjetrußland“, „Pankow“, „Kollektivismus“, „Freiheit“, „Keine Experi­ mente“, „Wohlstand für Alle“ ihren politischen Zweck: allesamt imstande, in der Öffentlichkeit „Zustimmungsbereitschaften“ (Hermann Lübbe) zu generieren. Diese Kunst der amtlichen Politik in Deutschland funktionierte sowohl bei Begriffen mit pejorativer wie positiver Konnotation außerordentlich gut. Ludwig Erhards „Formierte Gesell­schaft“ oder „Gemeinschaftsaufgaben“ hatten es ungleich schwerer, ähnliche neuro-kognitive Aktivität bei den Bundesdeutschen entfalten zu können.

Einmal angenommen, Annegret Kramp-Karrenbauer und Nico Lange würden die „Arbeitsgruppe Semantik“ im Konrad-Adenauer-Haus wachküssen – was müsste heute erörtert werden? Gewiss, die „Rote Semantik“ in ihrem unverdrossenen Kampf für das Binnen-I und gegen das generische Maskulinum ist nicht schrecklich en vogue, umso mehr die gegenwärtigen Agenten der öffentlichen Information (und Desinformation!): Twitter, Facebook, Google, Reddit, Instagram und Snapchat. Ebenfalls wären die unterschiedlichen aktuellen politischen Komposita einer Analyse zur unterziehen. Es ist schwer, ohne konkrete Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit ins Detail zu gehen. Machen wir uns also ans Werk!

Die Rede Biedenkopfs auf dem Parteitag 1973 blieb indes kein Lippenbekenntnis. So wurde im Konrad-Adenauer-Haus eine „Arbeitsgruppe Semantik“ eingerichtet. Im Archiv für Christliche Demokratische Politik in Sankt Augustin geben die Protokolle der Arbeitsgruppe ein beredtes Zeugnis einstiger Mühewaltung ab. Mit linguistisch-wissenschaftlicher Distinktion betrachtet war der Ertrag überschaubar, vieles wirkt heute sonderbar bemüht. Die stilbildenden Untersuchungen von Wolfgang Bergsdorf – späteres Mitglied in Helmut Kohls Küchenkabinett – zum Spannungsverhältnis von Politik und Sprache wurden jenseits der Fakultäten noch nicht vollends wahrgenommen.

Die „Ehe für Alle“ Eine besonders ärgerliche, weil weitgehend unreflektierte Begriffsübernahme ist der von François Hollande bei den französischen Präsidentschaftswahlen 2012 geprägte Ausdruck „Ehe für alle“ („mariage pour tous“). Es handelt sich demnach um einen Kampagnenbegriff, der sich peu à peu gegen die Parallelbegriffe „gleichgeschlechtliche Ehe“ oder „Homo-Ehe“ durchsetzen konnte. Um Missverständnissen vorzubeugen: Mit der Entscheidung des Deutschen Bundestages ist am 30. Juni des Jahres 2017 entgegen anderslautender Meldungen der bürgerliche Wertehimmel nicht eingestürzt.

»Erster Ertrag der AG Semantik: die Drillingsformel ›sicher, sozial, frei‹, die fortan das CDU-Logo schmückte.«

Es geht um etwas anderes: Mit der Begrifflichkeit „Ehe für Alle“ verblasste ein Argument der Befürworter, nämlich die Stärkung der Institution Ehe – von der 68er-Linken noch als Unterdrückungsinstrument von Staat und Kirche gesehen. „Ehe für alle“, das klingt nach Gratismentalität, dem Griff ins Optionsregal – aber nicht nach dem verantwortungsvollsten Lebensmodell mit zwei Bezugspersonen für Kinder. Ehedem ging es den französischen Sozialisten auch gar nicht darum, die Ehe zu stärken, sondern den politischen Gegner vor sich herzutreiben.

Und doch war die „Arbeitsgruppe Semantik“ mehr als eine Fußnote in der Modernisierungsgeschichte der Christdemokratie der frühen 1970er Jahre. Die schiere Beschäftigung mit Sprache, die Einsicht, die Bonner Oppositionszeit zu nutzen, um dem sozialliberalen Zeitgeist (ein Lieblingsschimpfwort der AG) semantisch etwas entgegenzustellen,

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»Welcher halbwegs vernünftige Mensch wäre schon gegen eine Kooperation zwischen Bund und Land?« paar Körben wird man da nichts erben. Welcher halbwegs vernünftige Mensch wäre schon gegen eine Kooperation zwischen Bund und Land? Fazit: Wer für den Bildungsföderalismus ist, sollte nicht das hohe Lied des ominösen Kooperationsverbotes singen, sondern die historisch gewachsene Länderhoheit über Schule und Kultur verteidigen, was in Zeiten maroder Schulgebäude bereits ohne Sprachballast schwer genug ist.

Die Formel „Ja zur Ehe“ (ebenfalls durchaus hashtagtauglich) wäre hingegen ungleich wirkungsvoller gewesen, zwischen den Anhängern der normativen Kraft des Faktischen (Pro) als auch die Verfechter der faktischen Kraft des Normativen (Veto) erstaunliche Übereinkünfte zutage zu fördern. Die Chance nicht nur reaktiv wahrgenommen zu werden, wurde durch einen freudlosen Umgang im Konrad-Adenauer-Haus mit der Sprache vergeben. Dabei war doch auch Clio eine Muse! Sprachlich gewannen die Aktivisten und jakobinischen Eiferer auf beiden Seiten die Oberhand.

»Das Kunstwort ›GroKo‹ bedient das Geschäft der Verächtlichmacher des politischen Kompromisses.«

Das „Kooperationsverbot“ Das Kooperationsverbot ist hingegen ein Kampagnenbegriff mittlerer Reichweite. Der Begriff leitet sich aus dem durch die Föderalismusreform im Jahr 2006 geänderten Artikel 104b des Grundgesetzes ab. Dort wurden Finanzhilfen des Bundes in Bereichen, in denen die Länder die alleinige Gesetzgebungskompetenz haben, ausgeschlossen. Der Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD sieht eine Neugestaltung dieser Regelung vor. Die Verfassungsänderung ist die Voraussetzung für den Mittelabfluss in die Länder. Expressis verbis kommt das Wort „Kooperationsverbot“ im Grundgesetz jedoch gar nicht vor. Der Terminus beschreibt auch nicht mehr die aktuelle Verfassungswirklichkeit. In den Jahren 2014 und 2017 wurde das Verbot bereits gelockert. Der Bund konnte nunmehr langfristig Hochschulen unterstützen. Der Begriff „Kooperationsverbot“ war nie ganz richtig, seit der Reform der Föderalismusreform ist er aber gewollt irreführend. Es gab noch nie so viel Kooperation wie zu Zeiten des sogenannten Kooperationsverbotes! Gleichwohl hat auch die Union längst den Begriff internalisiert. Einen falschen Begriff um einer richtigen Sache Willen zu verteidigen, ist aber eine fast aussichtslose Angelegenheit – außer ein

Die „GroKo“ Das Kurz- und Kunstwort „GroKo“ als Synonym für die Große Koalition hat sich inzwischen ebenfalls bis in die Union hinein etabliert, obwohl die Nachteile der Mode auf der Hand liegen: Er bedient das Geschäft der Verächtlichmacher des politischen Kompromisses. Im Begriff „GroKo“ mischen sich rotzige Juso-Netzwelt-Folklore (#NoGroKo) mit dem üblich gewordenen hämischen Ton selbstverliebter Politbetrieb-Kritikaster. Der Begriff „GroKo“ mag recht anschaulich beschreiben, dass Union und SPD, von einstigen Höhen entfernt, eben nicht mehr für ein mächtiges Reptil am Ende der Nahrungskette stehen, sondern offenbar nur noch das minderbegabte Kroko aus dem Kasperltheater. Als Chiffre steht „GroKo“ jedoch auch für die Mühen der demokratischen Ebene. Die Gesellschaft für deutsche Sprache kürte „GroKo“ einst zum Wort des Jahres 2013 (nicht der erste Missgriff der Sprachforscher). Geht der halbernste Spott in ein

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»Die Vereinnahmung von Symbolen, Begriffen, Personen und Geschichte sollte mit größerer Beherztheit entgegengetreten werden.«

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Leitkultur redet, zuweilen streitet, die Diskussion aber zulässt. Jens Spahn schrieb jüngst in der FAZ unter „Fremden Federn“ über die „die bürgerliche Sehnsucht nach Heimat, Sicherheit, Ordnung und Geborgenheit.“ Es geht hier aber auch um das agonale Prinzip eines regelrechten Sprachkampfes. Die Vereinnahmung von Symbolen, Begriffen, Personen und Geschichte sollte mit größerer Beherztheit entgegengetreten werden. Warum sollten wir den Einschätzungen der Kinder von Franz Josef Strauß (Monika Hohlmeier) und Alfred Dregger (Burkhard Dregger) Konservative in der Union weniger Glauben schenken als irgendwelchen zeitweiligen Kofferträgern ihrer Väter? Der Enkel Gustav Stresemanns (Walter Stresemann) kämpft derzeit mit guten Argumenten um das postmortale Persönlichkeitsrecht seines Großvaters.

Rendezvous mit dem düsteren Geraune am Narrensaum der Republik über, verliert das Wort schnell seinen infantilen Charme. Und das mit dem Wort „GroKo“ einhergehende Bashing hat eine ungute Tradition in Deutschland. Hierzulande hatte das politische Zugeständnis von Parteien im Grunde selten einen besonders positiven Leumund. Sprache und Standort Die Miniatur-Fallstudien sind aber Kleingeld im Vergleich zur Gefahr, die von der Verrohung der Sprache ausgeht. Nicht nur im Schutz der Anonymität des Internets oder im Schatten des Kyffhäuser-Denkmals gedeiht die Latrinenparole. Vor der Sommerpause machten sowohl der Bundespräsident als auch die Bundeskanzlerin auf diesen Umstand aufmerksam, forderten mehr Disziplin beim Umgang mit der Sprache an. Ein Appell, nicht das Geschäft der AfD zu betreiben. Von dort wird die Grenze zum Unsagbaren sukzessive geschliffen.

Apropos: Die selbsternannte Facebook-Gruppe „Konrads [Adenauers] Erben“ – große Männer haben manchmal illegitime Nachfolger – sollte weitaus mehr über den Zentrumspolitiker, Kölner Oberbürgermeister und entschiedenen Gegner des Nationalsozialismus und deren Helfershelfern nachschlagen, statt in der geradezu erratischen Anti-Merkel-Bugwelle als AfD-Borderliner zu ertrinken. Wie sagte schon Franz Josef Strauß in seiner eingangs zitierten Rede:

»Die Christdemokratie muss über Freiheit, Werte, Familie, Heimat, Identität und Leitkultur reden, zuweilen streiten.«

„Als im Jahr 76 das neue Grundsatzprogramm [der CSU], – dessen Vater ja ein Ihnen wohlbekanntes Mitglied der Jungen Union war, der jetzt wegen Überschreitens der Altersgrenze schon zu den Senioren zählt, nämlich unser Freund Waigel – als unter seiner Federführung das neue Grundsatzprogramm entstand – lese ich in dem Entwurf, die CSU sei eine konservative Partei. Ich habe gesagt, Freunde so haben wir nicht gewettet. Vor sieben Jahren habt Ihr das rausstreichen wollen, jetzt hat sich die Zusammensetzung ein bißchen geändert, jetzt wollt Ihr wieder schreiben: eine konservative Partei. Das mache ich nicht mit. Wir bleiben bei der alten Bezeichnung. Das gibt mir Veranlassung, meine Damen und Herren, zu bemerken, daß sich das Koordinatensystem um uns oft gewandelt hat. Man muß aber selber einen festen politischen Standort haben.“

Es wäre ein fataler Fehlschluss zu glauben, denjenigen, die da über „Systemparteien“, „Schuldkult“, „Denkmal der Schande“, „Lügenpresse“, „Volks­ verräter“, „Vogelschiss“ und „1000-Jahre-Deutschland“ schwadronieren, ginge es um einen U-Turn in die alten Zeiten der Bundesrepublik; etwa in die Ära Adenauer, als an Neologismen wie Willkommenskultur, Gender Mainstreaming, Diversität, Inklusion usw. noch nicht einmal zu denken war. Nimmt man die Grundsätze der Neurechten ernst, so sind dort keine bundesrepublikanischen Nostalgiker am Werk. Vielmehr verfolgen sie die Strategie der kulturellen Hegemonie des italienischen Marxisten Antonio Gramsci (1891 bis 1937), die besagt, dass der gesellschaftlichen Umwälzung, dem revolutionären Fanal, zunächst die Deutungshoheit, über was sonst als Begriffe, vorangegangen sein muss.

Gegen die misanthropische, oftmals grob kirchenfeindliche Sprache der Völkischen, der der Containerbegriff Rechtspopulismus eher nützt als sie entlarvt, bedarf es einer Vergewisserung und mutigen Auslegung des eigenen Standorts. Kein

Diese Kulturstrategie, auch „gramiscisme de droite“ genannt, macht es unabdingbar, dass die Christdemokratie über Schlüsselbegriffe wie Freiheit, Werte, Familie, Heimat, Identität und

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davor scheuen, diesen großzudenken, ihn zu entwickeln, stark zu machen, mit Sprache verantwortungsvoll gestalten. Dann gilt es, dass unsere politische Überzeugung endlich auch semantisch aus der Defensive kommt.

Zweifel: Nach der Schlacht ist jeder gerne General, aber ernste Zeiten bedürfen mehr sprachlicher Konzentration und Klarheit, als das Wörterbuch der Kreativen (#fedidwgugl) hergibt, zumal das Wahlrecht nicht allein für die Berlin-Mitte-Hautevolee gilt. Klarheit heißt, sich die Zeit zu nehmen, Begriffe wie etwa Flüchtlinge und Asylbewerber oder Chancengerechtigkeit und Chancengleichheit nicht permanent zu simplifizieren und zu verwechseln. Ferner erhebt die christdemokratische Sprache keinen Anspruch auf bösartige Formeln und Hysterie, aber ebenso wenig auf eine naive Variante des unbedingten humanitären Imperativs und Thatchers inzwischen adaptierte TINA-Maxime: „There is no alternative“.

Damit verlassen wir das unsichere Terrain der Gegenwartsbeschreibung, um uns der größten begrifflichen Unzulänglichkeit des wiedervereinigten Deutschlands zuzuwenden. Viele Länder haben für die Ereignisse des Völkerfrühlings des Annus mirabilis 1989 verschiedene Bezeichnungen. Die sangesfreudigen Balten sprechen von der „Singenden Revolution“, die Tschechen von der „Samtenen Revolution“. Die Deutschen, anstatt von „Friedlicher Revolution“ zu sprechen, versuchten sich allzu lange an der Terminologie ausgerechnet eines Egon Krenz: Die Legende von der „Wende“ war geboren – ganz so, als ob lediglich ein spröder Regierungswechsel stattgefunden habe.

Und nun? Vorhang zu und alle Fragen offen? Bei allem Respekt vor der Eisernen Lady hilft bei unserem Thema ein anderer Tory mehr: Lord Salisbury, britischer Premierminister des späten 19. Jahrhunderts, brachte das Wesen konservativer Politik auf eine bündige Formel: „Es geht darum, den Wandel zu verzögern, bis er harmlos geworden ist.“ Ein schlichter Satz, mit einer zutiefst humanen Aussage: durch Amtshandeln und nicht zuletzt das Sprechen darüber, Menschen vor sozialen Überwältigungen zu schützen. Maß und Mitte, Ausgleich und Synthese als Richtschnur. Temporale Kontinuität sollte Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges verbinden, im Slogan von „Laptop und Lederhose“ vortrefflich verwirklicht.

»Verliert die Christdemokratie den Kampf um Begriffe, so verliert sie ihre Ordnung.« Einmal in der Welt, förderte das zähe aber bewusst lieblos-nüchterne Wort (bis dato eigentlich für den Regierungswechsel 1982 vorbehalten) nicht die Deutsche Einheit, sondern Vorbehalte hüben wie drüben. Die Beschäftigung mit dem Werkzeug Sprache kann helfen, einen derartigen Fauxpas frühzeitig zu unterbinden. Verliert die Christdemokratie den Kampf um Begriffe, so verliert sie ihre Ordnung. Die Union verliert, um es mit Franz Josef Strauß zu sagen, sodann eben jene „geistige Selbstbehauptung“.

Wer dagegen Begriffe wie „Notstand“, „Staatsversagen“ oder gar „konservative Revolution“ ungetrübt und repetitiv im Mund führt, muss sich fragen, ob dieser „Hunger nach Monumentalität“ (Armin Mohler) nicht der Gesellschaftsgestaltung unseres Landes entgegensteht. Der mühsame parlamentarische Betrieb mit seinem speziellen Webmuster aus drei Lesungen, dem Bund-Länder-Kompetenzgeflecht und Gesetzesnovellen wurde nicht nur in Kauf genommen, sondern entwickelte trotz oder wegen seines Phlegmas bislang überzeugende Ergebnisse. Die fruchtbaren Verbindungen zum Konservatismus sollten sich keinesfalls am pseudoelitären Rechts-Intellektualismus der Weimarer Republik orientieren. Derartige semantische Kalamitäten werden dort noch gravierender, wo sprachlich die Seile zur katholischen Soziallehre und evangelischen Sozialethik gekappt werden.

Oder anders ausgedrückt: Es gibt ein anthropologisches Grundbedürfnis nach dem „ungeheure[n] Gebälk und Bretterwerk der Begriffe, an das sich klammernd der bedürftige Mensch durch das Leben rettet“, wie bereits der selbst dem Nihilismus zugewandte Friedrich Nietzsche treffend feststellte. Dessen bekanntester Satz hat die überschaubare Länge von zehn Buchstaben und einem Rufzeichen („Gott ist tot!“). Eine äußerst gelungene Rezeption gelang dem listigen Norbert Blüm, der 1989 vor Werftarbeitern in Danzig den Nietzsche-Satz aus der realsozialistischen Zwangsjacke befreite und ausrief: „Marx ist tot, Jesus lebt!“. Die perfekte Umkehrung.

Wenn wir aber überzeugt sind, dass ein Begriff den Umstand richtig beschreibt, sollten wir uns nicht

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»Es geht darum, den Wandel zu verzögern, bis er harmlos geworden ist.«

Dr. Clemens Escher ist Mitglied im Landesvorstand der CDU Berlin und Mitarbeiter der Bundestagsabgeordneten Sybille Benning. Promoviert wurde der KAS-Altstipendiat mit seiner Dissertation „Deutschland, Deutschland, Du mein Alles!“ über das Suchen und Finden einer Nationalhymne.

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Grenzwachturm der ehemaligen Führungsstelle Kieler Eck mit Gedenkstätte für Günter Litfin (†24), den ersten erschossenen Flüchtling an der Berliner Mauer



von Lars P. Feld

»Wohlstand für alle« Eine Frage der Verteilung?

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Den Vätern der Sozialen Marktwirtschaft ging es um soziale Teilhabe und Aufstiegschancen. Wie steht es heute um dieses Wohlstandsversprechen? Ein Beitrag zur aktuellen Gerech­tigkeitsdebatte. Sicht durchaus auslegungsfähige Begriffe. Am neutralsten dürfte ihre Interpretation als das „Sozialkapital“ in einer Gesellschaft sein. Sozialkapital sorgt für Vertrauen der Menschen untereinander, ohne dass auf formale Regeln zurückgegriffen werden muss. Vertragspartner können auf Vertragseinhaltung hoffen, ohne sich zwingend der rechtlichen Rahmenbedingungen zu vergewissern.

„Deutschland wird flächendeckend ärmer“ – so oder so ähnlich lauten Schlagzeilen in der bereits einige Jahre anhaltenden Gerechtigkeitsdebatte. Dies verwundert, ist doch die gesamtwirtschaftliche Lage derzeit so gut wie noch nie. Die deutsche Wirtschaft befindet sich im Aufschwung, die Produktionskapazitäten sind gemäß den Berechnungen des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und der Deutschen Bundesbank bereits seit dem Jahr 2016 ausgelastet. Der deutsche Arbeitsmarkt brummt. Die Beschäftigung eilt von Rekord zu Rekord, die Arbeitslosigkeit sinkt. Es herrscht nahezu Vollbeschäftigung bei geringen Inflationsraten. Aber – so die Behauptung – die gute Wirtschaftslage komme nicht bei allen an. Wohlstand für alle sei heutzutage in weite Ferne gerückt. Die Soziale Marktwirtschaft funktioniere hierzulande nicht mehr.

Alfred Müller-Armack schließlich ist der Schöpfer des Begriffs „Soziale Marktwirtschaft“. Auf Basis seiner sozialen Irenik erkannte er dem Staat eine umverteilende Funktion zu. Marktergebnisse, die politisch unerwünscht sind, sollten durch das Steuertransfersystem korrigiert werden. Den Vätern der Sozialen Marktwirtschaft ging es um soziale Teilhabe und Durchlässigkeit der Gesellschaftsschichten. Das darin enthaltene Aufstiegsversprechen mündete nicht zuletzt im Bildungsanspruch breiter Bevölkerungsschichten. In der jungen Bundesrepublik wurde nicht über bildungsferne Schichten geredet. Man wollte vielmehr auf der gesellschaftlichen Leiter nach oben steigen.

Ludwig Erhards „Wohlstand für alle“ war eng verbunden mit dem Konzept der Sozialen Marktwirtschaft, wie es von Ordnungsökonomen während des Zweiten Weltkrieges und in den folgenden Jahren erarbeitet wurde. Die Freiburger Schule um Walter Eucken und Franz Böhm betonte unter anderem die Funktionsweise des Preissystems, die durch eine geeignete Wettbewerbspolitik sichergestellt werden sollte. Die Bekämpfung und die Verhinderung wirtschaftlicher Macht sollen demnach für eine Teilhabe breiter Bevölkerungsschichten sorgen. Die Marktwirtschaft wird umso sozialer, je weiter sie sich von vermachteten Strukturen entfernt. Dem europäischen und deutschen Wettbewerbsrecht ist es in der Vergangenheit gelungen, einen funktionierenden Wettbewerb sicherzustellen. Es besteht kein Grund zur Annahme, dass dies zukünftig nicht gelingen wird.

Soziale Teilhabe ist immer noch der Kern dieses Wohlstandsversprechens. Aber wird sie erreicht? Eine einfache Antwort lautet: leider nicht vollständig. Aber dies lässt sich nicht einfach an den in der Ungleichheitsdebatte im Vordergrund stehenden Statistiken ablesen. Zu diesen Statistiken gehören die Daten zur Einkommens- und Vermögensverteilung und die sogenannten Armutsgefährdungsquoten. Genau betrachtet handelt es sich um Verteilungsmaße, die das Ausmaß an (relativer oder absoluter) Armut in Deutschland nicht erfassen können. Mikrozensus und Sozio-oekonomisches Panel

Soziale Teilhabe und Aufstiegsversprechen Die Probleme beginnen mit der Datenqualität. Einkommen und Vermögen sind heikle Größen. Werden Menschen danach gefragt, kommt es vor, dass sie nicht die wahren Verhältnisse berichten oder aber dass sie nicht hinreichend über ihre eigenen Verhältnisse Bescheid wissen.

Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow interessierten sich neben den Rahmenbedingungen für eine funktionierende Marktwirtschaft für die ihr zugrunde liegenden Wertorientierungen und kulturellen Voraussetzungen. Dies sind aus heutiger

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Transfers. Die Lohnungleichheit stieg nach dem Jahr 2005 an, war zuletzt aber rückläufig. Die Zahlen des Mikrozensus sind im Trend nach oben gerichtet und volatiler; vor allem lassen sie den Vergleich mit der Zeit vor 2005 nicht zu. Dies ist in der Diskussion um die Agenda 2010 wichtig.

Die in Deutschland originär erhobenen Daten werden vom Statistischen Bundesamt im Rahmen des Mikrozensus oder vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) im Sozio-oeko­ nomischen Panel (SOEP) erfasst. Internationale Organisationen greifen auf diese beiden Datengrundlagen zurück.

Geheimnis des Trendbruchs Beim Mikrozensus handelt es sich um eine schriftliche Befragung, während das SOEP Face-to­-FaceInterviews durchführt. Angesichts der heiklen Befragungsinhalte führt die Methode des SOEP zu verlässlicheren Angaben, weil die Interviewer Anzeichen für Unsicherheit oder Unwahrheit erkennen und nachhaken können. Zudem liegen die Befragungen des SOEP seit Anfang der 1980er Jahre für Westdeutschland und seit der Wiedervereinigung für Gesamtdeutschland vor, sodass längerfristige Trends betrachtet werden können, während der Mikrozensus mit dieser Datenerhebung erst im Jahr 2005 einsetzt.

Wer mit dem durch die Daten angezeigten Niveau an Einkommensungleichheit unzufrieden ist, wird auf stärkere Umverteilung dringen. Dies lässt sich wissenschaftlich nicht entscheiden, weil die Akzeptanz eines Verteilungsniveaus eine rein normative Frage ist. Allerdings darf über die Sinnhaftigkeit einer stärkeren Einkommensumverteilung debattiert werden. Deutschland gehört zu den Ländern in der OECD, die am stärksten Einkommen umverteilen. Die Einkommensverteilung vor und nach Steuern und Transfers wird nur in Belgien, Finnland und Österreich stärker korrigiert als in Deutschland.

Schließlich hat der Mikrozensus den Nachteil, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen, insbesondere Ausländer, unterrepräsentiert sind. Das SOEP arbeitet hingegen mit Oversampling unterschied­ licher Bevölkerungsgruppen, um poten­zielle Verzerrungen zu beheben. Im Grunde besteht mit den Daten der Einkommensteuer eine dritte Quelle, die aber durch Lücken im unteren Einkommensbereich gekennzeichnet ist. Daten zur Lohnungleichheit lassen sich stützend heranziehen, obwohl andere Einkommensarten dabei naturgemäß außen vor bleiben.

Die Umverteilung durch das Steuertransfersystem zeigt sich insbesondere an der Entwicklung der Einkommen in einzelnen Einkommensdezilen. Ein Dezil bedeutet einen Zehntelwert, das heißt, die Verteilungskurve wird in zehn gleiche Teile geteilt. Sowohl für die Markt- wie für die Haushaltsnettoeinkommen lässt sich ein Anstieg des Medianeinkommens seit der Wiedervereinigung feststellen. Der Median teilt eine Verteilung in zwei Hälften, sodass fünfzig Prozent über und fünfzig Prozent unter dem Median liegen. Die Einkommensdezile oberhalb des Medians können höhere Einkommenssteigerungen realisieren als der Median. Aber selbst die Einkommen derjenigen, die sechzig Prozent des Medianeinkommens verdienen, sind im Zeitverlauf angestiegen. Bei dieser Gruppe handelt es sich um die sogenannten armutsgefährdeten Menschen. Ihren (Median-)Einkommensanteil misst die Armutsgefährdungsquote.

»Deutschland gehört zu den Ländern in der OECD, die am stärksten Einkommen umverteilen.«

Das unterste Einkommensdezil, also die untersten zehn Prozent in der Einkommensverteilung, hat seit der Wiedervereinigung bis ins Jahr 2006 erheblich an Markteinkommen eingebüßt. Dies ist Ausdruck der Entstehung eines Niedriglohnsektors lange vor der Lohnzurückhaltung der Gewerkschaften Ende der 1990er Jahre und den Arbeitsmarktreformen der Regierung Schröder. Der leichte Anstieg der Markteinkommen dieses Einkommenssegments in der Zeit danach stagnierte zuletzt.

Die Zahlen des SOEP weisen seit der Wiedervereinigung bis in das Jahr 2005 einen Anstieg der Einkommensungleichheit aus. Danach steigt diese nicht mehr weiter an. Kleine Bewegungen nach unten oder nach oben, die in den Folgejahren auftreten, bewegen sich im Rahmen der statistischen Unschärfe und sind nicht signifikant. Dies gilt für die Markteinkommen, also bevor der Staat mit Steuern und Transfers eingegriffen hat, wie für die Haushaltsnettoeinkommen, also nach Steuern und

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ÂťIn der jungen Bundesrepublik wurde nicht Ăźber bildungsferne Schichten geredet. Man wollte vielmehr auf der gesellschaftlichen Leiter nach oben steigen.ÂŤ

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Ansprüche der Begünstigten gegenüber. Mit Armut haben die genannten Statistiken und Trends wenig zu tun. Dies gilt nicht zuletzt für die Armutsgefährdungsquote. Diese ist ein alternatives Verteilungsmaß. Steigen alle Einkommen in Deutschland um das Drei- bis Vierfache, so bleibt der Anteil derjenigen, die sechzig Prozent des Medianeinkommens erhalten, gleich. Die Armutsgefährdungsquote ändert sich nicht, obwohl alle ein höheres Einkommen realisieren. Ein besserer Indikator ist die Grundsicherungsquote, also der Anteil derjenigen, die aus unterschiedlichen Gründen Grundsicherung beziehen. Dieser Anteil ist in den vergangenen zehn Jahren gesunken. Allerdings hat dieser Indikator den Nachteil, dass eine größere Generosität des Sozialstaats sich in mehr Grundsicherungsbeziehern niederschlägt.

Allerdings ist die Entwicklung der Haushaltsnettoeinkommen im untersten Dezil deutlich moderater. Nach Steuern und Transfers verliert das unterste Einkommensdezil hingegen nur noch wenig. Die staatlich organisierte Umverteilung kommt der untersten Einkommensschicht zugute. Die Soziale Marktwirtschaft funktioniert also in dem Sinne, dass unerwünschte Marktergebnisse durch das Steuertransfersystem in erheblichem Maße korrigiert werden. In gewisser Weise ist der deutsche Sozialstaat dabei zielgenauer geworden. Gleichwohl kann man damit nicht zufrieden sein, dass am unteren Ende der Einkommensskala wenig Teilhabe am Anstieg des Wohlstandes festzustellen ist. Eine solche Teilhabe lässt sich am ehesten durch ein Beschäftigungsverhältnis erreichen. Dies ist das Geheimnis des Trendbruchs in der Entwicklung der Einkommensungleichheit. Während soziologische Faktoren, wie die Zunahme der Einpersonenhaushalte, die nach dem Jahr 2005 anhielt, für sich genommen die Einkommensungleichheit weiter nach oben getrieben haben, hat der Rückgang der Arbeitslosigkeit seit 2005 diese Effekte kompensiert, sodass kein Anstieg der Einkommensungleichheit mehr resultierte. Die Agenda 2010 hat mehr Teilhabe ermöglicht und damit ein Versprechen der Sozialen Marktwirtschaft erneuert.

»Es gibt Armut in Deutschland. Sie wird aber durch die Statistik unzureichend erfasst.« Vor diesem Hintergrund muss man feststellen, dass die Debatte am Kern sozialer Probleme vorbeigeht. Es gibt Armut in Deutschland. Sie wird aber durch die Statistik unzureichend erfasst. Vor allem zielen derzeit diskutierte politische Maßnahmen nicht auf eine Rückführung der Armut ab, sondern auf eine Reduktion der Unsicherheit in der Mittelschicht. Dies gilt etwa für eine Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I. Dabei sind die Abstiegsängste der Mittelschicht unbegründet, denn sie hat ihren Einkommensanteil im Zeitablauf kaum verändert.

Verfehlte Debatte Die Vermögensungleichheit ist in Deutschland deutlich stärker ausgeprägt als in anderen OECD-Ländern. Dies hat mehrere Gründe, nicht zuletzt die geringe Wohneigentumsquote und die Bedeutung von Familienunternehmen im deutschen Mittelstand. Ein Umstand sollte jedoch stärker zu denken geben: Unter den Ländern mit der stärksten Vermögensungleichheit in der OECD finden sich neben Deutschland Österreich und die Schweiz sowie Dänemark, Finnland und Schweden. Diese Länder besitzen funktionierende Wohlfahrtsstaaten, insbesondere gut ausgebaute staatliche Alterssicherungssysteme. Erkennt man die Ansprüche aus der gesetzlichen Rentenversicherung, den Beamtenpensionen und den betrieblichen Alterssicherungssystemen als vermögensähnliche Anwartschaften an, machen diese zusammen mehr als die Hälfte des gesamten Nettovermögens in Deutschland aus. Die Vermögensungleichheit nimmt um ein Drittel ab. Der impliziten Verschuldung des Staates stehen vermögensähnliche

Die Soziale Marktwirtschaft funktioniert zwar in Deutschland, aber ein Versprechen kann sie immer weniger einlösen: Die Chance, in höhere Einkommensschichten aufzusteigen, nimmt im Zeitablauf ab. Viele machen dafür das Bildungssystem verantwortlich, ohne Kohorteneffekte zu berücksichtigen: Wenn seit Ende der 1960er Jahre immer mehr Menschen Abitur haben, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder, die heute Abitur machen, aus einem Elternhaus mit Abitur stammen. Hinzu kommt, dass Partnerschaft und Heirat verstärkt in der gleichen sozialen Schicht stattfinden. Diese Phänomene müssen im Mittelpunkt des zukünftigen Interesses stehen.

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»Die Soziale Marktwirtschaft funktioniert zwar in Deutschland, aber ein Versprechen kann sie immer weniger einlösen: Die Chance, in höhere Einkommensschichten aufzusteigen, nimmt im Zeitablauf ab.«

Prof. Dr. Lars Peter Feld wurde 1966 in Saarbrücken geboren und ist seit 2010 Direktor des Walter Eucken Instituts Freiburg und Professor für Wirtschaftspolitik an der Universität Freiburg. Seit 2011 ist er Mitglied des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, seit 2013 Mitglied des Beirates des Stabilitätsrates.

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Ulrich Schröder: einer der führenden Banker Deutschlands Ein persönlicher Nachruf von Hans Reckers

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Noch bis vor kurzem war er Vorstandsvorsitzender der KfW, der weltweit größten nationalen Förderbank, als er die Diagnose Krebs erhielt. Seiner Krankheit ist Ulrich Schröder nun vor kurzem erlegen. Unser Autor Hans Reckers erinnert sich an die gemeinsamen Jahre mit Schröder während seiner Zeit als Studentenführer.

Der Philosoph Karl Popper mit seinem Hauptwerk „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ bot damals für viele von uns im RCDS – auch für Ulrich – eine grundlegende Orientierung. Die politischen Fronten an den Hochschulen verliefen damals nicht vorrangig zwischen den politischen Parteien, sondern zwischen Anhängern und Gegnern des politischen Systems. Interessant ist, dass sich damals auch Helmut Schmidt und andere Sozialdemokraten in der Auseinandersetzung mit dem Neomarxismus auf Popper bezogen.

Nach schwerer Krankheit ist Ulrich Schröder am 25. März 2018 im Alter von 66 Jahren gestorben. Mit seiner Ende 2015 diagnostizierten Krebserkrankung ging er offen um und hoffte – letztlich vergeblich – auf vollständige Genesung. Nach der Schulzeit und einem erfolgreichem Jurastudium samt Referendarzeit in Münster promovierte Ulrich über Arbeitszeitgrenzen im Rentenrecht und begann dann eine lange Laufbahn bei öffentlichen Banken. Er war zunächst bei der Westdeutschen Landesbank mit Stationen in Münster, Düsseldorf, London und Paris; dann Vorstandsvorsitzender der NRW-Bank und schließlich der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW).

Die anderen politischen Fronten an der Hochschule kamen auch dadurch zum Ausdruck, dass im RCDS auch einige SPD- und FDP-Mitglieder mitarbeiteten. Im Sozialliberalen Hochschulverband (SLH) hatten sich SPD- und FDP-Mitglieder organisiert, die für Reformen im Rahmen des Systems eintraten und mit uns im RCDS koalierten.

»Der Philosoph Karl Popper mit seinem Hauptwerk ›Die offene Gesellschaft und ihre Feinde‹ bot für Ulrich eine grundlegende Orientierung.«

Für Ulrich waren zwei Grundthemen wichtig: Auf der einen Seite die grundlegenden Auseinandersetzungen zwischen Anhängern und Gegnern des freiheitlichen Systems und auf der anderen Seite die Orientierung der studentischen Vertretung an konkreten Interessen der Studenten, zum Beispiel an Studienreformen und studentischen Sozial­ interessen. 1974 wurde er als Nachfolger von Gerd Langguth Bundesvorsitzender des RCDS. Seine Stellvertreter waren Dorothee Buchhaas und Werner Kaldeich. Ein bundesweiter Studienreformkongress in Münster war ein Höhepunkt seiner Amtszeit.

Besonders bei der KfW konnte er sein Verständnis von öffentlicher Banktätigkeit umsetzen, was auch in einem neuen Slogan „Bank aus Verantwortung“ zum Ausdruck kam. Er hatte in seiner Bank-Karriere großen Erfolg und war einer der führenden Banker Deutschlands. Während des Studiums war Ulrich im RCDS aktiv und war an inhaltlichen Themen sehr interessiert. Die Jura-Studenten in Münster wählten ihn mit seinem Team zum Fachschaftssprecher.

Ulrich kam aus einem katholischen Elternhaus. Sein Vater war Direktor der Sparkasse in Melle bei

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Dr. Hans Reckers war von 1975 bis 1977 Bundesvorsitzender des RCDS. Von 1990 bis 1992 war er Finanzstaatssekretär in Sachsen, von 2002 bis 2009 Mitglied des Vorstandes der Deutschen Bundesbank und von 2015 bis 2016 Wirtschaftsstaatssekretär des Landes Berlin.

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»Manchmal sprach er von der grundlegenden Bedeutung der ›drei F‹ als Voraussetzungen für ein erfülltes Leben: Frieden, Freiheit, Freundschaft.«

Osnabrück, er hat eine Schwester. Mit seiner Ehefrau Maria war er fast 40 Jahre verheiratet; drei Kinder und drei Enkel haben sie bekommen. Familie und Freunde waren für Ulrich und Maria immer sehr wichtig. Sehr gern luden sie zu schönen Festen ein.

interessiert. Familie und Beruf waren seine dominierenden Lebensbereiche. Prägend für sein Denken war bis zuletzt sein katholischer Glaube. Er betonte auch in seinen letzten Monaten, wie dankbar er Gott sei, dass ihm seine Familie und seine Berufsmöglichkeiten geschenkt wurden. Manchmal sprach er von der grundlegenden Bedeutung der „drei F“ als Voraussetzungen für ein erfülltes Leben: Frieden, Freiheit, Freundschaft.

»Er betonte auch in seinen letzten Monaten, wie dankbar er Gott sei, dass ihm seine Familie und seine Berufsmöglichkeiten geschenkt wurden.«

Ich habe Ulrich 1972 bei den Juristen im RCDS in Münster kennengelernt und wurde 1975 sein Nachfolger als RCDS-Bundesvorsitzender. Unsere Familien sind bis heute befreundet. Viele Freundschaften haben sich seit RCDS-Zeiten erhalten. Wir trauern um Ulrich und bleiben seiner Familie eng verbunden.

Ulrich war sehr zuverlässig, gradlinig und zielstrebig. Alles sollte bei ihm möglichst geordnet und strukturiert sein. Formgestaltungen waren ihm wichtig; er hat sich sehr für Architektur und Kunst

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von Ulrich Schnakenberg

Mit Helmut Kohl auf der Schulbank Geschichtsunterricht gegen Ideologien

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Kanzler der deutschen Einheit, begnadeter Außenpolitiker, an Wirtschaftsthemen eher wenig interessiert: So lautete der Grundtenor der zahlreichen Nachrufe auf den verstorbenen Altkanzler. Dass Kohl als Ministerpräsident in Rheinland-Pfalz richtungsweisende Schulreformen angestoßen hat, blieb dabei praktisch unerwähnt. Ein Beitrag über eine bislang unbekannte Facette des Altkanzlers.

Schule, Betrieb und Hochschule“ negiert und die Betroffen deshalb nicht adäquat gefördert werden, klingt jedem im Ohr, der sich heute mit den in hohem Maße ideologisch aufgeladenen Themen Gesamtschule, Inklusion oder „Längeres gemeinsames Lernen“ befasst. Selbst die aktuelle Diskussion um die beständige Ausweitung der Abiturquote, die in Kombination mit dem Zuwachs an Bestnoten die Allgemeine Hochschulrufe letztendlich immer mehr entwertet, lässt sich durchaus als Folge der von Kohl kritisierten „zunehmenden Verteufelung des Leistungsprinzips“ interpretieren.

Besonders prägnant fasste der frühe Kohl seine schul- und bildungspolitischen Überzeugungen am 1. Juni 1984 in seiner Rede „Verantwortung des Lehrers in der Demokratie“ in Bonn zusammen. Diese Rede, die Kohl vor dem Philologenverband, der Organisation der Gymnasiallehrer, hielt, ist dabei mehr als nur ein rein zeitgeschichtliches Dokument. Zum einen werfen die prononcierten Ausführungen des Kanzlers ein helles Licht auf den eher unbekannten Bildungspolitiker Helmut Kohl; zum anderen sind weite Passagen der Rede auch 34 Jahre später noch oder wieder bemerkenswert aktuell.

Schon fast prophetisch warnte der Christdemokrat bereits 1984 vor den langfristigen Folgen der verbreiteten Technikfeindlichkeit breiter Gesellschaftskreise – und konnte doch nicht verhindern, dass es genauso kam:

»Kohl kritisierte den ›wilden Ablauf der sich überschlagenden Schulreformen in der Bundesrepublik‹ in den siebziger Jahren.«

Weil schon damals zu wenige Abiturienten naturwissenschaftlich-mathematische Fächer wählten, ist heute in Deutschland nicht nur ein Mangel an Ingenieuren zu konstatieren, sondern eben auch an Lehrern der MINT-Fächer – was die Chancen, den Fachkräftemangel in diesem Bereich jemals zu beheben, noch weiter sinken lässt.

Einige Beispiele: Kohl kritisierte den „wilden Ablauf der sich überschlagenden Schulreformen in der Bundesrepublik“ in den siebziger Jahren. Diese ist eine exakte Zustandsbeschreibung der Situation, in der sich die Lehrer und Schüler aktuell befinden: Nach dem Pisa-Schock im Jahr 2000 überboten sich die für Schulpolitik zuständigen Bundesländer förmlich in ihrem Reformeifer; die Folge ist bis heute eine permanente Unruhe an deutschen Schulen. Auch die „öde Gleichmacherei“, die der Kanzler damals einem Teil der deutschen Gesellschaft attestierte und die auf die Schule übergegriffen habe, ist von bleibender Bedeutung. Seine Klage, dass „die unterschiedlichen Begabungen und Leistungsmöglichkeiten junger Menschen in

Wie nebenbei monierte der Kanzler in seiner Bonner Rede „die bewusst herbeigeführte Verfälschung oder Verwechslung der Begriffe autoritär und Autorität“ und wehrte sich dagegen, „für alles, was die Gesellschaft als notwendig erachtet, die Schule und damit den Lehrer, haftbar und verantwortlich zu machen“. Kohls Diktum, wonach „vor Gott und den Menschen die Eltern die erste Verantwortung für ihre Kinder haben“, hat in 34 Jahren nichts an Richtigkeit eingebüßt.

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Rahmenrichtlinien Gesellschaftslehre, die Auseinandersetzungen um die Einführung von Gesamtschulen und schließlich die Debatte um den Radikalenerlass (verabschiedet von der Regierung Brandt) mögen hier genügen, um an das Ausmaß der damaligen gesellschaftlichen Polarisierung zu erinnern. Während die 68er versuchten, die Gesellschaft über die Erziehung der Schüler quasi von unten herauf zu verändern, war es das Bestreben ihrer konservativen Gegner, genau dies zu verhindern.

Im Unterschied zu seinem Nachfolger Gerhard Schröder, der Pädagogen als „faule Säcke“ diffamierte, betrachtete Kohl die Lehrerkräfte nicht als Gegner, sondern als Partner: „Ich bin dagegen, daß man bei den Lehrern wie übrigens bei den Politikern – das haben wir gemeinsam – inzwischen fast nur noch Pauschalurteile abgibt. Es gibt weder die Lehrer, noch gibt es die Politiker.“ Die Schule, fuhr der Kanzler fort, werde „entscheidend von Lehrerpersönlichkeiten geprägt. Das Vorbild des Lehrers, seine Art, den Unterricht zu gestalten, beeinflussen Entwicklung und Wertmaßstäbe der ihm zur Erziehung anvertrauten Jugendlichen.“

Vor diesem Hintergrund warnte Kohl in seiner Bonner Rede davor, „wie gefährlich es ist, wenn Ideologien und Utopien die politische und geistige Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit verdrängen“, und erinnerte mehrfach an die Lehren der Geschichte, namentlich an die Lehren aus der nationalsozialistischen Vergangenheit. Kohl bezeichnete es in diesem Zusammenhang als unerträglich, „wenn politische Überzeugungen in einer Form in die Schule hineingetragen werden, die Kinder indoktriniert“ – und formulierte damit ganz ähnlich wie der Beutelsbacher Konsens, der mit seinen wesentlichen Elementen Überwältigungsverbot und Kontroversitätsgebot heute die Leitlinie für die politische Bildung ist.

»Während die 68er versuchten, die Gesellschaft über die Erziehung der Schüler quasi von unten herauf zu ver­ ändern, war es das Bestreben ihrer konservativen Gegner, genau dies zu verhindern.« Damit, so könnte man argumentieren, nahm der Instinktpolitiker Kohl, der über eine bestechende Menschenkenntnis verfügte, die Ergebnisse der Untersuchung John Hatties vorweg, der 2011 in einer breit rezipierten Metastudie den entscheidenden Einfluss der Lehrerpersönlichkeit auf den Lernfortschritt seiner Schützlinge empirisch nachgewiesen hatte.

Kohls lebenslanges Streben war es, ein friedliches und freiheitliches Deutschland in einem friedlichen und freien Europa zu schaffen. Angetrieben von den Gewalterfahrungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, zählte der 1930 geborene Kohl „die Vernachlässigung des Faches Geschichte“ folgerichtig zu „den schlimmsten bildungspolitischen Fehlern der zurückliegenden Jahre überhaupt“. Denn nur wer die Geschichte kenne, „vor allem auch die Geschichte seines eigenen Volkes“, der habe die Chance, „in der kulturellen, in der geistigen und sozialen Tradition seines Landes Bindung und Orientierung zu finden.“ Ohne Geschichtsverständnis, fasste der Kanzler apodiktisch zusammen, „sind weder politisches Verständnis der Gegenwart noch verantwortliche Gestaltung der Zukunft möglich.“

Das Hauptthema seiner Bonner Rede, die „Verantwortung des Lehrers in der Demokratie“, ist dabei natürlich im Kontext des „roten Jahrzehnts“ der siebziger Jahre zu sehen, als linke Studenten und junge Lehrer offen darüber diskutierten, inwiefern das China Mao Tse-tungs oder das Kambodscha Pol Pots ein Vorbild für ein besseres, gerechteres Gesellschaftsmodell sein könnte, ein nicht unerheblicher Teil der akademischen Elite den westdeutschen Verfassungsstaat entschieden ablehnte und für die freiheitlich-demokratische Grundordnung („FDGO“ im damaligen Jargon) nur Verachtung übrighatte. Die erbitterten zungen hatten und gerade für Stichworte wie

Während linke Reformer in den 1970er Jahren das Unterrichtsfach Geschichte als eigenständiges Fach abschaffen wollten, machte sich Kohl konsequent für eine Stärkung des Geschichtsunterrichts als Abiturfach stark: Auch aufgrund mangelnder Geschichtskenntnisse sei ein beachtlicher Teil der jungen Generation „anfällig geworden für sonderbare Parolen, die sich letztlich gegen ihre eigenen Interessen richten.“

ideologischen Auseinandersetbekanntermaßen Folgen auch die Schul- und Bildungspolitik. der Streit um die hessischen

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»Die von Kohl geführte CDU verfügte in den Ländern nur selten über die notwendigen Mehrheiten zur Durchsetzung einer Politik, wie sie der Kanzler skizziert hatte.« Hier schließt sich der Kreis zur britischen Austritts-Kampagne und anderen nationalistischen und antifreiheitlichen Bewegungen, die das Europa der Generation Kohl-Mitterand 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges heute aufs Neue bedrohen. Ähnlich wie Konrad Adenauer hielt auch Helmut Kohl die Menschen für grundsätzlich verführbar. Und so, wie er mit Maastricht und der Gründung der Europäischen Union unumkehrbare Fakten schaffen wollte, so unumkehrbar sollten Schule und Lehrpersonen die ihnen anvertrauten Schüler zu mündigen Erwachsenen heranbilden, „zu Bürgern mit eigener politischer Urteilskraft, mit einer eigenen Überzeugung.“ Kohl wusste, nur wenn die Menschen die Chancen von Demokratie, Freiheit und Völkerverständigung selbst erkennen, kann man die großen europäischen Errungenschaften auf Dauer sichern.

wenig zum Positiven wenden? Dies mag zum einen daran gelegen haben, dass sich Kohl als Kanzler mit der Außenpolitik bald einem vermeintlich wichtigeren Feld zuwandte. Vielleicht auch daran, dass er beträchtliche zeitliche Kapazitäten in die Sicherung und den Ausbau seiner Macht verwendete. Zum anderen, und dies ist der entscheidende Grund, verfügte die von Kohl geführte CDU in den in der Bildungspolitik entscheidenden Schaltzentralen – den Ländern – nur selten über die notwendigen Mehrheiten zur Durchsetzung einer Politik, wie sie der Kanzler 1984 in Bonn skizziert hatte. Ganz davon abgesehen, dass viele der von Kohl angeführten Herausforderungen nicht kurzfristig auf dem Verordnungs- oder Gesetzesweg bewältigt werden können, sondern langfristig einen breiten gesellschaftlichen Konsens voraussetzen. Wie schwierig eine solche Konsensfindung ist, zeigt sich aktuell besonders deutlich in der Debatte um die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention, die zwischen den Polen „eine Schule für alle“ und „Inklusionswahn“ verläuft.

Wenn nun der Kanzler in so vielen Punkten intuitiv richtig lag – weshalb konnte die von ihm geführte Bundesregierung in 16 Jahren dann so

Dr. Ulrich Schnakenberg ist promovierter Historiker, Gymnasiallehrer und an der Universität Duisburg-Essen in der Lehrerausbildung tätig.

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Politik – eine Herzensangelegenheit Die Bundestagsgeordnete Prof. Dr. Claudia Schmidtke portraitiert von Christine Hegenbart richtig.“ Sie hat ein offenes Ohr für die Probleme der Bürgerinnen und Bürger. Deren Sorgen und Nöte sieht sie als ihr wichtiges Aufgabengebiet. Als Medizinerin hat Schmidtke gelernt, auf ihr Gegenüber einzugehen und zu überzeugen. Dies kommt ihr nun als Bundestagsabgeordnete zugute. „Politik ohne Kommunikation ist schlecht“, meint Claudia Schmidtke.

Von wegen nordische Kühle: Mit einem herzlichen und offenen „Moin“ grüßt Prof. Dr. Claudia Schmidtke ihre Gesprächspartner. Das gesamte Auftreten der Politikerin und Medizinerin zeigt: Sie tut das, was sich macht, mit Leidenschaft und Überzeugungskraft. Das war vermutlich das Geheimrezept, das der 52-jähringen dazu verhalf, für Lübeck in den Deutschen Bundestag einzuziehen. Nur zwei Jahre nach ihrem Eintritt in die CDU schaffte die passionierte Herzchirurgin den Sprung ins Parlament. Ein derart rasanter Aufstieg ist in der Union selten. Seiteneinsteiger haben es oft schwer. Schmidtke berichtet jedoch von „wenig Gegenwind“ in der Hansestadt. Sie habe eine große Zahl an Unterstützern gefunden. Vermutlich weil sie viel frischen Wind in die lübsche CDU brachte.

Ihre kommunikativen Fähigkeiten nutzt sie nun für ihre Arbeit im Gesundheitsausschuss des Bundestages. Sie setzt sich für die Themen ein, die ihr wichtig sind, beispielsweise Ärztemangel und -ausbildung, Prävention von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebsvorsorge sowie die nationale Diabetes-Strategie. Sie greift auf ihre Erfahrungen aus der medizinischen Praxis zurück, um andere für ihre Anliegen zu gewinnen. Besonders am Herzen liegt ihr – im wahrsten Sinne des Wortes – das Thema Organspende. Die Chirurgin hat miterlebt wie Patienten leiden, die jahrelang auf eine Niere warten. Sie hat auch miterlebt, dass hundert Tage Wartezeit auf ein neues Herz für manche zu viel ist. Dies lässt für die Fachpolitikerin nur einen Schluss zu: Deutschland braucht eine Reform des Transplantationsgesetzes. Entgegen der Parteilinie fordert sie die Widerspruchslösung. Hierbei können – im Gegensatz zur Entscheidungslösung, bei der es der ausdrücklichen Zustimmung zu Lebezeiten bedarf – dem Spender Organe entnommen werden, wenn er vor seinem Tod nicht widersprochen hat und Angehörige dies später auch nicht tun. Kämpferisch und mit einem Augenzwinkern sagt sie: „Ende des Jahres werden ich die Kollegen überzeugt haben.“

Aber Schmidtke ist ohnehin der Typ Frau, der Dinge anpackt, statt zu zaudern: Sie hat einen Wahlkreis erobert, der zuletzt Mitte der 60er Jahre von den Christdemokraten gewonnen wurde. Dabei war es nicht die große Manpower, die ihren Wahlkampf zum Erfolg führte. In der Stadt an der Ostsee wurde großflächig plakatiert und, unterstützt von der JU sowie der neu gegründeten Schülerunion, klopfte Schmidtke an tausende Haus­ türen. Dabei bekam sie oft zu hören: „Ich habe Sie schon gesehen.“ Diese neue CDU-Kandidatin hatte Wiedererkennungswert und konnte die Menschen in persönlichen Gesprächen überzeugen – sie vermittelte wohl authentisch: „Helfen ist mein Beruf.“ Was für die meisten Menschen exotisch klingt, scheint für Schmidtke das natürlichste der Welt zu sein: Die leitende Oberärztin in der Herz- und Gefäß­ chirurgie des Herzzentrums Bad Segeberg hat den OP-Saal gegen das Bundestagsplenum getauscht. Sie ist die einzige habilitierte Frau im aktuellen Bundestag und die erste Herzchirurgin in dessen gesamter Geschichte.

In der Politik ist sie so zielstrebig wie zuvor in ihrer Chirurginnenkarriere. Sie will helfen und sie will gestalten. Von Männerdomänen und Machtgerangel lässt sie sich nicht beeindrucken. Das sollten auch andere Frauen nicht tun, ist die Lübeckerin überzeugt. Dazu brauche es mehr weibliche Vorbilder, die als positive Beispiele vorangehen, so wie Bundeskanzlerin Angela Merkel. Oder die Bundestagsabgeordnete Claudia Schmidtke.

Die Gemeinsamkeiten ihrer beiden Berufe bringt sie auf eine prägnante Formel: „Wenn jemand etwas an oder auf dem Herzen hat, ist er bei mir

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Impressum CIVIS & SONDE 02 — 2018

Ehemaliger Grenzwachturm im Park Schlesischer Busch im Berliner Ortsteil Alt-Treptow



02 — 2018

Impressum CIVIS mit Sonde Paul-Lincke-Ufer 8b, 10999 Berlin Tel: +49 (0)30 616518-11 Fax: +49 (0)30 616518-40 E-Mail: info@civis-mit-sonde.de Leserbriefe: leserbriefe@civis-mit-sonde.de ISSN: 1432-6027 Preis: 8,00 Euro (ermäßigt 4,00 Euro) Abo- und Einzelheftbestellung: www.civis-mit-sonde.de Druck: Westermann Druck Zwickau GmbH, www.westermann-zwickau.de

Chefredakteur: Erik Bertram Geschäftsführer: Michael Lönne Konzeption & Art Direction: Jonas Meyer, jmvc.de Fotografie Interview: Steven Lüdtke, stevenluedtke.de Fotografie Editorial & Portrait: Maximilian König, maximilian-koenig.com Illustrationen: Roland Brückner, bitteschoen.tv Redaktion: Barbara Ermes, Leonard Falke, Sebastian Hass, Christine Hegenbart, Anja Pfeffermann, Carl-Philipp Sassenrath und Sebastian Weise Herausgeber: Dorothee Bär, Ursula Männle, Arnold Vaatz, Mario Voigt, Matthias Wissmann und Henrik Wärner als Bundesvorsitzender des RCDS Beirat: Christoph Brand, Stephan Eisel, Matthias Graf von Kielmansegg, Jürgen Hardt, Johannes Laitenberger, Gottfried Ludewig, Fabian Magerl, Peter Radunski, Hans Reckers, Christian Schneller, Wulf Schönbohm, Axel Wallrabenstein und Johannes Zabel

Die nächste Ausgabe von CIVIS mit Sonde erscheint im Dezember 2018.

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insm.de

70 JAHRE SOZIALE MARKTWIRTSCHAFT

WENN AUS HOFFNUNG WOHLSTAND WIRD


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