CIVIS mit Sonde 2017/2

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02 — 2017

C wie Sozialpolitik

CIVIS & SONDE



CIVIS & SONDE



»Ich bin erschrocken, wie übermächtig der Ruf nach kollektiver Sicherheit im sozialen Bereich erschallte. Falls diese Sucht weiter um sich greift, schlittern wir in eine gesellschaftliche Ordnung, in der jeder die Hand in der Tasche des anderen hat.« Ludwig Erhard, 1958


CIVIS & SONDE 02 — 2017

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Liebe Leserin, lieber Leser,

Jachmann-Willmer) und in der Pflege (Udo Unbehaun/Andreas Luther) nieder.

die hiesige Ausgabe von CIVIS mit Sonde steht ganz im Zeichen der anstehenden Bundestagswahl. Grund genug, um mit den zwei CDU-Generalsekretären Kurt Biedenkopf und Peter Tauber einmal über den Wahlkampf damals und heute zu diskutieren.

Aus aktuellem Anlass zu den jüngsten Ausschreitungen im Rahmen des G20-Gipfels in Hamburg werfen wir nochmal einen kritischen Blick auf den Linksextremismus in Deutschland und seine Folgen (Jenovan Krishnan). Mit Blick auf die Bundestagswahl schadet außerdem ein Blick auf die Kandidatenehrlichkeit nichts (Stephan Eisel). In Memoriam erinnern wir schließlich an Helmut Kohl, den großen europäischen Staatsmann (Mario Voigt, Stephan Eisel, Christoph Brand und Christian Schede).

Der erste unserer Meinungsbeiträge stammt von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel persönlich. In ihrem Namensbeitrag skizziert sie, wie sie sich das Deutschland von morgen vorstellt und welche politischen Schwerpunkte sie in der nächsten Legislaturperiode setzen möchte. Dass dabei vor allem auch die Familien im Vordergrund stehen werden, versteht sich von selbst (Annette Widmann-Mauz). Jedoch darf sich Deutschland nicht auf seinen Erfolgen ausruhen; es gibt noch viel Nachholbedarf (Steffen Kampeter). Das betrifft auch die Digitalisierung: Es ist das „Soziale in der Marktwirtschaft 4.0“, über das wir diskutieren müssen (Eva Welskop-Deffaa).

Wieder danken wir vor allem unseren Autorinnen und Autoren, ohne deren Beiträge dieses Heft nicht zustande gekommen wäre. Wir wünschen Ihnen eine angeregte und spannende Lektüre mit der neuen Ausgabe! Herzlichst

Dabei darf auch die Erfolgsgeschichte des Kapitalismus und der Globalisierung nicht unerwähnt bleiben (Steffen Kooths), die vor allem für den Arbeitsmarkt eine zentrale Rolle gespielt hat. Das wiederum wirft die Frage auf, was Arbeitnehmer eigentlich vom Sozialstaat erwarten (Christian Bäumler) und wie die Kirchen die Sozialfrage beantworten (Johannes Zabel). In der Praxis schlagen sich diese Aspekte wohl am ehesten in der Sozialarbeit (Anke Klaus/Renate

Erik Bertram Chefredakteur PS: Besuchen Sie CIVIS mit Sonde doch auch mal in den sozialen Netzwerken auf Facebook und Twitter oder unter www.civis-mit-sonde.de!

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Im Gespräch 10

Voneinander lernen Im Gespräch mit den CDU-Generalsekretären Kurt Biedenkopf und Peter Tauber

Standpunkte 26

Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben Angela Merkel über ihre politischen Ziele für die kommende Legislaturperiode

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Für ein Deutschland, in dem Familien gut und gerne leben Annette Widmann-Mauz darüber, welche Rolle die Familienpolitik künftig spielen wird

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Ein Update für Deutschland Steffen Kampeter mit wirtschaftspolitischen Forderungen an die nächste Bundesregierung

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#BarmherzigeSamariter für digitale Nomaden Eva Maria Welskopp-Deffaa über das Soziale in der Marktwirtschaft 4.0

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Nationalsozialer Protektionismus Stefan Kooths über die Erfolgsgeschichte von Kapitalismus und Globalisierung

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Was erwarten die Arbeitnehmer vom Sozialstaat? Christian Bäumler mit zentralen arbeitspolitischen Forderungen

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Theologie, Kirche und das Soziale Johannes Zabel mit einem theologischen Blick auf einen Begriff

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Sozialarbeit und engagierte Politik Anke Klaus und Renate Jachmann-Willmer über ihre Arbeit bei einem kath. Sozialdienst

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Standpunkte 70

Selbstbestimmt leben, auch mit Pflegebed체rftigkeit! Udo Unbehaun und Andreas Luther 체ber Smart Living 4.0

Aus aktuellem Anlass 74

R체ckblick auf den G20-Gipfel Jenovan Krishnan und das Problem des Linksextremismus in Deutschland

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Zwischen Wahl und Versprechen Stephan Eisel mit einer Analyse zur W채hlererwartung und Kandidatenehrlichkeit

In Memoriam 84

Erinnerungen an Helmut Kohl Vier ehemalige RCDS-Bundesvorsitzende mit einem Nachruf auf den Kanzler der Einheit

Getroffen 94

Lieber Schatten Antonia Niecke portraitiert von Anja Pfeffermann

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Abonnement, Impressum

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Voneinander lernen Die beiden CDU-Generalsekret채re Kurt Biedenkopf und Peter Tauber im Gespr채ch 체ber den Bundestagswahlkampf damals und heute.

Interview: Silvie Rohr & Carl-Philipp Sassenrath Fotografie: Steven L체dtke



CIVIS: Herr Professor Biedenkopf, 1976 haben Sie aus der Opposition heraus als Generalsekretär den Wahlkampf der CDU geleitet. Würden Sie sagen, dass Oppositionswahlkampf einfacher ist als aus der Regierung heraus?

unabhängig. Ich hatte zwar viel Erfahrung, aber keine politische Erfahrung, nicht in dem Sinne wie Helmut Kohl sie hatte. Die Zeit zwischen Kohls Wahl zum Vorsitzenden der Partei und meiner als Generalsekretär war eine sehr kreative, wenn auch nicht spannungsfreie Zeit. Das Ergebnis sprach ja für sich: Wir gewannen aus der Opposition 48,6 Prozent der Stimmen. Das muss man heute erst einmal schaffen.

Biedenkopf: Es war eine völlig andere Zeit. Man kann sie mit der heutigen nicht vergleichen. Helmut Kohl war noch Ministerpräsident in Rheinland-Pfalz und Parteivorsitzender. In der Auseinandersetzung mit Rainer Barzel hatte er sich durchgesetzt. Im Frühjahr 1973 fragte er mich, ob ich ihm für den Fall seiner Wahl als Generalsekretär zur Verfügung stehen würde. Ich war zu der Zeit seit knapp drei Jahren Mitglied der Zentralen Geschäftsführung von Henkel. Ich unterrichtete Konrad Henkel von Helmut Kohls Anfrage. Konrad Henkel antwortete mir: „This is a call to public duty.“ Er war der Überzeugung, dass man die Anfrage nicht ablehnen sollte, und bot mir an jederzeit wiederzukommen. Auch deswegen war ich als Generalsekretär völlig

CIVIS: Fast die absolute Mehrheit! Biedenkopf: 600.000 Wählerstimmen fehlten uns damals zur absoluten Mehrheit. Das war auch gut so. Denn mit so einer dünnen Mehrheit zu regieren, wäre nicht unproblematisch gewesen. Und die FDP verweigerte sich als Koalitionspartner. Das änderte sich erst 1982 und '83. Tauber: Auch bei der Bundestagswahl im Jahr 2013 fehlten uns nur sechs Abgeordnetenmandate zur absoluten Mehrheit. Wenn man die vielen

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»Wir arbeiten jetzt dafür, dass wir andere Mehrheiten jenseits der Großen Koalition finden.« Wir haben eine ganz andere Medienlandschaft als früher, mit dem Privatfernsehen, mit den Onlinemedien, Facebook, Twitter, etc.

schwierigen Entscheidungen zur Staatsschuldenkrise in Europa oder die Entscheidungen während der Flüchtlingskrise betrachtet, dann ist es ganz gut gewesen, dass wir keine absolute Mehrheit hatten. Schließlich haben wir ja innerhalb der Union heftig gestritten bei all diesen Fragen. Gleichwohl arbeiten wir jetzt natürlich dafür, dass wir andere Mehrheiten jenseits der Großen Koalition finden. Dafür braucht es wieder eine starke Union.

Biedenkopf: Die Zeit, in der wir heute leben, kann man nicht mit den 1970er Jahren vergleichen. Die SPD war vor Willy Brandt noch nie in der Regierung gewesen. Mit ihm hatte sie eine prominente Leitfigur gewonnen, die über die Grenzen der eigenen Partei hinaus wirkte. Jetzt kandidiert die SPD mit einem Kandidaten, der nie ein höheres Führungsamt in der Bundespolitik innehatte. Angela Merkel hingegen bringt zwölf Jahre Regierungserfahrung und eine exzellente Regierungsbilanz mit. Während dieser Zeit ist ihr Ansehen in Europa und in der gesamten Welt immer weiter gestiegen. Es ist noch nicht lange her, dass Leute wie der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger und andere forderten, Angela Merkel solle die Führungsrolle in Europa übernehmen.

CIVIS: Ist das eine andere Art der Verantwortung mit der man in einen Wahlkampf gehen muss, wenn man aus der Regierung heraus Wahlkampf betreibt?

»Jetzt kandidiert die SPD mit einem Kandidaten, der nie ein höheres Führungsamt in der Bundespolitik innehatte.« Tauber: Die SPD macht Wahlkampf als Opposition innerhalb der Regierung. Man muss sich irgendwann mal entscheiden, was man sein will. Will man regieren? Oder will man lieber in der Opposition Platz nehmen? Die SPD könnte die Erfolge der letzten vier Jahre – von denen es viele gibt – gemeinsam mit uns vertreten. Sie hat sich dagegen entschieden, das ist dann halt so. Um auf die Ausgangsfrage zurückzukommen: Ich tue mich mit solchen Vergleichen schwer; jede Zeit und jeder Wahlkampf hat seine eigenen Herausforderungen. Ich kann heute mit anderen Instrumenten arbeiten. Wir haben gerade eben im Aufzug darüber gesprochen, wie man heute eigentlich Wahlkampf ohne Smartphone machen würde. Das sind ganz andere Rahmenbedingungen.

Die Erwartung hat sie erfüllt, auch wenn sie das selbst so nicht sehen mag. Dieses Ansehen ist enorm. Darin ändert auch die Dauerkritik von Martin Schulz nichts. Was eigentlich schade ist, denn die Koalition beginnt langsam auseinanderzufallen. Aber es sind ja auch nur noch…

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Tauber: ...wenige Wochen. Interessant ist auch, dass es in der heutigen Zeit keine klare Trennung mehr gibt zwischen dem, was in anderen Teilen der Welt und was bei uns geschieht. Der Krieg in Syrien etwa hat unmittelbare Auswirkungen auf uns. Die aktuellen Entwicklungen in Afrika ebenso. Wenn wir Frieden, Wohlstand und Freiheit für uns in Europa und in Deutschland wahren wollen, müssen wir uns mit der Welt auseinandersetzen. Angela Merkel schafft es, genau das den Leuten nahe zu bringen. Sie macht deutlich, dass es sich dabei um Herausforderungen handelt, mit denen wir umgehen müssen, aber auch können. Wo Herausforderungen sind, sind auch Chancen. Deswegen haben wir im Regierungsprogramm einen starken Akzent auf die Entwicklung in Afrika gelegt. Des Weiteren wollen wir gemeinsam mit Frankreich ein neues Kapitel in der Europapolitik aufschlagen. Man kann sehen, dass das Wahlprogramm der Union sehr breit aufgestellt ist. CIVIS: Dennoch wird CDU und CSU in der Öffentlichkeit und von der Konkurrenz teilweise Mutlosigkeit, manches Mal gar Ideenlosigkeit vorgeworfen. Ein berechtigter Vorwurf?

»Das hätte kein Finanzier, keine Bank, nicht mal die Kreissparkasse mitgemacht.« Tauber: Ich finde, das ist vollkommen falsch. Wir haben es während der Kanzlerschaft von Angela Merkel geschafft, die Arbeitslosigkeit zu halbieren. Wer hätte das vor gut zehn Jahren noch gedacht? Als ich 2009 zum ersten Mal für den Bundestag kandidiert habe, habe ich lange darüber nachgedacht, welche politischen Ziele wir uns stecken sollten. Ich dachte damals, es müsse doch möglich sein, dass der Staat irgendwann einen ausgeglichenen Haushalt ohne neue Schulden vorlegt. Das hat es während meines Lebens bis dahin noch nicht gegeben. Ich bin 42 Jahre alt. Keine Familie, kein Unternehmen hätte es sich leisten können, fast vier Jahrzehnte lang jedes Jahr aufs Neue Schulden zu machen. Das hätte kein Finanzier, keine Bank, nicht mal die Kreissparkasse mitgemacht. Und damit gebrochen zu haben, ist neben der Halbierung der Arbeits­ losigkeit ein großer Erfolg der Union.

Dann ist doch klar, dass man nach zwölf Jahren, die dem Land ausgesprochen gut getan haben, nicht alles neu macht, sondern sich gezielt fragt, wo konkreter Handlungsbedarf besteht. CIVIS: Und wo sehen Sie den im Einzelnen? Tauber: Über Afrika haben wir ja bereits gesprochen. Ein weiteres Beispiel ist die Digitalisierung. Da müssen wir in Europa etwas tun und zu den Amerikanern aufschließen: in der Wirtschaft, der Infrastruktur, in der Bildungspolitik. Da haben wir im Regierungsprogramm Antworten, die besser sind als die von den anderen Parteien, auch wesentlich konkreter.

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Biedenkopf: Ich bin mir nicht sicher, ob man in einem Wahlkonzept sagen sollte, dass wir zu Amerika aufschließen müssen. Es ist doch völlig offen, ob das, was in Amerika gerade abläuft, wirklich die Zukunft ist und in eine gute Richtung führt. Bedenken Sie: In Amerika wächst auch die Sorge über die Dominanz des Silicon Valley. Die große Idee von offenen Märkten gilt dort immer weniger. Facebook, Google und andere haben sich zu Giganten entwickelt, deren Machtpositionen immer weniger mit unserer Vorstellung von Demokratie vereinbar sind. Unsere breit angelegten Mittelstandsstrukturen, die sich seit vielen Jahrzehnten bewährt haben und um die man uns in den USA beneidet, sollte man nicht in Frage

stellen, bei aller Bewunderung für einige US-amerikanische Global Player. Tauber: Nun, aber die Frage, ob man innovationsund veränderungsbereit ist, müssen wir schon beantworten. Wir sollten auf der Grundlage der Sozialen Marktwirtschaft dieser neuen Form von Ökonomie auch klare Regeln setzen. Diese können dann wiederum erlauben, dass solche Entwicklungen auch in Europa entstehen. Biedenkopf: Ich verstehe immer noch nicht, warum wir diese Frage beantworten müssen. Das findet doch längst alles statt. In dem Programm wird richtigerweise festgehalten, dass der

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»Facebook, Google und andere haben sich zu Giganten entwickelt, deren Machtpositionen immer weniger mit unserer Vorstellung von Demokratie vereinbar sind.« Struktur in der digitalen Welt noch funktioniert. Denn es gibt in der digitalen Welt durchaus einen Hang zur Zentralisierung innerhalb von Märkten.

Mittelstand in Deutschland die tragende Kraft ist. Das gilt in Amerika nicht. In Amerika gibt es keine vernünftige Ausbildung von Facharbeitern. Auch darum beneiden uns die Amerikaner. Bei uns ist sie in hohem Maße entwickelt. Es gibt eine Fülle von Unterschieden, die von großer Relevanz sind. Im Übrigen war es eine enorme Leistung, dass uns diese Entwicklungen in Deutschland gelungen sind, trotz der Wiedervereinigung, bei der wir eine Bevölkerung von fast zwanzig Millionen Menschen aufgenommen haben. Wir haben diesen Prozess bewältigt, und zwar ohne riesige Proteste und Streiks.

Biedenkopf: Einen Hang zur Zentralisation und der damit verbundenen Macht gibt es in Wett­ bewerbsmärkten immer. Diesem „Hang“ begegnet die Marktwirtschaft mit dem Wettbewerbsrecht. Die Automobilindustrie liefert gerade ein Beispiel. Tauber: Das Nutzerverhalten im Netz unterwirft sich aber nicht dem Wettbewerbsrecht. Den Wettbewerb bei Suchmaschinen, sozialen Netzwerken und Einkaufsplattformen gibt es zwar formal, trotzdem findet eine Monopolisierung durch die Nutzer statt. Für den Einkauf gibt es Amazon, für den sozialen Kontakt Facebook oder Twitter. Wir müssen uns fragen: Wie ist es künftig bei der Mobilität? Wie ist es bei der Gesundheitswirtschaft? Wie wird sich die Digitalisierung in der Finanzindustrie entwickeln? Es wäre gut, wenn die neuen Plattformen, die zwangsläufig entstehen werden, aus Europa oder gar aus Deutschland kämen. Es ist eine wichtige Frage, wie wir die Stärke, die wir im Maschinenbau oder in der Automobilindustrie haben, bewahren können. Künftig soll die Wertschöpfung in Europa stattfinden und nicht in die USA abwandern, so wie wir es teilweise an anderen Stellen bereits sehen. Dazu gibt das Programm eine gute Richtung vor. Wir wollen unsere traditionellen Familienunternehmen und den starken Mittelstand bewahren. Sie sind unsere Stärke.

Tauber: Da bin ich ganz bei Ihnen. Die Geschichte der deutschen Einheit muss uns Mut machen, dass wir auch jetzt die vor uns liegenden Herausforderungen wieder meistern werden.

Biedenkopf: Weil die Grundlage all dessen das Wettbewerbsrecht ist. Seine Neubelebung ist dringend erforderlich. Was in Amerika passiert

Trotzdem müssen wir uns überlegen, wie die von Ihnen beschriebene Stärke der deutschen Volkswirtschaft mit ihrer mittelständisch geprägten

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ist eine – auch von der amerikanischen Regierung akzeptierte – Vermachtung der Märkte. Die Digitalisierung ist nicht die notwendige Konsequenz von Vermachtung.

nicht genug durchdacht. Dabei muss die Offenheit des Marktes ein ganz wesentlicher Gesichtspunkt sein. Nicht alles ist digital. Aber die Digitalisierung ist ein Instrument, mit dem wir neue Leistungen erbringen können.

»Die meisten Menschen in Deutschland verstehen unter Digitalisierung noch zu wenig.«

Tauber: Genau darauf weist das Programm hin. Es beschreibt nicht nur die Schwierigkeiten, sondern auch den Nutzen und die Chancen. Dadurch unterscheidet es sich auch davon, wie andere Parteien auf dieses Thema schauen. CIVIS: Es gibt nicht wenige, die sagen, dass die Digitalisierung mehr Arbeitsplätze kosten als neue Arbeitsplätze schaffen wird...

Wenn ich nicht verdeutlichen kann, dass die Digitalisierung ein neues Hilfsinstrument zur Lösung bestehender oder neuer Aufgaben ist, wenn man die Entwicklungen einfach nur laufen lässt, dann wird das in Deutschland genauso werden. Das ist nur sehr schwer zu erklären. Wer soll das verstehen? Die meisten Menschen in Deutschland verstehen unter Digitalisierung noch zu wenig. Die Auswirkungen auf die Gesellschaft sind noch

Tauber: Das ist schon historisch falsch. Das war bei der Industrialisierung schon so, zum Beispiel bei der Erfindung der Dampfmaschine. Es hat zeitweise einen regelrechten Boom auf dem Arbeitsmarkt gegeben. Selbst beim Buchdruck sind viel früher schon neue Formen von Arbeit entstanden.

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»Wir leben aber in einer Welt, in der die Menschen sofort nach dem Staat rufen, sobald sie etwas nicht lösen können.« Plötzlich hat die Oma so viel Kontakt zu ihrem Enkelkind wie schon lange nicht mehr, wenn es um Probleme rund um das Handy geht. Die Frage ist also, wie jeder von dieser digitalen Revolution ganz individuell profitiert. Wenn wir es schaffen, Ängste abzubauen, wenn die Menschen erkennen, was ihnen das alles bringt, ist die Bereitschaft etwas Neues zu lernen auch viel höher, unabhängig vom Alter.

Das wird sicher eine Aufgabe für die Gesellschaft werden. Wenn Arbeit automatisiert wird und sich verändert, entstehen auch neue Kapazitäten und Möglichkeiten. Biedenkopf: Eins kann man aber doch nicht leugnen: Man muss in vielen Fällen eine ganz neue Arbeit erlernen. Ein Beispiel: Wer in einem Software-Unternehmen arbeiten will, muss pr0grammieren können, das heißt, praktisch einen neuen Beruf erlernen. Der Computer ist aus dem Arbeitsleben heute nicht mehr wegzudenken. Und gerade im Alter ist das Erlernen neuer Fähigkeiten alles andere als einfach. In der Praxis bedeutet das: Wenn ich die neue Aufgabe nicht beherrsche, fliege ich raus. Wenn ich aber das Neue lernen kann, dann bleibe ich drin.

Biedenkopf: Jetzt kommt aber ein ganz wichtiger Punkt. Wenn die Bürger das nicht von sich aus machen, zum Beispiel weil der Staat ihnen immer mehr unter die Arme greift, hilft das doch am Ende keinem. Tauber: Trotzdem muss der Staat die Menschen aber ermutigen.

Tauber: Da haben Sie Recht. Da liegt, glaube ich, kein Dissens zwischen uns.

»Warum muss der Staat die Menschen ermutigen? Das ist nicht seine Aufgabe.«

Biedenkopf: Ja, aber wir beachten etwas nicht: Ältere Menschen, so ab 45, 50 Jahren, hegen den Wunsch nach Kontinuität. Das ist bei uns derzeit die Mehrheit. So sind wir Menschen nun mal. Und diese Kontinuität haben sie nicht, wenn sie ständig etwas Neues erlernen müssen. Junge Leute haben damit weniger Probleme. Bei unseren Enkeln beobachte ich gerade, wie sie die Welt erobern. Sie steht ihnen offen und sie nutzen die Chancen. Das ist eine völlig neue Welt. Die jungen Leute lernen von Anfang an, wie Mobilität funktioniert. Heute hier, morgen dort.

Biedenkopf: Warum muss der Staat die Menschen ermutigen? Das ist nicht seine Aufgabe. Politische Parteien können es versuchen. Aber sie sind nicht der Staat. Die wichtigste Ermutigung geht von den Möglichkeiten aus, die uns die Freiheit bietet. Meine generelle Sorge ist schon lange, dass wir mit den Sozialsystemen auch den Staat immer weiter ausdehnen. So weit, bis die Menschen irgendwann sagen: Wir müssen eigentlich gar nichts mehr selbst tun, der Staat erledigt alles für uns und passt auf uns auf. Soweit darf es nicht kommen.

Tauber: Da muss ich nun aber mal eine Lanze für die ältere Generation brechen. Es geschieht gerade etwas Spannendes: Als Kinder haben wir gelernt, dass die Jungen von den Alten lernen. In der digitalen Welt ist das aber anders herum.

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Tauber: Das ist interessant, denn genau an dem Punkt sind wir ja in einer klassischen parteipolitischen Gefechtslage. Die Sozialdemokratie redet den Menschen ein, dass die Welt völlig unsicher sei und sie sich daher nur auf den Staat verlassen sollten. Als Union sagen wir: Ihr könnt das doch selbst viel besser.

distanzieren sich sogar von ihm. Wir zitieren ihn schon eher, weil wir seine generelle Vorgehensweise für richtig halten. Weil wir sagen: Man muss auch bereit sein, ein Risiko einzugehen, wenn es dem Gesamtwohl hilft. Diese Notwendigkeit wird sich in Zukunft noch verstärken. Tauber: Ich glaube, dass wir in solchen Lagen schon öfter waren als wir denken. Denken Sie beispielsweise an die Reaktion auf die Finanzkrise, an die europäische Staatsschuldenkrise oder an die Flüchtlingsfrage. Da herrschte selbst bei den Kollegen in der Fraktion oft große Skepsis, weil sie sich gefragt haben, ob das funktioniert, so wie wir das machen. Und ganz sicher waren auch manche Entscheidungen nicht ohne Risiko.

Biedenkopf: Wir leben aber in einer Welt, in der die Menschen sofort nach dem Staat rufen, sobald sie etwas nicht lösen können. Das ist im Übrigen nicht nur ein typisch deutsches Phänomen. Wir machen es nur besonders gut (lacht). Und ich denke, wir sollten mehr Mut bei den Problemen beweisen. Gerhard Schröder hat mit der Agenda 2010 tief in sozialdemokratische Strukturen und deren Selbstverständnis eingegriffen. Natürlich wusste er, dass das auch schief gehen könnte. Die SPD hat das im Kern schwer getroffen. Viele Sozialdemokraten zitieren deshalb Schröder auch nur sehr ungern. Viele

Biedenkopf: Im Übrigen habe ich mich sehr gefreut, dass Angela Merkel bei der Frage nach einer Obergrenze für Flüchtlinge standhaft geblieben ist. Das hat Herrn Seehofer zwar

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»Die beste Regierung ist eine, der es gelingt, den Menschen die Freiheit zu bieten mitzugestalten.« Biedenkopf: Ich als Rentner will dem jungen Generalsekretär keine Vorschriften machen. Das wäre vermessen. Vielleicht nur so viel: Die beste Regierung ist eine, der es gelingt, den Menschen die Freiheit zu bieten mitzugestalten. Selbst wenn Fehler gemacht werden. Denn aus Fehlern kann man lernen. Wenn der Staat sich jedoch zu sehr einschaltet, ist er eher Gegenspieler als ein Partner. Das ist vor allem im Bildungswesen wichtig. Ein Beispiel: Unsere Schulpolitik darf niemals zur Bundessache erklärt werden. Schule muss von unten funktionieren. Die SPD will kostenlose Kindergärten. Damit ist sie aber in einem zentralen Punkt ausgesprochen ungerecht: Sie löst nämlich bei den Gutverdienern den Eindruck aus, ihre Kinder könnten keine hochwertige Bildung erhalten, und organisieren deshalb private Kindergärten. Dasselbe gilt für alle Bereiche, in denen man mehr Gerechtigkeit durch mehr Gleichheit schaffen will. Darauf sollte man auch im Wahlkampf hinweisen. Gleichmacherei ist im Kern zutiefst ungerecht.

geärgert. Aber seine Anliegen sind undurchführbar. Sie wirken wie eine Provokation für all diejenigen Menschen, die ein besseres Leben suchen. Wir sollten verstärkt in diese Länder investieren, anstatt zu sagen: „Es ist alles hoffnungslos und wir können euch nicht akzeptieren.“ Der Punkt ist doch: Die Europäer haben über eine lange Zeit als Kolonialmächte den afrikanischen Kontinent ausgebeutet. Irgendwann werden die jungen Menschen in Afrika aufwachen und sich die Frage stellen, was wir ihnen heute dafür zurückgeben. Die Brücke für all das liegt quasi vor uns auf dem Tisch. Mit ihrem Handy können die Menschen überall auf der Welt sehen, wie wir hier leben. Was wir haben, und was sie selbst nicht haben. Wenn wir ihnen dann unsere Hilfe anbieten und ihnen die Möglichkeit geben, aus ihrem Land das zu machen, was wir heute in Deutschland vorfinden, ist das eine tolle Sache. Dafür kann man auch die jüngere Generation in Deutschland begeistern. CIVIS: Herr Biedenkopf, Herr Tauber, vor uns sitzen zwei Generalsekretäre. Was würden Sie, Herr Biedenkopf, dem amtierenden CDU-Generalsekretär als guten Ratschlag mitgeben wollen?

CIVIS: Herr Biedenkopf, Herr Tauber, haben Sie vielen Dank für das Gespräch!

Dr. Peter Tauber MdB ist seit 2009 Mitglied des Deutschen Bundestags. Seit 2013 ist er Generalsekretär der CDU Deutschlands.

Prof. Dr. Kurt Biedenkopf war von 1990 bis 2002 der erste Ministerpräsident des Freistaates Sachsen nach dessen Neugründung. Von 1973 bis 1977 war er Generalsekretär der CDU Deutschlands.

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Angela Merkel

FĂźr ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben Ausblick auf die kommende Bundestagswahl

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»Zusätzliche Belastungen lehnen wir ab – ob durch Steuererhöhungen, durch eine Vermögensteuer, eine Verschärfung der Erbschaftsteuer oder zusätzliche bürokratische Belastungen.«

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– ob durch Steuererhöhungen, durch eine Vermögensteuer, eine Verschärfung der Erbschaftsteuer oder zusätzliche bürokratische Belastungen.

Unser Land steht heute gut da. Wir haben die Arbeitslosigkeit halbiert und Schluss gemacht mit immer neuen Schulden. Die Wirtschaft wächst, Gehälter und Renten steigen, die Investitionen in Bildung und Forschung, in Universitäten und Kindergärten sind auf Rekordniveau. Diese Erfolge sind Erfolge der Menschen im ganzen Land: fleißige Arbeitnehmer, mutige Unternehmer, kreative Tüftler, liebevolle Eltern, engagierte Ehrenamtliche. Sie alle hat die CDU im Blick, für sie arbeiten wir jeden Tag. Wir trauen den Menschen etwas zu, wir setzen auf ihre Stärken, ihren Einsatzwillen und ihre Leistungsbereitschaft, und unterstützen sie nach Kräften. Diese Politik wollen wir fortsetzen.

Freiräume schaffen – das leitet uns auch in der Steuerpolitik. Unser Land steht gut da; diese gute Situation haben die Menschen hart erarbeitet. Deshalb wollen wir sie entlasten. Als Volksparteien haben CDU und CSU den Anspruch, ein Angebot an alle zu machen. Deshalb haben wir auch ein Programm für ganz Deutschland geschrieben.

»Wer ein Steuerprogramm auflegt, das die einen entlastet und die anderen belastet, spielt die einen gegen die anderen aus.«

Deutschland hat am 24. September 2017 die Wahl. Wir sind überzeugt: Wir haben die richtigen Antworten auf die Chancen und Herausforderungen der Zukunft. Unser Angebot richtet sich an alle Menschen in Deutschland. Unser Verständnis ist klar: Wir vertrauen den Menschen und geben ihnen das Rüstzeug, um selbständig ihre eigene, individuelle Zukunft zu bauen. Denjenigen, die es nicht alleine schaffen, hilft die Solidarität unserer Gesellschaft. Wir stehen gemeinsam mit unserer Schwesterpartei CSU für diese Haltung und werben damit um das Vertrauen der Wählerinnen und Wähler. Das gemeinsame Regierungsprogramm von CDU und CSU „Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben.“ definiert die Ziele und Aufgaben für die Zukunft.

Wo Spielräume sind, werden wir sie für alle nutzen; das gilt bei der Einkommensteuer genauso wie beim Solidaritätszuschlag. Wer hingegen ein Steuerprogramm auflegt, das die einen entlastet und die anderen belastet, spielt die einen gegen die anderen aus. Dies ist ein Irrweg, wenn wir den Zusammenhalt der Gesellschaft als Ziel haben. Die hart erarbeiteten Spielräume haben ganz entscheidend damit zu tun, dass wir Schluss gemacht haben mit immer neuen Schulden. Daran halten wir fest. Denn eine gute Zukunft baut man nicht auf Schulden. Und vor allem: Der Verzicht auf neue Schulden ist eine unmittelbare Zukunftsinvestition. Mit unserer Politik der soliden Finanzen haben die jüngeren Generationen mehr Freiräume, ihre eigenen Entscheidungen für eine gute Zukunft zu treffen.

Deutschland hat heute die geringste Arbeitslosigkeit seit über 25 Jahren. Derzeit gibt es 44 Millionen Beschäftigungsverhältnisse, so viele wie noch nie zuvor. Mit diesem Erfolg geben wir uns nicht zufrieden. Sozial ist, was Arbeit schafft. Jeder Arbeitslose ist einer zu viel. Wir setzen uns deshalb ein ehrgeiziges Ziel: Wir wollen bis 2025 Vollbeschäftigung für ganz Deutschland. Jobs von morgen schaffen – das geht nur mit innovativen Ideen und Offenheit für die vor uns liegenden Herausforderungen. Die Chancen der Digitalisierung zu nutzen, wird die zentrale Aufgabe in den kommenden Jahren. Daher werden wir Forschung und Entwicklung in den Unternehmen steuerlich fördern und die Entwicklungschancen von Startups weiter verbessern. Wir wollen, dass Unternehmen weiterhin Freiräume haben, um in Innovationen und Jobs zu investieren; zusätzliche Belastungen lehnen wir ab

Das ist uns auch deshalb wichtig, weil wir einen besonderen Schwerpunkt auf Familien legen, vor allem auf junge Familien mit Kindern. Wir wollen Familien stärken, denn sie machen unser Land stark. Deshalb werden wir das Kindergeld deutlich erhöhen und die Steuern für Familien mit Kindern zusätzlich senken. Wir verbessern die Kinderbetreuung und sorgen dafür, dass sich immer mehr Familien ihren Traum von den eigenen vier Wänden erfüllen können.

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das bereit ist, sein Schicksal stärker selbst in die Hand zu nehmen. Dazu gehört die Bereitschaft, international Verantwortung zu übernehmen – für Frieden und Sicherheit, für freien Handel und Klimaschutz. In einer Zeit, in der manch einer auf Abschottung und Protektionismus setzt, muss Europa umso dringender gemeinsam auftreten und entschlossen handeln. Als Union sind wir bereit, auch künftig Verantwortung dafür zu übernehmen, dass unser Land ein verlässlicher Partner in Europa und der Welt ist – ein Partner, der für seine Interessen und Werte eintritt.

Familien genauso wie Studenten oder Arbeitnehmer stehen immer öfter vor der Herausforderung, eine bezahlbare Wohnung zu finden – nicht nur in den Innenstädten.

»Wir streben den Neubau von 1,5 Millionen Wohnungen in den kommenden vier Jahren an.«

Die freiheitlich demokratische Grundordnung garantiert die Freiheit jedes Einzelnen und die Freiheit unserer Gesellschaftsordnung – Achtung der Menschenwürde, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Religionsfreiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Das Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell der Sozialen Marktwirtschaft sichert einen fairen Interessenausgleich und sorgt dafür, dass wir niemanden zurücklassen. Auf diesen Werten entsteht Wohlstand und Sicherheit für alle.

Mit einer Wohnraum-Offensive wollen wir dieses Problem angehen. Dabei wissen wir im Gegensatz zu manch anderer politischen Partei: Nicht bürokratische Regelungen helfen weiter; der beste Schutz vor zu hohen Mieten ist der Bau neuer Wohnungen. Hierauf konzentrieren wir uns und streben den Neubau von 1,5 Millionen Wohnungen in den kommenden vier Jahren an. Eine gute Zukunft haben die Menschen in unserem Land vor allem dann, wenn wir auf beste Bildung und Ausbildung setzen – vom Kindergarten bis zur Universität, von der Grundschule bis in die Ausbildungsbetriebe. Mit Rekordinvestitionen in Bildung und Forschung haben wir bereits wichtige Grundlagen geschaffen. Aber wir ruhen uns darauf nicht aus. Jedes Kind, jeder Jugendliche soll die besten Chancen haben, das Beste aus seinem Leben zu machen.

„Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben.“ – dieser Anspruch steht über unserem Handeln. Pragmatisch und leidenschaftlich arbeiten wir genau für ein solches Deutschland. Wir wollen das bestehende Gute sichern und gemeinsam noch Besseres schaffen. Darum geht es uns; darum geht es bei der Bundestagswahl am 24. September 2017. Wir werben um ein starkes Mandat, denn wir wollen weiter Verantwortung übernehmen; wir haben Lust am Gestalten; wir schauen zuversichtlich auf die Chancen der Zukunft. Das verbindet uns mit allen Menschen in unserem Land, die ihr Bestes geben für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben.

Wenn wir über Wohlstand und Sicherheit sprechen, dann wissen wir, dass wir dafür unseren Blick auch über die Grenzen unseres Landes hinaus richten müssen. Eine gute Zukunft hat unser Land nur in einem starken und erfolgreichen Europa. Und ein erfolgreiches Europa ist eines,

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ÂťIn einer Zeit, in der manch einer auf Abschottung und Protektionismus setzt, muss Europa umso dringender gemeinsam auftreten und entschlossen handeln.ÂŤ Dr. Angela Merkel MdB ist Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland und Vorsitzende der CDU Deutschlands.

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Annette Widmann-Mauz

FĂźr ein Deutschland, in dem Familien gut und gerne leben #fedidfgugl

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Digitalisierung – Demografie – Integration

großen Vorteil: das Zusammenleben im generationenübergreifenden Familienverbund und den gemeinsamen Lebens- und Arbeitsraum. Mit der Industrialisierung wurden diese beiden Bereiche auseinandergerissen. Der Arbeitsplatz verlagerte sich von Haus, Hof oder Werkstatt in die Fabrik, an das Fließband, in das Büro. Das ist bis heute so geblieben.

Zeit, Geld und Infrastruktur – das sind die gängigen Schlagworte, wenn es um die Verbesserung der Lebenssituationen von Familien geht. Unions­ geführte Bundesregierungen haben u.a. durch die Einführung der Elternzeit, des Elterngelds und ElterngeldPlus für Mütter und Väter, den Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz und den konsequenten Ausbau der Betreuungseinrichtungen auch für unter Dreijährige viel erreicht, um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Eltern besser lebbar zu machen. Hier bleiben wir dran.

»Die Digitalisierung ermöglicht eine Flexibilisierung von Arbeitsort und Arbeitszeit.«

Und dennoch bleiben – trotz messbarer Erfolge - die Zahlen ernüchternd: Laut einer Studie der Bertelsmann Stiftung „Entwicklung der Altersarmut bis 2036“ sind neben Langzeitarbeitslosen, Niedrigqualifizierten und Menschen mit Migrationshintergrund vor allem (alleinstehende) Frauen im Rentenalter stark armutsgefährdet. Das ist eigentlich keine neue Erkenntnis, schon alleinerziehende Frauen gehören zu den besonders vulne­ rablen Gruppen unserer Gesellschaft. Jedoch erschreckt die Prognose: Mehr als ein Drittel der jetzt mitten im Arbeitsleben stehenden Personen werden im Alter jeden Monat knapsen müssen.

Die Digitalisierung ermöglicht uns heute in vielen Berufen eine Flexibilisierung von Arbeitsort und Arbeitszeit. Homeoffice, digitale Arbeitsumgebungen, Mobiltelefone, E-Mails und Videotelefonie erleichtern (bei allen Nachteilen ständiger Erreichbarkeit) die Zusammenarbeit über räumliche (und zeitliche) Distanzen. Arbeitsort und privater Lebensraum können wieder zusammenwachsen – virtuell und ganz real. Die dadurch freiwerdenden Potentiale sind noch lange nicht ausgeschöpft. In zu vielen Köpfen in Wirtschaft und Politik wird Leistung noch immer mit physischer Präsenz verknüpft. Digitalunternehmer z.B. in Hamburg kennen diese Verknüpfung nicht, wenn sie mit Entwicklern in Dresden, Lüdenscheid oder Esslingen skypen. In der internationalen Zusammenarbeit spielt physische Präsenz eine untergeordnete Rolle für den wirtschaftlichen Erfolg.

Bei solchen Aussichten müssen wir neben der notwendigen Diskussion über Mütterrenten und ihre noch bestehende Anrechnung auf die Grundsicherung in einer künftigen Rentenkommission und anderen arbeitsmarktpolitischen Fördermaßnahmen auch über den Tellerrand der reinen Altersvorsorge hinaus denken. Drehen wir den Spieß doch einmal um und denken positiv: welche Chancen bieten sich jungen Menschen in den kommenden Jahren, neben wirtschaftlicher Sicherheit gleichzeitig auch ein glückliches Familienleben und berufliche Erfüllung zu finden?

Natürlich ist die Flexibilisierung des Arbeitsplatzes nicht die allein seligmachende oder gar konfliktfreie Lösung. Zurückkommend auf die Bertelsmann-Studie zur Altersarmut zeigt sich, dass vor allem Unterbrechungen im Erwerbsleben durch Familienarbeit (sei es Kindererziehung oder Pflege), durch Arbeitslosigkeit oder Qualifizierungsmaßnahmen zur späteren Armutsgefährdung beitragen.

Digitalisierung – der Schlüssel zur Vereinbarkeit? Woran wir dabei alle nicht vorbeikommen, ist die Digitalisierung. Sie beeinflusst bereits jetzt unser Leben unüberschaubar in fast allen Bereichen. Wie können wir sie uns für diesen Zweck zunutze machen?

Neben der Hinwendung zu neuen (digitalen) Arbeitsmodellen und Berufsbildern benötigen wir also den Blick auf das gesamte Erwerbsleben und eine Lebensphasenorientierung. Individuelle Arbeitszeitkonten können hier den Druck abmildern. Kombiniert mit Familienzeitkonten

In früheren vorindustriellen Jahrhunderten war das Leben in vielerlei Hinsicht sehr viel beschwerlicher als heute. Aber es gab einen

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Familienplanung. Neben der Unsicherheit des Arbeitsplatzes gehen mit den Befristungen weitere Nachteile einher. So wird die Kreditaufnahme für den Erwerb von Wohneigentum erschwert beziehungsweise unmöglich gemacht. Gerade für Familien aber schafft Wohneigentum eine zusätzliche Säule in der Alterssicherung. Als Union wollen wir Familien zukünftig mit einem Baukindergeld und mit Entlastungen durch Freibeträge bei der Grunderwerbssteuer beim Ersterwerb von selbstgenutztem Wohneigentum unter die Arme greifen. Diese Maßnahmen entfalten aber nur Wirkung für viele in der Breite, wenn das Grundkapital dafür auch auf dem ersten Arbeitsmarkt selbst erwirtschaftet werden kann.

verschaffen sie Eltern Luft in Zeiten, wenn ihre Kinder sie besonders brauchen, ohne dass sofort das Damoklesschwert eines schwierigen Wiedereinstiegs oder gar der Altersarmut über ihnen hängt. Die große Herausforderung ist, diese Konten auch von Arbeitgeber zu Arbeitgeber übertragbar zu machen. Denn zu modernen Erwerbsverläufen gehören Jobwechsel genauso wie Qualifizierungen lange nach der ersten Ausbildung. Sabbaticals und Zeit für Weiterbildung tragen auch zum Erhalt der Erwerbsfähigkeit bei und schonen damit langfristig die Sozialkassen. Diese Erkenntnis sollte Tarifpartner in ihren Beratungen zu Arbeitszeitkonten leiten.

»Arbeits- und Familienzeitkonten verschaffen Eltern Luft.«

Grundsätzlich lässt sich der sogenannten „Generation Y“, also der zwischen 1980 und 2000 Geborenen, die berühmte Flexibilität und große Offenheit für Neues sowie technische und digitale Affinität zuschreiben. Darüber hinaus sind sie auch sehr gut qualifiziert, aufgewachsen mit den elterlichen Vorbildern und dem klaren Leitbild wirtschaftlicher Unabhängigkeit und sozialer Selbstständigkeit, gleichberechtigter gesellschaftlicher Teilhabe und der tatsächlichen Vereinbarkeit von Familie und Beruf.

Mithilfe der Digitalisierung lassen sich auch Opportunitätskosten für Familien senken. Ein Bürgerportal darf nicht nur das Meldewesen vereinfachen. Elterngeldanträge und Anmeldungen zu Betreuungseinrichtungen sollten dort ebenso unbürokratisch möglich sein wie die Anmeldung des Kraftfahrzeugs oder die Abgabe der Steuererklärung. Die Verwaltung von Arbeits- und Familienzeitkonten über ein Portal ist noch Zukunftsmusik, wäre aber eine wichtige Verknüpfung, die die Übertragbarkeit von Zeitgutschriften ermöglicht, indem es Hürden wie beispielsweise auch Arbeitgeberinsolvenzen überwindet.

»Die ›Generation Y‹ will Erziehungsarbeit partnerschaftlich aufteilen.« Sie wollen verlässliche Beziehungen, Ehe, Kinder und Familie wie die Generationen zuvor, aber sie wollen die Erziehungsarbeit partnerschaftlicher aufteilen als zuvor. Sie wollen und wissen, dass das jetzt endlich auch möglich ist!

Familienzeitkonten und Baukindergeld schaffen mehr Lebensqualität Familien- und Lebensarbeitszeitkonten erleichtern die Planungen für Familien und geben ein Maß an Sicherheit, das heute oft fehlt. In dieselbe Richtung geht auch die Forderung nach Abschaffung der sachgrundlosen Befristung. Zeitliche Befristungen oder Kettenverträge finden wir in vielen Branchen. Sie bieten Arbeitgebern Flexibilität, erzeugen aber Stress und Unsicherheit bei ihren Beschäftigten, die dadurch den Zeitpunkt zur Gründung einer Familie unnötig oft nach hinten verschieben. Befristungen erfordern von den Betroffenen ein sehr hohes Maß an Flexibilität wie die Bereitschaft zum Wohnortwechsel oder zu langem Pendeln. Auch das hemmt die

„It’s the Demografie, stupid!“ Der „Generation Y“ kommt dabei eines zugute: der Demografiefaktor! Fachkräfte werden immer rarer, Unternehmen, die nicht in Familienfreundlichkeit investieren, finden schwerer gut qualifiziertes Personal. Denn „gute Leute“ haben inzwischen die Wahl zwischen verschiedenen Angeboten. Einstellungen wie „Geld alleine macht nicht glücklich“ oder „Arbeit ist nicht alles im Leben“ sind immer seltener nur noch eine Randerscheinung.

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»Wer zudem meint, in den nachfolgenden Generationen, die ihre Gesichter kaum noch von den Chatprogrammen ihrer Smartphones heben, stehe der Zusammenhalt in der Gesellschaft und zwischen den Generationen unter ›ferner liefen‹, täuscht sich.«

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Aufgaben des Staates wandeln. Der Ausbau der Kinderbetreuung, Investitionen in Qualität und Personal sind ein Beispiel dafür, wie der Staat auf die sich ändernden Bedürfnisse reagiert.

Der Wunsch nach einem erfüllten Familienleben hingegen wird immer stärker zu einer nicht verhandelbaren Bank, mit der Unternehmen und Personalchefs lernen müssen umzugehen. Die Shell-Jugendstudie 2015 belegt, dass 91 Prozent der Jugendlichen heute der Meinung sind, dass Familie und Kinder neben dem Beruf nicht zu kurz kommen dürfen. An dieser Zahl kann keiner vorbei!

„Generation Integration“ Staat und Gesellschaft müssen sich aber auch den neuen Herausforderungen zuwenden, die unser Land in Folge von Migration und Zuwanderung in sozialer, bildungs- und familienpolitischer Hinsicht zu bewältigen hat: der Integration. Ziel ist es, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt auch in Zukunft starkes Element bleibt und soziale und gesellschaftliche Folgekosten aufgrund gescheiterter Integration möglichst vermieden werden.

Junge Menschen kaufen nicht die „Katze im Sack“. Sie wägen Beschäftigungsangebote und Karriereoptionen gründlich ab. Und sie unterscheiden sehr wohl zwischen sachgrundloser Befristung und befristeten Vertretungen als Elternzeit- oder Sabbatical-Ersatz.

Neben den Menschen, die momentan vermehrt als Flüchtlinge aus Kriegsgebieten zu uns kommen und von denen auch viele dauerhaft bei uns bleiben werden, braucht Deutschland eine geordnete Zuwanderung, wenn wir Wachstum und Wohlstand in unserem Land erhalten und ausbauen wollen. Neben den gewünschten und benötigten qualifizierten Fachkräften kommen jedoch auch schlecht oder gar nicht qualifizierte Menschen ins Land.

Wer zudem meint, in den nachfolgenden Generationen, die ihre Gesichter kaum noch von den Chatprogrammen ihrer Smartphones heben, stehe der Zusammenhalt in der Gesellschaft und zwischen den Generationen unter „ferner liefen“, täuscht sich. Auch hier gibt die Shell-Jugendstudie von 2015 Aufschluss: „Werte wie Freundschaft, Partnerschaft und Familie stehen bei Jugendlichen an erster Stelle. 89 Prozent finden es besonders wichtig, gute Freunde zu haben, 85 Prozent, einen Partner zu haben, dem sie vertrauen können, und 72 Prozent, ein gutes Familienleben zu führen. Fast zwei Drittel der Jugendlichen legen großen Wert auf den Respekt vor Gesetz und Ordnung, und viele wollen fleißig und ehrgeizig sein. Wichtiger als in den vorigen Studien ist ihnen die Bereitschaft zum umwelt- und gesundheitsbewussten Verhalten. Dagegen haben materielle Dinge wie Macht oder ein hoher Lebensstandard eher an Bedeutung verloren. Sehr viele Jugendliche finden es wichtig „die Vielfalt der Menschen anzuerkennen und zu respektieren“.“

»Frauen sind und bleiben der Schlüssel zur Integration.« Darunter sind besonders häufig Frauen. Wir dürfen diese nicht in der passiven Rolle der „Mit-Einwandernden“ belassen, sondern müssen sie – wenn nötig – alphabetisieren und beruflich qualifizieren. Mit der Bildung kommt Spracherwerb, kommt Wissen über unsere Werte, unsere Kultur. Mit dem Job kommt vermehrt wirtschaftliche Unabhängigkeit und die Erkenntnis, dass soziale Verankerung und Teilhabe ein besseres Leben ermöglichen. Und den Staat entlastet diese Qualifizierungsoffensive auf Dauer auch finanziell.

Familien- und Rollenbilder ändern sich. Das „Prinzip des Füreinandereinstehens“, eine der Säulen unseres Gemeinwesens, jedoch bleibt auch bei den jungen Menschen erhalten. Der Staat braucht stabile Beziehungen. Ohne diese, ohne die Verantwortung von Eltern für ihre Kinder und im Lebensverlauf von Kindern für ihre Eltern, für Ehepartner untereinander, ist unser Sozialwesen nicht finanzierbar.

Das ist sicher ein verkürzter Blick auf die Gemengelage, es ist aber auch die Quintessenz aus der Erfahrung gescheiterter Integrationsbeispiele vergangener Jahrzehnte. Wir können uns in anderen Ländern positive und negative Entwicklungen

Sie zu stützen und zu erhalten muss weiter vordringliche Aufgabe sein. Und mit den sich wandelnden Familienbildern müssen sich auch die

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»Wir wollen Kinder, egal welcher Herkunft, die verstehen, dass Leistung sich lohnt.«

ansehen und für uns das Beste herausziehen. Nur ignorieren dürfen wir diese Mammutaufgabe nicht. Denn Deutschland war und ist ein Einwanderungsland.

Schulabbrecherquoten bei einzelnen Migrantengruppen mit allen negativen gesellschaftlichen Folgen und Kosten. Wir wollen Kinder, egal welcher Herkunft, die verstehen, dass Leistung sich lohnt. Und wer es versucht und sich anstrengt, aber nicht hinreichend erfolgreich ist, der und die erhalten Hilfe. Wir wollen die Soziale Marktwirtschaft als eine der Säulen guten Zusammenlebens für alle (er)lebbar machen. Integration bedeutet nicht nur das Stopfen von Lücken bei Fachkräften und bei Jobs, die sonst keiner will. Integration bedeutet nicht das widerwillige Aufnehmen von Flüchtlingen aus Kriegsgebieten in Traglufthallen. Integration bedeutet, mit den Menschen, die da sind, ein funktionierendes Gemeinwesen aufzubauen und zu erhalten, nach dem Prinzip des Füreinandereinstehens, der Hilfe der Schwachen durch die Starken und das Einbringen und Nutzen aller Talente.

Es ist keine neue Erkenntnis, aber sie findet noch zu wenig Beachtung: Frauen sind und bleiben der Schlüssel zur Integration. Je stärker wir sie einbinden, desto größer wird der Einfluss auf die nachfolgende Generation. Denn wir wollen nicht dauerhaft Spacherwerbsklassen an allen Schulen, sondern Spracherwerb in der Familie und im Vorschulbereich wie bei allen Kindern. Die Integrationsstudie 2014 des „Berlin Instituts für Bevölkerung und Entwicklung“ stellte fest, das Menschen mit Migrationsgeschichte ihren Bildungsstand in der Regel immer noch „vererben“, Aufstieg für die Kindergeneration weniger selbstverständlich ist wie für deutschstämmige Kinder. Das ändert sich durch positive Bildungserfahrungen der Mütter. Wir wollen keine hohen

Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben.

Annette Widmann-Mauz MdB ist Bundestagsabgeordnete des Wahlkreises Tübingen-Zollernalb und seit 2009 Parlamentarische Staatssekretärin beim Bundesminister für Gesundheit. Die 51-Jährige ist zudem Bundesvorsitzende der Frauen Union und Mitglied des CDU-Bundesvorstands.

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Steffen Kampeter

Ein Update fßr Deutschland Forderungen an die nächste Bundesregierung

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Spielräume für Innovationen und Investitionen? Wie sieht die Arbeit von morgen aus? Und wie gestalten wir unser Bildungssystem so, dass unsere Kinder optimal auf die sich schnell wandelnde Berufswelt vorbereitet sind?

Keine Frage: Es läuft in Deutschland! Mit einem soliden Wirtschaftswachstum, einem Rekordwert von über 44 Millionen Erwerbstätigen und der niedrigsten Arbeitslosigkeit seit der Wiedervereinigung steht unser Land im Vergleich der Wirtschaftsnationen sehr gut da.

»Wachsende Lohnzusatzkosten wirken wie Bleiwesten.«

Die gute Lage kommt unmittelbar bei den Beschäftigten an: Mit den realen Lohnsteigerungen der vergangenen Jahre haben sie heute wesentlich mehr Geld im Portemonnaie. Das wiederum kurbelt den Konsum an und trägt dazu bei, dass unsere Steuerquellen sprudeln. Die deutsche Wirtschaft ist in Topform. Damit das so bleibt, muss unser Land überzeugende Antworten auf die zentralen Herausforderungen der Zukunft geben. Denn die Digitalisierung und der technologische Fortschritt verändern unsere Gesellschaft, Wirtschaft und Arbeitswelt in einem atemberaubenden Tempo. Die Wirtschaftswissenschaftler Andrew McAfee und Erik Brynjolfsson sprechen bei diesen rasanten Veränderungen, die um uns herum stattfinden, von einer „Second Machine Age“: Neue Technologien verändern unsere Welt nachhaltig.

Wir brauchen eine Strategie, damit Deutschland auch in Zukunft in der Champions-League spielt. Diese Strategie muss die Stärkung von Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit ins Zentrum stellen und den Rahmen für notwendige Veränderungen in der Wirtschaft 4.0 setzen. Erstens: Die neue Bundesregierung muss eine Antwort darauf geben, wie wir unseren Unternehmen und Beschäftigten bei den Sozialversicherungsbeiträgen Luft zum Atmen lassen. Denn die Sozialversicherungsbeiträge kratzen inzwischen gefährlich nahe an der 40-Prozent-Marke. Noch höhere Sozialversicherungsbeiträge gefährden Wachstum und Beschäftigung. Besonders für Unternehmen, die tagtäglich im internationalen Wettbewerb um Kunden stehen, wirken wachsende Lohnzusatzkosten wie Bleiwesten.

»Heute spielt es immer weniger eine Rolle, wo jemand lebt und arbeitet.«

Fest steht: Arbeit muss in Deutschland auch in Zukunft bezahlbar bleiben. Und die Menschen, die arbeiten gehen, müssen am Ende des Monats mehr im Geldbeutel haben als diejenigen, die nicht arbeiten. Eine neue Bundesregierung sollte die Sozialversicherungsbeiträge daher bei maximal 40 Prozent deckeln und mutige Strukturreformen in allen Zweigen der sozialen Sicherung in Angriff nehmen. Sie muss eine rote Linie ziehen, die vor einem weiteren Griff des Staates in den Geldbeutel von Unternehmen und Beschäftigten schützt: Ü-40? Nein, danke! Das muss die Devise sein, wenn es um die Beitragsentwicklung geht.

Zum ersten Mal in der gesamten Menschheitsgeschichte ist knapp die Hälfte der Erdbevölkerung via Smartphone digital miteinander verbunden. Autonomes Fahren ist auf öffentlichen Straßen möglich. Anstatt selbst Hand anzulegen, „drucken“ wir Zahnersatz oder Autoteile mittels 3D-Drucker – schnell und computergesteuert. Ob in Singapur, Tallinn oder in Vancouver – heute spielt es für die digitale Gemeinschaft immer weniger eine Rolle, wo jemand lebt und arbeitet. Die globale Vernetzung von Märkten und Gesellschaften, die Kommunikation in Echtzeit funktioniert grenzenlos, jeder kann teilhaben, sie findet überall statt und dies verändert unsere Wirtschaft wie unser ganzes Leben binnen kurzer Zeit fundamental.

Zweitens benötigen wir eine neue Digitalisierungsoffensive für Deutschland. Wir hinken derzeit nicht nur beim Ausbau des Breitbandnetzes hinterher, sondern auch bei der Gestaltung der Arbeitswelt 4.0. Inzwischen hat fast jeder von uns ein Smartphone oder Tablet in der Tasche und besitzt damit die Möglichkeit, ganz bequem von

Diese digitale Revolution mit all ihren disruptiven Veränderungen stellt neue Fragen an Unternehmen wie Beschäftigte: Wie ermöglichen wir unseren Unternehmen auch in Zukunft

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Das entspricht auch den Wünschen der Beschäftigten, die sich längst viel flexiblere Übergänge von Arbeit, Familie und Freizeit wünschen, weil das ihrem Lebensstil viel mehr entgegen kommt als ein auf Gleichschritt gepoltes Arbeitszeitgesetz aus dem letzten Jahrhundert.

unterwegs aus zu arbeiten. Immer mehr Unternehmen eröffnen ihren Beschäftigten zudem die Möglichkeit, im Home-Office zu arbeiten. Die Digitalisierung und der technische Fortschritt bieten uns, anders als bisher, die Chance, unsere Arbeit zeitlich und räumlich flexibel zu erledigen. Das kommt beiden entgegen: Unternehmen und Beschäftigten.

Drittens benötigen wir ein Update in der Bildungspolitik. Denn die Digitalisierung und der technische Fortschritt werden neue Anforderungen an die Gesellschaft stellen, insbesondere an junge Menschen, die neu in den Beruf einsteigen. Arbeiten 4.0 muss von Bildung 4.0 begleitet werden.

»Unsere Arbeitszeitordnung stammt noch aus dem letzten Jahrhundert.«

Blicken wir auf so manche Schulen, dann scheint es, als sei vielerorts die Zeit stehen geblieben: Flächendeckender WLAN-Zugang in allen Schulräumen? Oftmals Fehlanzeige. Nur jeder dritte Schüler nennt Whiteboards oder den PC als tägliches Lernmittel im Unterricht. Der deutsche Schulalltag wird immer noch zu großen Teilen vom Arbeiten mit Fotokopien bestimmt. Dort, wo Schulen noch Technikmuseen sind, muss dringend digital aufgerüstet werden.

Das geltende Arbeitsrecht hinkt aber teilweise weit hinter den technischen Möglichkeiten und den Bedürfnissen in der digitalen Arbeitswelt hinterher. Besonders unsere Arbeitszeitordnung stammt noch aus dem letzten Jahrhundert und ist ein viel zu enges und starres Korsett für die Arbeit 4.0. Ein Beispiel: Wer abends noch schnell eine kurze E-Mail an Kollegen versendet, darf nach deutschem Recht erst elf Stunden später wieder weiterarbeiten. Diese strenge, unflexible Ruhezeitregelung muss in angemessener Weise ge­ lockert werden.

Bereits heute schneiden unsere Kinder bei den digitalen Kompetenzen im internationalen Vergleich gerade einmal mittelmäßig ab. Viele junge Menschen sind damit für die Berufswelt von morgen nicht ausreichend vorbereitet. „Digital kompetent“ bedeutet mehr als nur Chatten und Daddeln.

Auch die Höchstarbeitszeit sollte sich zukünftig an der Woche – und nicht am Tag – orientieren, so wie es die europäische Arbeitszeitrichtlinie vorsieht. Wo immer es möglich und sinnvoll ist, sollten die Sozialpartner oder die Beschäftigten innerhalb eines Wochenrahmens selbst entscheiden können, wo und wann gearbeitet wird.

»Unsere Schulen müssen digital aufgerüstet werden.«

Die Erfahrung zeigt doch: Sozialpartner sind näher an der betrieblichen Praxis und können besser einschätzen, welche Regelungen Wachstum und Beschäftigung dienen. Mehr Sozialpartnerschaft bedeutet mehr Flexibilität. Und: Nur Flexibilität schafft schließlich auch Sicherheit. Sicherheit für ein Unternehmen im internationalen Wettbewerb erfolgreich zu bestehen. Und Sicherheit für die Arbeitsplätze in diesem Unternehmen.

„The Fourth Industrial Revolution is about empowering people“, so bewertet Brad Keywell, Gründer und Geschäftsführer eines der weltweit führenden Technologieunternehmen die neuen Chancen, die für alle Beschäftigten mit der Wirtschaft 4.0 verbunden sind – vorausgesetzt, sie sind optimal darauf vorbereitet. „Workers make smarter decisions, solve tougher problems and do their jobs better.” Technologien auf höherem Niveau verlangen neue Kenntnisse und Fähigkeiten. Das Bildungssystem von morgen muss daher die digitalen Kompetenzen unserer Kinder stärker als bisher fördern.

Wenn uns das Arbeiten mit mobilen Endgeräten oder im Homeoffice neue Freiheiten ermöglicht, dann darf die Politik hier kein Bremsklotz sein, sondern muss veraltete gesetzliche Regelungen der Lebenswirklichkeit des 21. Jahrhunderts anpassen.

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»Deutschland muss auch seine bestehenden Belegschaften fit für die Digitalisierung machen.«

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Schulen, insbesondere an den Gymnasien, einsetzen, damit auch mehr Frauen eine Karriere im MINT-Bereich anstreben.

Die neue Bundesregierung muss gemeinsam mit den Ländern bundesweite Bildungsstandards für die Vermittlung digitaler Kompetenzen setzen. Wo noch nicht geschehen, müssen wir unsere Schulen aus der Kreidezeit holen und in Zukunftswerkstätten und Ideenschmieden verwandeln! Die Förderung von digitalem Know-How darf nach der Schulzeit nicht enden. Im Gegenteil: Deutschland muss auch seine bestehenden Belegschaften fit für die Digitalisierung machen.

Für die Frauen, die es bislang mangels guter Rahmenbedingungen für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf schwer haben, Karriere zu machen, ist der Ausbau von bedarfsdeckenden und qualitativ hochwertigen Ganztagskinderbetreuungs- und Ganztagsschulangeboten ausschlaggebend. Das muss ganz oben auf der To-Do-Liste der nächsten Bundesregierung stehen.

Voraussetzung sind flexible, praxisnahe Weiterbildungsangebote. Die Unternehmen leisten hier schon enorm viel. Neben der bewährten praxisund arbeitsplatznahen Weiterbildung sind auch unsere Hochschulen gefragt. Sie sollten sich noch stärker für Berufstätige öffnen und ihre Angebote an berufsbegleitenden Weiterbildungsformaten deutlich ausbauen. Zu einer neuen Bildungsstrategie gehört auch eine stärkere Förderung der MINT-Fächer. Gerade die MINT-Berufe stehen für die Innovationen, das Wachstum und die hoch bezahlten Arbeitsplätze von morgen. Für Deutschland als Hochtechnologieland ist eine gute Aufstellung im MINT-Bereich überlebenswichtig.

Insgesamt zeigt sich: Die Herausforderungen, vor denen Deutschland steht, können wir meistern. Es gibt keinen Grund vor notwendigen Veränderungen den Kopf in den Sand zu stecken. Wenn in der digitalen Revolution Mensch und Maschine gut zusammenarbeiten, sind wir alle schneller, wir machen weniger Fehler und erzielen bessere Ergebnisse. Deutschland muss als Vorreiter innovativ vorangehen, mit frischen Ideen und mutigen Konzepten. Die neue Champions-League-Strategie für Deutschland muss lauten: „Mehr Wirtschaft wagen!“ Die nächste Bundesregierung muss Unternehmen wie Beschäftigte entlasten, die Chancen der Arbeit 4.0 nutzen, Deutschland zum Bildungsweltmeister machen und so Zukunftspotentiale in unserem Land entfesseln.

Für die nächste Bundesregierung gibt es hier Handlungsbedarf: Im Augenblick existiert eine Lücke von 257.000 MINT-Fachkräften. Insbesondere Frauen sind im MINT-Bereich immer noch klar unterrepräsentiert. Deutschland braucht aber dringend auch Technikerinnen, Meisterinnen, Ingenieurinnen und Informatikerinnen.

Setzen wir jetzt auf Veränderungsbereitschaft, dann werden wir unser Wachstum, unsere Arbeitsplätze und unseren Wohlstand in der digitalen Revolution sichern. In den nächsten vier Jahren und weit darüber hinaus.

Die „MINT-Lücke“ ist schließbar: Die neue Bundesregierung sollte sich, neben einer stärkeren Förderung der MINT-Fächer, auch für eine bessere, klischeefreie Berufsorientierung an den

Steffen Kampeter ist Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA). Von 2009 bis 2015 war er parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen sowie von 1990 bis 2016 Mitglied des Deutschen Bundestages.

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anders als andere


Eva Maria Welskopp-Deffaa

#barmherzigeSamariter fĂźr digitale Nomaden Das Soziale in der Marktwirtschaft 4.0

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Bevöl­­­kerungsgruppen: Für Menschen mit Beeinträchtigungen etwa können Roboteri­ sierung und digitale Assistenzsysteme erweiterte Teilhabechancen bieten. Es stellen sich aber zugleich ethische Fragen, die z.B. die Entscheidungsmaximen der Algorithmen betreffen, die ein selbst-fahrendes Auto oder einen Pflegeroboter steuern. Die Weiter­ entwicklung der technischen Lösungen muss, um ihren baldigen praktischen Einsatz verantwortungsvoll vorzubereiten, mit der skizzierten ethischen Debatte kontinuierlich eng verschränkt werden.

Die Begriffe sind unscharf-schillernd: digitale Transformation, Vernetzung, Wirtschaft 4.0. Sie beschreiben eine schleichend-dynamische Entwicklung, die unser Leben spätestens seit Erfindung des iPhones ungebremst erfasst hat. Die Botschaft ist eindeutig: Die Zeiten, in denen wir im 21. Jahrhundert leben, unterscheiden sich von den Lebenswelten unserer Eltern und Großeltern grundlegend; so grundlegend wie die urbanisierte Industriegesellschaft sich von der agrarischen Gesellschaft unterschied, die ohne Dampfmaschine und Eisenbahn Produktion und Austausch der Güter organisierte. Ebenso wie die Industrielle Revolution mit ihrer tiefgreifenden Veränderung der Arbeits- und Lebensformen drängende „soziale Fragen“ aufwarf, so stellt sich auch heute unabweisbar die Frage nach der sozialen Ordnung in der digitalen Transformation.

• Große Aufmerksamkeit genießt bei den Anbietern sozialer Unterstützungsleistungen die Entwicklung neuer Konzepte von Beratung und Therapie, deren online-Varianten hohe Anforderungen an Datenschutz und Datensicherheit stellen. Wenn die berechtigten Erwartungen der Nutzerinnen an privacy verlässlich erfüllt werden sollen, kommt der Gestaltung von Datentransfers, die von den datensaugenden US-Giganten der Internetbranche sicher abgegrenzt sind, hohe Priorität zu.

»Hybride Erwerbsverläufe bedürfen neuer Formen sozialer Absicherung (›Rente 4.0‹).«

• Digitale Kompetenz und Qualifikation von haupt- und ehrenamtlich in der sozialen Arbeit Tätigen sind Themen, die weit oben auf der Agenda der sozialen Herausforderungen 4.0 stehen, wobei auch (und vordringlich) die Frage nach der Förderung digitaler Fähigkeiten in der Breite der Bevölkerung gestellt ist. Durch strukturelle Ungleichverteilungen digitaler Kompetenzen können im Zuge der digitalen Transformation sehr schnell neue soziale Spaltungen entstehen zwischen denen, die Zugänge zu den neuen Medien haben und denen, die sich von der Lebenswelt 4.0 ausgeschlossen fühlen.

Institutionelle Anwältinnen des Sozialen Gewerkschaften, Kirchen, Wohlfahrtsverbände - weisen seit einiger Zeit, im vielstimmigen Konzert der Debatten um die digitale Transformation nicht immer leicht vernehmlich, auf die neuen sozialen Herausforderungen hin: • Unter dem Label „Arbeiten 4.0“ ist eine breite Debatte angestoßen worden, die nach Gewinnern und Verlierern der digitalisierten Arbeitswelt fragt. Hybride Erwerbsverläufe, die zwischen abhängiger und (über Plattformen vermittelter) selbstständiger Arbeit changieren, bedürfen neuer Formen sozialer Ab­­ sicherung („Rente 4.0“). Der Wegfall von beruflichen Tätigkeitsfeldern, für die die Industrie 4.0 menschliche Arbeitskraft immer weniger braucht, muss aktiv so gestaltet werden, dass Arbeitslosigkeit vermieden wird und eine faire Verteilung der Rationalisierungsgewinne gelingt.

• Last but not least sind Management und Innovationsfähigkeit der Anbieter sozialer Dienstleistungen ein Handlungsfeld, das unter den Vorzeichen der digitalen Transformation in Zusammenarbeit etwa von Wohlfahrtsverbänden und sozialen Start-ups neu zu bearbeiten ist. Die Innovationsfähigkeit der Sozialen Marktwirtschaft 4.0 entscheidet sich am Zusammenspiel technischer und sozialer Innovationen. Gerade auch im Bereich der Sozialwirtschaft liegen erhebliche gesamtwirtschaftliche Potenziale.

• Hoffnungen bestehen in Bezug auf ver­ besserte Inklusionsperspektiven vulnerabler

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»Der #barmherzigeSamariter muss Not dort sehen und handeln, wo die Menschen unterwegs sind – also auch in virtuellen Nachbarschaften und vernetzten hyperlokalen Räumen.«

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Digitale Nomaden

sind vielleicht Pokémon Go und Google Maps. Während Menschen über 50 den Pokémon-Hype überwiegend aus der Ferne und oft verständnislos beobachteten, wird Google Maps auch von NichtNerds im Alltag intensiv verwendet: Im Grundsatz eine klassische Karte zeigt die App aus der Vogelperspektive Straßen, Plätze und Geschäfte und dient zugleich als Routenplaner mit integriertem Zug- und Busfahrplan. Nutzerinnen können (in Kombination mit anderen Apps) Zusatzinformationen wie Bilder, Hinweise und Erfahrungsberichte erhalten. Sie können auf subjektive Bewertungen anderer Akteurinnen zugreifen und Informationen vergleichen. Subjektive Bewertungen letztlich unbekannter Akteure im Netz führen dabei zu nachhaltigen Verhaltensänderungen in der realen Welt: Wenn z.B. ein Restaurant, das eine attraktive Speisekarte und ein einladendes Ambiente bietet, im Internet schlechte Bewertungen erfährt, werden weniger Passanten, die vorbeikommen, dort einkehren.

Vor all diesen Fragen nach sozialen Herausforderungen in der digitalen Transformation allerdings ist elementar die Frage nach dem (Sozial-)Raum zu stellen, in dem die Menschen morgen unterwegs sein werden. Wo werden unter den Bedingungen der Digitalisierung soziale Kontakte geknüpft, wo finden soziale Begegnungen statt und wo müssen Angebote sozialer Unterstützung erreichbar sein, wenn sie relevant sein sollen? Anders formuliert: Wo muss und wird der #barmherzigeSamariter die Menschen treffen, die im digitalen Zeitalter seiner Hilfe dringlich bedürfen? Für die Erwerbs- und Lebensweise in der digitalen Welt ist der Begriff des „digitalen Nomaden“ eingeführt. Wie ihre Vorfahren in der Wüste sind digitale Nomaden nicht durch das gekennzeichnet, was sie mit sich führen, sondern durch das, was sie hinter sich lassen – wissend, dass und wo die Umgebung es zur Verfügung stellen wird: „Thus, Bedouins do not carry their own water, because they know where the oases are. Modern nomads carry almost no paper because they access their documents on their laptop computers, mobile phones or online.“ (so der Economist 2008) „Nutzen statt Besitzen“ ist programmatisch für die Alltagsbewältigung der digitalen Nomaden. Sie erwarten, dass ihnen der Nutzungszugriff nicht nur auf Dokumente und Informationen, sondern auch auf wichtige Gegenstände des Lebens online eröffnet wird.

Anwendungen der digitalen Vernetzung tragen also zu neuen Formen der „Entfremdung“ durch Auflösung von Ferne und Distanz, aber auch zu veränderter lebensweltlicher Erfahrung durch softwarebasierte Anwendungen bei. Die Hybridisierung führt zu einer veränderten Konstituierung von Raum und Räumlichkeit und hat Auswirkungen auf die soziale Alltagswelt als Erfahrungs- und Existenzraum. Verschiedene (Netz-)Akteurinnen erleben denselben faktischen Raum aufgrund der Durchdringung mit unterschiedlichen digitalen Hypertexten potenziell sehr unterschiedlich (Jonas Meine).

»Täglich entstehen neue virtuelle Orte, zwischen denen die digitalen Nomaden unterwegs sind.«

Um die Deutungsangebote zu erfassen, ist körperliche Präsenz im realen sozialen Raum nicht (mehr) ausreichend informativ. Materielle und digitale Anteile verbinden und vermischen sich und führen zu einer hybriden Form der Alltagswelt. Virtuelle Räume betreffen zunehmend unmittelbar die Erfahrungswelt der Individuen, also die Welt, die sich diese erschließen, in denen sie soziale Bindungen ausbilden und produktiv agieren.

Die Digitalisierung führt zu einer Verschmelzung von Mobilität, Kommunikation und Vernetzung. Täglich entstehen neue virtuelle Orte, zwischen denen die digitalen Nomaden unterwegs sind und die dynamische Tendenzen zur Verschmelzung mit dem real-materiellen Raum aufweisen. Es entstehen räumliche Hybridisierungen, die die Übergänge von realem und virtuellem (Sozial-) Raum fließend und für den Einzelnen unwichtig werden lassen. Die populärsten Beispiele für die Verbindung von realer und virtueller Sphäre

Plattformen wie nebenan.de reagieren auf diese Entwicklungen. Sie nehmen die Dynamik hyperlokaler Räume zum Ausgangspunkt ihrer Konzepte: Reale Nachbarschaften werden durch Begegnungen im Netz revitalisiert und zu Beziehungsräumen der Solidarität rekonstruiert; sie

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Wie weit die Selbstorganisationsfähigkeit des Sozialen über Angebote wie nebenan.de zurück gewonnen werden kann und/oder wie sich ein unterstützendes „Quartiersmanagement“ von gemeinnützigen Anbietern über diese Plattformen einbinden lässt, ist Teil eines Experimentierprozesses, der die Akteuere sozialer Hilfsangebote vor neue Herausforderungen stellt. Der #barmherzigeSamariter muss Not dort sehen und handeln, wo die Menschen unterwegs sind – also auch in virtuellen Nachbarschaften und vernetzten hyperlokalen Räumen.

auch wenn sie sich selbst nicht in virtuellen Sozialräumen bewegen. Die reale Welt wird durch die virtuelle Welt verändert. Es macht für Bewohner eines betroffenen Stadtquartiers einen Unterschied, wenn es im virtuellen Ranking als gutes oder prekäres Quartier angesehen wird – z.B. bei der nächsten Kreditaufnahme oder bei der Suche nach Zugängen zu Dienstleistungen. „Smart cities“ werden als informell angereichert angepriesen, aber auch überwacht und gesteuert werden. Ob es für pflegebedürftige ältere Menschen in Zukunft einen Unterschied macht, wie gut ihr Stadtteil über smarte Dienstleistungen erschlossen ist, ist eine Frage, deren Beantwortung Teil der noch in der Zukunft liegenden Lerngeschichte der Sozialen Marktwirtschaft 4.0 ist.

Hybride Sozialräume

#BarmherzigeSamariter

Digitale Nomaden sind in hybriden Sozialräumen unterwegs, bei denen sich die Wahrnehmung der analogen Welt zunehmend (auch) durch die Spielregeln der virtuellen Sozialräume bestimmt. Zahlreiche virtuelle Sozialräume zeichnen sich dadurch aus, dass sie strukturelle Mauern in Form von Registrierungsverfahren ziehen. Durch selbst definierte Beschränkungen können Akteurinnen ihre Sozialräume anderen gegenüber unzugänglich machen – soweit die persönlichen Profileinstellungen der Anbieter den Netzwerkakteurinnen diese Möglichkeit eröffnen. Mitglieder virtueller Sozialräume können den Zugang für Besucherinnen – bestimmt auch durch die Kompetenz im Umgang mit den Einstellungen - strukturell regulieren und innerhalb des Sozialraums begrenzen.

Normen und Prinzipien digitaler Sozialräume werden von den digitalen Nomaden mit Konnektivität und Kommunikation, Transparenz, Partizipation und Authentizität beschrieben. Sie bilden auf den Wegen durch die hybriden Sozialräume ihres Alltags implizit und explizit Strukturen der Kommunikation, die über Zugänge entscheiden und die die normativen Prinzipien für die Teilnahme prägen.

erhalten Funktionen zurück, die ihnen im Zuge der städtischen Anonymisierung vielerorts verloren gegangen waren.

Soziale Teilhabechancen werden sich zunehmend danach unterscheiden, wie weit Menschen diese Normen und Prinzipien verstehen und über Zugänge zu virtuellen Sozialräumen verfügen. Anwälte sozialer Gerechtigkeit werden daher ihre Aufmerksamkeit verstärkt auf die Spielregeln virtueller Sozialräume richten und in diesen selbst einen Standort für sich suchen müssen.

Das Instrument der strukturellen Entgrenzungen digitaler Sozialräume hingegen bilden Hyperlinks. Sie ermöglichen Verbindungen von einer Ebene auf die nächste, also von einem digitalen Sozialraum in einen anderen. Akteurinnen einer Plattform (z.B. Twitter) können Inhalte einer anderen Plattform (z.B. Facebook) zugänglich machen. Hyperlinks vernetzen auch die digitalen mit analogen Sozialräumen. Bekanntestes Beispiel sind die QR-Codes: Hier ist der Wechsel vom analogen Medienformat auf digitale Medien via Foto unverzüglich möglich.

Angesichts der dynamischen Hybridisierung der (Sozial-)Räume konkretisiert sich die Frage nach Erreichbarkeit und Wirksamkeit der #barmherzigenSamariter in der digitalen Transformation aber nicht nur dort, wo Cybermobbing und andere typische Gefahren für digitale Nomaden abgewehrt werden sollen. Auch für die digitalen outsider kann die konkrete Ausprägung der Hybridgestalt des #barmherzigen Samariters lebensentscheidend sein: Es muss verhindert werden, dass die Schnelligkeit, mit der ein Notarzt zur Stelle ist, davon abhängt, wie kompetent die Insassen des Unglücksfahrzeugs mit den Kommunikationsmöglichkeiten der digitalen Zeit umzugehen wissen.

Menschen sind als Nutzerinnen sozialer Angebote ebenso wie die Anbieter sozialer Hilfen durch diese technischen Innovationen betroffen,

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»Es muss verhindert werden, dass die Schnelligkeit, mit der ein Notarzt zur Stelle ist, davon abhängt, wie kompetent die Insassen des Unglücksfahrzeugs mit den Kommunikationsmöglichkeiten der digitalen Zeit umzugehen wissen.«

Eva Maria Welskop-Deffaa ist Volkswirtin und seit Juli 2017 Sozial- und Fachvorstand beim Deutschen Caritasverband in Freiburg. Vorherige Stationen der Ministerialdirektorin i.R. waren der Bundesvorstand von ver.di, das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Abteilungsleiterin) und das Zentralkommittee der Dt. Katholiken. Sie ist Mitglied im Bundesfachausschuss Familie der CDU.

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Stefan Kooths

Nationalsozialer Protektionismus Die untaugliche Kritik an Kapitalismus und Globalisierung als Ursache angeblicher „sozialer Ungerechtigkeit“

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letztlich nur ein politisches Narrativ reproduziert („zunehmende soziale Ungerechtigkeit“), das seit Jahren das Bild einer düsteren Entwicklung der Einkommensentwicklung der breiten Masse der Bevölkerung postuliert. Meist sind dann Forderungen nach zusätzlichen Umverteilungselementen nicht weit.

Wenn Umfragen zutage fördern, dass sich die große Mehrheit der Befragten für überdurchschnittlich gute Autofahrer hält, sorgt das allenfalls für allgemeine Erheiterung. Offenkundig trifft hier die individuelle Selbstüberschätzung als Massenphänomen auf die faktische Unmöglichkeit des Einzelnen, sich ein gehaltvolles Urteil über eine unüberschaubare Grundgesamtheit zu bilden.

Unabhängig vom selbstreferentiellen Charakter der Debatte, der an sich schon problematisch ist, sind auch die meist mit dem Nimbus der Wissenschaftlichkeit dargebotenen Ergebnisse zur sozialen Entwicklung hochproblematisch. Den Drehund Angelpunkt bilden hierbei die Indikatoren zur Messung der Verteilung von Einkommen und Vermögen, mit den jeweiligen Gini-Koeffizienten als Speerspitze (mit Werten zwischen Null für die Gleichverteilung und Eins für die maximale Ungleichheit). Das reine Zahlenwerk der empirischen Forschung mag weitgehend stimmig sein (auch wenn die Erhebung oft erhebliche Schwierigkeiten bereitet), problematisch ist aber die Interpretation der Werte. Und hierbei begibt sich mancher schnell auf sehr dünnes Eis, das öfter einbricht als dass es trägt, wenn man aus dem Befund zunehmender Ungleichheit auf Fehlentwicklungen schließt. Insbesondere wird viel zu leichtfertig von Ungleichheitsmaßen auf eine angeblich grassierende „soziale Ungerechtigkeit“ geschlossen, eine sinnfreie Vokabel, die seriöse Sozialwissenschaftler besser meiden sollten.

Und die Gesetze der Statistik legen diese Diskrepanz schonungslos bloß: der Durchschnitt kann eben nicht überdurchschnittlich gut Auto fahren. Derartige Umfragen nimmt daher zu Recht niemand ernst. Fragt man indes nach den wirtschaftlichen Verhältnissen im Land, sind zwar die Ergebnisse ähnlich widersprüchlich, die politische Reaktion darauf ist jedoch eine ganz andere. So zeigt sich in den Haushaltsbefragungen für Deutschland, dass die persönliche wirtschaftliche Lage (bis hin zur allgemeinen Lebenszufriedenheit) ganz überwiegend günstig eingeschätzt wird, während das Urteil derselben Befragten über die Lage der breiten Masse der Bevölkerung dahinter zurückfällt. Statt sich auch hier auf die Logik der Statistik zu besinnen, nimmt man die Umfrageergebnisse im öffentlichen Diskurs regelmäßig zum Anlass, angeblich wachsende soziale Schieflagen anzuprangern. Und dies, obwohl im Gegensatz zur Selbstauskunft über die eigenen Fahrkünste kaum davon auszugehen ist, dass die Befragten ihre individuelle wirtschaftliche Situation systematisch überschätzen.

Gründe für den Anstieg der Einkommensungleichheit Abgesehen davon, dass etwa der Gini-Koeffizient zur Einkommensverteilung in Deutschland seit über zehn Jahren nahezu konstant und auch international unauffällig ist, folgt aus einem Anstieg der Einkommensungleichheit zunächst wenig. Da es für diese Größe keinen Optimalwert gibt, lässt sich auch nicht sagen, ob man sich bei einem Anstieg zu einem Optimum hin- oder von diesem wegbewegt. Das liegt letztlich daran, dass die Einkommensverteilung das Ergebnis eines komplexen sozialen Prozesses ist, dessen vielschichtige Aspekte sich nicht in einer Zahl verdichten lassen. So spiegelt sich in der Einkommensungleichheit nicht zuletzt auch eine geänderte Haushaltsstruktur wider – das Leben als Single oder Alleinerziehender ist nun mal pro Kopf gerechnet teurer als der Konsum im Familienverband (88 Prozent des für Deutschland

»Umfrageergebnisse reproduzieren letztlich nur das politische Narrativ der sozialen Ungerechtigkeit.« Damit bleibt für die Diskrepanz in den Ergebnissen die mangelhafte Einschätzung der Grundgesamtheit. Ein adäquater Befund über die Gesamtlage in einem Land ist angesichts des überaus komplexen sozialen Gefüges bereits für die wissenschaftliche Analyse extrem schwierig. Für die repräsentativ Befragten dürfte es in praktisch allen Fällen unmöglich sein. Das spricht dafür, dass sich in den Umfrageergebnissen

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Grotesk wird es, wenn aus dem jüngsten Anstieg der Armutsgefährdungsquote auf eine sich verschärfende soziale Schieflage geschlossen wird. In dieser Quote spiegelt sich derzeit der Zuzug von Flüchtlingen wider, die aus verschiedenen Gründen zunächst am unteren Ende der Einkommensskala rangieren. Soziale Kälte sieht anders aus.

ausgewiesenen Anstiegs der Einkommensungleichheit in den Jahren 1985 bis 2005 geht auf diesen Effekt zurück). Diese individuellen Entscheidungen hat der Staat nicht zu bewerten, er ist aber auch nicht dazu da, alle ökonomischen Konsequenzen geänderter individueller Lebensstile auf die Allgemeinheit abzuwälzen. Dies wäre jedenfalls nicht per se „gerechter“. Letztlich hat überhaupt erst der allgemeine Wohlstandszuwachs – neben dem Gesinnungswandel in weiten Bevölkerungsschichten – dazu beigetragen, dass derartige Lebensentwürfe möglich wurden und sich speziell Frauen aus der ökonomischen Abhängigkeit ihrer Männer befreien konnten. Dies dürften wohl nur die wenigsten als sozialen Rückschritt einstufen. Auch die höhere Bildungsbeteiligung von Frauen erhöht tendenziell die Einkommensungleichheit im Haushaltsquerschnitt, weil die tertiären Bildungseinrichtungen und die Arbeitsstätten zugleich wichtige Partnerbörsen darstellen.

Die vermeintlichen Bösewichte: Kapitalismus und Globalisierung Zu jeder guten Gruselgeschichte gehören die Bösewichte. Im Falle der Erzählung von der zunehmenden sozialen Unwucht übernehmen der „ungezügelte Kapitalismus“ und die „deregulierte Globalisierung“ diese Rolle, die regelmäßig als Triebkräfte hinter den Fehlentwicklungen verdächtigt werden. Die Kapitalismuskritik macht sich vor allem an der Vermögensungleichverteilung fest. Auch hier versperrt der Blick auf das Symptom tieferliegende Erkenntnisse. Vermögenspositionen sind in einem kapitalistischen System nicht funktionslos, sondern spielen eine wichtige Rolle für die Kapitalallokation. Weil die Zukunft per se unsicher ist, kann es auch keine sicheren Anlageformen geben. Um ein (wie auch immer) erlangtes Vermögen bewahren zu können, muss es der Eigentümer in einem freien Marktsystem immer wieder dem Risiko aussetzen. Setzt er auf das richtige Pferd (rentable Investitionen), so kann er sein Vermögen wahren und mehren.

Wenn zwei berufstätige Akademiker einen gemeinsamen Haushalt bilden, konzentrieren sich zwei Besserverdiener und die gemessene Verteilung wird ungleicher. Zu Zeiten, als akademische Weihen und hohe Berufsqualifikationen noch weitgehend den Männern vorbehalten waren, hat sich über den Heiratsmarkt die Einkommensungleichheit dagegen auf Haushaltsebene abgeflacht. Ähnliches gilt für die soziale Akzeptanz von schwulen und lesbischen Partnerschaften, die für sich genommen ebenfalls die Einkommensungleichheit erhöht.

Damit erfüllt er zugleich eine sozial nützliche Aufgabe, weil von der rentablen Anlage des knappen Kapitals auch die Arbeitskräfte profitieren, deren Produktivität durch eine höhere marktgerechte Kapitalausstattung steigt, was höhere Löhne zur Folge hat. Setzt der Investor auf das falsche Pferd (erweist er sich also als Ressourcenverschwender), so büßt er in Form von Verlusten die Verfügungsgewalt über knappes Kapital ein. Korrigiert er seine Entscheidungen nicht, wird er in Form der Insolvenz ganz aus dem Spiel genommen und entscheidet künftig nicht mehr über die Verwendung knapper Ressourcen. Auf diese Weise erfüllt ein freier Kapitalmarkt eine wichtige soziale Koordinationsfunktion.

»Ein steigender GiniWert taugt kaum zur Skandalisierung.« Diese wenigen Beispiele machen deutlich, dass ein steigender Gini-Wert kaum zur Skandalisierung taugt. Auch macht es einen Unterschied, ob der Anteil von Niedriglohnbeziehern steigt, weil Menschen weniger verdienen als früher oder ob mehr Menschen zu niedrigen Löhnen beschäftigt werden, die zuvor arbeitslos waren.

Dieser Mechanismus setzt privates Eigentum und – damit einhergehend – das Haftungsprinzip voraus. Letzteres wird in antikapitalistischer

Letzteres ist für Deutschland maßgeblich, die Quote selbst schweigt aber zu diesen Ursachen.

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mehr, je größer das betrachtete Land ist. Neue Zollmauern würden daher allenfalls einen sehr kleinen Teil einfacher Tätigkeiten in die Industrieländer zurückbringen, der überwiegende Teil würde stattdessen von neuen Maschinen übernommen, sofern die Beschäftigten nicht bereit sind, zu den Löhnen zu arbeiten, die derzeit in den Schwellenländern bezahlt werden. Dies sind sie offenbar nicht, weil es in den entwickelten Volkswirtschaften für sie bessere Alternativen gibt.

Weise immer dann verletzt, wenn der Staat (oder seine Zentralbank) private Verluste sozialisiert, wie es in großem Stil während der jüngsten Finanzkrisen geschah. Die Vermögensverteilung wäre heute weniger ungleich, wenn die Fehlinvestitionen im Boom vor der Krise voll auf die Vermögenspositionen der Investoren hätten durchschlagen können (die untere Hälfte der Haushalte auf der Vermögensskala hätte mangels Geldvermögen auch nichts zu verlieren gehabt).

Zum anderen darf man bei der Analyse nicht bei den Einkommenseffekten stehen bleiben, sondern muss die Konsumseite und damit die Kaufkrafteffekte in den Blick nehmen. Hierbei zeigt sich, dass die unteren Einkommensgruppen als Konsumenten überproportional vom freien Welthandel profitieren, weil der Anteil handelbarer Güter in ihrem Einkaufskorb größer ausfällt als bei höheren Einkommensgruppen. Millionäre lassen sich heute wie vor zweihundert Jahren ihre Kleidung vom ortsansässigen Schneider auf den Leib schneidern, während einkommensschwächere Haushalte von günstigen Textilimporten profitieren.

»Die Vermögensverteilung wäre weniger ungleich, wenn Fehlinvestitionen auf die Vermögenspositionen der Investoren durchgeschlagen wären.« Auch die Staatsverschuldung ist in dieser Hinsicht problematisch, weil sie den Vermögenden ein Ruhekissen bietet, das sie ihrer sozialen Funktion als Kapitalist entbindet. Das Risiko dieses vermeintlich sicheren Anlagevehikels wird stattdessen auf alle Steuerzahler abgewälzt, insbesondere wenn man – wie im Euroraum – staatliche Wertpapiere explizit als risikofrei deklariert und lieber Vertragsbrüche hinnimmt als Staatspleiten. An der staatlichen Protektion von Vermögenspositionen kann daher mit guten Argumenten viel kritisiert werden. Es ist indes nicht der ungezügelte, sondern der durch den Staat gehemmte Kapitalismus, der hier zu gravierenden Fehlentwicklungen führt.

»Untere Einkommensgruppen profitieren überproportional vom freien Welthandel.« Auch wäre wohl ein Handy „made in Germany“ auch heute noch ein Luxusprodukt für die oberen Zehntausend. Darüber hinaus schafft der unbestrittene Nettowohlstandsgewinn aus der Globalisierung auch Raum für Transfers an einkommensschwächere Haushalte, den es sonst nicht gäbe. Die Lebensbedingungen der vermeintlichen Globalisierungsverlierer, die sich bei Werksschließungen medienwirksam vorführen lassen, sähen ohne eine integrierte Weltwirtschaft daher keinesfalls zwingend besser aus.

Ähnlich wie der Kapitalismus steht auch die Globalisierung zu Unrecht am Pranger. Sieht man genauer hin, ist es schwierig, die Verlierer der immer engeren weltwirtschaftlichen Verflechtung zu identifizieren. Zwar wirken sich auf der Einkommensseite globalisierungsbedingte Produktionsverlagerungen typischerweise nachteilig auf die geringer Qualifizierten Arbeitskräfte in den Industrieländern aus, die dort im Sektor der handelbaren Güter beschäftigt sind.

Hinzu kommt, dass Globalisierungseffekte – wie der Strukturwandel insgesamt – nicht über Nacht auf die Menschen hereinbrechen, sondern sich nach und nach vollziehen. Erst wenn man diese Effekte eine Zeitlang durch politische Maßnahmen aufstaut, diese marktwidrigen Eingriffe dann aber später wegen Unfinanzierbarkeit wie eine Staumauer bersten, verschärft man die

Dies ist aber nur ein Aspekt, der nicht isoliert betrachtet werden darf. Zum einen geht ein ganz überwiegender Teil des Strukturwandels – und mit ihm die Veränderung der Arbeitswelt – auf den technischen Fortschritt zurück. Dies gilt umso

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Nachrichten zum Trotz sterben heute bedeutend weniger Menschen in kriegerischen Konflikten als in früheren Epochen.

sozialen Probleme, weil den Betroffenen dann tatsächlich zu wenig Anpassungszeit bleibt. Disruptive Veränderungen rühren viel öfter von fehlerhaften staatlichen Eingriffen als vom freien ökonomischen Entwicklungsprozess her.

Diese Erfolgsgeschichte offener Märkte und globaler ökonomischer Kooperation trifft in den Industrieländern indes vermehrt auf Widerstand. Dabei finden sich nicht zufällig Sozialingenieure und Kapitalismusgegner mit Neoprotektionisten wie Donald Trump im selben Lager wieder. Was sie verbindet, ist ihr Unverständnis für die Funktionsbedingungen offener Gesellschaften. Sie übertragen Verhaltensweisen, die das Zusammenleben von Menschen in Kleingruppen stabilisieren (und die als Ur-Instinkte in der jahrtausendelangen Sozialisation der Menschen in Stammesgesellschaften wurzeln), auf die anonyme Großgesellschaft. Solidarität und Hierarchie, aber auch Abgrenzung bis hin zur Aggression gegenüber Fremden, ist der Kitt, der die für den Einzelnen überschaubare Gruppen zusammenhält.

Die Konsumseite stellt auch ein anderes weitverbreitetes Narrativ in Frage, wonach bestimmte Einkommensgruppen in den Industrieländern seit Jahrzehnten keinen Wohlstandszuwachs mehr realisieren können. Diesem Befund liegen Realeinkommensberechnungen zugrunde, bei denen das nominelle Einkommen mit einem Preisindex kaufkraftbereinigt wird. Nun sind aber Preisindices gerade für Langzeitvergleiche besonders ungeeignet, weil sie Qualitätsverbesserungen nur sehr unzureichend erfassen können. Macht man sich die Konsummöglichkeiten klar, die sich heute einem Durchschnittshaushalt bieten, und vergleicht man diese mit denen der Vorgängergeneration, machen sich schnell Zweifel an den Ergebnissen breit. Es wäre lohnend, dies einmal systematisch zu untersuchen, indem man Haushalte unterschiedlicher Einkommensgruppen fragt, ob sie bereit wären, mit dem Konsumniveau ihrer Vorgänger vor zehn, zwanzig oder dreißig Jahren zu tauschen. Sind sie es nicht, haben sich offenbar die Konsummöglichkeiten verbessert. Hinzu kommen verbesserte Arbeitsbedingungen und eine höhere Lebenserwartung. Auch hier zeigt sich, dass man die Komplexität der Lebensbedingungen im sozialen Gefüge niemals auf eine Zahl verengen kann.

»Sozialingenieure, Kapitalismusgegner und Neoprotektionisten verbindet ihr Unverständnis für die Funktionsbedingungen offener Gesellschaften.« Eine offene Gesellschaft braucht hingegen Institutionen wie Eigentum, Tausch und Wettbewerb, insbesondere die freie Wahl des Tauschpartners. Dies ermöglicht eine soziale Komplexität und mit ihr eine ökonomische Leistungsfähigkeit, die niemals in einem hierarchischen Entwurf gelingen könnten und die in ihrer Evolution ergebnisoffen sind. Gerechtigkeit kann in der offenen Gesellschaft nur in der Gültigkeit abstrakter Regeln bestehen, nicht aber in normierten Quoten, Verteilungsmaßen oder anderen ergebnisorientierten Kennzahlen.

Die Erfolgsgeschichte von Kapitalismus und Globalisierung Die Kombination aus Kapitalismus und Globalisierung hat in den letzten Jahrzehnten zu einer Wohlstandsexplosion in der Welt geführt. Die globale Massenproduktion kommt breiten Konsumentenmassen zugute. Niemals zuvor war der Anteil der Menschen, die in absoluter Armut leben, so gering wie heute – auch ihre absolute Zahl geht seit Jahrzehnten in großen Schritten zurück. Global betrachtet nimmt die Einkommensungleichheit dramatisch ab. Die Arbeitsbedingungen verbessern sich seit Jahrzehnten praktisch in allen Ländern der Welt. Die weltwirtschaftliche Integration führt zudem zu einer verstärkten Interessenharmonie und trägt damit auch zu einer Befriedung in der Welt bei. Aller schlimmen

Die darin liegende Unkontrollierbarkeit kann aber auch Ängste schüren, die sich Protektionisten nach innen wie nach außen immer wieder zunutze machen. Das Vehikel dazu ist der interventionistische Nationalstaat, der – an atavistische Instinkte appellierend – das soziale Gefüge im Inneren

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»Nicht selten schützen die Stärkeren unter dem Mantel der Solidarität ihre Partikularinteressen.«

ordnet und sich nach außen abschottet. Auf diese Weise wird es dann wieder politisch belangvoll, ob zwischen zwei Tauschpartnern eine Landesgrenze verläuft. Märkte sind einst an den Stammesgrenzen entstanden („market“ kommt von „mark“), indem Menschen entdeckten, dass sich im Tausch mit Fremden auf Dauer mehr erreichen lässt als mit Raub.

Stärkeren (und politisch Einflussreicheren), die unter dem Mantel der Solidarität und des „nationalen Zusammenhalts“ ihre Partikularinteressen schützen, etwa wenn ausländische Anbieter mit dem Hinweis auf nicht erfüllte „soziale Mindeststandards“ ausgesperrt werden. Diese Standards muss man sich leisten können, und dafür braucht es wirtschaftliches Wachstum. Marktöffnung beschleunigt dieses Wachstum und die Teilhabe der Schwächeren in den Entwicklungs- und Schwellenländern am globalen Wohlstand. Und im Inneren richten sich die Folgen von Mietpreisbremsen, Mindestlöhnen und andere Überregulierungen nicht selten gerade gegen diejenigen, zu deren Gunsten sie einst gedacht waren.

Das marktwirtschaftliche System ist daher von jeher auf Grenzüberwindung angelegt. Binnenwie außenwirtschaftlicher Protektionismus läuft immer darauf hinaus, den freien Tausch einzuschränken, indem Märkte abgeschottet werden. Je öfter dies geschieht, desto mehr erstarrt die Gesellschaft und desto mehr Vorteile der einzelwirtschaftlichen Kooperation bleiben unentdeckt. Dies geht typischerweise zu Lasten der ökonomisch Schwächeren, die den desaströsen Folgen des Interventionismus besonders wenig gewachsen sind. Zudem sind es nicht selten die

Die Voraussetzungen der offenen Gesellschaft nach innen wie nach außen sollte jeder bedenken, der nationale Verteilungsergebnisse zum Maßstab der Politik erhebt und deshalb nolens volens zum Steigbügelhalter des Protektionismus wird.

Prof. Dr. Stefan Kooths leitet das Prognosezentrum am Institut für Weltwirtschaft (IfW) in Kiel und lehrt Entrepreneurial Economics an der Business and Information Technology School (BiTS) in Berlin.

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Christian Bäumler

Was erwarten die Arbeitnehmer vom Sozialstaat? Von der Rente bis hin zur Gesundheit

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festen Rahmen gegen ausufernde Arbeitszeiten und Grenzen für die von Unternehmen geforderte Flexibilität – und das über alle Branchen und Altersgruppen hinweg. Schichtarbeit, Wochenendarbeit, ständige Verfügbarkeit: Arbeitszeit ist heute flexibel wie nie und weitet sich immer mehr aus. Die Mehrheit der Arbeitnehmer wünscht sich klare Spielregeln und mehr Selbstbestimmung.

In unruhigen Zeiten ist Sicherheit wichtiger denn je. Das gilt auch für den S ­ozialstaat. Die Mehrheit der Menschen wünscht nicht weniger, sondern mehr soziale S ­icherheit. Das ist eines der Ergebnisse der neuen Beschäftigtenbefragung der IG Metall 2017. Am Montag, den 24. Juli war es bei der DGB Podiumsdiskussion im Gemeindehaus Lamm in Tübingen mal wieder der Fall. Die Bundestagskandidatin der Linken fordert ein Rentenniveau von 53 Prozent und eine Mindestrente von 1050 Euro. Großer Beifall, der Abend ist bei diesem Thema für alle anderen Podiumsteilnehmer gelaufen. Tübingen ist natürlich etwas ganz besonderes. Da sitzen Bundestagskandidaten der DKP und der MLPD im Publikum. Aber im bodenständigen Esslingen, bei der Podiumsdiskussion der IG Metall, war der Beifall eher noch herzlicher. Da saßen Kollegen von der Werkbank unter den Zuhörern.

»Die Mehrheit der Arbeitnehmer wünscht sich klare Spielregeln und mehr Selbstbestimmung.« 95 Prozent der Befragten lehnen es ab, dass Beschäftigte bei der Krankenkasse mehr zahlen müssen als ihr Arbeitgeber. Sie wollen, dass die Arbeitgeber wieder die Hälfte der Kassenbeiträge übernehmen. Steigende Gesundheitskosten sollen nicht länger einseitig den Versicherten aufgebürdet werden. Die Forderung unterstützen alle Gruppen: ob Jung oder Alt, ob Ungelernte oder Uniabsolventen, ob IT-Dienstleister oder Beschäftigte in Autofabriken.

»In Berlin wird jeder mitleidig angeschaut, der sich ein Rentenniveau von 50 Prozent vorstellen kann.«

Nur 13 Prozent glauben, dass sie die Versorgungslücke, die durch das sinkende Rentenniveau entstanden ist, mit privater Zusatz-Absicherung schließen können. Nicht das Renteneintrittsalter, sondern das Rentenniveau soll steigen.

Im politischen Berlin wird dagegen jeder mitleidig angeschaut, der sich ein Rentenniveau von 50 Prozent vorstellen kann. Die SPD hält sich schon für ganz schön mutig, wenn sie das aktuelle Rentenniveau von 48 Prozent verteidigt. Rente ist hier nicht wirklich ein Thema. Dann doch eher die Arbeitszeiten flexibilisieren, damit es in Deutschland mehr Start-ups gibt. Die Jüngeren wollen das angeblich. Außer dem steht der Hotelund Gaststättenverband seit 30 Jahren hinter dieser Kampagne. Ist das ist die Wirklichkeit in der Arbeitswelt?

85 Prozent der Befragten sind bereit, für eine stärkere gesetzliche Rentenversicherung höhere Beiträge zu zahlen. Auch die Mehrheit der jüngeren Befragten fordert eine Kehrtwende bei der Rentenpolitik: 77 Prozent der 25- bis 34-jährigen stimmen zu oder eher zu. Damit zeigen die Ergebnisse der Befragung: Die Behauptung, die Jungen lehnten ein höheres Rentenniveau wegen steigender Abgaben ab, ist falsch. Jedenfalls gilt das für diejenigen, die im Arbeitsleben drin sind.

Die IG Metall hat 2017 Beschäftigte in mehr als 7000 Handwerks-, Dienstleistungs-, und Industriebetrieben befragt. Insgesamt haben sich 681.241 Beschäftigte an der Befragung beteiligt. Mitmachen konnten alle Beschäftigten, Gewerkschaftsmitglieder und Nichtmitglieder. 96 Prozent der Beschäftigten fordern ein Recht auf Abschalten (Ruhezeit) im Arbeitszeitgesetz. Sie erteilen der Arbeit ohne Ende eine klare Absage. Stattdessen erwarten sie von der Politik einen

Diese Ergebnisse haben auch mit der Idee der sozialer Gerechtigkeit und dem deutschen Modell der Sozialpartnerschaft zu tun. Wenn Arbeitnehmer und Arbeitgeber Sozialpartner sein sollen, müssen Lasten, wie in der gesetzlichen

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»Nicht das Renteneintrittsalter, sondern das Rentenniveau soll steigen.«

Krankenversicherung, zu gleichen Teilen getragen werden. Nach jahrzehntelanger Arbeit muss wenigstens die Hälfte von dem herauskommen, was eingezahlt wurde. Ein Renten­ niveau von 50 Prozent legitimiert die Rente auch für die junge Generation. Bei der Arbeitszeitdebatte sollte nicht vergessen werden, dass die gesundheitlichen Folgen der Arbeitsverdichtung von der Solidargemeinschaft getragen werden. Gesunde Arbeitnehmer kommen aber auch den Arbeitgebern zugute. Eine Flexibilisierung der Arbeitszeit, sollte deshalb von den Tarifparteien – und nur von diesen – verantwortet werden.

Dr. Christian Bäumler ist stellv. Bundesvorsitzender der CDA Deutschlands und Vorsitzender der CDA Baden-Württemberg. Er ist Mitglied des europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses.

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Johannes Zabel

Theologie, Kirche und das Soziale Ein theologischer Blick auf einen Begriff

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Das „Soziale“ ist ein vielschichtiger Begriff – auch für Theologie und Kirche. Wenn der Begriff im deutschen Sprachraum auch erst ab dem 19. Jahrhundert auftritt, so ist die dahinter stehende Bedeutung älter als die durch Jesus Christus gegründete Kirche selbst.

zugleich zugute kommen soll – unabhängig, ob diese zu einem früheren oder späteren Zeitpunkt sich Gott zuwenden. Erstberufene und Spätberufene werden gleich behandelt: Hier steht die Gnade im Mittelpunkt, die über die Gerechtigkeit hinausgeht, ohne diese aber zu verletzen.

Das Alte Testament behandelt den Bund Gottes zu seinem Volk. Und mit dem „Volk“ ist zugleich das soziale Element angesprochen, dass besonders durch die Propheten angemahnt wird. Amos gilt geradezu als Sozialprophet. Sätze des Alten Testaments, die uns heute vielleicht unverständlich erscheinen, haben indes einen zivilisatorischen, irenischen und sozialen Charakter vor dem Hintergrund der damaligen Zeit: „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ (Exodus / 2. Mose 21, 24) – das klingt nach Rache und ist doch das Gegenteil davon. Es ist ein Prinzip der Begrenzung innerhalb eines umfassenden Schadensersatzkataloges. Das „Lex Talionis“ („Gesetz der Vergeltung“) sollte die Vergeltung begrenzen auf die Höhe des erlittenen Schadens. Zuvor galt die Rache, die über das Maß des Schadens hinausgehen konnte. Ein sozia­ ­ler Fortschritt.

Das Gleichnis von den Talenten (Matthäus 25, 14-30) behandelt – scheinbar – auch ein „soziales“ Thema: Der Gutsherr geht auf Reisen und seine drei Diener sollen in seiner Abwesenheit sein Vermögen verwalten. Die ersten beiden Diener verdoppeln das ihnen zur Verwaltung zugeteilte Vermögen („Talente“), der dritte dagegen vergräbt das ihm anvertraute Talent aus der Angst heraus, es würde sonst gestohlen. Das Talent ist damit zwar „sicher“, aber der Diener verfehlt den Zweck. Es ist nicht die fehlende Vermögensvermehrung, die diesem Diener zur Last gelegt wird, sondern seine Angst trotz des kommenden Himmelreiches.

»Jesus will mehr als das Soziale, mehr als eine ›Ökonomie‹.«

Jesus geht noch weiter. Er greift dieses Beispiel („Auge um Auge, Zahn um Zahn“) auf und ergänzt in der Bergpredigt: „Ich aber sage euch: Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand, sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin.“ (Matthäus-Evangelium 5, 39). Hier soll nur eine Perspektive dieser Feindesliebe betrachtet werden: es ist weniger das „soziale“ Element als die individualethische Dimension, die Jesus hier anspricht.

Das Neue Testament hat eine neue Perspektive: Das Volk Gottes ist nun mehr als das konkrete Volk Israel – das kommende Himmelreich steht im Vordergrund, weniger die Bewältigung des Alltags (z.B. mit einem großen Schadensersatz-­ Katalog). Das „Soziale“, das auf Gemeinschaft ausgerichtete Handeln, steht weniger im Vordergrund und deshalb müssen ökonomisch-soziale Fehldeutungen vermieden werden, die das Neue Testament aus einer mehr „säkularen“ Perspektive betrachten. Jesus will mehr als das Soziale, mehr als eine „Ökonomie“. Ökonomie bedeutet Reziprozität wie „Auge um Auge, Zahn und Zahn“. Und eine Liebe, die lediglich eine Antwort ist auf die Liebe von anderen, ist unzureichend: „Tun das nicht auch die Zöllner?“ (Matthäus 5, 46)

Auch das bekannte Gleichnis vom „barmherzigen Samariter“ (Lukas 10, 30-37) ist weniger „sozial“ als individualethisch motiviert. Eine sozialethische Variante des Gleichnisses hätte das System einer Krankenversorgung zum Inhalt. Hier wird deutlich, dass der Begriff des „Sozialen“ sehr vielschichtig ist und vom individuellen Handeln abgegrenzt werden muss. Gleichnisse des Neuen Testamentes werden heutzutage mit einem „sozialen“ Inhalt interpretiert, der ihnen nicht zukommt: die Arbeiter im Weinberg (Matthäus 20, 1-16), die bei unterschiedlichem Arbeitsbeginn den jeweils gleichen Lohn (ein Tagessatz) erhalten, stehen nicht für eine „soziale Gerechtigkeit“, sondern für die Unteilbarkeit der Gnade, die allen Menschen

Die Diakonie (als ein soziales Element) ist eine von drei Grundvollzügen der Kirche neben der Martyria bzw. Verkündigung und der Liturgie, der Feier des Gottesdienstes. Als Grundvollzug gehört sie von Anfang an zur Kirche. Der erste Märtyrer der Kirche ist Stephanus, ein Diakon. Die soziale Verkündigung der Kirche wie auch ein größerer und institutionalisierter sozialer

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Kirchen reagierten auf die Zeichen der Zeit. In den Gebieten der frühen Industrialisierung war die soziale Not und die Hilfe der Kirche entsprechend größer. Aber die staatliche Seite in Deutschland reagierte unterschiedlich auf den Einsatz der Kirche.

Einsatz der (katholischen und protestantischen) Kirche erfolgt aber erst später – als Antwort auf die sozialen Krisen der Industrialisierung im 19. Jahrhundert. Zuvor gab es einzelne, aber beispielhafte Ansätze wie – in der katholischen Kirche – durch die Gründung von Orden zur Krankenpflege, oder durch einzelne Pfarrer der evangelischen Kirche, wie z.B. August Hermann Francke (1663-1727) in Halle und später Johann Hinrich Wichern (1808-1881) in Hamburg und Friedrich von Bodelschwingh der Ältere (1831-1910) in Bethel. Gemeinsam ist allen Initiativen, dass sie jenseits der kirchlichen Hierarchie erfolgten und erst später von dieser anerkannt wurden.

Im Bayern des 19. Jahrhunderts regierte nach der Säkularisation Minister Montgelas (unter König Max I. Joseph), der unter seiner zentralstaatlich ausgerichteten Regierung katholischen Pflegeorden keine Wertschätzung entgegenbrachte. In einer Festschrift der Barmherzigen Schwestern in Bayern (1832 bis 2007) wird er zitiert: „Es kann ein so wichtiger Zweig der öffentlichen Polizeyverwaltung einem religiösen, nach ganz anderen Absichten handelnden Orden nicht willkührlich überlassen bleiben.“ Das soziale Engagement der Kirchen war immer auch ein Spiegelbild staatlicher Defizite bzw. Reglementierungen.

Die universitäre Theologie beider Konfessionen griff diese Entwicklung auch erst verspätet auf. Auf katholischer Seite gründete Adolph Kolping (18131865) sein Gesellenwerk als Pfarrer, der miterleben musste, wie nach dem Verlust der ständischen Berufsordnung im 19. Jahrhundert die Gesellen ohne soziale wie religiöse Unterstützung waren.

Das „Soziale“ veranlasste die Kirchen über den Kreis der eigenen Mitglieder hinaus auch andere Menschen anzusprechen. In der praktischen Hilfe vor Ort gab es ohnehin diesen weiten Ansatz. Aber im Lehramt der hierarchisch verfassten katholischen Kirche verkündete der Papst nun seine Sozialenzykliken, die einen weiten Kreis von Menschen angesprochen haben, beginnend mit der Enzyklika „Rerum novarum“ von 1891. An späteren Sozialenzykliken wird schon in der Anrede erkennbar, dass über die Christen (der eigenen Kirche) hinaus auch andere Menschen diese Botschaft vernehmen sollten: Neben den Bischöfen, Priestern und Christgläubigen werden nun auch „alle Menschen guten Willens“ adressiert. Die Botschaft der Kirche geht im Sozialen über die eigene Kirche hinaus. In anderen Themenbereichen der Kirche ist dieses nicht gegeben.

»Luther appellierte an den Adel, während der Calvinismus an die eigene soziale Verantwortlichkeit erinnerte.« Im Hinblick auf den sozialen Einsatz und ihre Institutionalisierung lassen sich auch binnenkirchliche Unterschiede feststellen. In der protestantischen Kirche war der Pietismus führend, der mit seiner „Inneren Mission“ (Wichern) zunächst Vorbehalte des orthodoxen Luthertums verspürte. Luther appellierte an den (christlichen) Adel und die Obrigkeit, während der Calvinismus an die eigene soziale Verantwortlichkeit erinnerte.

Dieser weite Adressatenkreis ist auch einem besonderen erkenntnistheoretischen Ansatz geschuldet: Aus Sicht der „Katholischen Soziallehre“ – in Differenzierung zur „Evangelischen Sozialethik“ – existiert eine doppelte Erkenntnisordnung (Duplex ordo cognitionis). Neben die Erkenntnisquelle der Offenbarung in der Bibel (theologischer Ansatz) tritt das allen Menschen zur Verfügung stehende Naturrecht (philosophischer Ansatz). Aus beiden Quellen entspringen Normen, die sich auf die Ordnung der Gesellschaft richten. Die Katholische Soziallehre betrachtet – im Unterschied zur Evangelischen Sozialethik

Die katholische Kirche fühlte sich insbesondere in den katholischen Gebieten Preußens herausgefordert. Neben Adolph Kolping war es Wilhelm Emmanuel von Ketteler (1811-1877), der zunächst preußischer Beamter war und später Theologie studierte, um Pfarrer zu werden. Nach einer Phase als „Bauernpastor“ im Westfälischen wurde er Propst in Berlin, um dann Bischof von Mainz zu werden. Sein Appell an die katholischen Arbeiter sich zu organisieren war der Gründungsaufruf für die katholischen Arbeitervereine. Die

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»Das soziale Engagement der Kirchen war immer auch ein Spiegelbild staatlicher Defizite.« besondere Impulse aus. Das Engagement von Adolph Kolping ging in die Welt hinaus und gipfelt in dem „Internationalen Kolpingwerk“.

– den sozialphilosophischen und naturrechtlichen Ansatz mit Hilfe der natürlichen Vernunft als weitgehender für die Gesellschaftsordnung als die biblische Quelle der Offenbarung.

Institutionell sind die beiden christlichen Konfessionen in Deutschland auf dem sozialen Gebiet stark vertreten. Mit der Caritas und der Diakonie sind die Kirchen zugleich große Arbeitgeber. In der Aufbruchphase der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts ergab sich eine weitere Institutionalisierung des „Sozialen“ in beiden Kirchen. In der katholischen Kirche erfolgte – indirekt bedingt auch durch das II. Vatikanische Konzil – die Gründung der „Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle“ (KSZ) mit Sitz in Mönchengladbach, einem historischen Ort der sozialen Arbeit der Kirche. In der evangelischen Kirche wurde das Sozialwissenschaftliche Institut (SI) der EKD gegründet, das die Nachfolge der 1971 begonnenen „Pastoralsoziologischen Arbeitsstelle“ der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers antrat.

Wenn auch die Erkenntnisquellen im Hinblick auf das „Soziale“ in der katholischen und in der evangelischen Kirche unterschiedlich gewichtet werden, so ist auf gesellschaftlichem Parkett in Deutschland doch eine grundlegende Zusammenarbeit festzustellen. In „Gemeinsamen Worten“ von der Deutschen Bischofskonferenz und der Evangelischen Kirche in Deutschland werden grundlegende Positionen geäußert. Begünstigend kommt derzeit hinzu, dass beide Vorsitzenden, Reinhard Kardinal Marx und Heinrich Bedford-Strohm, zuvor jeweils Lehrstuhlinhaber für Katholische Soziallehre bzw. Evangelische Sozialethik waren. Im deutschen Sprachraum erfährt das „Soziale“ einen etwas höheren Stellenwert als auf internationaler Ebene der Kirchen, bedingt auch durch die primär an den Universitäten angesiedelte Theologie beider Konfessionen.

Die Katholische Soziallehre beruht auf den drei Prinzipien Personalität, Solidarität und Subsidiarität. Zugleich ist sie mit einem „ordo“-Gedanken verbunden, der auch den Ordoliberalismus auszeichnet. Die Soziale Marktwirtschaft beruht auch auf den Sozialprinzipien der Kirchen. Eine Deregulierung zugunsten (grenzenloser) Freiheit stößt bei ihr auf Skepsis oder auf Widerstand, sei es im Bereich der Finanzindustrie, der Arbeitsbeziehungen oder der „Ehe für alle“.

So gibt es in der katholischen Theologie eigene Lehrstühle für die Katholische Soziallehre bzw. Christliche Gesellschaftslehre, während dieses Fach in anderen Ländern der Moraltheologie zugeordnet wird und damit einen geringeren Stellenwert aufweist. Im Rahmen der Weltkirche gingen und gehen von der deutschsprachigen Theologie

Johannes Zabel OP ist Theologe und Volkswirt. Das Beiratsmitglied der CIVIS mit Sonde ist Priester im Dominikanerorden und Geschäftsführer der Joseph-HöffnerGesellschaft im Dominikanerkloster Worms.

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Anke Klaus & Renate Jachmann-Willmer

Sozialarbeit und engagierte Politik Die Arbeit des Frauenwohlfahrtsverbandes Sozialdienst katholischer Frauen im Kontext aktueller Herausforderungen

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und rechtliche Gleichstellung der Geschlechter ist im Leben vieler Menschen noch nicht vollständig erreicht. Trotz zunehmender Erwerbsarbeit übernehmen Frauen weiterhin den Großteil der Pflege-, Sorge- und Hausarbeit. Strukturelle Bedingungen begünstigen, dass Männer sich stärker der Erwerbsarbeit zuwenden, obwohl auch sie sich wünschen, mehr Zeit für Familie zu haben. Die Erwerbs- und Sorgearbeit muss daher weiter neu gestaltet werden, um Frauen und Männern gleiche Chancen zur Verwirklichung ihrer Lebensvorstellungen zu bieten.

Seit seiner Gründung sind für den Sozialdienst katholischer Frauen (SkF) die konkrete Sozialarbeit und die politische Aktivität untrennbar verbunden. 1899 gründete Agnes Neuhaus, Zentrumspolitikerin, als eine der wenigen Frauen Mitglied der Nationalversammlung, später des Reichstags, einen Verein zur Fürsorge für Mädchen und junge Frauen, den heutigen SkF. Allein ihr Anliegen, einen Verein zu gründen, Bündnisse zu schließen und Unterstützer_innen zu gewinnen, zeigt den politischen Geist von Agnes Neuhaus. Zur Linderung der vielen Notlagen, besonders in den größer werdenden Städten, waren noch keine ausreichenden Strukturen geschaffen.

»Männer können sich stärker der Erwerbsarbeit zuwenden.«

Mit der Gründung ihres Vereins baute Agnes Neuhaus als eine der ersten die Struktur der Wohlfahrtspflege mit auf und entwickelte diese weiter. Zunächst wurde sie von den Frauen des Bürgertums ehrenamtlich erbracht, später durch in eigenen Schulen ausgebildete Fürsorgerinnen. Die konkrete Hilfe verbanden die Gründerinnen mit dem Einsatz für die Verbesserung struktureller Bedingungen. Wohlfahrtspflege und Politik gingen Hand in Hand. Ein Beispiel ist der enorme Einsatz von Agnes Neuhaus zur Errichtung des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes, dass noch heute ein Vorbild für die Sozialgesetzgebung ist.

Das Gutachten zum zweiten Gleichstellungsbericht zeigt wiederum auf: „Viele Nachteile, die Eltern in ihrer beruflichen Entwicklung im Lebensverlauf haben, hängen damit zusammen, dass sie die Lebenswelt der Elternschaft, der Erwerbsarbeit, der Pflege und auch der Selbstsorge während wichtiger Lebensphasen mühsam ausbalancieren müssen. […] Das Ergebnis sind Risiken im weiteren Lebensverlauf in Form verminderter Aufstiegschancen, reduzierter Einkommen und geringer Renten für diejenigen, die die Hauptverantwortung für Sorgearbeit übernehmen.“

So verstehen wir früher wie heute unseren Auftrag als Frauenwohlfahrtsverband. Im SkF engagieren sich Frauen für Frauen. Sie setzen sich für Frauen, ihre Kinder und Familien besonders in Konflikt-, Übergangs- und belasteten Lebenssituationen ein; in Beratungsstellen, wie der Schwangerschaftsberatung; in Einrichtungen der Jugendhilfe, z.B. in Mutter-Kind-Einrichtungen; in Pflegekinder- und Adoptionsvermittlungsstellen; in Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen oder durch Übernahme von Betreuungen nach dem Betreuungsgesetz. Daraus ergeben sich Kenntnisse, Erfahrungen, die zu politischem, anwaltschaftlichem Handeln motivieren. Besonders im Bundestagswahljahr weisen wir auf drängende Themen und Forderungen hin.

Daher sind der weitere Ausbau einer qualifizierten, wohnortnahen und flexiblen Kindertagesbetreuung und die Entwicklung einer Lebens-/ Familienarbeitszeit dringend geboten. Die steuerund förderpolitischen Bedingungen von Familien müssen zugunsten partnerschaftlicher Aufgabenteilung verändert werden. Gute Betreuung, familienfreundliche Arbeitsplätze auch in Führungspositionen, Wiedereinstiegsprogramme und eine angemessene Anrechnung von Pflege- und Erziehungszeiten würden zumindest einen Teil der Rentenausfälle abmildern.

Defizite bei der politischen und rechtlichen Gleichstellung

Ungleichheiten bei der eigenständigen wirtschaftlichen Sicherung

Der vor einigen Wochen veröffentlichte zweite Gleichstellungsbericht zeigt, die von Frauen, Verbänden und Organisationen errungene politische

Zur Gleichberechtigung gehört auch, dass politische Maßnahmen ergriffen werden müssen, um den Anteil von Frauen in Führungspositionen zu

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ÂťEntscheidend ist, dass gerade Frauen einfachen Antworten und Angstmacherei eine Absage erteilen.ÂŤ

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zum Beispiel in Kindertageseinrichtungen, Grundschulen und Pflegeeinrichtungen beträgt monatlich zwischen 517 Euro und 1278 Euro weniger als beispielsweise in der Herstellung von Kraftfahrzeugen oder Kraftfahrzeugteilen.“ Der Spruch, es sei mehr wert, ein Auto zusammenzuschrauben als ein Kind zu erziehen, scheint doch sehr wahr zu sein.

erhöhen. Die Zurückhaltung zur Quote ist spätestens obsolet seit die kürzlich erschienene Studie der London School of Economics (LSE) belegt, dass eine Erhöhung des Frauenanteils, auch durch Quotierungen, das Kompetenzniveau erhöht. Alarmierend ist, dass es vielen Frauen nicht gelingt, eine eigenständige wirtschaftliche Sicherheit zu erzielen. Dies kann sich besonders nach Trennung und Scheidung, dem Tod des Ehepartners, im Alter und bei Alleinerziehenden fatal auswirken. Frauen sind nach wie vor im Hinblick auf die eigenständige wirtschaftliche Sicherung mit geschlechtsbedingten Ungleichheiten konfrontiert.

Es ist also dringend notwendig, politisch flankierende Rahmenbedingungen für eine bessere Bezahlung der Erziehungs-, Sozial- und Pflegeberufe und eine konsequente Tariftreue zu erwirken. Zudem müssen die Arbeitsbedingungen, z.B. bezogen auf die jeweiligen Personalschlüssel verbessert werden. Klar ist, dass Frauen und Männer auch (Aus-)Zeiten für die Familie benötigen. Daher müssen Aufstiegschancen auch in Teilzeit und nach Phasen ohne oder mit geringer Erwerbsarbeit besser ermöglicht werden. Generell ist ein Ausbau betrieblicher Maßnahmen zum qualifizierten Wiedereinstieg zu fördern. Dies gilt auch für den Bereich der Teilzeitausbildung, der besonders für junge Eltern und die Zukunft ihrer Familien wichtig ist.

Geringere Einkommen, schlechtere Bezahlung in sogenannten typischen Frauenberufen, häufigere Erwerbsunterbrechungen und Teilzeitbeschäftigungen führen u.a. zu geringeren Renten. Wir fordern daher, jede Vollzeiterwerbstätigkeit so auszustatten, dass sie zur Existenzsicherung und zur auskömmlichen Rente führt. Dringend geboten ist ein Umbau der sogenannten Minijobs zu sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen.

Die genannten bestehenden Sachverhalte sind für Alleinerziehende besonders nachteilig. Von alleinerziehenden Müttern mit minderjährigen Kindern erhalten etwa 40 Prozent Sozialleistungen nach dem SGB II, vorwiegend, weil sie die Anforderungen einer Erwerbstätigkeit nicht oder nur teilweise mit der Alleinversorgung der Kinder verknüpfen können. Es fehlen verlässliche Unterstützungsstrukturen z.B. in der Kinderbetreuung. Das Armutsrisiko ist in dieser Familienform weiter angestiegen und ein zergliedertes schwer zu durchschauendes System der Hilfen verstärkt die Problematik.

»Der Spruch, es sei mehr wert, ein Auto zusammenzuschrauben als ein Kind zu erziehen, scheint doch sehr wahr zu sein.« Ein unerlässlicher Baustein zur Gleichberechtigung ist die Angleichung der Löhne und Gehälter. Frauen arbeiten häufiger in sozialen und pflegenden Berufen sowie in Dienstleistungsbereichen. Diese werden „in kollektiven Entgeltsystemen schlechter bewertet als typische Männertätigkeiten. Zudem arbeiten Frauen eher in Branchen und Betrieben, in denen keine Tarifverträge gelten und/oder in denen Niedriglöhne gezahlt werden“, schreibt Eva Kocher in ihrer Expertise zum ersten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung.

Ein Beitrag wäre, die familienpolitischen Leistungen zu einer Kindergrundsicherung für alle zusammenzuführen. Ein weiterer unerlässlicher Schritt für Alleinerziehende wäre, die Steuerentlastungen an die der Paarfamilien anzugleichen und den Unterhaltsvorschuss weiter zu reformieren. Eine Verbesserung für alle Familien ohne oder mit geringen Einkommen wäre, die Regelsätze im SGB II, besonders für Kinder, bedarfsgerecht auszubauen, so dass sie dem tatsächlichen existenzsichernden Bedarf einschließlich des von der Verfassung geforderten Mindestmaßes an Teilhabe entsprechen.

Das Gutachten zum zweiten Gleichstellungs­ bericht verdeutlicht: „Die Bezahlung vollzeitbeschäftigter Fachkräfte in Dienst­­leistungsbereichen

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Der enge Zusammenhang von Gewalt und Ungleichheiten

Sicht entscheidend sein, dass wir, auch gerade wir Frauen, denjenigen eine klare Absage erteilen, die mit einfachen Antworten auf die Ängste der Menschen polemisierend reagieren und damit Demokratie und Solidarität und letztlich die Menschenwürde infrage stellen. Die gesamte aktuelle politische Debatte ist geprägt von teilweise unheilvollen Auseinandersetzungen in entscheidenden Grundfragen unseres Zusammenlebens, vermeintlich basierend auf Verunsicherungen und Sorgen, aber auch vor dem Hintergrund von Hetze und Menschenverachtung.

Gleichberechtigung ist eine wichtige Grundlage für eine soziale Gesellschaft. Gewalt und Armut von Frauen stehen in einem engen Zusammenhang. Das Gutachten zum zweiten Gleichstellungsbericht betont: „Ungleiche Verwirklichungschancen gehen zu einem wichtigen Teil auf Diskriminierungen, Gewalt, strukturelle Benachteiligungen einschließlich finanzieller Anreize und Fehlanreize sowie gesellschaftliche Stereotypen zurück.“ Gewalt zwischen den Geschlechtern lässt sich mit dem Begriff „Wechselbeziehungen“ über-schreiben. Wechselbeziehungen von Macht und Ohnmacht; Wechselbeziehungen von arm und reich, von Unfrieden und Frieden, von unfrei und frei, von abhängig und unabhängig, Wechselbeziehungen von ungleich und gleich.

Wir verschließen die Augen nicht vor den rasanten technischen und kulturellen Entwicklungen, die uns manchmal ängstlich werden lassen. Wir verschweigen nicht, dass Menschen Angst vor Gewalt oder um ihre wirtschaftliche Existenz haben müssen.

Damit ist Gewalt/Beziehungsgewalt nicht nur ein individuelles, sondern ein gesamtgesellschaftliches Phänomen. Jede vierte Frau hat bereits einmal in ihrem Leben Gewalt durch ihren Partner oder Ex-Lebensgefährten erlebt. Häusliche und sexuelle Gewalt ist deshalb trotz weitgehender rechtlicher Gleichstellung der Geschlechter ein gravierendes Problem vieler Frauen und Mädchen. Die Überwindung von Gewalt gegen Frauen ist von zentraler Bedeutung für die gesundheitliche und sozioökonomische Situation von Frauen sowie für die gesellschaftliche Entwicklung insgesamt.

»Wir stellen die positiven Errungenschaften unserer Gesellschaft in den Vordergrund.« Dennoch stellen wir die positiven Errungenschaften unserer Gesellschaft in den Vordergrund. Die derzeitige gute wirtschaftliche Situation sichert unsere Sozialleistungen – auch wenn gerade wir im SkF wissen, dass es oft nicht ausreicht. Wir leben in Freiheit und Frieden und müssen uns aktiv dafür einsetzen, dass diese erhalten bleiben. So teilen wir den Aufruf des Philosophen Carlo Strenger in seinem Buch „Abenteuer Freiheit – Ein Wegweiser für unsichere Zeiten“: „Wir sind eine Generation, die ein enormes Geschenk bekommen hat. Wir sind in eine Ordnung hinein geboren, in der uns niemand zwingt, an etwas zu glauben, in der wir sein können, wer wir wollen, […]. Das ist nicht nur ein Geschenk, das ist auch eine enorme Verantwortung [...].“

Aus unserer langjährigen Erfahrung als Träger von Frauenhäusern, Beratungs- und Interventionsstellen fordern wir die Stärkung gewaltbetroffener Frauen durch eine nachhaltige Absicherung des Hilfesystems wie Frauenhäuser und Frauenberatungsstellen. Dazu ist ein gesetzlich gesicherter Anspruch auf Schutz und Hilfe bei Gewalt für betroffene Frauen und deren Kinder wichtig und muss endlich eingeführt werden. Zudem müssen in unserer Gesellschaft alle Maßnahmen getroffen werden, um Bedingungen und Strukturen aufzubrechen, die Gewalt verharmlosen, ermöglichen oder befördern.

Sich dem Nächsten zuzuwenden, politische Forderungen daraus ableiten und diejenigen in ihre Schranken zu weisen, die das Geschenk „Verantwortung“ nicht verantwortungsvoll behandeln, ist für den SkF eindeutige Aufgabe – so eindeutig, wie der entschiedene Einsatz für Menschenwürde, Demokratie, Solidarität, Weltoffenheit und Gleichberechtigung!

Solidarische Politik für alle Menschen Neben diesen konkreten aus der Facharbeit erwachsenden Themen, setzt der SkF sich aber insgesamt für eine solidarische Politik für alle Menschen ein. In diesem Jahr wird aus unserer

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»Wir leben in Freiheit und Frieden und müssen uns aktiv dafür einsetzen, dass diese erhalten bleiben.« Dr. Anke Klaus ist ehrenamtliche Vorsitzende des SkF Würzburg und seit 2011 zudem ehrenamtliche Bundesvorsitzende des SkF. Damit leitet sie den Zusammenschluss von bundesweit 143 eigenständigen Untergliederungen. Neben ihrem sozialen Engagement war sie 30 Jahre im Management einer großen Arztpraxis beschäftigt.

Renate Jachmann-Willmer ist seit 25 Jahren mit verschiedenen Aufgaben beruflich im SkF und in der Caritas betraut. Seit 2014 ist sie Bundesgeschäftsführerin des SkF und verantwortet die verbandlichen Aufgaben für die selbstständigen Untergliederungen und die Trägerschaft der eigenen Einrichtungen mit 900 Mitarbeitenden.

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Udo Unbehaun & Andreas Luther

Selbstbestimmt leben, auch mit Pflegebedürftigkeit! Smart Living 4.0 – Smart City For The Silver Age

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Der Anteil älterer Menschen in Deutschland wird in den nächsten Jahren stark zunehmen. Die Gruppe der über 60-Jährigen wird von ca. 200.000 im Jahr 2020 auf ca. 500.000 in 2030 wachsen, um danach wieder das heutige Niveau schrittweise zu erreichen. Der Anteil der Gruppe der über 60-Jährigen an der Gesamtbevölkerung wird von ca. 28 Prozent auf ca. 35 Prozent steigen.

deutlich zu reduzieren. Prof. Dr. Wehrspohn (Fraunhofer Gesellschaft) und Prof. Dr. Dr. h.c. Blum (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg) zeigen mit den Vorständen Andreas Luther und Udo Unbehaun die volkswirtschaftliche Bedeutung dieses Projektes auf und arbeiteten an innovativen technischen und technologischen Lösungen, um die Transaktions- und Produktionskosten der Pflege zu reduzieren.

»Heutige Hilfsangebote sind nicht bedarfsgerecht und nicht vollumfänglich finanzierbar.«

Es wurde auch ein europäischer Beirat gegründet, an dem der Dachverband der Wohnungswirtschaft Europas (Housing Europe), die AAL Europe sowie Vertreter europäischer Wohnungsunternehmen bzw. -verbände teilnehmen. Großwohnsiedlungen haben oft eine Monostrukturierung in den Alterskohorten ihrer Bewohner. Diese demographische Herausforderung würde im Bankendeutsch "Klumpenrisiko" heißen. Wie gehen wir mit dieser Herausforderung um? Der Gesetzgeber hat bei Einführung der Sozialen Pflegeversicherung in § 8 SGB XI darauf abgestellt, dass die pflegerische Versorgung der Bevölkerung eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist.

Mit dem stetigen Anstieg der älteren Bevölkerung wird auch der Anteil zunehmen, der Hilfe insbesondere im Wohnalltag benötigt. Die heutigen Hilfsangebote für diese Gruppe unserer Bevölkerung sind quantitativ nicht bedarfsgerecht und vor dem Hintergrund des Kaufkraftverhältnisses durch die Menschen nicht vollumfänglich aus den laufenden Einkommen finanzierbar. In der Folge müssen private Ersparnisse, Hilfe der Familienangehörigen, Sachleistungen der Kranken- und Pflegeversicherung und/oder staatliche Leistungen in Anspruch genommen werden.

Die Strukturen von Großwohnsiedlungen werden genutzt, um Skaleneffekte zu heben, in dem die Bedarfe der Bewohner über ein Centermanagement analysiert und angebotsorientiert umgesetzt werden. Die Volatilität in der gesundheitlichen Entwicklung von versicherten Bewohnern (die sich dadurch auszeichnet, dass durch Unterversorgung der Pflegebedarf extrem in die Höhe schnellt und Krankenhausaufenthalt notwendig macht) wird dadurch deutlich abgeflacht werden. Durch Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft wird Partizipation geschaffen und den Sicherheitsbedürfnissen, insbesondere bei älteren Menschen, Rechnung getragen.

Die Singularisierung der Haushalte bedingt, dass die familiäre Bande als Unterstützungselement der Vergangenheit zukünftig deutlich abzunehmen droht. Die Bundesrepublik Deutschland ist ein föderaler, sozialer Rechtsstaat. Es müssen bedarfsgerechte Lösungen erarbeitet werden, um diesem Teil unserer Gesellschaft finanzierbare Hilfsangebote anzubieten, welche qualitativ den heutigen Angeboten nicht nur in nichts nachstehen und die Würde der Menschen und das Selbstbestimmungsrecht wahren, sondern auch deutlich effizienter sind.

Durch die neu und anders organisierte Verzahnung verschiedenster Institutionen wie z.B. Wohnungsunternehmen, Einrichtungen gem. § 71 SGB XI, Krankenhäuser in Verbindung mit der kommunalen Infrastruktur soll die Altenversorgung im Wohnquartier neu gestaltet werden; mit der Folge, dass ohne Qualitätsverlust derzeitiger Strukturen die Bedarfe deutlich besser umgesetzt werden können. Zudem werden Menschen, welche im Wohngebiet leben, in das System eingebunden. So können unterstützende Leistungen durch gemeinschaftliche Hilfe ehrenamtlich und moderiert durch das gemeinsame Center-Management

Hier könnte die Digitalisierung und die organisierte Wohnungswirtschaft das entscheidende Konzept zur Überwindung von Angebotsnotstand, insbesondere bei drohender Pflegebedürftigkeit leisten. Um die Finanzierbarkeit zu sichern, geht es primär darum, durch eine Neuorganisation von Wohnquartieren und die Einbindung von wissenschaftlicher Exzellenz die Transaktions- und Produktionskosten für die „Altenversorgung“

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Umgebung verbleiben kann; Fehlallokationen durch die Schaffung neuer Angebotsstrukturen, wie zum Beispiel die Erstellung neuer Altenheimpflegeplätze, werden vermieden. Zudem soll durch eine Vernetzung mit den Krankenhäusern erreicht werden, dass ältere Menschen im Krankheitsfall nicht in Altenheime abwandern müssen, sondern durch im Quartier errichtete Sonderwohnformen auf ein Weiterleben in der eigenen Wohnung vorbereitet werden können.

von Wohnungsunternehmen und anderen Serviceunternehmen angeboten werden. Die Bedarfe der Menschen in diesem Wohnquartier werden, immer auf Wunsch des Hilfeberechtigten, analysiert, digitalisiert und in tagesstrukturierende Dienstleistungsangebote umgesetzt. Die Serviceanbieter, welche in diesem Quartier ihre Leistungen erbringen, werden durch die Angebotsorientierung dafür Sorge tragen, dass die Vereinsamung und die daraus oft resultierenden Depressionsspiralen durch die Organisation von positiven sozialen Kontakten minimiert werden. Durch die soziale Integration, die bedarfsgerechte Versorgung, durch das Auffangen in der Gemeinschaft (quasi der Familienersatz) wird die Kostenseite entlastet. Alle Kostenträger, insbesondere die Pflege- und Krankenkassen, werden gegenüber den normalen Abrechnungszeiträumen im Verlauf eines Patientenzyklus auf Grund der effizienteren Strukturen die Kosten pro Patient senken können.

Am Beispiel eines Wohnquartiers in Halle-Neustadt mit ca. 4.000 Menschen und einem weitaus größeren Einzugsgebiet im Saalekreis wird dies derzeit als Pilotprojekt umgesetzt. Es wird ein neues Stadtteilzentrum errichtet (als Arbeitstitel nennen wir es "Gesundheitskaufhaus"), das nicht handelsdominant, sondern pflegeserviceorientiert ist. Durch die Vermietung an gesundheitsnahe Dienstleister, Erlebnisgastronomie oder ein Olympiaboxstandort erfolgt eine Teilamortisation. Die Menschen im Einzugsgebiet können sich spielerisch mit den Pflegeangeboten und Dienstleistungen vertraut machen. Die für die Altenpflege vorgesehenen Wohnungen werden bewusst dezentral im gesamten Quartier verteilt, um Stigmata zu vermeiden bzw. auszuschließen. Ziel ist, dass der Stadtteil unsichtbar durchmischt ist.

»Die Wohnbevölkerung kann deutlich länger zu Hause verbleiben.«

Durch die Implementierung von digitalen Strukturen soll eine deutliche Effizienzsteigerung erreicht werden; die Prozesse bleiben kontrollierbar. Die Kopplung mit der E-Mobilität im Quartier rundet den Ansatz ab; auch dem ökologischen Aspekt wird man gerecht. So soll ein Quartier neu organisiert werden, welches der größer werdenden Gruppe älterer Menschen finanzierbare praktische Hilfe im Wohnalltag zur Verfügung stellt. Durch das Konzept werden u.a. die Kranken- und Pflegekassen entlastet, gleichzeitig wird die E-Mobilität integriert. Und ganz nebenbei sind die Pflegestrukturen für Außenstehende nicht sichtbar.

Der Benefit für die Menschen im Quartier besteht darin, dass qualitativ hochwertige Pflege bzw. Hilfe im Wohnalltag finanziert und geleistet werden kann. Damit nimmt man der alternden Bevölkerung die Sorge, anderen Generationen zur Last zu fallen bzw. zu verarmen. Parallel hierzu erreichen wir mit diesem Ansatz auch die Kinder der Hilfebedürftigen, das heißt die mittlere Altersgeneration, da deren Eltern sich in einem finanziellen abgesicherten Pflegeumfeld befinden. Gleichzeitig wird erreicht, dass die Wohnbevölkerung deutlich länger in ihrer häuslichen

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»Kranken- und Pflegekassen werden entlastet, gleichzeitig wird die E-Mobilität integriert.«

Udo Unbehaun Jahrgang 1962, ist Vorstandsvorsitzender der SozialKonzept-Pflege AG. Daneben engagiert er sich ehrenamtlich in der CDU.

Andreas Luther Jahrgang 1968, ist seit 2012 Vorstandsvorsitzender der HaNeuer WG e.G. Der studierte Betriebswirt hat verschiedene leitende Positionen in der Wohnungswirtschaft inne.

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Jenovan Krishnan

»Wer mit 20 Jahren nicht Sozialist ist, der hat kein Herz, wer es mit 40 Jahren noch ist, hat kein Hirn.« Ein Rückblick auf den G20-Gipfel

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Schon in der ersten Nacht attackierten vermummte Personen Polizisten mit Pflastersteinen, Flaschen und allem, was ihnen in die Hände fiel.

Dieser altbekannte Ausspruch, bei dem man sich bis heute nicht sicher ist, ob er von Georges Clemenceau oder Winston Churchill stammt, dürfte wohl jedem ein Begriff sein. Gaukelt er doch ganz offen die moralische Überlegenheit der politischen Linken vor. Es ist das Credo einer ganzen Generation, ja einer ganzen Bewegung, der jedes Mittel recht ist, um anderen ihre Weltanschauung aufzudrücken.

Anwesende beschrieben eine hasserfüllte und bedrohliche Stimmung. Linksextreme aus ganz Europa hatten sich in Hamburg zusammengefunden, um Zerstörung, Hass und Gewalt zu verbreiten und die Stadt in Angst und Schrecken zu versetzen. Die Botschaft war klar: Wir haben die Kontrolle über euch! Eine erschreckende Parallele zu Terroristen, die mit ihren Taten ebenfalls ein Gefühl der Unsicherheit in den Köpfen der Menschen verankern wollen.

»Für Linke sind Andersdenke herzlos, ungerecht und falsch.«

Im weiteren Verlauf des G20-Gipfels eskalierte die Gewaltspirale. Um ihrer Kapitalismuskritik Gehör zu verschaffen, zündeten Linksautonome Familienautos an, demolierten ganze Straßenzüge und plünderten Supermärkte und andere Läden. Fast schon zynisch, dass sich die Kapitalismuskritiker anschließend beim Plündern eines Apple Stores um die ethisch und moralisch verwerfliche Beute stritten.

„Linkssein“ ist nämlich Herzenssache: etwas Gutes, Gerechtes und gefühlt Richtiges. Sie sind die besseren Menschen. Im Umkehrschluss sind Anders­ denkende also herzlos, ungerecht und falsch – die schlechten Menschen eben. Dabei ist es ein Grundpfeiler unserer Demokratie, Mehrheiten, auch wenn man sie nicht teilen mag, zu tolerieren. Die Toleranz der Linken hat jedoch ihre Grenzen – spätestens dann, wenn es um ihr eigenes Fortkommen und ihren eigenen Vorteil geht.

Nachts verwandelten die Extremisten das Schanzenviertel in ein Schlachtfeld. Barrikaden brannten, Molotow-Cocktails wurden erneut auf Polizeibeamte geworfen und wahllos Fensterscheiben eingeschlagen. Sie hinterließen eine Schneise der Verwüstung. Folglich grenzt es an ein Wunder, dass in dieser Nacht niemand sein Leben lassen musste.

Rückblick auf den G20-Gipfel Schauen wir zurück auf den G20-Gipfel in Hamburg. In einer immer komplexer werdenden Welt ist es notwendig, dass sich die Regierungschefs der einzelnen Staaten treffen, um sich über die globalen Herausforderungen auszutauschen und Lösungen auszuarbeiten. Paradox, denn genau dies sollte auch im Sinne der politischen Linken sein. Und trotzdem wurden Demonstrationen gegen den G20-Gipfel angekündigt. Aber wir akzeptieren das, denn schließlich muss eine Demokratie es aushalten können, wenn ein Teil seiner Bürger Kritik äußert, Probleme anprangert und auf Missstände aufmerksam macht.

Reaktionen darauf Eine Reaktion, die besonders sprachlos machte, war die von Andreas Beuth, einem Rechtsanwalt aus dem Unterstützerfeld der Roten Flora: „Wir als Autonome und ich als Sprecher der Autonomen haben gewisse Sympathien für solche Aktionen. Aber doch bitte nicht im eigenen Viertel, wo wir wohnen. Also, warum nicht in Pöseldorf oder Blankenese? Da gibt’s auch bei uns großes Unverständnis, dass man im Schanzenviertel die eigenen Geschäfte zerlegt. Die Geschäfte, wo wir selbst einkaufen.“ Durch diese Aussage legitimierte er die Krawalle – nur eben nicht in seinem eigenen Viertel. Spätestens jetzt erkennt man die Doppelzüngigkeit der politischen Linken und ihre moralische Überheblichkeit. Gewalt darf niemals Mittel zum Zweck sein, egal gegen wen oder was sie sich richtet.

Allerdings sorgte bereits der Titel der Demonstration „Welcome to hell“ nicht nur bei uns für Verwunderung. Entweder war dies eine nicht besonders gelungene, „humorvolle“ Begrüßungsformel für die zahlreichen Staatsgäste anderer Länder oder eine offene Drohung gegen eben diese. Dass Letzteres die bittere Wahrheit werden würde, hätte sich wohl niemand wirklich vorstellen können.

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dass Hochschulen von Radikalen so instrumentalisiert werden.

Doch das hat dieser Herr offensichtlich nicht verstanden. Aber wir erinnern uns ja an das Eingangszitat: wer mit 40 immer noch links ist, hat bekanntlich kein Hirn.

Als RCDS kritisieren wir regelmäßig, dass linke Gruppen Finanzmittel der Studentenschaft für ihre ganz eigenen ideologischen Zwecke verwenden. Das beinhaltet Gelder für linksextreme Projekte, Protestcamps oder Reisen zu Demonstrationen. Ganze Busse oder Züge werden finanziert und organisiert, um zu Protesten wie dem 1. Mai oder eben dem G20-Gipfel zu reisen. In Freiburg etwa gab es einen solchen organisierten Transport nach Hamburg. Und dies war sicherlich einer von vielen.

Politische Reaktionen erfolgten spärlich und nur sehr verhalten. Während die CDU die Gewaltexzesse zügig verurteilte, ein schärferes Vorgehen gegen Linksextremismus forderte und sich eindeutig mit der Polizei solidarisierte, waren es vor allem SPD, Grüne und Linke, die kein klares Bekenntnis von sich gaben. Sie betonten, dass dies eben kein strukturelles Problem der linken Szene sei, sondern die Gewalt vielmehr von der Polizei ausgegangen sei. Diese hätte durch ihr Vorgehen die Demonstranten geradezu provoziert und zu derartigen Handlungen aufgefordert.

»Hochschulleitungen und die SPD kehren das Thema regelmäßig unter den Teppich.«

Selbstverständlich müssen sie so argumentieren, denn viele Mitglieder, Unterstützer oder Wähler ebendieser Parteien sympathisieren – aus falsch verstandener Toleranz – mit diesen Krawallmachern. Durch eine deutliche Distanzierung und klare Forderungen hätten diese verprellt werden können. Dies war und ist natürlich politisch nicht gewollt und so nahm die Relativierungs­ maschinerie anschließend ihren Lauf.

Unsere Gruppen vor Ort beobachten tagtäglich, dass linke Gruppen zu Gewalt aufrufen oder Gewalteskalationen aus dem eigenen Lager verharmlosen. Hochschulleitungen und vor allem die SPD kehren das Thema regelmäßig unter den Teppich. Die Jusos sind daher genauso mitverantwortlich, wenn sie behaupten, Linksextremismus gäbe es nicht oder sie sich solidarisch mit den Krawallmachern der Antifa zeigen.

Linksextremismus an Hochschulen Über Jahre hinweg hat sich eine linksextreme Szene an unseren Hochschulen etabliert. Ein Großteil der Studenten, Dozenten und auch Hochschulleitungen sympathisiert teilweise offen mit verfassungsfeindlichem Gedankengut oder linksextremen Organisationen. Dem gegenüber steht die zu großen Teilen stille Mehrheit, die eher gemäßigt ist und sich von Extremisten distanziert. Was die Hochschulen aber alle verbindet: An ihnen hat sich in den letzten Jahren eine sehr aktive linke bis linksextreme Szene gebildet. Aus Studentensicht ist der links­extreme Terror des G20-Gipfels daher leider keine große Überraschung.

Nach den Geschehnissen in Hamburg sollte nunmehr jedem klar sein, dass wir ein gravierendes Problem mit Linksextremisten an unseren Hochschulen haben. Aktives Vorgehen gegen Extremismus statt Verharmlosung Wir fordern: Hochschulleitungen müssen sich gegen jegliche Form von politischem oder religiösem Extremismus aussprechen und Verstöße gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung im Rahmen ihrer Zuständigkeiten und Möglichkeiten konsequent ahnden.

Der AStA der Universität Hamburg hatte beispielsweise im Vorfeld des G20-Gipfels Räume der Hochschule angemietet. In verschiedenen Workshops hatten sich Linksextreme auf Straßenschlachten, körperliche Auseinandersetzungen und Konflikte mit der Polizei vorbereitet. Ganz nach dem Motto: Provokation und Eskalation – welcome to hell! Wir finden: Es kann nicht sein,

Die Hochschulen und die Verfassten Studentenschaften müssen daher dazu verpflichtet werden, über alle Formen von Extremismus aufzuklären, um diesem vorzubeugen.

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»Gewalt darf niemals Mittel zum Zweck sein, egal gegen wen oder was sie sich richtet.« Darüber hinaus soll der Zugang zu bereits existierenden Programmen zum Ausstieg aus extremistischen Szenen durch Hochschulen und – wenn existent – durch die Verfassten Studentenschaften beworben und erleichtert werden.

darstellen. Schließlich stellen wir auch hohe Erwartungen an Menschen, die in unser Land kommen und fordern von ihnen ein klares Bekenntnis zu unserer Verfassung. Warum sollten wir uns also nicht selbst dazu bekennen?!

Besonders wichtig ist aber auch, dass die Hochschulen in Zukunft nicht mehr mit extremistischen Organisationen zusammenarbeiten und sich deutlich von ihnen abgrenzen. Selbiges gilt auch für die Verfassten Studentenschaften. Außerdem dürfen Extremisten nicht als Hochschulgruppen anerkannt werden, damit sie nicht von diesem Status profitieren können.

Augen auf vor Extremisten und Pseudomoral Die Vorfälle haben unsere Gesellschaft auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Die moralische Überlegenheit der politischen Linken ist in sich zusammengebrochen. Politisch darf der Linksextremismus nicht weiter verharmlost werden. Stattdessen müssen wir härter durchgreifen, um dem Terror keine Chance zu geben. Bei der CDU ist man daher bei der Bundestagswahl am besten aufgehoben.

»Extremisten dürfen nicht als Hochschulgruppen anerkannt werden.«

Studenten hingegen müssen sich endlich klar darüber werden, wer bei den Studentenparlamentswahlen antritt. Indirekt werden oft linksextreme Gruppen unterstützt, wenn nicht zur Wahl gegangen wird. Studenten muss bewusst sein, was an ihren Hochschulen passiert. Sie müssen klar und deutlich machen, dass sie keine Extremisten – weder von links noch von rechts – an ihren Hochschulen dulden. Denn manchmal ist es eben klüger Herz und Hirn zu benutzen, als eines allein.

Eine weitere Option ist ein Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung als Voraussetzung für ein Hochschulstudium in Deutschland, denn eine sachliche, gewaltfreie Auseinandersetzung mit politisch Andersdenkenden darf für einen Demokraten kein Problem

Jenovan Krishnan ist Student der Politikwissenschaft und seit Oktober 2015 Bundesvorsitzender des Rings Christlich-Demokratischer Studenten (RCDS). Zeitgleich ist er das jüngste Mitglied des CDU-Bundesvorstandes.

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Stephan Eisel

Zwischen Wahl und Versprechen Zur Wählererwartung und Kandidatenehrlichkeit

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„Beide schaden sich selbst: der, der zu viel verspricht, und der, der zu viel erwartet.“ – fast könnte man meinen, diese Bemerkung von Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781) sei ein immer aktueller Wahlkampfkommentar. Lessing spricht in seiner „Hamburgischen Dramaturgie“ zwar konkret die Beziehung zwischen Schauspieler und Theaterpublikum an, sein Hinweis gilt aber auch ganz allgemein: Politik ist davon nicht ausgenommen, aber auch nicht alleine davon betroffen.

Die klassische Wählerfrage „Warum soll ich Euch die Stimme geben?“ ist nichts anderes als die Bitte um eine verbindliche Zusage zu künftigem Verhalten. In diesem Sinn kommt um „Wahlversprechen“ niemand herum, der sich mit Erfolgsaussichten einer demokratischen Wahl stellen will. Selbst das beliebte „Ich verspreche nur, dass ich nichts verspreche“ – was man auch als „Ich halte mir alle (Hinter)türen offen“ verstehen kann – ist eine Reaktion auf die Wählerfrage nach dem Wahlversprechen.

»Jeder hört gerne, wenn Erfreuliches in Aussicht gestellt wird.«

Das Problem von Wahlversprechen ist also nicht, dass es sie gibt: Sie werden als politische Zukunftsaussagen vom Wahlbürger sogar meist nachdrücklicher eingefordert als von Kandidaten bereitwillig gegeben. „Wahlversprechen“ haben ihr schlechtes Image, weil sie nach der Wahl nicht mehr zu gelten scheinen. Dabei mag es durchaus objektive Gründe geben, warum das vor der Wahl ernsthaft in Aussicht Gestellte nach der Wahl nicht realisierbar ist. Im politischen System der Bundesrepublik Deutschland hat das nicht zuletzt mit dem Zwang zur Koalitionsbildung zu tun, der sich fast automatisch aus dem Verhältniswahlrecht ergibt.

Wer etwas verspricht, verpflichtet sich eigentlich verbindlich, etwas Bestimmtes zu tun oder zu lassen. Versprechen impliziert Bindung und Vertrauen und hat eine positive Anmutung. Aber schon der Duden setzt mit der vorsichtigeren Definition des Versprechens als der „Veranlassung zu einer bestimmten Hoffnung“ ein Warnzeichen. Wie zum Versprechen als Pflicht die Verlässlichkeit gehört, so ist seine Kür die Ankündigung von Erfreulichem. Das macht seine Attraktivität und Versuchung aus, denn jeder hört gerne, wenn Erfreuliches in Aussicht gestellt wird. Nicht von ungefähr ist das Gegenstück zum Versprechen die Drohung – die Ankündigung von Unheil.

In Koalitionen kann kein Partner seine „reine Lehre“ durchsetzen, es regiert der Kompromiss. Aussagen vor der Wahl werben aber für die eigene Sache, die „reine Lehre“ und eben nicht für vorweggenommene Kompromisse. Diese Diskrepanz kann für Gewählte ebenso frustrierend sein wie für Wähler. Bei Kompromissen fühlen sich selten alle als Gewinner. Man trauert eher dem nicht Erreichten nach als man sich am Durchgesetzten freut.

Wie sehr sich der Begriff „Wahlversprechen“ inzwischen von diesem Sprachgebrauch entfernt und verselbstständigt hat, wird schon daran deutlich, dass Wahlversprechen im allgemeinen Verständnis einen fast ausnahmslos schlechten Ruf haben. Ihnen haftet klebrig sowohl der Populismusverdacht als auch die Assoziation des „Versprochen – Gebrochen“ an. Dieses schlechte Image haben Parteien und Politiker verursacht, aber Wähler sind daran nicht völlig unschuldig.

Auf diesen Zwang zum Kompromiss bezog sich Franz Müntefering als er als damaliger SPD-Vorsitzender im September 2006 vor der Bundespressekonferenz sagte, es sei „unfair“, wenn die „Koalition an dem gemessen (werde), was in Wahlkämpfen gesagt worden ist. Einige Tage später wiederholte er in den Sturm der Entrüstung hinein: „Ich bleibe dabei: Dass wir oft an Wahlkampfaussagen gemessen werden, ist nicht gerecht.“

Zunächst ist es nämlich das völlig legitime Recht der Wähler – eigentlich sogar ihre Pflicht – vor der Wahl danach zu fragen, was nach der Wahl geschehen soll. Zugleich gehört es zu den selbstverständlichen Spielregeln für Kandidaten, vor einer Wahl offenzulegen und sich danach fragen zu lassen, was nach der Wahl geschehen soll.

Im Jahr zuvor hatte die SPD im Bundestagswahlkampf die CDU wegen ihrer Ankündigung einer zweiprozentigen Mehrwertsteuererhöhung scharf angegriffen („Merkelsteuer“) und das

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Wahlversprechen abgegeben, mit ihr werde die Mehrwertsteuer nicht erhöht. Die Große Koalition hatte sich dann nach der Wahl aber auf eine Anhebung um drei Prozent verständigt.

und ein staatliches Gesundheitswesen versprach. 1951 zog Churchill wieder in Downing Street 10 ein, weil er das staatliche Wohnungsbauprogramm fortzuführen versprach.

An diesem Vorgang wird exemplarisch deutlich, wodurch Wahlversprechen im Kern diskreditiert sind: Zu viele Politiker glauben offenbar, Wähler nur mit angenehmen „Versprechungen“ gewinnen zu können und tendieren dazu, gerade vor Wahlen Unangenehmes eher zu verschweigen – so als gäbe es nach einer Wahl nur die heile Welt. So werden in der Politik aus dem verlässlichen Versprechen wertlose Versprechungen.

Zukunftsprogramme werden von den Regierenden übrigens eher erwartet als von der Opposition: Bei Wahlen geht es meist um die Frage, ob die jeweilige Regierung abgewählt oder bestätigt wird und weniger um die Strahlkraft der Opposition. Eine gute Regierung wird selten von einer guten Opposition abgelöst, meist muss eine schlechte Regierung der Opposition weichen. Für die meisten Bürger orientiert sich die Stimmabgabe eben nicht am Dank für die Vergangenheit, sondern an der Hoffnung auf die Zukunft. Das ist der Nährboden für Wahlversprechen. Bei der Antwort auf Zukunftsfragen besteht die Glaubwürdigkeitsfalle für Regierungen darin, mehr oder gänzlich Anderes anzukündigen als man bisher im Amt geleistet hat. „Warum habt Ihr das nicht schon längst umgesetzt?“ ist im Wahlkampf die unangenehmste Frage für regierende Parteien, die Neues vorschlagen. Die Opposition hingegen muss ihr Zukunftsprogramm in der Wirklichkeit erden, um sich vor dem Vorwurf hüten: „Das ist doch unrealistisch!“

»Zu viele Politiker glauben, Wähler nur mit angenehmen Versprechungen gewinnen zu können.« Wahlversprechungen werden auch nicht glaubwürdiger durch Einschränkungen wie generelle Finanzierungsvorbehalte, die sich häufig im Kleingedruckten von Wahlprogrammen finden. Dort versteckt bestätigen sie nur die Scheu davor, scheinbar Unpopuläres vor Wahlen deutlich auszusprechen. Davor scheuen Parteien zurück, weil es bei demokratischen Wahlen – von wenigen Ausnahmen abgesehen –, nicht um ein Dankeschön für Geleistetes geht, sondern um die Zukunftserwartungen der Bürger. Die absolute Mehrheit für Konrad Adenauer 1957 und den Wahlsieg Helmut Kohls 1990 könnte man als Ausnahme von dieser Regel betrachten, wenn man im einen den Dank für das „Wirtschaftswunder“ und im anderen die Anerkennung für den Weg zur deutschen Einheit sieht.

Zukunftsentwürfe gewinnen Glaubwürdigkeit, wenn sie sich von populistischen Wahlversprechen unterscheiden. Mittel – und langfristig gilt nämlich: Je rosiger die Versprechungen ausfallen, umso tiefer ist der Fall danach. Vor allem sind Bürger klüger als manche Politiker vermuten: Für sie wiegt in der Regel das Versprechen tatsächlicher Glaubwürdigkeit mehr als Versprechungen aus dem Wolkenkuckucksheim der Illusionen. Das zeigen insbesondere die außergewöhnlichen politischen Erfolgsgeschichten von Konrad Adenauer, Helmut Kohl und Angela Merkel.

Viel zahlreicher sind aber die Fälle, bei denen Wahlen trotz unbestrittener Leistungen in der Vergangenheit verloren wurden, weil ein Konzept für die Zukunft fehlte. Das klassische Beispiel ist die Wahlniederlage von Winston Churchill im Juli 1945: Als Premierminister hatte die Leitfigur der Konservativen Großbritannien im 2. Weltkrieg äußerst erfolgreich in die Reihe der Siegermächte geführt. Aber unmittelbar nach Kriegsende gewann die Labour-Partei die Wahl, weil sie für die Zukunft bessere Schulen, bessere Wohnungen

Adenauer hat mehrfach Wahlen gewonnen, obwohl (besser: weil!) er sich populistischen Tagesstimmungen nicht beugte. Soziale Marktwirtschaft oder Wiederbewaffnung und NATO-Mitgliedschaft waren höchst umstritten und stießen nach Meinungsumfragen auf klare Ablehnung. Legendär ist Adenauers Antwort an seinen Regierungssprecher Felix von Eckhardt als dieser ihn mit Hinweis auf große Widerstände in der Bevölkerung vom Vorhaben der

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»Für die meisten Bürger orientiert sich die Stimmabgabe nicht am Dank für die Vergangenheit, sondern an der Hoffnung auf die Zukunft.« wegen der Sache selbst für ihn schmerzlich, sondern weil ein einräumen musste, sein Wort nicht halten zu können.

Wiederbewaffnung abbringen wollte, und „der Alte“ nur lapidar entgegnete: „Wir bleiben dabei, aber Sie haben jetzt mehr Arbeit.“ Adenauer brachte damit sein Politikverständnis auf den Punkt: Um Mehrheiten für die eigene Überzeugung werben und nicht die eigene Überzeugung nach tagesaktuellen Mehrheiten richten.

Verlässlichkeit ist auch das wichtigste Potenzial von Angela Merkel. Bewährt als Krisenmanagerin vertrauten ihr die Menschen, als sie auf dem Höhepunkt der Finanzkrise 2008 durch eine schlichte persönliche Erklärung die Sicherheit der Spareinlagen garantierte. Ihre Stetigkeit bewährt sich im Gegenwind der Flüchtlingskrise und ist der Grund, dass ihr letztlich wenig zu schaden scheint, dass sie im Wahlkampf 2013 in einer Einzelfrage („Mit mir wird es keine PKWMaut geben.“) etwas versprochen hat, was sich dann in den folgenden Koalitionsverhandlungen nicht durchsetzen ließ.

Weil er in seinen Grundüberzeugungen standhaft war, wurde sein berühmtes Diktum "Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern, nichts hindert mich, weiser zu werden" von den meisten Wählern nicht als Wankelmut, sondern als taktische Schläue verstanden. Auch Helmut Kohl stand nicht im Verdacht, der „Mode des Zeitgeistes“ – wie er es nannte – nachzugeben. Natürlich interessierte auch er sich immer für die neuesten Umfrageergebnisse, aber sie waren für ihn nicht die Richtschnur des Handelns. Kohl sagte dazu oft: „Ich gehöre nicht zu denen, die morgens den Finger nass machen, um zu sehen woher der Wind weht, und sich dann möglichst windschnittig aufstellen.“

Adenauer, Kohl und Merkel sind die drei bisher am längsten amtierenden Kanzler, weil sie ein großes Kapital an Verlässlichkeit aufgebaut haben. Bei ihnen wusste man, woran man ist. Da mochte es noch so viel Kritik in Einzelfragen geben, für die meisten Menschen war doch beruhigend, dass – wie es ein Kohl-Kritiker einmal formulierte – das rote Telefon bei ihnen auf dem Nachttisch stand.

Diese Grundsatztreue hat er auch bei Gegenwind vom NATO-Doppelbeschluss über die Einführung des bleifreien Benzins und des Erziehungsgeldes bis hin zur Deutschen Einheit mit der europäischen Einigung vielfach unter Beweis gestellt. Umso mehr schadete ihm (und ärgerte er sich über) sein leichtfertiges Wahlversprechen, man werde wegen der deutschen Einheit die Steuern nicht erhöhen. Als 1991 der Solidaritätszuschlag eingeführt wurde, war diese Kurskorrektur weniger

Dass Adenauer, Kohl und Merkel deutlich mehr Wahlen als andere gewonnen haben, ist auch ein eindrucksvolles Beispiel dafür, dass Wahlerfolge viel mehr mit dem Zukunftskapital der Verlässlichkeit als mit populistischen Versprechungen zu tun haben. Dies zeigt auch ein Blick auf die Bundestagswahlen, die neuen Regierungskoalitionen ins Amt verhalfen:

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federte Gerhard Schröder ab mit dem beruhigenden: „Wir werden nicht alles anders machen, aber manches besser.“

Das Ergebnis der Wahlen 1949 charakterisierte der SPIEGEL am 18. August 1949 als „Vernunftswahlen“. Es sei das Resultat einer „verlorenen Sozialisierungsschlacht“ gewesen, weil die SPD für ihr Wirtschaftskonzept einen „Blankoscheck“ verlangt habe. Gegenüber solchen utopischen Versprechungen hätten sich „vernünftige Sentimentalitäten“ durchgesetzt. Was folgte waren zwanzig Jahre mit unionsgeführten Regierungen.

2005 brachte einen Kanzlerwechsel zu Angela Merkel trotz der sicherlich nicht populären Ankündigung von CDU/CSU, die Mehrwertsteuer um zwei Prozent zu erhöhen. Die Union musste zwar Stimmenverluste (-3,4 Prozent) hinnehmen, aber die Verluste der SPD waren noch größer (-4,3 Prozent), obwohl sie ihre Absage an eine solche Mehrwertsteuererhöhung in den Mittelpunkt des Wahlkampfes gestellt hatte.

Die SPD musste erst mit dem „Godesberger Programm“ einen radikalen Kurswechsel von ideologischen Fantasien zur Wirklichkeit vollziehen (Bekenntnis zur Sozialen Marktwirtschaft und NATO), um den Grundstock für spätere Wahlerfolge zu legen.

Dass die Wahlen 2009 einen Wechsel zur Koalition von CDU und FDP ermöglichten, war ebenfalls weit weniger Ergebnis des Steuersenkungswahlkampfes („Mehr Netto vom Brutto“) der FDP (+4,7 Prozent) als viel mehr einer tiefen Krise der SPD (-11,2 Prozent), die im Jahr zuvor ihren Parteivorsitzenden Kurt Beck gestürzt hatte.

Der Regierungswechsel 1969 infolge eines außerordentlich knappen Wahlergebnisses – noch in der Wahlnacht hatte sich Kanzler Kiesinger als Wahlsieger feiern lassen – wurde erst im Nachhinein zur großen Wende stilisiert. Hans-Jürgen Wischnewski beschrieb damals in einem Aufsatz „Wahlkampf 1969“ treffend, dass Realitätserfahrung den Ausschlag gab: „Aufgrund der von CDU/ CSU und FDP verschuldeten Krise, mehr noch aber dank ihrer Leistungen in der Regierungsverantwortung, hat die SPD neue Vertrauensbereiche hinzugewinnen können.“

Für die FDP entpuppte sich das Rekordergebnis von 2009 sogar als Pyrrhussieg: 2013 stürzte sie ab (-9,8 Prozent) und fiel aus dem Bundestag, weil ihr vier Jahre zuvor abgegebenes Steuersenkungsversprechen nur durch eine Mehrwertsteuersenkung für Hotels umgesetzt worden war („Mövenpicksteuer"). Der 2011 u.a. vom aktuellen Parteichef Lindner erzwungene Rücktritt von Westerwelle als Vizekanzler und FDP-Chef beurkundete das Scheitern zwischen Anspruch und Wirklichkeit quasi notariell.

Die SPD warb mit ihrer Regierungserfahrung und gewann die Wahl 1969 nicht mit Zukunftsvisionen, mit denen das Datum heute assoziiert wird. Der Slogan „Mehr Demokratie wagen“ stand nicht auf SPD-Wahlplakaten, sondern erst nach dem Wahlerfolg in der Regierungserklärung.

»Die Wahl des Populisten Donald Trump wirkte in vielen Demokratien wie ein Warnzeichen.«

1983 gewannen CDU und CSU mit Helmut Kohl souverän die Bundestagswahl, obwohl sie schmerzhafte Sparmaßnahmen ankündigten und sich klar zum damals in der Bevölkerung mehrheitlich massiv abgelehnten NATO-Doppelbeschluss bekannten. Die Union erreichte ihr mit 48,8 Prozent bis heute zweitbestes Ergebnis (1957: 50,2 Prozent) nicht mit einem Füllhorn von Wahlversprechungen, sondern mit dem Konsolidierungsversprechen zum Abbau der Staatsverschuldung.

Diese Regierungswechsel in der Bundesrepublik Deutschland sind Belege dafür, dass nüchterner Realismus bei Wahlen erfolgreicher ist als wirklichkeitsfremde Versprechungen. So wenig Wahlen bisher Geleistetes prämieren, so wenig belohnen sie den wirklichkeitsfremden Zukunftsentwurf bzw. bestrafen ihn spätestens dann, wenn die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit offenbar geworden ist.

Der Regierungswechsel 1998 war ebenfalls nicht Ergebnis großer Wahlversprechungen, sondern kam eher auf Samtpfoten. Das im Blick auf die 16-jährige Amtszeit von Helmut Kohl erfolgreiche Wahlkampfmotto „Es ist Zeit für einen Wechsel“

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»Nüchterner Realismus bei Wahlen ist erfolgreicher als wirklichkeitsfremde Versprechungen.« Deshalb wirkte die Wahl des Populisten Donald Trump zum US-Präsidenten in vielen Demokratien wie ein Warnzeichen. Er hatte jedem das Blaue vom Himmel versprochen; nach seiner Wahl folgten aber den Worten keine Taten und er blieb im Weißen Haus ebenso egozentrisch, unkalkulierbar und wirklichkeitsfremd wie vor der Wahl. Was ihn als Kandidat für viele attraktiv gemacht hat, macht ihn als Präsident für die meisten suspekt.

was gerne gehört wird. Letztlich bewährt sich das demokratische System auf dem schmalen Grad der demokratischen Notwendigkeit, „dem Volk aufs Maul zu schauen“ ohne „den Leuten nach dem Mund zu reden“.

Nicht zuletzt deshalb haben die Bürger bei den folgenden nationalen Wahlen in Österreich, den Niederlanden und Frankreich die Populisten mit ihren unsoliden Wahlversprechungen in die Schranken gewiesen.

„Es sollte das Glück und der Ruhm eines Volksvertreters sein, in engster Verbindung, völliger Übereinstimmung und rückhaltlosem Gedankenaustausch mit seinen Wählern zu leben. … Doch seine unvoreingenommene Meinung, sein ausgereiftes Urteil, sein erleuchtetes Gewissen sollte er weder euch, noch irgendeinem Menschen oder irgendeiner Gruppe von Menschen aufopfern … Euer Abgeordneter schuldet euch nicht nur seinen ganzen Fleiß, sondern auch einen eigenen Standpunkt; und er verrät euch, anstatt euch zu dienen, wenn er ihn zugunsten eurer Meinung aufopfert.“

Der britische Staatsphilosoph und Abgeordnete Edmund Burke hat dazu 1774 in einer Rede an die Wähler von Bristol eine zeitlos gültige Antwort gegeben:

Demokratie setzt auf die Einsichtsfähigkeit der Menschen und darauf, dass Wähler ebenso der Versuchung widerstehen, nur das hören zu wollen, was ihnen gefällt, und wie Parteien nicht der Versuchung erliegen (nur noch) das zu sagen,

Dr. Stephan Eisel war von 2007 bis 2009 Mitglied des Deutschen Bundestags. Von 1979 bis 1980 war er Bundesvorsitzender des RCDS. Er ist Beiratsmitglied von CIVIS mit Sonde.

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Mario Voigt, Stephan Eisel, Christoph Brand & Christian Schede

Erinnerungen an Helmut Kohl Vier ehemalige Bundesvorsitzende des RCDS Ăźber ihre persĂśnliche Begegnung mit dem Kanzler der Einheit

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Mario Voigt

Nach weiteren Gespräche folgte Helmut Kohl unserer Einladung zur Gruppenvorsitzendenkonferenz auf Schloss Eichholz. Nach über fünf Jahren trat der Altbundeskanzler im Oktober 1999 wieder bei einer Bundesveranstaltung des RCDS auf. Unter dem Titel „Werte als Orientierungsmaßstab der Politik“ diskutierte er mit über 150 RCDSlern aus der ganzen Republik. Helmut Kohl entschied sich für die große Erzählung und spann einen Bogen vom „C“ als Fundament seiner Politik, den Weg zur Wiedervereinigung bis zur europäischen Wertegemeinschaft. Man konnte eine Stecknadel fallen hören, eine Frage folgte der nächsten und die Veranstaltung dauerte fast drei Stunden. Danach saß er noch eine Weile mit uns zusammen und auf dem Weg nach draußen entfuhr ihm: „Das war doch ganz gut. Sogar die Bayern haben geklatscht.“ Und stieg verschmitzt grinsend in sein Auto. Er spielte damit auf die Forderung des RCDS Bayern aus dem Frühjahr 1998 an, er solle auf die Kandidatur zur Bundestagswahl verzichten. Ein Mensch mit großem Herzen, gutem Gedächtnis und klaren Ansichten.

Der RCDS hatte bei Helmut Kohl einen Stein im Brett. Das spürte man gleich bei der ersten Begegnung. Der Altbundeskanzler liebte die Intensität, die Ungeduld und das Grundsätzliche des studentischen Engagements. Ihn interessierte der Pulsschlag an den deutschen Hochschulen und die Ideen der nächsten Generation. Und er achtete die politische Bewährung, denen sich die RCDSGruppen jedes Jahr an den Hochschulen im Wahlkampf, aber auch im täglichen Kampf mit linken Gruppen ausgesetzt sahen. Viele RCDS-Mitglieder meiner Generation hatten nur einen Bundeskanzler erlebt: Helmut Kohl. Umso mehr brachte die Bundestagswahl 1998 eine Zäsur. Für die CDU, für den RCDS. Man war in der Opposition. Als ich Anfang März 1999 auf der Bundesdelegiertenversammlung gewählt wurde, spornte Angela Merkel als Generalsekretärin den RCDS an, die CDU aus den Hochschulen heraus zu erneuern.

Die RCDS-Veranstaltung war eine der letzten großen Auftritte innerhalb der Unionsfamilie, bevor im November 1999 die Debatte um die Spendenpraxis lange Schatten auf die christlich-demokratische Bewegung warf. Zudem zog der Bundestag vom überschaubaren rheinischen Kosmos Bonn in die unsortierte Metropole Berlin. Der RCDS folgte 2000 an das Paul-Linke-Ufer. Es wurde eine andere Republik.

Wenige Tage später kam es zur ersten Krise von rot-grün: Oskar Lafontaine trat von all seinen Ämtern zurück. Und das im Superwahljahr 1999 – Bundespräsidentenwahl, Europawahl und sieben Landtagswahlen.

» ›Hey, Studentenführer, komm mal her! Ich will dir was erzählen.‹ «

Zwar war Helmut Kohl nie selbst im RCDS aktiv. Dennoch besaß der Verband mit ihm und Wolfgang Schäuble über Jahrzehnte treue Unterstützer. Der Altbundeskanzler schätzte stets die Bedeutung des RCDS für die Union als ältesten politischen Studentenverband Deutschlands. Helmut Kohl mahnte Generationen von RCDSlern, sich an der Debatte um die Zukunft des Landes zu beteiligen. Gelegentlich spornte er selbst mit Debattenbeträgen zur „Zukunft der CDU“ in CIVIS an. Den beständigen Kampf des RCDS gegen linke Intellektuelle an den Hochschulen feuerte er an; er mahnte, man solle sich für eine freie und solidarische Gesellschaft anstrengen. Außerdem schätzte er die enge Partnerschaft mit dem RCDS für eine gelingende Einheit des Vaterlandes. Als Kanzler der Deutschen Einheit und großen Europäer war er Held einer ganzen Generation. Meiner RCDS-Generation.

In dieser Stimmung begegnete ich Helmut Kohl zum ersten Mal. Am Rande eines CDU-Bundesvorstandes in der alten Bonner Parteizentrale rief er mich zu sich: „Hey, Studentenführer, komm mal her! Ich will dir was erzählen.“ Er hätte gelesen, dass ich aus Jena stamme und der erste Vorsitzende aus den neuen Ländern sei. Stolz erzählte der Bundeskanzler vom „Deutschen Studentenforum“ Anfang der 1990er in Jena. Wir kamen ins Gespräch und ich berichtete ihm von neuen Gruppengründungen, Wahlsiegen und von unserer Grundsatzprogrammdebatte. Er war gleich Feuer und Flamme und wollte mit den Studenten debattieren. „Melde Dich mal in meinem Büro. Das müssen wir vertiefen.“

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»Standfest auch bei Gegenwind: das imponierte Helmut Kohl und war ja auch sein eigener Grundsatz.«

Stephan Eisel

perfekt: Die Veranstaltung mit Helmut Kohl fand am 5. Juli 1978 um 19 Uhr im Audimax statt. Das Echo war gewaltig. In Marburg gab es damals etwa 13.000 Studenten, über 3000 kamen. Dabei war es von Anfang an das erklärte Ziel der unterschiedlichen kommunistischen Gruppen, die Veranstaltung zu verhindern.

Helmut Kohl hatte immer eine besondere Beziehung zum RCDS. Da spielte sicherlich eine Rolle, dass er selbst nicht ohne jugendliche Ungeduld seine politischen Ämter erobert hat. Zugleich war der RCDS für ihn natürlicher Bündnispartner bei der Umwandlung der CDU von der angestaubten Honoratiorenpartei zur modernen Volkspartei: christdemokratische Grundsatztreue gepaart mit libe­raler Offenheit waren dafür das Fundament.

Am Hubschrauber-Landeplatz erwartete ich Kohl gemeinsam mit den örtlichen CDU-Honoratioren: Walter Wallmann als Marburger Bundestags-, Friedrich Bohl als Landtags- und Bernhard Sälzer als Europaabgeordneter. Helmut Kohl begrüßte sie kurz und machte zugleich klar, dass jetzt der RCDS die Regie hatte. Er forderte er mich auf, mit ihm im Auto zur Universität zu fahren und wollte genau wissen, was auf ihn zukommt.

Vor allem aber wusste er den RCDS an vorderster politischer Front, wo es in der scharfen Aus­ einandersetzung mit den Linksextremisten darum ging, die freiheitliche Demokratie zu verteidigen. Standfest auch bei Gegenwind: das imponierte Helmut Kohl und war ja auch sein eigener Grundsatz.

»Kohl versprach, sich nicht vertreiben zu lassen.«

So fand meine erste Begegnung mit Helmut Kohl auch beim RCDS statt. Ich war 1977 Vorsitzender der RCDS-Gruppe in Marburg geworden, wo die Kommunisten des MSB-Spartakus seit Jahren jede ihnen unliebsame Veranstaltung gesprengt hatten. Helmut Kohl war gerade Oppositionsführer in Bonn geworden und so lud ich ihn (am damaligen RCDS-Bundesvorstand vorbei) zu einer RCDS-Veranstaltung an die Uni Mar­ burg ein. Viele sagten mir damals, das Vorhaben sei aussichtslos, der CDU-Bundesvorsitzende werde einem Marburger RCDS-Vorsitzenden wohl kaum antworten; eine Zusage sei sowieso unwahrscheinlich. Aber zu meiner freudigen Überraschung erhielt ich einen persönlichen Brief Kohls mit einer Zusage. Die Sensation war

Ich erzählte ihm, dass es das Hauptziel der Linksextremisten sei, die Veranstaltung zu verhindern. Für uns vom RCDS sei entscheidend, dass diese Strategie unserer Gegner nicht aufgehe, sondern die Veranstaltung auf jeden Fall stattfindet. Wenn er nicht zu verstehen sei, solle er einfach weiterreden. Kohl versprach, sich nicht vertreiben zu lassen. Es kam wie ich befürchtet hatte. Schon während wir uns in einem gewaltigen Getümmel den Weg zum Rednerpult bahnten, gab es einen ohrenbetäubenden Lärm. Die Deutsche Presseagentur

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»Wer sich für die Sache der Union mit Buttersäure bewerfen ließ, hatte Helmut Kohls Solidarität.«

ermutigte uns damit in unserem Einsatz als – wie wir es damals nannten - „progressive Alternative zur reaktionären Linken“.

(dpa) beschrieb in ihrer Meldung die Veranstaltung so: „Kohl, der sich zu Hochschulfragen äußern wollte, wurde im überfüllten Auditorium Maximum der Universität von Studenten niedergeschrien. Er versuchte, sich mit einer einstündigen Rede Gehör zu verschaffen. Anhaltendes lautes Pfeifkonzert, Sprechchöre und Schmählieder von rund einem Drittel seiner insgesamt 2.500 Zuhörer verhinderten jedoch, dass selbst die in der ersten Reihe Sitzenden seine Rede vernehmen konnten.“

Nach der Veranstaltung fragte Helmut Kohl uns Studenten, wo wir jetzt hingingen, er würde mitkommen. Damit hatten wir nicht gerechnet. So landete unsere kleine RCDS-Gruppe zu später Abendstunde mit Helmut Kohl in unserer Stamm-Pizzeria. Die Diskussion ging bis weit nach Mitternacht: Er hörte zu, interessierte sich für unsere Meinung und nahm selbst kein Blatt vor den Mund. Auch später habe ich Helmut Kohl immer wieder so erlebt: Diskussionsfreudig und neugierig, grundsatztreu und nicht einzuschüchtern. Diese Tugenden haben auch den RCDS immer ausgezeichnet und darauf gründete die wechselseitige Wertschätzung.

»So landete unsere kleine RCDS-Gruppe zu später Abendstunde mit Helmut Kohl in unserer Stamm-Pizzeria.«

Christoph Brand Als Erstsemester hatte ich 1981 vor dem Audimax in München mein erstes RCDS-Erlebnis mit Helmut Kohl. Es drohte die „Sprengung“ der Großveranstaltung des RCDS und man empfahl dem Oppositionsführer, durch den Seiteneingang zu gehen: der Haupteingang sei durch Störer blockiert. „Wir gehen durch den Haupteingang!“ Nach einer halben Stunde ohrenbetäubenden Lärms, gegen den Kohl unbeirrt ansprach, ging den Trillerpfeifern mit hochroten Köpfen die Puste aus. Kohl rief ihnen zu: „Zur Revolution brauchen Sie einen längeren Atem!“ Die große Mehrheit der über 2.000 anwesenden Studenten war begeistert.

Überregionale Zeitungen berichteten am Tag darauf von „Höllenradau“ und „Trillerpfeifen, dass einem die Ohren schmerzten“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung), einem „ohrenbetäubenden Spektakel“ (Frankfurter Rundschau), „infernalischem Lärm“ (Süddeutsche Zeitung) und einer „ohrenbetäubenden Lärmkulisse“ (Welt). Aber Helmut Kohl ließ sich nicht beeindrucken. Ich stand unmittelbar neben ihm und animierte ihn mit Handzeichen zum Weitersprechen. Er hielt eine über einstündige Rede. Die Veranstaltung wurde nicht abgebrochen. Wir waren begeistert. Kohl ließ sich nicht einschüchtern und

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Als Helmut Kohl im März 1986 auf der Bundesdelegiertenversammlung sprach (erstmalig ein Bundeskanzler beim RCDS!), hat er genau dies ermutigt und zugleich unterstrichen, „der RCDS bleibt der einzige Partner der CDU an den Hochschulen“. Das „liebe Freunde“ in seiner Anrede war ihm ernst und er sendete entsprechende Signale in die Partei. Wenige Wochen zuvor hatten wir eine Veranstaltung mit Heiner Geißler an meiner Uni Göttingen nur unter erheblichem Polizeischutz durchstehen können. Wer sich für die Sache der Union mit Buttersäure bewerfen ließ, hatte Helmut Kohls Solidarität. Und: Helmut Kohl hatte kein Problem mit offen ausgetragenen Meinungsverschiedenheiten, solange die Loyalitäten klar waren. Als Dank schenkten wir ihm einen roten Rucksack samt Wegzehrung für seine Waldspaziergänge mit Franz Josef Strauss.

In den Jahren 1985-1987 hatte ich das Glück, den Bundeskanzler und Parteivorsitzenden Helmut Kohl aus nächster Nähe zu erleben, auch weil er dafür gesorgt hatte, dass die RCDS-Bundesvorsitzenden jeweils in den CDU-Bundesvorstand kooptiert wurden. Ich rechnete gewiss nicht mit besonderer Aufmerksamkeit. Doch sollte ich schnell Überraschungen erleben: Schon als ich nach der Bundesdelegiertenversammlung sonntagnachts in der Bundesgeschäftsstelle in Bonn eintraf, fand ich ein Glückwunschtelegramm Helmut Kohls vor – zu viel der Ehre? Am 20. Februar 1985, eine Woche später, bei der CDU-Bundesvorstandssitzung in Saarbrücken begrüßte Helmut Kohl mich vor Eintritt in die Tagesordnung und würdigte die Arbeit des RCDS – entsprach das unserer Bedeutung? Die nächste Überraschung: In der anschließenden Beratung über eine CDU-Erklärung zu den Grünen – damals zwei Jahre im Bundestag – forderte Kohl mich auf, die Sicht des RCDS einzubringen. Linksgrüner Meinungsdruck war unsere tägliche Erfahrung und so waren wir sehr dafür, auf die Folgen eines solchen Politikverständnisses hinzuweisen. Dem Historiker Kohl gefiel das sichtbar. Aber er konnte auch anders: Als wir vor einem Termin mit Helmut Kohl per Pressemitteilung die Themen veröffentlichten, die wir mit ihm diskutieren wollten, wurde der Termin plötzlich abgesagt.

»Helmut Kohl hatte einen klaren politischen Kompass und den längeren Atem.« Mancher suggeriert heute, Kohls Lebenswerk habe eigentlich erst mit der Wiedervereinigung begonnen, als hätte es die ersten sieben Jahre seiner Kanzlerschaft mit all den Erfolgen und den scharfen Debatten – auch über die Deutschlandpolitik – nicht gegeben.

Bei aller Übereinstimmung in den Grundüberzeugungen: In den Politikfeldern, in denen der RCDS besonders engagiert war, hatten wir kritische Distanz zur Union. Seit dem Regierungswechsel 1982 wurde der RCDS für alles, was die CDU/CSU/FDP-Regierung hochschulpolitisch beschloss, in Haftung genommen und unsere Wahlergebnisse landeten im Keller. Auch die „allgemeinpolitischen“ Fragen der Energiepolitik, der Außen- und Sicherheitspolitik sowie der Menschenrechte waren Gegenstand heftigster Auseinandersetzungen.

Wolfgang Schäuble hat in seinem beeindruckenden Nachruf darauf hingewiesen: Der Weg über die Modernisierung der CDU zur Kanzlerschaft sowie die anschließenden innen- und außenpolitischen Weichenstellungen Kohls und seiner Mitstreiter in den 80er Jahren waren entscheidende Voraussetzungen dafür, dass die Chance der friedlichen Revolution in der DDR und zur Einheit in Freiheit entstand. Sein Kurs hatte Bestand und setzte sich durch. Helmut Kohl hatte einen klaren politischen Kompass und den längeren Atem, er hörte zu, schuf Vertrauen und forderte Loyalität; er stritt energisch für seine Überzeugungen, dachte in historischen Bezügen und verfolgte seine Ziele mit außerordentlicher Beharrlichkeit und Umsicht. Die Basis seines Erfolges verlor er nicht aus den Augen: Über 25 Jahre war Helmut Kohl der Pater Familiae der Unionsfamilie.

Der RCDS musste aus der Defensive und für alle diejenigen Studenten offen bleiben, die sich als Demokraten an der Hochschule engagieren wollten. Also wollten wir den RCDS stärker als unabhängigen Studentenverband mit CDU/CSU als Hauptansprechpartner herausstellen und wieder offensiver an den RCDS als Motor der Union anknüpfen - „die progressive Alternative zur reaktionären Linken“.

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Christian Schede

hatten wir mit zwei der zahlreichen ehemaligen RCDSler in Helmut Kohls Stäben im Kanzleramt und im Adenauerhaus, Stephan Eisel und Michael Roik, intensiv vorbereitet. Wir berichteten aus erster Hand von den überfüllten Hörsälen und Seminaren und der studentischen Wohnungsnot. Und wir schilderten die Versuche der politischen Linken, die an sich begründete Proteststimmung an den Hochschulen gezielt zur politischen Mobilisierung gegen „das System“ zu nutzen – ein „heißer (Hochschul-)Herbst 1989“ war in Vorbereitung. Helmut Kohl erwies sich nicht nur als guter Zuhörer mit ausgeprägtem Verständnis für die eigentliche Dimension dieser Auseinandersetzung: Anstelle Missstände zu beseitigen, war es das Ziel der linken Gruppen, die Forderungen nach verbesserten Rahmenbedingungen fürs Studium durch Streiks und den Kampf für die Entmilitarisierung und Feminisierung der Wissenschaften zu radikalisieren. Wir erlebten ihn hier auch als politischen Überzeugungstäter, der die Hochschulen nicht „links liegen lassen“ wollte.

Meine Erinnerungen an die Begegnungen mit Helmut Kohl fallen mit meiner Amtszeit als RCDS-Bundesvorsitzender vom März 1989 bis März 1990 zusammen. Sie sind geprägt von der politischen Wende in Deutschland und Europa: Dem Aufbruch in ein neues politisches Zeitalter, in dem auch für den RCDS die ideologischen Auseinandersetzungen an den Hochschulen und die politischen Nickeligkeiten des politischen Alltags der alten Bundesrepublik wieder von politischen Grundsatzfragen, der Suche nach Visionen und von höchstpersönlichen wie kollektiven Standortbestimmungen abgelöst wurden. Und am Ende stand mit der Aufnahme der ersten fünf neuen RCDS-Gruppen aus der (Noch-)DDR der RCDS-Bundesverband als erster gesamtdeutscher Verband in der Unionsfamilie – zwei Wochen vor der ersten freien Volkskammerwahl am 18. März 1990!

»Dass er seine politische Macht für diese Ziele einzusetzen wusste, bot nicht Wenigen Reibungsfläche.« In dieser Phase des Umbruchs habe ich Helmut Kohl als einen politischen Überzeugungstäter erlebt, für den politische Kärrnerarbeit im scheinbar Kleinen und politische Vision und Grundsatztreue im Großen immer zwei Seiten derselben Medaille waren. Dass er seine politische Macht für diese Ziele einzusetzen wusste, bot nicht wenigen Reibungsfläche. Auch uns im RCDS forderte er mehr als einmal zur öffentlichen Kritik an seinem innerparteilichen Führungsstil heraus. Dessen ungeachtet haben wir von ihm stets großartige politische Unterstützung erfahren. Auf seine Zusagen war Verlass, er verband Modernität mit Grundsatztreue und motivierte uns als junge Generation immer wieder, die politischen Geschicke selbst in die Hand zu nehmen und für unsere Ideen Mehrheiten zu schaffen.

Er suchte mit uns nach konkreten Möglichkeiten, wie der Bund trotz der Primärzuständigkeit der Länder greifbar zur Verbesserung der Situation an den Hochschulstandorten beitragen konnte. Der studentische Wohnungsbau wurde als Aktionsfeld, eine vom Bund initiierte Kofinanzierung mit den Ländern als Garant für einen möglichst hohen Wirkungsgrad identifiziert. Weil Helmut Kohl konkrete Ergebnisse solcher Zusammenkünfte immer sehr wichtig waren, hatte er gleich den frisch gebackenen Parlamentarischen Staatssekretär im Bundesbildungsministerium, Norbert Lammert, zu diesem Treffen hinzugezogen. Verabredet wurde ein zweites Bund-Länderprogramm für den studentischen Wohnungsbau, das bereits zum Herbst 1989 umgesetzt wurde. Zugleich versprach Helmut Kohl auch höchstpersönlich bei der Bevölkerung in den Hochschulstädten für die Anliegen der großen Mehrheit der studierwilligen Kommilitonen zu werben: Zum Wintersemester 1989/90 rief er als Bundeskanzler auf tausenden Plakaten die „lieben Mitbürgerinnen und Mitbürger“ in den Hochschulstandorten zur Vermietung an wohnungssuchende Studenten auf.

Gleich zu Beginn unserer Amtszeit wurden wir von Helmut Kohl zu einem Gedankenaustausch über die Lage an den deutschen Hochschulen nach dem Protest- und Streikwintersemester 1988/89 in den Bonner Kanzlerbungalow eingeladen. Das Treffen

Natürlich standen die Wendemonate ab dem Herbst 1989 unter ganz anderen Vorzeichen. Aber auch hier waren politische Visionen und Grundsatztreue ebenso wie die politische Kärrnerarbeit im scheinbar Kleinen der Schlüssel zu Helmut

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»Wir erlebten ihn hier auch als politischen Überzeugungstäter, der die Hochschulen nicht ›links liegen lassen‹ wollte.«

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sicher sein. Ob das noch in den Vor-Wendewochen die Aktionen zur Integration der Studenten aus der DDR war, die zum Wintersemester 1989/90 über Ungarn an die westdeutschen Hochschulen kamen, oder, nach dem Mauerfall, die Kontaktaufnahme mit den neu gewählten Studentenräten in der DDR und das „1. Freie (Deutsch-)Deutsche Studentenforum“ im Dezember in Berlin oder, ab Januar 1990, die Gründung neuer RCDS-Gruppen in der damaligen DDR – Helmut Kohl interessierte sich stets für die Stimmungslage in der jungen Generation.

Kohls politischen Erfolg – und das verbindende Element mit dem RCDS. Wir wussten aus unserer Zusammenarbeit mit den neuen Studentenräten an den DDR-Hochschulen, dass mit „Wir sind das Volk!“ bei weitem noch nicht alles gesagt war. Es galt, auf unterschiedlichen Ebenen Verständnis und Vertrauen für eine offene und solidarische Gesellschaft zu schaffen, um die an den universitären DDR-Kaderschmieden über Jahrzehnte gepflegten Vorurteile abzubauen. Dass Christdemokraten nicht reaktionär, sondern weltoffen und modern waren, gehörte zu den oft überraschenden Erkenntnissen unserer Kommilitonen aus Greifswald, Jena, Halle, Leipzig und Berlin. Und dass für uns deutsche Einheit und europäische Einigung zwei Seiten derselben Medaille waren, gehörte zu den zentralen Erfolgsfaktoren in den politischen Diskussionen über die Zukunft unseres Landes. Zu den bleibenden Erinnerungen aus den in diesen Wochen immer häufiger stattfindenden CDU-Bundesvorstandssitzungen gehört, wie Helmut Kohl die internationale Bühne stets mit der lokalen Ebene zu verbinden wusste. Nur wenn es gelang, auch die Menschen vor Ort abzuholen, würde die große Vision der deutschen und europäischen Einigung gelingen. Dabei bewies Kohl auch in diesen Wochen sein besonderes Faible für den RCDS: Für unsere Initiativen und Berichte von der Hochschulbasis „hüben wie drüben“ hatten wir bei ihm immer ein offenes Ohr und konnten uns seiner Unterstützung als Parteivorsitzender

In einer wegweisenden Diskussion im CDU-Bundesvorstand Anfang 1990 über die Eckpfeiler einer neuen Ordnung für Deutschland machte er sie sich zu eigen. Konkret ging es damals um die Frage nach der verbindlichen Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als östliche Grenze des wiedervereinten Deutschlands, die gerade in den Vertriebenenverbänden nicht unumstritten war. Eng abgestimmt mit dem JU-Vorsitzenden Hermann Gröhe plädierte ich für die verbindliche Anerkennung der Oder-Neiße-Linie in einem geeinten und erweiterten Europa – nur so war die junge Generation, nicht zuletzt in der DDR, für die Einheit Deutschlands und Europas zu gewinnen. Für Helmut Kohl war dieser Weg nicht nur eine Frage von Realitätssinn, sondern entsprang tiefster Überzeugung, wie man ein vereintes Europa für mehr als nur die nächste Generation schaffen konnte.

Prof. Dr. Mario Voigt MdL

Dr. Stephan Eisel

war von 1999 bis 2000 Bundesvorsitzender des RCDS. Er ist seit 2009 Mitglied des Thüringer Landtags und seit 2014 stellv. Landesvorsitzender der CDU Thüringen. Seit 2017 ist er Professor für Digitale Transformation und Politik an der Quadriga Hochschule Berlin. Er ist Herausgeber von CIVIS mit Sonde.

war von 1979 bis 1980 Bundesvorsitzender des RCDS. Von 1983 bis 1987 war Eisel zunächst Redenschreiber, später von 1987 bis 1991 schließlich stellv. Leiter des Kanzlerbüros von Helmut Kohl. Von 2007 bis 2009 war Eisel Mitglied des Dt. Bundestags. Er ist Beiratsmitglied von CIVIS mit Sonde.

Dr. Christoph Brand

Dr. Christian Schede

war von 1985 bis 1987 Bundesvorsitzender des RCDS. Der studierte Jurist ist seit 1994 als Investment Banker für Goldman Sachs tätig. Er ist seit 1987 Beiratsmitglied von CIVIS mit Sonde.

war von 1989 bis 1990 Bundesvorsitzender des RCDS. Seit 2015 ist er Managing Partner / Shareholder bei Greenberg Traurig Germany LLP. Schede ist Sprecher des Rings Christlich-Demokratischer Akademiker (RCDA)

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»Zu den bleibenden Erinnerungen aus den in diesen Wochen immer häufiger stattfindenden CDUBundesvorstandssitzungen gehört, wie Helmut Kohl die internationale Bühne stets mit der lokalen Ebene zu verbinden wusste.«

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Antonia Niecke im Portrait

Lieber Schatten von Anja Pfeffermann

warten, Streit. Sie streitet wirklich gerne, etwa auch für den Landesvorsitz der Jungen Union. Wenn du so ein Amt haben willst, dann musst du es dir schon holen, auf dem Silbertablett schenkt es dir keiner. Auch hier wieder: Wo andere geknickt in die Welt schauen, sagt sie, 74 Prozent Zustimmung für meinen Landesvorsitz? Das ist doch ein ehrliches Ergebnis!

Sonne oder Schatten? Antonia Niecke mag lieber Schatten. Sagt sie an einem sonnigen Sommertag mitten in Berlin. Wir sitzen – puh, Glück gehabt – im Schatten des Kolonnadengangs auf der Berliner Museumsinsel. Sonnentage sind in diesem Sommer eher rar. Trotzdem: Lieber Schatten. Antonia Niecke ist seit April Vorsitzende der Jungen Union in Hamburg. Und schnell ist klar: Sie gibt bestimmt nicht die gefälligen Antworten. Und schon gar nicht, nur weil das jemand von einem JU-Mädchen erwartet. Auch wenn man denken könnte, ach, die fährt doch sicher auf der Frauenschiene. (Pah, Frauenquote braucht meine Generation nicht!) Oder, herrje, die ist noch jung, die wird da auch noch dazulernen: Klar ist auf jeden Fall, Niecke hat Haltung, das spürt man. Sie meint das, was sie sagt.

Manchmal streitet aber auch Antonia nicht, zählt einfach still bis 20, regt sich nicht auf, springt nicht über jedes Stöckchen, sagt sie. Wann denn zum Beispiel? Sie denke auch gerne an Kunst. Wir sprechen über die Documenta in Kassel, ihr Lieblingsmuseum in Berlin, schnacken über Tropfstein-Kunstwerke in Hamburg. Mit großer Leidenschaft. Dabei ist auch das eigentlich ein Job für sie. Sie arbeitet nämlich für eine Kunststiftung. Hat deshalb Kulturpolitik im Blick, ist oft in Museen, schaut sich die Entwicklungen rund ums Humboldt-Forum im neu errichteten Berliner Stadtschloss genau an, geht gerne – na so ein Zufall! – in den Hamburger Bahnhof, ein Museum für moderne Kunst in der Hauptstadt, und spricht weiter über die Documenta in Kassel.

„Was bewegen“, zum Beispiel. Die 26-Jährige macht natürlich Kommunalpolitik, sitzt im Bezirksparlament in Altona, weil sie was bewegen will. Klar, sagen ja alle, die was mit Politik machen. Aber sie tut es: Sie bewegt, zum Beispiel die Gemüter, als sie eine Video-Kampagne der JU auf die Beine stellt. Damals war sie noch nicht Vorsitzende, sondern verantwortlich für die Öffentlichkeitsarbeit der Hamburger JU. Und posierte provokant mit Backstein in der Hand vor der Roten Flora im Schanzenviertel. Motto: Jeder Extremist ist Mist. Das war noch lange vor dem Hamburger G20-Gipfel. Eine andere Partei greift nun nach dem Gipfel Bilder aus dem Video auf, reißt sie aus dem Kontext, entstellt den Sinn. Und natürlich erwartet man das schon so von Antonia, auch wenn wir uns noch gar nicht so gut kennen: Für sie scheint das eher Ansporn zu sein, Schmähungen geht sie an, duckt sich nicht weg. Ey, legt Euch nicht mit Niecke an!

Achja, ein Studium gibt’s da auch noch: Molecular Life Sciences. Antonia forscht zu dreifach negativem Brustkrebs, will also auch mit Beruf etwas in der Welt bewegen, es geht um Tumore, Karzinome, Hormone. Zuvor hat sie eine Ausbildung zur Arzthelferin gemacht. Das war – so ist das manchmal bei Töchtern – dem Vater sehr wichtig, dass die Tochter etwas Anständiges und Bodenständiges lernt. Während man also nachdenkt, wie sie das alles in 24 Stunden unterbringt, fällt einem die nächste Frage ein: Tag oder Nacht? Zum ersten Mal ist Toni unentschieden. Macht aber nix. Sie zeigt ja sonst klare Kante!

Das bringt uns zur nächsten Frage: Harmonie oder Streit? Die Antwort lässt nicht lange auf sich

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02 — 2017

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Chefredakteur: Erik Bertram Geschäftsführer: Michael Lönne Konzeption & Art Direction: Jonas Meyer, jmvc.de Fotografie Interview: Steven Lüdtke, stevenluedtke.de Fotografie Portrait: Maximilian König, maximilian-koenig.com Illustrationen: Roland Brückner, bitteschoen.tv Redaktion: Barbara Ermes, Sebastian Hass, Anja Pfeffermann, Silvie Rohr und Carl-Philipp Sassenrath Bewegtbild: Marcel Schlegelmilch Herausgeber: Dorothee Bär, Ursula Männle, Arnold Vaatz, Mario Voigt, Matthias Wissmann und Jenovan Krishnan als Bundesvorsitzender des RCDS Beirat: Christoph Brand, Stephan Eisel, Matthias Graf von Kielmansegg, Jürgen Hardt, Johannes Laitenberger, Gottfried Ludewig, Fabian Magerl, Peter Radunski, Hans Reckers, Christian Schneller, Wulf Schönbohm, Axel Wallrabenstein und Johannes Zabel

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hler 2016 Quelle: Bund der Steuerza

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