CIVIS mit Sonde 2017/1

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01 — 2017

Dem deutschen Volke Von Verantwortung und Volkswillen

CIVIS & SONDE



CIVIS & SONDE



Po|pu|lis|mus (Politik) von Opportunismus geprägte, volksnahe, oft demagogische Politik, die das Ziel hat, durch Dramatisierung der politischen Lage die Gunst der Massen (im Hinblick auf Wahlen) zu gewinnen. aus dem Duden


CIVIS & SONDE 01 — 2017

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Liebe Leserin, lieber Leser,

die vor Ihnen liegende Ausgabe von „CIVIS mit Sonde“ befasst sich mit dem Thema Populismus. Dieser erfordert geradezu den „Zwang zur Auseinandersetzung“ (Wolfgang Schüssel), vor allem in einem Wahljahr wie diesem (Manfred Weber). Aber was hilft gegen die Wahrheitsverdreher von heute? Vielleicht würde eine Rückbesinnung auf unsere Grundwerte nicht schaden, womit man sicher auch der Europäischen Union neues Leben einhauchen könnte (Franziska Brantner). Dabei ist der Populismus-Begriff sehr vielschichtig (Dietmar Bartsch), es gibt nicht „den“ Populismus. Doch findet er häufig seine Ursache in sozioökonomischen Krisen (Volker Berghahn), über die diskutiert werden muss.

wir am Ende des Tages eigentlich so über seinen Sieg überrascht waren (Martin Röckert). Außerdem werfen wir einen kurzen Blick auf die aktuelle Klimapolitik der Bundesregierung, die Anlass zur Kritik bietet (Reinhard Stuth). Schließlich erinnern wir „in memoriam“ nochmal an den verstorbenen „Reformer und Streiter“ Peter Hintze (Christine Lieberknecht). Natürlich wäre auch dieses Heft ohne die vielen klugen Beiträge unserer Autorinnen und Autoren niemals zustande gekommen. Ihnen gebührt unser großer Dank! Wir wünschen Ihnen eine angeregte und spannende Lektüre der neuen Ausgabe!

Jene führen nicht zuletzt zu einem Stresstest für unsere Demokratie (Carsten Linnemann), welche in der Vergangenheit vor allem von Pegida herausgefordert wurde (Eckhard Jesse). Jedoch gibt es Mittel und Wege, wie man dem Populismus auch heute effektiv entgegentreten kann (Florian Hartleb). Entsprechende Literatur wurde für Sie exklusiv „angelesen“.

Herzlichst

Erik Bertram Chefredakteur

„Aus aktuellem Anlass“ schauen wir auch nochmal zurück auf die Saarland-Wahl (Florens Mayer) und auf die von Donald Trump in den Vereinigten Staaten von Amerika, und fragen uns, warum

PS: Besuchen Sie CIVIS mit Sonde doch auch mal in den sozialen Netzwerken auf Facebook und Twitter oder unter www.civis-mit-sonde.de!

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Im Gespräch 10

Wider die Populisten! CIVIS mit Sonde im Gespräch mit dem Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion, Volker Kauder

Standpunkte 28

Populismus – Vom Zwang zur Auseinandersetzung Wolfgang Schüssel mit einer gesellschaftspolitischen Analyse zu einem Phänomen

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2017 geht es um wahren Patriotismus! Manfred Weber über den Unterschied zwischen Patrioten und Nationalisten

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Gegen Populismus hilft auch die Besinnung auf Grundwerte Franziska Brantner und warum die EU sich wieder auf ihre Wurzeln besinnen sollte

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Was verstehen wir unter Populismus? Dietmar Bartsch über die Facetten eines viel genutzten Begriffs

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Neoliberalismus, Soziale Marktwirtschaft und gesellschaftliche Solidarität Volker Berghahn über die Ursachen der sozioökonomischen Krise

Aus aktuellem Anlass 54

#AKK bremst den #Schulzzug Florens Mayer mit einer Analyse zur Landtagswahl im Saarland

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Klima, Wirtschaft und Politik Reinhard Stuth über die Frage, wer sich langsamer wandelt

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Aus aktuellem Anlass 64

Warum wir überrascht waren Martin Röckert mit einem Rückblick auf die Wahl von Donald Trump

Angelesen 70

Stresstest für die Demokratie Carsten Linnemann über Schiedsrichter, Spielertrainer und Sahra Wagenknecht

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Fürchtet Euch nicht Florian Hartleb und zehn Tipps für den Umgang mit Populisten

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Populismus von Pegida Eckhard Jesse mit einer Buchvorstellung von Timo Heim

In Memoriam 84

Reformer – streitbar – leidenschaftlich Christine Lieberknecht mit einem Nachruf auf den verstorbenen Peter Hintze

Getroffen 90

»Kommunalpolitik ist sexy!« Denise Bittner im Portrait

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Abonnement, Impressum

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Wider die Populisten! CIVIS mit Sonde im Gespräch mit dem Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag, Volker Kauder, über die Bundestagswahl, den zunehmenden Populismus und die Zukunft Europas. Interview: Erik Bertram & Michael Lönne Fotografie: Maximilian König



CIVIS: Die AfD gerät zur Randnotiz, weil es in der Mitte der Gesellschaft wieder spannend wird. Schadet eine große Koalition der Demokratie?

ja auch. Deutschland hat diese Krise hervorragend gemeistert. Insofern kann man nicht sagen, dass große Koalitionen generell ein Problem sind. Die beiden Volksparteien CDU und SPD müssen nur darauf achten, dass immer auch ihr individuelles Profil erkennbar bleibt. Ich bin sehr zuversichtlich, dass das der Union im anstehenden Wahlkampf gelingen wird.

Kauder: Große Koalitionen sollten kein Dauerzustand sein. Der Parlamentarismus lebt ein Stück weit davon, dass einer Regierung eine starke Opposition gegenüber steht. Die Debatten sind dann oft interessanter. Aber es gibt eben Situatio­ ­nen, in denen sich die großen Parteien zu einer Koalition zusammenfinden müssen, weil das Wahlergebnis nichts anderes hergibt. Der Sache schadet es dann meist nicht. Und darauf kommt es am Ende an. Eine große Koalition kommt oft zu guten Ergebnissen.

CIVIS: Nach aktuellen Umfragen erscheinen erst einmal nur die große oder eine rot-rotgrüne Koalition möglich. Wie führt man einen Lagerwahlkampf gegen einen potenziellen Koalitionspartner? Kauder: Am Ende geht es darum, dass wir die Menschen von uns überzeugen müssen. Wir müssen den Bürgern schlicht vermitteln, dass sie besser damit fahren, wenn die Union auch in den nächsten Jahren regiert. Wir werden unsere Positionen deutlich machen und für eine Fortsetzung der erfolgreichen Politik von Angela Merkel werben. Erst in zweiter Linie werden wir uns mit den Forderungen anderer Parteien auseinandersetzen.

CIVIS: Ein Beispiel? Kauder: In der Finanz- und Wirtschaftskrise vor rund zehn Jahren war es sicher gut, dass Union und SPD in dieser Zeit gemeinsam regiert haben. Die Volksparteien zogen an einem Strang und haben den Menschen so das Vertrauen gegeben, dass die Krise bewältigt werden kann. Das geschah

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»Meist gibt es keine einfachen Antworten auf die Probleme in unserer heutigen Zeit.« mit einfachen Antworten an die Öffentlichkeit wendet, dem sollten die Bürger immer mit einer gewissen Skepsis gegenüber treten. Das wäre mein Rat. Meist gibt es nämlich keine einfachen Antworten auf die Probleme in unserer heutigen Zeit.Das ist keine Ausrede, dass man nicht verständlich sprechen kann. Es ist durchaus eine Kunst, auch komplexe Antworten auf schwierige Fragen so zu formulieren, dass die Menschen alle mitkommen. Die Fachsprache mit vielen Abkürzungen, die wir im Deutschen Bundestag teilweise verwenden, sollte dabei ein erstes Tabu sein. Wenn Politiker so sprechen, dass sie die Menschen wirklich verstehen können, haben es auch die Populisten schwerer.

Derzeit bleibt der SPD-Kandidat in seinen Aussagen weiter sehr vage. Er ist eher damit beschäftigt, Probleme in unserem Land zu überhöhen, ohne jedoch auf die wahren Herausforderungen einzugehen, vor denen Deutschland steht. Natürlich werden wir auch thematisieren, dass Rot-RotGrün keine vernünftige Alternative sein kann. Die Bürger wollen auch in der großen Mehrheit nicht, dass die Sozialisten von der Linkspartei an einer Bundesregierung beteiligt werden. Sie spüren, dass das Deutschland schaden, ja dass Deutschland dann ein anderes Land würde – weil die Linkspartei die EU in Frage stellt, weil sie aus der NATO will, weil sie einfach die Axt an die Wirtschaftskraft Deutschlands legt. Das werden wir den Bürgern in aller Ruhe darlegen. CIVIS: Wenn man unter „Populismus“ das Geben „einfacher Antworten“ versteht, sollte dann nicht jeder Politiker auch in gewissem Maße Populist sein. Wie schafft man diesen Spagat? Auf der einen Seite also die Menschen mit simplen Antworten erreichen, andererseits aber auch nicht zu sehr polarisieren? Kauder: Ein Politiker muss in einer Demokratie immer so reden, dass ihn die Menschen verstehen. Die Bürger sind der Souverän. Und der Souverän muss verstehen können, was die Politiker vorhaben und tun. Es ist in jedem Staatsrechtslehrbuch zu lesen: Politiker und Bevölkerung müssen in ständiger Rückkoppelung stehen. Absolut richtig! Das ist ein Wesenselement der Demokratie. Das heißt aber nicht, dass Politiker Probleme einerseits vereinfachen oder andererseits überzeichnen dürfen, nur um einfache Antworten geben zu können. Genau das wäre blanker Populismus. Wer sich in unserer komplizierten Zeit

CIVIS: Wie bekommen die Politiker das hin? Kauder: Da muss jeder an sich selbst arbeiten. Ich glaube, es hilft sehr, im Bundestag auch mal frei zu reden, und nicht nur alles vom Rede­ manuskript abzulesen. Man tritt ja nicht bei einer Lesung auf, sondern soll eine Rede halten. Das ist die Aufgabe!

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Grundsätzlich sollten wir mehr versuchen, im Bundestag auch wirklich zu debattieren. Das bedeutet, auf den Vorredner und auch mal auf einen Zwischenruf einzugehen. Das würde viele Sitzungen interessanter machen. CIVIS: Auf Populisten wird ja oft geschimpft. Jetzt aber mal ehrlich: Welche legitimen politischen Ziele verfolgen Populisten möglicherweise? Kauder: Natürlich ist Zuspitzung auch in der Politik erlaubt. Sogar in der akademischen Debatte macht das manchmal Sinn. Durch eine Zuspitzung kann man einen Sachverhalt oft klarer umreißen. Ich persönlich schaue mir immer an, was einer sagt, und dann entscheide ich, ob das Unsinn ist oder nicht. Deshalb kann es natürlich auch bei Populisten Dinge geben, die richtig sind. Allerdings kann ich bei Pegida, AfD und der Linkspartei nicht viel Richtiges erkennen.

»Europa ist auch eine Werteund Schicksalsgemeinschaft und nicht nur eine Erlebniswelt.« CIVIS: Welcher Natur müssen Themen sein, damit sie „geeignet“ sind, von Populisten besetzt zu werden? Oder anders gefragt: Gibt es ein bestimmtes Muster hinter Themen wie AntiIslam, Anti-Euro, etc.? Kauder: Es gibt eine gewisse Sehnsucht nach nationalen Lösungen und nach Abschottung vor dem Fremden. Das ist überall auf der Welt zu beobachten. Nicht wenige Menschen denken, dass es besser wäre, wenn der Nationalstaat wieder die Dinge stärker regelt und man nicht so abhängig ist von Entscheidungen, die dem Land scheinbar von außen auferlegt werden. Das ist in gewissem Maße nachvollziehbar. Natürlich ist es schwieriger, wirksame Lösungen unter Staaten zu vereinbaren als nationale Regelungen zu beschließen. Aber in einer Welt, wo alle Länder mehr oder weniger voneinander abhängig sind, bleibt gar nichts anderes übrig, als internationale Regeln zu schaffen. Das war doch ein Grund für die Finanzkrise. Die Finanzwelt war viel zu wenig reguliert, weil sich die Staaten bei der Regulierung der Banken nicht abgesprochen

hatten und jeder seinen Finanzplatz schützen wollte. Letztlich mussten die Steuerzahler in vielen Ländern die Zeche zahlen. Insbesondere wir Europäer fahren in Europa unter dem Strich eindeutig besser, wenn wir versuchen, die Probleme gemeinsam zu lösen. CIVIS: Aber Europa ist doch sicher in keinem guten Zustand… Kauder: Europa ist derzeit leider ein zu leichtes Ziel für Populisten aller Couleur, weil es sich nicht auf die wesentlichen Aufgaben konzentriert. Europa muss sich mehr auf die Dinge fokussieren, die jedes einzelne Mitgliedsland nicht alleine regeln kann. Das würde dem Ansehen der EU helfen. Aus der Festlegung von Vogelschutzgebieten sollte sich die EU-Kommission raushalten.

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Macht sie aber nicht. Das ist weit weg von der ursprünglichen europäischen Idee. Stattdessen sollte die EU auf Fragen wie die Sicherung der Außengrenzen, die Sicherung der weltweiten Handelsfreiheit oder große gemeinsame Forschungsprojekte ihren Schwerpunkt legen. Und das, was die Menschen am meisten überzeugt und natürlich auch zwingend notwendig ist, ist, wenn diese Aufgaben auch noch erfolgreich bewältigt werden – wenn es also Resultate gibt. Das ist das A und O. Bei der Sicherung der Außengrenzen kommen wir zum Beispiel langsam voran. Am Ende muss aber auf dem Flughafen von Sofia oder Athen die Einreisekontrolle genauso effektiv sein wie in Frankfurt oder Paris.

eigentlich zuletzt eher negative Schlagzeilen gemacht hat? Kauder: Über die offenbar wachsende Zu­ stimmung zu Europa bin ich sehr erfreut. Gerade die junge Generation sollte sich hier noch mehr zu Wort melden. Sie profitiert doch unheimlich stark von unserem gemeinsamen Europa. Es ist doch toll, was für Möglichkeiten jungen Studenten heute offen stehen, einmal für eine Zeit im Ausland zu verbringen. Das muss ver­ teidigt werden gegen diese Nationalisten in aller Welt und in Europa. Das sind am Ende Kleingeister. Europa ist jedoch auch eine Werte- und Schicksals­ gemeinschaft und nicht nur eine Erlebniswelt. Das ist gerade meiner Generation sehr wichtig, die noch durch Krieg und Dikta­­tur geprägt ist.

CIVIS: Europa erlebt aber derzeit auch eine Renaissance. Überrascht Sie das, weil die EU

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»Die Weimarer Republik ist nicht an zu vielen Nationalsozialisten zugrunde gegangen, sondern an zu wenig aufrichtigen Demokraten.«

Ein zentrales Thema ist für mich die Freiheit. „Der Mensch ist zur Freiheit berufen“, heißt es im Galaterbrief im Neuen Testament. Diese Freiheit muss verteidigt werden, gerade weil überall auf der Welt die Freiheit in Gefahr ist. Schauen Sie nach Russland oder in die Türkei.

CIVIS: Der Begriff „Lügenpresse“ ist zum geflügelten Wort geworden. Viele Medien stehen unter wirtschaftlichem Druck und lassen sich von Auflage- und Klickzahlen treiben. Ist das ein Nährboden von Populismus? Welche Verantwortung sehen Sie bei den Medienhäusern?

CIVIS: Viele Menschen sind von einer diffusen Verunsicherung getrieben. Dabei geht es uns in der Breite der Gesellschaft ökonomisch sehr gut. Deutschland ist der große Globalisierungsgewinner. Worauf führen Sie diese Verzerrung in der gefühlten Wirklichkeit zurück?

Kauder: Eine unabhängige Presse ist Kernbestandteil einer Demokratie. Die Medien haben dabei auch eine dienende Funktion. Eine ihrer ersten Aufgaben ist es, Informationen zu prüfen. Ich finde, dass die Medien in Deutschland gerade auf diesem Gebiet eine gute Arbeit leisten. Der Begriff der „Lügenpresse“ erinnert mich aber fatal an die Zeit der Weimarer Republik. Da haben die Nationalsozialisten von der „Systempresse“ gesprochen, um sie verächtlich zu machen und sie damit von den Bürgern zu entfernen. Die Weimarer Republik ist übrigens nicht an zu vielen Nationalsozialisten zugrunde gegangen, sondern an zu wenig aufrichtigen Demokraten. Deshalb sind wir aufgefordert, uns jeden Tag für die Demokratie einzusetzen. Was müssen Medienhäuser machen? Sie müssen vor allem qualifizierte junge Journalisten in Arbeit und Brot bringen. Unabhängige Journalisten, die „fake news“ auch als solche entlarven können, die recherchieren und auch einmal in der Lage sind, sich von vermeintlichen Trends abzukoppeln.

Kauder: Viele Menschen sind vor allem verunsichert, weil die Lage in der Welt in letzter Zeit sehr unübersichtlich geworden ist. Alte Ordnungen verlieren an Bedeutung. Neue Machtstrukturen bilden sich. Die Bürger sehen grässliche Kriege in Syrien und in der Ukraine, einen aus der Zeit gefallenen türkischen Präsidenten und einen irritierenden US-Präsidenten Donald Trump. In genau so einer Situation braucht es mehr denn je Orientierung. Und die müssen wir den Bürgerinnen und Bürgern geben. Angela Merkel macht das. Sie ist die Politikerin auf der Welt mit dem höchsten Ansehen. Der SPD-Kandidat hat zu solchen Themen bisher noch kein Wort verloren.

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»Als der Internet-Hype losging, habe ich immer gehört: Freiheit im Netz! Jetzt hat sich das Blatt etwas gewandelt.«

CIVIS: Sie haben von einer „Verwilderung der politischen Kultur“ gesprochen und insbesondere auch die sozialen Netzwerke kritisiert. Dort sind Phänomene wie „hate speech“ und „fake news“ zu beobachten. Welche Verantwortung zum Handeln sehen sie bei den sozialen Netzwerken?

auch von Betrug im Netz. Ich sage deshalb deutlich: Die sozialen Netzwerke müssen endlich dafür sorgen, dass so etwas auf ihren Plattformen nicht mehr massenhaft stattfinden kann. Es kann nicht sein, dass ein Milliardengeschäft gemacht wird, ohne dass die Unternehmen ihrer Verantwortung gerecht werden. Deshalb werden wir noch bis Ende Juni die Pflichten für die Betreiber der Plattformen konkretisieren, um die Persönlichkeitsrechte besser zu schützen. Der Bundesjustizminister hat hier allerdings lange gezögert. Die EU könnte uns noch einen Strich durch die Rechnung machen, weil die Fristen sehr knapp geworden sind.

Kauder: Als der Internet-Hype so richtig losging, habe ich immer gehört: Freiheit im Netz! Keiner durfte die grenzenlose Freiheit im Netz kritisieren. Jetzt hat sich das Blatt etwas gewandelt.

CIVIS: Trägt nicht auch die omnipräsente Debatte zur Digitalisierung und Automatisierung ebenfalls zur Verunsicherung der Menschen bei? Führen wir die Debatte über die Digitalisierung offensiv genug? Kauder: Noch nicht genug, sicher. Wir sprechen diese Themen immer wieder an. Noch hören viele Bürger nicht genau hin. Andere verdrängen es fast, weil sie Sorgen haben, die Digitalisierung könnte ihre Arbeitsplätze kosten. Bisher haben wir in Deutschland aber das Gegenteil beobachtet: Es wurden neue Arbeitsplätze geschaffen. Man muss den Sorgen vor der Digitalisierung mit einer konsequenten Bildungspolitik für lebenslanges Lernen begegnen, die die Menschen in die neue Zeit begleitet. Es ist doch eine erfreuliche

Selbst die Netzaktivisten weisen zunehmend auf die besorgniserregenden Entwicklungen hin: Die Zunahme von Beleidigungen und Lügen, aber

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Kauder: Wir müssen diese Wertegemeinschaft pflegen. Wir dürfen es nicht zulassen, dass die Lehren aus der Vergangenheit über Bord geworfen werden, denn darauf fußt diese Wertegemeinschaft. Der neue US-Präsident scheint sich dessen nicht so bewusst zu sein. Wir werden ihn und seine Leute aber daran erinnern und nicht alle in seiner Regierung denken so wie er. Ein enges transatlantisches Verhältnis bleibt Kern unserer Außenpolitik. Wir dürfen das nicht an einzelnen Personen festmachen. Es gab eine Zeit vor Trump, und es wird eine Zeit nach Trump geben. Im Übrigen: Themen wie Freiheit und Demokratie sind in unseren Gesellschaften fest verankert. Zum Glück auch darüber hinaus! Ich sage deshalb voraus: Das, was Erdoğan gerade in der Türkei herbeiführen will und Putin schon länger praktiziert, wird langfristig nicht von Erfolg gekrönt sein. Der Drang des Menschen, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen, der Drang nach Freiheit, ist ungemein groß. Stärker als so mancher Autokrat das in seinen Machtphantasien meint.

Entwicklung, dass vor allem die harte körperliche Arbeit immer mehr von Robotern erledigt wird. Außerdem würde ich das Thema nicht überbewerten. Es wird auch in Zukunft noch Menschen geben, die zum Beispiel Häuser bauen. Zu glauben, dass es in Zukunft nur noch Nerds geben wird, die am Computer sitzen und die Welt digital steuern, halte ich für übertrieben.

»Zu glauben, dass es in Zukunft nur noch Nerds geben wird, die am Computer die Welt digital steuern, halte ich für übertrieben.« CIVIS: Der Westen ist derzeit auf Schlingerkurs und scheint im Dauerkrisenmodus. Sind Sorgen um die Gesundheit der westlichen Wertegemeinschaft berechtigt?

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Volker Kauder wurde erstmals 1990 für den Wahlkreis Rottweil-Tuttlingen in den Deutschen Bundestag gewählt. Dort ist er seit 2005 Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Zuvor war er Generalsekretär der CDU.

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»Europa kann nicht nur eine Sache des Kopfes, sondern muss auch eine Sache des Herzens sein.«

CIVIS: Gerade jetzt wäre doch die Zeit für die Europäische Union, Führung zu übernehmen. Zu beobachten ist jedoch eher Apathie. Wie können wir dem europäischen Projekt neues Leben einhauchen?

missachtet wird, herrschen sehr oft Krieg und Unterdrückung. Wir brauchen auch an den Hochschulen mehr Einsatz für Europa und seine Werte. Wir brauchen junge Menschen, die dies zu ihrer eigenen Sache machen. Dabei könnten die auch ruhig mal sagen: Wenn es die Alten nicht bringen, dann müssen wir das machen! Das würde mich nicht stören. Hauptsache, es passiert etwas.

Kauder: Wir sollten mehr stolz sein auf das Erreichte. Europa ist ein Kontinent des Friedens! Was für ein Glück! Wir sollten uns auf unsere gemeinsamen Werte fokussieren und diese nach außen vertreten. Europa ist ein Hort der Freiheit auf dieser Welt. Wir sollten uns dafür einsetzen, dass es andere Regionen uns gleich tun.

CIVIS: Jeden Sonntag versammeln sich derzeit viele Menschen unter dem Banner der Initiative „Pulse of Europe“, um ein Zeichen für Europa zu setzen. Ist die Schweigespirale durchbrochen? Kauder: Das ist eine tolle Sache. Auch in meiner Heimatstadt gibt es eine Veranstaltung „10 Minuten für Europa“. Jede Woche spricht da jemand an einem festen Platz im Freien. Das ist eine prima Form, wie sich Menschen gegenseitig für Europa motivieren können. Das gehört auch zur Politik: Sich begeistern zu können und dann bei anderen ebenfalls Leidenschaft zu wecken. Europa kann nicht nur eine Sache des Kopfes sein, sondern muss auch eine Sache des Herzens sein. Und wenn man leidenschaftlich liebt, ist man auch bereit, Fehler hinzunehmen.

»Wir brauchen junge Menschen, die Europa zu ihrer eigenen Sache machen.« Dabei ist mir die Religionsfreiheit besonders wichtig. Sie ist immer mehr in Gefahr und Christen werden übrigens am meisten verfolgt. Dabei müssen wir einen Zusammenhang erkennen: Religionsfreiheit ist immer mehr die Voraussetzung für Frieden. Wir können es überall auf der Welt beobachten: Dort, wo die Religionsfreiheit

CIVIS: Herzlichen Dank, Herr Kauder!

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Wolfgang SchĂźssel

Populismus Vom Zwang zur Auseinandersetzung

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Ich bin 1945 geboren. Etwas über zwei Milliarden Menschen lebten damals auf der Welt. Europa lag in Trümmern, Hunger, Armut und Krankheit überall. Unsere durchschnittliche Lebenserwartung lag bei etwa 60, weltweit unter 50 Jahren. Seither hat sich die Wirtschaftskraft Europas verfünfzigfacht, die weltweite Armut sank in den letzten 25 Jahren von 47 auf 14 Prozent. Der Welthandel explodierte von 60 Mrd. US-Dollar im Jahre 1948 auf heute 16000 Mrd. US-Dollar. All dies auch dank der viel geschmähten Globalisierung!

unserer Zeit? Woher die plötzliche Sehnsucht nach dem Schwert, das den gordischen Knoten der komplexen Probleme durchschlägt, dem "starken Mann", der sich für die Entrechteten, Zurückgelassenen, Enttäuschten einsetzt? Denken wir an Trumps Wahlsieg in den USA, Syriza in Griechenland, UKIPs Brexit-Erfolg, die Parteistärke von Front National, Wilders, Podemos, Cinque Stelle, True Fins, FPÖ, AfD usw. Ist dieser Cäsarismus das Zeichen einer kulturellen Spätzeit? Brot und Spiele, Unterhaltung und Hoffnung...

In scharfem Kontrast dazu einige Entwicklungen: Laut Freedom House geht in 72 Ländern der Erde die Qualität von Demokratie, Beteiligung und Freiheit zurück. Das Vertrauen in die Institutionen bröckelt. Der amerikanische Kongress kommt nur mehr auf eine Zustimmungsrate von 13 Prozent. Die Mitgliedszahlen in politischen Parteien gehen überall zurück. Das Misstrauen gegen Medien wächst: bei Flüchtlingsfragen zweifeln 73 Prozent, nur 23 Prozent halten die Berichte für glaubwürdig. Zu Russland und Putin haben 59 Prozent Zweifel. Hinsichtlich Terrorgefahr in Deutschland misstrauen 57 Prozent den Medien, bei Erdoğan 44 Prozent. Was Medien über die "Situation in der Region" berichten, halten allerdings 74 Prozent für glaubwürdig.

In Österreich wurde im Herbst eine besorgnis­ erregende Untersuchung über den "starken Führer, der sich um das Parlament nicht scheren muss“ veröffentlicht. 2007 waren 71 Prozent der Befragten NICHT damit einverstanden, heute nur mehr 36 Prozent – wieder so ein Weckruf! Was sind die Ursachen dieser Entwicklung? Es gibt einige mögliche Erklärungen. Schon Adam Smith hat die These aufgestellt, dass die Zufriedenheit der Menschen stark mit der wirtschaftlichen Entwicklung korreliert. "Die Unzufriedenheit steigt in Phasen der Stagnation und wird miserabel, wenn es zu einer Schrumpfung kommt." Der Ökonom Benjamin Friedman prophezeite in seinem Buch "Moral consequences of economic growth" eine Demokratie ohne Demokraten, wenn es nicht gelingt, zum Wachstum – vor allem im persönlichen Einkommen, das seit Jahren stagniert – zurückzukehren. Es mag auch die Unsitte mit eine Rolle spielen, dass in der Politik oft mehr versprochen als geliefert wird. "Overpromising and underdelivering" ist aber der Humus für enttäuschte Wähler.

Eine US-Untersuchung hielt fest, dass die vor dem 2. Weltkrieg Geborenen es für wichtig halten, in einem Land zu leben, das demokratisch regiert wird – nach 1980 Geborene hingegen nur mehr zu 30 Prozent. Ein Warnzeichen! Sicherlich gab es auch früher Unterschiede im politischen Engagement der Jungen und Älteren – 1995 waren die Älteren nur um 10 Prozent interessierter, heute um 26 Prozent. Desinteresse kann aber fatale Folgen haben – siehe Brexit.

Was verbindet Populisten? Gibt es überhaupt Gemeinsamkeiten zwischen diesen recht unterschiedlichen Gruppen von ganz links bis ultrarechts? Es ist einmal der Hass auf "die oben", die Eliten, das System. Dazu die teils altbekannten, teils neuen Feindbilder: Migranten und Flüchtlinge, Plutokraten und Konzerne, Globalisierung und Freihandel, supranationale Institutionen wie EU und UNO. Alles dient der Bewahrung der Identität der Nation, geschieht im Namen des Volkes, "der hart arbeitenden Menschen", der Abgehängten, der sozialen Gerechtigkeit. Manche Argumente und kritische Fragen sind übrigens völlig berechtigt, die angebotenen Lösungen jedoch meist kurzschlüssig, wenn nicht sogar kontraproduktiv.

»Ist dieser Cäsarismus das Zeichen einer kulturellen Spätzeit?« Am Höhepunkt der Flüchtlingswelle begrüßten 46 Prozent der Befragten die Wahlerfolge der AfD, obwohl sie ausdrücklich nicht mit deren Inhalten und Programm übereinstimmten. (FAZ 20.4.2016) Woher kommt der große Gegensatz der objektiven Fakten mit der kritischen Stimmungslage

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noch tiefer gehen und uns fragen, wie weit die von den Parteien der Mitte und der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung hochgehaltene Tradition der repräsentativen parlamentarischen Demokratie noch trägt, ja von den Parteien selbst noch ernst genommen wird?

Wie also umgehen mit diesem Thema? Populismus ist ja keineswegs ein neues Phänomen. Lesen wir die Wahlkampf-Tipps vor 2000 Jahren für Cicero – "ich versichere Dir, dass es niemanden gibt, den du nicht... mit passenden Gefälligkeiten auf deine Seite ziehen kannst... Schmeichle den Wählern ungeniert. Versprich allen alles... die Leute lassen sich lieber eine nette Lüge auftischen als mit einer Ablehnung abspeisen".

Da ist einmal die überall spürbare Tendenz zu einer dramatischen Personalisierung. Das Programm zählt kaum, die Partei wenig, allein die Person des/der Spitzenkandidaten(-in) steht im Vordergrund. Auf sie werden messianische Erwartungen projiziert, vergangene Leistungen und Erfolge bzw. frühere Fehler und Skandale weggeräumt.

Oder Machiavelli um 1500: "einem Fürsten tut es nicht not, alle Eigenschaften zu haben, wohl aber, dass er scheine, sie zu haben. Ja, ich wage zu sagen, dass, wenn er sie hat und immer befolgt, sie ihm schädlich sind, und wenn er sie scheint zu haben, nützlich. Zu beherzigen bleibt: dass ein Fürst... nicht alle Dinge befolgen kann, deretwegen man den Menschen für gut hält – indem er, um den Staat zu behaupten, häufig genötigt ist, gegen die Treue, gegen die Liebe, die Menschlichkeit, die Religion zu wirken. Deshalb der Geist beständig bereit sich zu wenden sein muss, nachdem es die Stürme und Wechsel des Glücks ihm gebieten."

"Disruption" ist das neue Zauberwort der Spindoktoren. Längerfristige Ziele, gar Visionen – störend! Mühsame Programmarbeit – brauchen wir nicht! Der Tweet heute Abend, die Schlagzeile morgen, die Umfrage nächste Woche, die Summe der Follower in den Netzen – das allein zählt! Innerparteiliche Mitbestimmung, Motivieren der Funktionäre, persönliche Information und Einbindung der Mitglieder – zeitraubend und heikel, könnten doch interne Bruchlinien und Meinungsverschiedenheiten öffentlich werden!

Gracian vor 400 Jahren: "gegen den Strom schwimmen wollen vermag keineswegs den Irrthum zu zerstören, sehr wohl aber, einen in Gefahr zu bringen" . Klingt recht ver-traut und modern wie aus den Drehbüchern der heutigen Spindoktoren wie Bannon, Silberstein, Greenberg...

Und so werden auch unsere Volksparteien von diesem Mainstream beeinflusst und verändert. Auch wir werden glatter, kühler, hierarchischer, abgeschlossener, vorsichtiger, öffentlichkeitszentrierter. Vielleicht ist das heute sogar in gewisser Weise notwendig.

»Kann moderne Politik überhaupt ohne Populismus auskommen?«

Zu kurz kommen darf jedoch nicht die andere Seite des Politischen: Das heiße Herz unserer Überzeugung, das Einstehen für Grundsätze – sei es gelegen oder unpopulär. Der Aufbau von Vertrauen in unserer Gesellschaft. Der unbeirrbare Sinn für Staat und Gemeinwohl. Das hartnäckige Ringen um sachliche Lösungen für vielschichtige Probleme. Das Aufspannen der thematischen Radarschirme weit über die Landesgrenzen hinaus ins Weltdorf. Der Blick auf diejenigen, deren Stimme nicht gehört wird im täglichen Wettbewerb der Marktschreierei. Die Neugier auf das Kommende, auch wenn dies scheinbar noch niemanden interessiert. Die Achtsamkeit auf die nachhaltige Perspektive, manchmal im Widerspruch zu unmittelbaren Vorteilen in der Gegenwart (Pensionen!). Persönliche Integrität und das konsequente Hintanstellen allfälliger persönlicher Vorteile. Die Suche und Förderung

Kann moderne Politik überhaupt ohne ein bisschen oder gelegentlichen Populismus auskommen? Waren nicht Vranitzkys Pensionistenbrief vor der Wahl 1995, Kreiskys gemurmelte Sätze "ein paar Milliarden mehr Schulden bereiten mir weniger schlaflose Nächte als ein paar tausend Arbeitslose", oder nun Schulz' Absage an Schröders Agenda 2010 Zeichen, dass selbst moderate Politik nicht frei von populistischen Anwandlungen ist, wenn es um die Stimmenmaximierung bei Wahlen geht? Tritt nicht auch eine neue gefährliche Kategorie in Erscheinung – der „centrist populist“, wie ihn Wolfgang Münchau in der Financial Times geisselte: Berlusconi, Renzi und anderen (FT, 27.2.2017). Und müssen wir nicht ehrlicherweise

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»Es mag die Unsitte eine Rolle spielen, dass in der Politik oft mehr versprochen als geliefert wird.« der besten Talente ohne Rücksicht auf bequeme Seilschaften oder parteipolitische Klüngeleien. Und nicht zuletzt die Bereitschaft zu kämpfen – der wichtigste Rat meiner Mitarbeiter war: "you have to be seen fighting". Wie also in der Auseinandersetzung mit den Populisten bestehen? Die Palette möglicher Strategien reicht von Totschweigen, Verteufeln, Abwerten, Ausgrenzen bis zur Übernahme einzelner Themen und Vorschläge (Migration) und der Einbindung in Regierungsverantwortung auf regionaler oder nationaler Ebene. Letzteres hat in Finnland etwa dazu geführt, dass die "Wahren Finnen" von 20 auf acht Prozent fielen; in meiner Regierungszeit sank die FPÖ von 27 auf 10 Prozent. Wieder in Opposition erholte sie sich rasch auf 30 Prozent. Das heißt, die verschiedenen Taktiken und Strategien haben zwar da und dort Erfolg, sind aber kein allgemein gültiges oder dauerhaftes Rezept. Demokratie ist immer gefährdet – schon Platon, Aristoteles, Cicero, aber auch Popper und Lippmann wussten dies. Aber war es in den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts oder im Kalten Krieg leichter, Demokrat zu sein als heute? Demokratie braucht Kompromisse. Partei kommt ja vom lateinischen "pars" = Teil. Populisten hingegen beanspruchen die Alleinvertretung – "wir sind das Volk". Kompromisse zu finden und den Wählern zu erklären ist eine große Aufgabe. Single Issue-Parteien tun sich da sicher leichter als Volksparteien, die das ganze bonum commune für Staat und Gesellschaft im Blick haben müssen. Demokratie braucht auch das Drama. Wenn es gleichgültig ist, wen man wählt, weil am Ende ohnedies immer das gleiche Regierungsbündnis herauskommt, dann darf man sich nicht wundern, wenn Populisten und Neinsager zulegen.

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zur Auseinandersetzung. Etwa mit dem Zynismus, mit dem Populisten oft ihre eigenen Positionen ändern – die FPÖ war z.B. früher Vorreiter der europäischen Integration; als sie im Zuge der österreichischen Beitrittsverhandlungen die Marktlücke von Skepsis bis Ablehnung bei 30 Prozent der Bevölkerung erkannte, mutierte sie blitzartig zu EU-Gegnern.

Die Medien machen es sich zu einfach, wenn sie nur zwei Beschreibungen in der politischen Wetterlage kennen – Streit oder Kuschelkurs. Demokratie braucht einfach die Auseinandersetzung, das Ringen um den richtigen Kurs. Demokratie braucht Öffentlichkeit wie die Luft zum Atmen. Und diese Öffentlichkeit ist der Ort, an dem die gewählten Volksvertreter an Sachlösungen arbeiten: das Parlament. Es ist schade, dass die Exekutive den Abgeordneten viel zu wenig Raum zur Entscheidung gibt. Natürlich ist es für Regierungen vordergründig bequemer, einfach „durchzuregieren“ statt sich mit wahrhaft unabhängigen Volksvertretern auseinanderzusetzen. Das trifft sich mit der modernen Tendenz zur "aristokratischen" Entscheidung, in der viele Themen ohnehin dem politischen Diskurs und der demokratischen Mitbestimmung entzogen sind. Nehmen wir als Beispiel die Geldpolitik der EZB, die Nullzinsfolgen für Vermögensbildung und Altersvorsorge; die inhaltlich gelegentlich überbordenden rechtssetzenden Entscheidungen des EUGH; Basel II und III für die Banken oder die Rolle der Troika für Schuldnerstaaten. Viele Bereiche unseres Alltags sind so längst der nationalen, manchmal sogar der europäischen demokratischen Willensbildung entzogen. Und das erzeugt bei manchen Bürgern berechtigtes Unbehagen.

Also Haltung zeigen – schon Augustinus wusste "ein Staat ohne das Ferment gelebter Bergpredigt läuft Gefahr, zur Räuberbande zu verkommen." Populisten werden nicht einfach von allein verschwinden. Also den Fehdehandschuh aufnehmen – Ja zur kämpferischen, lustvollen, originellen und inhaltlichen Konfrontation auf Straßen, bei Versammlungen und im TV-Studio! Nicht vergessen, es heißt Wahlkampf und nicht Wahlschlaf. Nicht Herkunftler, sondern Hinkunftler sollten wir sein – vergangene Leistungen zählen wenig. Wähler sind an der Zukunft interessiert. Überlassen wir die sozialen Netze nicht Populisten, Fake News Produzenten oder Hasspredigern – sie können ebenso Positives bewirken! Es ist hoch an der Zeit, wieder die Soziale Marktwirtschaft in Erinnerung zu rufen. Die einzige Alternative zum "Weg in die Knechtschaft" (Hayek) ist eben die Ordnung der Freiheit. Nicht der benevolente Staat ist der bessere Begleiter im "pursuit of happiness" der amerikanischen Verfassung.

Besonders unverständlich ist in diesem Zusammenhang das Bestreben der britischen Regierung, dem Parlament möglichst wenig Mitwirkung an der wohl folgenschwersten Entscheidung der nächsten Jahrzehnte zuzugestehen, dem Austritt aus der Europäischen Union.

Luthers Wort "Vertrauen ist das kostbarste Geschenk, das wir einander machen können" ist in Gefahr. Nur ein Drittel der Befragten traut den EU Institutionen. Auch nationale Regierungen haben schwer zu kämpfen. Außer in Deutschland und Österreich sind alle Regierungen seit der Finanzkrise abgewählt worden.

»Das beste Mittel gegen Populismus ist gute Politik.«

Robert Schuman meinte einmal, in der Politik bekämpften sich immer zwei große Kräfte – die Dynamik der Angst und die Dynamik der Hoffnung. Am Ende der langen amerikanischen Wahlnacht beendete der prominente Night-Talker John Oliver seine Sendung mit der Europa­ -Hymne als Symbol für den letzten Hort der demokratischen Vernunft. Also hoffen wir, dass unsere Volksparteien für eben diese Hoffnung stehen und kämpfen!

Das beste Mittel gegen linken/rechten Populismus ist gute Politik (KAS-Analyse, Ausgabe 203/2016). Wir müssen uns den Problemen stellen, mutig sein, unbeirrt Kurs halten, und die eine und andere Schramme in Kauf nehmen. Regierungen sind schließlich dazu da, zu regieren. Nicht (nur) zu reagieren. Und wenn der Populismus etwas Gutes hat, dann das. Er zwingt uns

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»Demokratie braucht Öffentlichkeit wie die Luft zum Atmen.« Dr. Wolfgang Schüssel war Bundeskanzler Österreichs 2000-2007 und Bundesparteiobmann der ÖVP 1995-2007. Von 1979 an war er Abgeordneter zum Österreichischen Nationalrat und ab 1989 in verschiedenen Regierungsämtern tätig. Nach seiner Kanzlerschaft war Schüssel bis 2011 im Nationalrat. Der gebürtige Wiener ist Jurist.

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Manfred Weber

2017 geht es um wahren Patriotismus! Ăœber den Unterschied zwischen Patrioten und Nationalisten

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einließen, konnte die Falle zuschnappen. Nun drohen den Konservativen eine Selbstzerfleischung und der Verlust ihrer Wirtschafts-, Finanz- und Zukunftskompetenz. Mit Populismus können Demagogen nie geschlagen, sondern nur mittels überzeugender Politik überwunden werden.

2016 war das Jahr des Populismus. Nicht allein der Brexit-Entscheid hat das politische Koordinatensystem verändert. Beflügelt von den Ergebnissen der US-Präsidentschaftswahl streben die Populisten 2017 nach der Macht in Europa. Dabei ist die französische Präsidentschaftswahl nur ein Vorgeschmack. Die Demagogen von Links und Rechts versuchen nach britischem Vorbild die politische Landschaft in ganz Europa auf den Kopf zu stellen.

Gute Politik ist die Kernkompetenz bürgerliche Politiker. Patrioten sind kein billiger Abklatsch faktenfreier Marktschreier. „Klartext reden“ heißt nicht, andere zu diffamieren, sondern überzeugende Lösungswege aufzuzeigen. Auch CDU und CSU müssen in einer hochpolitisierten Zeit wieder den Kampfanzug anziehen. Politik ist kein unterhaltsames Pferderennen um Platz 1, sondern das Ringen um den richtigen Zukunftsweg. Das hat die AfD nicht verstanden: Sie setzt auf Ressentiments und nationale Abschottung. Aber mit diesem nationalen Einigeln fand Deutschland bereits vor gut 80 Jahren am Ende nur Massenarbeitslosigkeit, Hyperinflation und Zerstörung. Die linken Parteien träumen sich dagegen eine Welt wie in den 1970er Jahren mit einer hohen Staatsquote, dem Verweigern von Reformen und dem Beharren auf überkommenen Wirtschaftsstrukturen schön. Aber schon damals sind diese Träume von einem Wohlstand auf Pump jäh zerplatzt.

Als wahre Gegner haben sie dabei nicht eine kosmopolitische Elite im Blick. Ein linksliberales Feindbild werden sie auch weiterhin zur eigenen Mobilisierung brauchen. Ihre wahren Feinde sind aber nicht die Erben Willy Brandts, sondern die Erben von Adenauer und Strauß. Bürgerliche Politiker verkörpern als Patrioten all das, was die Demagogen verabscheuen: eine wertebasierte Politik, Gemeinsinn und Zukunftsoptimismus. Während Patrioten die Liebe zur Heimat antreibt, hassen Nationalisten schlicht alles Fremde.

»Während Patrioten die Liebe zur Heimat antreibt, hassen Nationalisten alles Fremde.«

Wahre Patrioten träumen nicht nur, sondern handeln auch. Nicht ohne Grund reagieren Facharbeiter derzeit am Empfindlichsten auf politische Untätigkeit. Sie spüren als Erste die wachsende Unsicherheit und Ungleichheit, die die wirtschaftlichen und technologischen Umbrüche weltweit mit sich bringen. Sie erwarten von der Politik zurecht, Sicherheit und Fairness herzustellen. Mit einem reinen Abschotten und Abriegeln werden wir dieser Umwälzungen nicht Herr werden. Jeder Damm wird einbrechen, wenn er Wasser nur stoppen, aber nicht in eine geordnete Richtung leiten will.

Ihr Hass lässt den Nationalisten keinen Raum für vernünftige Politiklösungen. Demagogen ist die Zukunft egal. In der Tradition des Historizismus beschränken sie sich darauf, ein verklärtes Bild der Vergangenheit zu malen, für das sie die Gegenwart zerstören wollen. Über die Zerstörung des Hier und Jetzt aber reicht ihr Horizont nicht hinaus. Demagogen sind nicht konstruktiv, sondern rein destruktiv. Für die Gestaltung der Zukunft haben sie keinen Plan. Diese Planlosigkeit beweisen heute eindrucksvoll Nigel Farage & Co: Demagogen setzen auf Parolen statt auf Konzepte, auf Hass statt auf Zuversicht, auf Angst statt auf Zukunftschancen. Mit diesem Gift versuchen die Demagogen auch Stück für Stück die bürgerliche Parteien zu infizieren. Mit selbstbewussten Konservativen hätte UKIP keine Chance gehabt, Großbritannien an den Abgrund zu steuern. Nur weil die Tories die wirklich entscheidenden Themen vergaßen und sich auf einen populistischen Überbietungswettbewerb

2017 müssen CDU und CSU deshalb drei zentrale Themen in den Vordergrund stellen: Eine faire Wirtschaftsordnung Wir werden eine faire Gesellschaft nur in einer fairen Wirtschaftsordnung mit klaren Spielregeln gewährleisten können. Moderne Handelsverträge übersetzen Ludwig Erhards Ordnungspolitik in eine globalisierte Welt. CETA & Co bauen in

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»Wir werden eine faire Gesellschaft nur in einer fairen Wirtschaftsordnung gewährleisten können.«

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erster Linie keine Zollschranken ab, sondern bändigen einen Raubtierkapitalismus, indem sie Standards und faire Marktbedingungen verbindlich festlegen. Nur wenn die westliche Welt zusammensteht, werden wir den Ausverkauf unserer Unternehmen vereiteln, das Schleifen von Sozialstandards verhindern und neue Jobs schaffen können. Gerade weil der Nationalstaat allein verbindliche wirtschaftliche Leitplanken nicht mehr setzen kann, benötigt er eine internationale wirtschaftliche Ordnung. Nur mit CETA & Co werden wir in Zukunft diese Ordnung fair gestalten können. Deshalb dürfen wir die Handelspolitik im Wahlkampf nicht verstecken, sondern müssen im Gegenteil eine faire Wirtschaftsordnung der protektionistischen Abstiegsspirale entgegensetzen.

Kontrollverlust an unseren europäischen Außengrenzen dürfen wir nie wieder zulassen. Sicherheit bedeutet aber auch keine rechtsfreien Räume in der digitalen Welt zuzulassen. Dafür brauchen wir eine enge Kooperation innerhalb der EU. Nur mit der geballten Wirtschaftsmacht eines einigen Europas werden wir bei den Internetriesen Rechtsstandards durchsetzen können.

Gleichzeitig müssen wir dem Steuerdumping den Kampf ansagen. Eine patriotische Politik besteht nicht darin, den Steuersatz möglichst niedrig oder hoch zu setzen, sondern ihn fair auszugestalten und vor allem durchzusetzen. Konstruktive Politik schimpft nicht bloß auf internationale Konzerne, wenn sie Steuerschlupflöcher nutzen, sondern stopft letztere. Dafür werden wir um eine verstärkte europäische Zusammenarbeit nicht umhinkommen. Für die Bundestagswahl wird die entscheidende Frage nicht die Steuerhöhe, sondern Steuerfairness für alle sein.

Gleichzeitig brauchen eine gemeinsame europäische Terrorbekämpfung mit europaweitem Datenaustausch der Sicherheitsorgane, eine ambitionierte Sicherheitstechnologieforschung und einem wirksamen Grenzschutz. Für alles drei haben wir 2016 wichtige Grundlagen geschaffen. Diese stehen 2017 auf der Kippe, da die Nationalisten die europäische Zusammenarbeit beenden und die Linken die Arbeit der Sicherheitsorgane in Frage stellen wollen. Also müssen wir 2017 auch einen klaren Sicherheitswahlkampf führen.

»Kontrollverlust an unseren europäischen Außengrenzen dürfen wir nie wieder zulassen.«

Wir Bürgerlichen müssen den Feinden der offenen Gesellschaft – den extremen Rechten und den radikalen Islamisten – den Kampf ansagen. Dabei müssen wir zuallererst auch Gleichgültigkeit und Zynismus besiegen. An die Stelle von links-liberalem „everything goes“ und egoistischem „nach mir die Sintflut“ setzen wir ein klares Bekenntnis zu unseren Werten und zu den Regeln des gesellschaftlichen Miteinanders. Eine verantwortungsbewusste bürgerliche Politik ist der einzige Garant für den Erhalt einer sicheren und zugleich offenen Gesellschaft in der Welt von morgen.

Auch bei der Frage nach angemessenem und erschwinglichem Wohnraum geht es um Fairness und Zukunftsorientierung zugleich. Es darf nicht sein, dass Familien mit kleinen Kindern in einigen Städten kaum noch eine bezahlbare Wohnung finden. Eine gezielte Wohnraumförderung, einschließlich der Ausweitung der Einheimischenmodellen, der verstärkten Ausweisung von Bauland, einer besseren Förderung von Wohngenossenschaften bis hin zur Einführung eines Baukindergelds, ist deshalb Kernelement einer zukunftsorientierten bürgerlichen Politik.

Selbstbehauptung durch Entschlossenheit Sicherheit durch Zusammenarbeit Drittens schließlich werden wir die Identitätsfrage stellen. Die Leitkultur wird im Zentrum unseres Wahlkampfs stehen. Gerade als „C“-Parteien stehen wir für eine wertgebundene Politik, die auf verbindliche Regeln des Zusammenlebens setzt. Die Leitkultur gibt der Integration eine klare Richtung. Als auch eine konservative Partei wissen wir, was die Bürgerinnen und Bürger

Neben Fairness wird Sicherheit das zweite wahlentscheidende Thema sein. Nach einer Phase gesellschaftlicher Erneuerung rückt die Gewährleistung staatlicher Sicherheit wieder in den Vordergrund. Nicht staatliche Autoritäten, sondern der Verlust staatlicher Handlungsfähigkeit bedroht unseren heutigen Rechtsstaat.

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»Putin wird solange seine Nachbarn mit Bomben und Panzern einschüchtern, wie er glaubt, Europa schwächelt.« Nur gemeinsame werden die Europäer ihre eigene Hemisphäre sichern können. Die Flüchtlingskrise und die Terrorgefahr haben eine ihrer Ursachen im Wegducken der europäischen Staaten.

unseres Landes unbedingt erhalten wollen: den gesellschaftlichen Zusammenhalt, die kulturelle Traditionen und die strikte Einhaltung des demokratischen Rechtsstaates. Eine wertgebundene Politik erwarten die Bürgerinnen und Bürger nicht nur bei der Integration, sondern auch für die Außen- und Verteidigungspolitik. In den kommenden Jahren geht es um nicht weniger als die Selbstbehauptung Europas. Das fängt bei den Brexitverhandlungen an, betrifft aber vor allem unseren Umgang mit den neuen Autokraten in unserer Nachbarschaft.

Für mehr Sicherheit müssen die Europäer ihre wirtschaftliche Stärke, ihr technologisches Wissen, aber auch neue Verteidigungsanstrengungen einsetzen. Putin wird solange seine Nachbarn mit Bomben und Panzern einschüchtern, wie er glaubt, Europa schwächelt. Wie zuletzt Anfang der 1980er Jahre braucht es eine klare europäische Antwort, um autokratische Machtgelüste einzudämmen. Die kommende Bundestagswahl wird auch über die Zukunft der freien Welt entscheiden.

»Es braucht eine klare europäische Antwort, um autokratische Machtgelüste einzudämmen.«

In diesem Jahr wird es vor allem um harte Themen gehen. CDU und CSU können darauf optimistisch blicken. Bei den Wahlkämpfen über die großen Richtungsentscheidungen – von der Einführung der Sozialen Marktwirtschaft und der Westbindung bis hin zur deutschen Einheit – sind wir immer zur Höchstform aufgelaufen. CDU und CSU müssen auch dieses Mal wieder den Weg vorgeben, um die Demagogen zu entlarven: 2017 geht es darum, dass wahre Patrioten und nicht nationalistische Hetzer mit ihrem zerstörerischen Rückwärtstatendrang über die Zukunft unseres Landes bestimmen.

Außenpolitiker dürfen keine besseren Handelsvertreter sein, sondern müssen dem neuen autokratischen Machtstreben von Putin & Co Einhalt gebieten. Wahre Patrioten lassen sich nicht wie Marine Le Pen von russischen Krediten bestechen, sondern entwickeln eine aktive und gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik.

Manfred Weber (CSU) ist seit 2004 Mitglied des europäischen Parlaments. Dort ist er seit 2014 Fraktionsvorsitzender der EVP-Fraktion.

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Franziska Brantner

Gegen Populismus hilft auch die Besinnung auf Grundwerte Die Europäische Union sollte wieder auf ihre Wurzeln blicken

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der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“ Das ist es, was uns zusammenhält und was es durchzusetzen gilt.

Donald Trump in den USA an der Macht. Wir (EU)-Europäer reiben uns immer noch verwundert die Augen. Putin in Moskau, Erdoğan in der Türkei. Wir befürchten eine Abkehr von Weltoffenheit und Liberalität. Wir suchen nach angemessenen Umgangsformen und Reaktionsmustern. Wir beschwören die Notwendigkeit, dass die Europäische Union spätestens jetzt enger zusammen­rücken und international mehr Verantwortung sowie Aufgaben übernehmen müsse, die sie sich bisher allzu gerne von anderen hat abnehmen lassen. Und vermehrt beteuern wir, dass die EU sich gerade jetzt ihrer „Werte“ bewusst sein und diese mehr denn je international hochhalten müsse.

All diese Parameter sind indes relevant, bevor bzw. solange bis ein Kandidatenland der EU beigetreten ist. Jahrelang müssen sich die Bewerber zuvor Bewertungen, Untersuchungen und Checklisten unterwerfen, die in alljährlichen Brüsseler „Fortschrittsberichten“ münden. Mal wird ein Auge zugedrückt, mal werden Nachbesserungen angemahnt – aber es findet immerhin eine Prüfung statt. Wenn ein Staat jedoch einmal Vollmitglied geworden ist, kann es sich eigentlich wieder – fast – alles erlauben.

Gerade der letzte Appell ist sicherlich sehr angemessen. Aber wie hält es die Union selber mit ihren Grundwerten? Werden Prinzipien wie Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung in ihren Mitgliedstaaten respektiert? Können wir Europäer uns den bisweilen belehrenden Ton überhaupt erlauben, mit dem wir unsere Partner weltweit zur Einhaltung ebendieser Werte und Prinzipien mahnen?

Beispiele dafür gibt es genügend. Die konservative PiS-Regierung hat seit ihrem Antritt im Herbst 2015 im Eiltempo Polens Oberstes Gericht und den öffentlichen Rundfunk „Reformen“ unterzogen, die die Europäische Union nicht ignorieren darf; zumindest dann nicht, wenn sie es im eigenen Club ernst meint mit jenen hehren Standards zu Rechtsstaatlichkeit und Grundwerten, deren Erfüllung sie Beitritts-Kandidaten mit größter Selbstverständlichkeit abverlangt. Die Regierenden in Warschau streiten die Vorwürfe ab; vor allem bestreiten sie den EU-Partnern jede Einflussnahme in diese vermeintlich internen Angelegenheiten ihres Landes.

»Antworten wie ›der Euro‹ oder ›Erasmus‹ werden nicht ausreichen, um für Europa zu begeistern.« Für mich ist die Frage nach unseren Werten nicht zuletzt auch die Frage, was uns in der Europäischen Union eigentlich – noch – zusammen hält. Was verbindet uns? Was haben wir gemeinsam? Ich halte dies für relevante Fragen, die man stellen muss. So stark das Narrativ vom Friedensprojekt Europa auch noch ist, allein trägt es nicht. Ich glaube auch nicht, dass Antworten wie „der Euro“, „der Binnenmarkt“ oder „Erasmus“, ausreichen, um die Bürgerinnen und Bürger auch in Zukunft mitzunehmen und zu begeistern für unser europäisches Projekt. Es braucht also mehr.

In Ungarn bis heute unter Viktor Orbán, zuvor (2012) und auch jüngst wieder in Rumänien oder vor Jahren in Italien unter Silvio Berlusconi: Gesetze wurden gedehnt bis zum Bruch, die Gewaltenteilung wurde ausgehöhlt. Der Umgang vieler EU-Staaten mit Flüchtlingen widerspricht oft grundlegenden Menschenrechtsnormen, vielerorts werden Asylsuchende Gewalt und Diskriminierung ausgesetzt, Schwule und Lesben ausgegrenzt und diskriminiert. Wir dürfen nicht zulassen, dass die Anstrengungen der Staaten für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit nach dem Beitritt zur EU enden. Um außenpolitisch glaubwürdig zu sein, müssen die EU und ihre Mitglieder auch im Innern Werte respektieren.

In Artikel 2 des EU-Vertrages heißt es: „Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich

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Hier setzt unser grüner Vorschlag an. Kritik und Einflussnahme sollen stattfinden – aber es kommt auf den Ton und das Drumherum an. Wenn Grundwerte wirksamer angemahnt werden sollen, muss dies stärker legitimiert geschehen als bisher. Wir Grüne schlagen deshalb eine Alternative zu den zeitraubenden, intransparenten, national beeinflussten und am Ende wenig erfolgreichen Instrumenten vor, über die EU-Kommission und -Ministerrat verfügen:

Doch über welche Instrumente verfügt die EU, um nicht nur die Anwärter, sondern die Clubmitglieder zur Raison zu bringen? Wir haben als wirklich wirksamen Hebel eigentlich nur die sogenannte Nuklearbombe, die jedoch bis jetzt noch nie genutzt wurde: den Artikel 7 des Vertrages über die Europäische Union; ein hochkompliziertes, in mehrere Etappen geteiltes, hürdenreiches Sanktionsverfahren, an dessen Ende stehen könnte, dass einem Mitgliedstaat (Stimm-) Rechte ausgesetzt würden.

• Ein ständiges, unabhängiges und demokratisch legitimiertes Gremium auf EU-Ebene; als Vorbild könnte die Venedig Kommission des Europa-Rats dienen, die seit 1990 Staaten in Grundrechtsfragen berät. Das Team soll aus nationalen Verfassungsexperten bestehen; jedes der heute noch 28 nationalen Parlamente entsendet eine anerkannte VerfassungsexpertIn. Das EU-Parlament ernennt zusätzlich zehn hochrangige Repräsentanten aus Politik und Gesellschaft. • Das Gremium sollte unabhängig von Regierungsvertretern ein unparteiisches, fakten­ gestütztes und fortlaufendes Analyseverfahren aller Mitgliedstaaten sicherstellen. Empfehlungen und Stellungnahmen von Regierungen sollten ebenso berücksichtigt werden wie Berichte aus der Zivilgesellschaft; auch sollte es eine Zusammenarbeit mit der Europäischen Grundrechteagentur geben. • Die Analyse sollte transparent und offen verlaufen, ihre Ergebnisse regelmäßig in Rat, Kommission und Europa-Parlament diskutiert werden. • Das Expertenteam sollte sowohl Vertragsverletzungsverfahren als auch Sanktionen empfehlen können. Letztere lägen unterhalb der Schwelle des Artikel-7-Prozesses, der wegen sehr hoher Schwellen und vor allem wegen seines inhärenten Vetorisikos praktisch nie zum Einsatz kommen dürfte. In Frage käme etwa das Einfrieren von EU-Mitteln, jedoch unter der Maßgabe, dass finanzielle Auswirkungen ausschließlich die jeweilige Regierung treffen sollten und nicht die Bevölkerung.

»Welche Hebel hat die EU, um Clubmitglieder zu sanktionieren?« Wir haben demgegenüber für Grundwerte und Rechtsstaatlichkeit – obwohl diese doch so wichtig sind – nichts Vergleichbares zum Stabilitätspakt, wo blaue Briefe versandt und vergleichsweise zügig Mahnprozeduren eingeleitet werden können, wenn Staaten gegen Haushaltsregeln verstoßen. Wie aber wollen wir jemandem erklären, warum wir mitbestimmen, wie hoch die Mehrwertsteuer auf einer griechischen Insel ist, aber nichts tun können, wenn Menschen unwürdig behandelt werden? Den Bürgerinnen und Bürgern zu erklären „Das ist die Europäische Union. Das eine können wir; bei dem anderen haben wir keine Instrumente“, halte ich nicht für tragfähig. Was es braucht, ist das gemeinsame Verständnis unserer Grundwerte und ihrer Bedeutung auch für unsere politischen Entscheidungen. Nötig sind gemeinsame Anstrengungen, um zu überzeugen und nicht nur anzuprangern. Die Europäische Kommission und der Rat haben Prozeduren entwickelt, die zwar in die richtige Richtung gehen; sie bleiben aber trotzdem zu zahnlos, zu vage. Die Kommission verfügt seit Anfang 2014 über einen „EU-Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips“; immerhin hat sie 2016 einige kritische Demarchen nach Warschau geschickt. Ende 2014 hat der Rat einen „Dialog zur Förderung und zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit“ ins Leben gerufen; debattiert wurde in diesem Gremium seither über Randthemen – die wirklich brisante Situation in Polen stand indes dort nie auf der Tagesordnung. Kann das angehen?

Es wäre der große Vorteil eines solchen Gremiums, dass es eben unparteiisch wäre, dass jeder mit in der Verantwortung stünde und man nicht einfach sagen könnte: „Das kommt wieder aus Brüssel“, sondern für alle klar wäre: Da sind auch unsere Leute mit dabei.

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»Um glaubwürdig zu sein, muss die EU auch im Innern Werte respektieren.« Hier könnte nun der Einwand kommen, ein solches Gremium stelle eine Konkurrenz zum Europarat dar. Aber der Europarat braucht doch eine EU, die diese Rechte auch umsetzen kann! Je stärker wir nach innen werden, desto glaubwürdiger ist der Europarat! Deswegen handelt es sich nicht um eine Dopplung oder um eine Konkurrenz, sondern beides ist absolut komplementär.

um Mehrheiten zu gewinnen: gegen „Brüssel“ oder – leider auch – gegen „Berlin“. Gegen autoritäre Tendenzen helfen aber nicht autoritäre Gesten. (ZITAT: „Gegen autoritäre Tendenzen helfen aber nicht autoritäre Gesten.“) Eine „Bilateralisierung“ der Auseinandersetzung, jedes punktuelle Bashing, spielt vor allem Jenen in die Karten, die polarisieren wollen. Außerdem wird Kritik dann unglaubwürdig, wenn sie sich nur auf einzelne Regierungen konzentriert, während andere – meist aus parteipolitischen Gründen – verschont werden.

»Gegen autoritäre Tendenzen helfen aber nicht autoritäre Gesten.«

Wir sollten gemeinsam für unsere Grundwerte einstehen! Und wir sollten auch als Europäische Union so handeln, dass unser Verhalten als Maßstab für unsere Partner weltweit dienen kann! Sei es gegenüber Flüchtlingen, gegenüber Minderheiten oder Andersdenkenden, was offene Grenzen und Handelsmärkte angeht. Einen Sieg gegen blinde Populisten und Unbelehrbare wird man vielleicht nicht gleich erringen können; aber – immerhin – Zeichen könnten gesetzt werden.

Auch wir in der Europäischen Union sehen uns zunehmend Populisten und ihren Angriffen auf das Integrationsprojekt ausgesetzt. Um Entwicklungen, wie wir sie beklagen, klug etwas entgegenzusetzen, gilt es zu beachten, dass die AnführerInnen nationalstaatlicher – oft anti-europäischer – Bewegungen ja gerade auf Polarisierung setzen,

Dr. Franziska Brantner (Bündnis 90/Die Grünen) ist seit 2013 Mitglied des Deutschen Bundestags. Sie ist Mitglied im Ausschuss für die Angelegenheiten der EU. Zuvor war sie Mitglied des Europäischen Parlaments.

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Dietmar Bartsch

Was verstehen wir unter Populismus? Anmerkungen zu einem Begriff

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vieler Menschen existieren. Diese fühlen sich dann plötzlich nicht repräsentiert, zumindest dann nicht, wenn es sich um für sie als wichtig empfundene Politikbereiche handelt. Gelegentlich wird von „Repräsentationslücke“ gesprochen, und diese kann von neuen Parteien zur Etablierung genutzt werden.

Seit rechtsautoritäre Parteien, Bewegungen und Politiker in Europa und den USA Konjunktur zu haben scheinen, werden auch die Ausdrücke „Populismus“ und „populistisch“ vermehrt und zunehmend auch grenzenlos gebraucht. Selbst Martin Schulz, der habituell weder besonders rechts noch besonders links wirkt, hat sich schon mehrfach den Populismusvorwurf anhören müssen. Es passiert schnell, dass aus dem häufigen Gebrauch eines Begriffs ein inflationärer wird und so der Begriff seines Gehalts entleert wird. Deshalb erscheint es mir sinnvoll, einmal den Bedeutungslinien von „Populismus“ nachzugehen.

»Neue Parteien können Repräsentationslücken zur Etablierung nutzen.«

Im Deutschen klingen die Worte „Populismus“ und „populistisch“ irgendwie verdächtig, sie sind mehr oder weniger stark negativ konnotiert. Nicht in allen Regionen der Erde ist das so. Es gab in den USA einmal eine Populist Party – ihr offizieller Name war People’s Party. Diese Partei sah aber nicht „Populismus“ als ihren Sinn und Zweck an, sondern vertrat die ökonomischen Interessen der Landbevölkerung, der kleinen und mittleren Farmer insbesondere. Es mag mit diesem historischen Beispiel zusammenhängen, dass das Wort „Populismus“ im Englischen längst nicht jene negativen Konnotationen mit sich führt wie im Deutschen.

Einen Konflikt verschiedener Normalitätsvorstellungen hatten wir in der Bundesrepublik Deutschland mit der Einführung der Agenda-Reformen. Für viele Menschen war das Sicherungsniveau des „alten“ Sozialstaats eine historisch gewachsene Normalität geworden, auch ein Resultat gerade der Kämpfe der Sozialdemokratie um eine Einhegung des Kapitalismus, für eine gerechtere Gesellschaft. Im politischen Diskurs, wie er durch die Parteien geprägt wurde, erschien der „alte“ Sozialstaat als etwas „Unmodernes“, und wer da noch Fragen hatte, galt als „Sozialromantiker“. Das war also eine andere Normalität, die sich im parteipolitischen Diskurs gebildet hatte. Die damalige PDS hatte sich diesem Agenda-Konsens verweigert, ebenso taten dies einige linke Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, die die Partei WASG gründeten.

Aber dieses historische Beispiel zeigt auch etwas, was für das Verstehen von Phänomenen wie Populismus nicht unwichtig ist. Die beiden großen Parteien der USA – die Republikaner und die Demokraten – hatten keinen Blick für die spezifischen Interessen der kleinen und mittleren Farmer der USA, die mit der damaligen Geldpolitik und den Oligopolen im Transportwesen zusammenhingen. Daher waren für die Landbevölkerung eine eigene Interessenartikulation und die Bildung einer politischen Partei notwendig geworden. Als die Demokraten und Republikaner Positionen der Populistischen Partei aufgriffen, ging der Einfluss der Populisten wieder zurück.

Optimal war diese Situation jedoch nur nutzbar durch das Zusammengehen beider Parteien. Die so entstehende Partei DIE LINKE hatte die Möglichkeit, sich im Parteienspektrum zu etablieren. Sie konnte die Opposition gegen die Agenda-Politik ins Parlament tragen. Etwas Ähnliches gab es bereits mit der Gründung der Grünen. Damals, in den 70er Jahren, griffen ein neues Umweltbewusstsein und eine Wachstumskritik um sich, die in den damals etablierten Parteien keinen Widerhall fand. Die Grünen boten auch der Frauenbewegung und den Schwulen und Lesben eine politische Heimat. Das Protestpotenzial der damaligen spätkapitalistischen Gesellschaft bündelte sich in der Partei „Die Grünen“, die Etablierung gelang.

Man könnte hier ein begriffliches Schema bilden, mit dem man sich vielleicht Phänomene des politischen Populismus erklären kann. Es kann vorkommen, dass die im Parlament vertretenen Parteien, die daher auch in der politischen Öffentlichkeit eine privilegierte Rolle spielen, eine diskursive Normalität produzieren, die eine erhebliche Differenz zu den Normalitätsvorstellungen aufweist, wie sie im Alltagsverständnis

Versteht man „Populismus“ in diesem Sinn, also das Füllen einer „Repräsentationslücke“, waren Die Grünen wie auch DIE LINKE populistische

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können, worüber gesprochen wird. Es geht sie schließlich etwas an. Problematisch wird es erst, wenn die Reduktion von Komplexität bei der Erörterung eines Problems auch suggeriert, dass seine Lösung „ganz einfach“, also unkompliziert, sei. Und falsch redet der, der das auch tatsächlich behauptet. Das ist tatsächlich ein Merkmal des politischen Stils von Populisten, dass sie Problemlösungen präsentieren, die keine sind.

Parteien. Vor allem im Fall der LINKEN ließe sich, in diesem Sinn, auch von einem „Linkspopulismus“ sprechen. Diesem geht jedoch der Treibstoff aus, wenn erstens die Empörung, aus dem er seine Kraft zog, einem widerwilligen Arrangement der Leute mit den Verhältnissen Platz macht. Auch wenn die Agenda-Politik überwunden werden muss, haben viele Menschen gelernt, sich in der für sie schlechten Situation einzurichten. Es blieb ihnen auch nichts anderes übrig.

Ein anderes Merkmal des Populismus besteht in einer verzerrten Interpretation der Demokratie. Jede Institutionalisierung der Demokratie ist auf die Idee der Selbstregierung des souveränen Volkes bezogen. Dabei wird nicht die Differenz zwischen Regierenden und Regierten aufgehoben, aber sie wird „verflüssigt“. Durch Rechtfertigung und Kontrolle vor dem Parlament und der Öffentlichkeit, schließlich auch durch Wahlen, kann sich die Regierungsmacht niemals vollständig denjenigen entziehen, die die Legitimation der Herrschaft durch Anerkennung und Verfahren gewährleisten.

Der zweite Grund, weshalb der populistische Anschub nicht ewig reicht, besteht einfach darin, dass eine Partei, die nun schon seit drei Wahl­ perioden im Parlament ist, langsam als „etabliert“ wahrgenommen wird. Obwohl sie schon so lange Politik macht, ist Hartz IV immer noch da, und der Mindestlohn ist zu niedrig und hat zu viele Ausnahmen.

»Vereinfachung und Überzeichnung sind zulässig, um bei einem Problem die Pointe herauszuarbeiten.«

Das populistische Bild ist ein anderes. Hier haben sich die Regierenden angeblich längst vom Volk abgekoppelt, demokratische Opposition und Presse sollen lediglich Alibi-Veranstaltungen sein, um den demokratischen Schein zu wahren. Daher wird Stimmung gegen die „Lügenpresse“ und die „Etablierten“ gemacht. Selbstverständlich wird von Politikerinnen und Politikern auch Falsches entschieden, und selbstverständlich hält nicht jedes Presseprodukt höchsten Qualitätsstandards stand. Aber darum geht es nicht. Worum es denen geht, die so reden, ist die monopolisierte Inanspruch­nahme von Wahrheit.

Das Modell, das „Populismus“ über die „Repräsentationslücke“ erklärt, kann auch für den rechten Populismus genutzt werden. Auch hier gibt es politische Präferenzstrukturen in einem größeren Teil der Bevölkerung, deren Abbildung in der durch die Parlamentsparteien dominierten politischen Öffentlichkeit nicht gelingt. Einen anderen Sinn scheint das Wort „Populismus“ dort zu haben, wo über politischen Stil und Rhetorik gesprochen wird. So wird dem Populisten gern vorgeworfen, er übervereinfache, er ignoriere die Komplexität der Wirklichkeit usw. Wenn das bereits ein Kennzeichen von Populismus sein soll, das überhaupt etwas aussagt, dann muss man aber hinzufügen, dass die besseren unter den politischen Rednern durchweg Populisten gewesen sein müssen. Denn Vereinfachung und Überzeichnung sind zulässig, um bei einem Problem die Pointe herauszuarbeiten.

»Populisten geht es um die monopolisierte Inanspruchnahme von Wahrheit.« Sie erheben den Anspruch, allein zu wissen, im Gegensatz zur „Lügenpresse“ und im Gegensatz zu den „Etablierten“, was wahr ist und was die Leute wirklich denken und leiten daraus einen Machtanspruch ab. Vorgebliches Ziel: Es sollen die herrschen, die wirklich wissen, was das Volk will. Es ist übrigens interessant, wie sich hier der Begriff „Volk“ verwandelt hat.

Wenn eine parlamentarische Debatte Teil der politischen Öffentlichkeit sein soll, ist es nicht falsch, dass die Bürgerinnen und Bürger nachvollziehen

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»Ein Merkmal des Populismus besteht in einer verzerrten Interpretation der Demokratie.«

Es ist nicht mehr Souverän, sondern Akklamateur der politischen Herrschaft. Wer nicht mitjubelt, ist nicht mehr Angehöriger des Volkes, sondern Feind. Daher findet sich im Populismus, trotz des Anspruchs, demokratische Herrschaft zu wollen, eine Ablehnung von Minderheitenrechten und anderen Schutzrechten. Darin zeigt sich der latent demokratiefeindliche Charakter dieser Ausprägung des Populismus. Es ist natürlich leicht zu sehen, dass diese drei Versionen des Populismus – die Auffüllung einer Repräsentationslücke, ein spezifischer Stil der politischen Rede, eine veränderte Deutung des Demokratischen – nicht völlig berührungsfrei nebeneinander existieren. Aber zu einem echten Problem wird der Populismus erst in der dritten Version. Hier ist der Wille erkennbar, die Demokratie autoritär zu transformieren.

Dr. Dietmar Bartsch (Die Linke) ist Mitglied des Deutschen Bundestags. Seit 2015 ist er zusammen mit Sahra Wagenknecht Vorsitzender der Linksfraktion und damit Oppositionsführer.

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Volker Berghahn

Neoliberalismus, Soziale Marktwirtschaft und gesellschaftliche Solidarität Über die Ursachen der sozioökonomischen Krise und die Stabilisierungschancen gesellschaftlicher Großzügigkeit

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Regierungsprogramm an die Wand gemalt hat. Vielmehr sind es die Auswirkungen jener neo­ liberalen Wirtschaftstheorien, die US-Präsident Ronald Reagan und die britische Premierministerin Margaret Thatcher in den achtziger Jahren zum Maßstab ihrer Politik machten.

Es ist letztlich immer noch fast unbegreiflich, was im November 2016 in Amerika politisch geschah: eine populistische Rebellion mit einem hohen Anteil von weißen Männern und Frauen aus den Arbeiterschichten und dem unteren Mittelstand des Mittelwestens wählt mit Hilfe eines aus dem 18. Jahrhundert stammenden, archaischen Wahlmänner-Kollegiums Donald Trump, einen politisch unerfahrenen, narzisstischen New Yorker Milliardär mit einer nicht gerade reinen Weste, zum machtvollen Präsidenten der USA. Er erringt seinen Sieg, obwohl die Gegenkandidatin, Hillary Clinton, von der Wählerschaft drei Millio­­nen mehr Stimmen erhielt. Obendrein betrug die Wahlbeteiligung nur 57 Prozent, so dass Trump nur 27 Prozent aller Wahlberechtigten für sich gewann.

»Für diese Krise sind nicht die Einwanderer, islamistische Terroristen, Russland, China und die anderen Schreckgespenster verantwortlich.« Damals begann die endgültige Abkehr von einer von US-Präsident Franklin Roosevelt und seinen Nachfolgern verfolgten Politik des „New Deal“ und von einer auf soziale Gerechtigkeit und Ausgleich zwischen den Schichten zielenden Marktwirtschaft. Hinfort wurde der „freie Markt“ zum alleinigen Motor von Wirtschaft und Gesellschaft erklärt. Man begann, den Staat aus wirtschaftlichen Entscheidungen herauszudrängen, öffentliche Unternehmen zu privatisieren und den Unternehmern durch Deregulierung und die Schwächung von staatlichen Kontrollorganen große Entscheidungsfreiheiten zu geben. Diese wiederum sollten die Reichen ermutigen, nach den siebziger Jahren des Ölschocks und der Stagflation erneut kräftig zu investieren, was wiederum – so die neoliberalen Prognosen - einen „trickle-down“-Effekt auslösen und den Wohlstand aller erneut mehren würde.

Über diese dramatische Wende, über die Regierungsmannschaft mit weiteren, ebenfalls meist politisch unerfahrenen oder ideologisch stark rechtslastigen Millionären, sowie über die ersten Entscheidungen Trumps und seiner Berater zu Einwanderung, Welthandel, Klimawandel, Gesundheits-, Außen-, Steuer- und Erziehungspolitik ist inzwischen auch in Europa viel geschrieben worden. Dennoch ist immer noch schwer abzuschätzen, wohin dieser Zug mit ziemlich hohem Tempo abgefahren ist, wozu auch das Chaos im Weißen Haus und in den Ministerien sowie die vielen Falschaussagen, die nach­ geschobenen Korrekturen oder Dementis, und der bedenkenlose Umgang mit Fakten und „alternativen Fakten“ beigetragen haben. Die sozioökonomischen Wurzeln der Krise

„Finanzialisierung“ in Großbritannien und den USA

Indessen geht es im Folgenden nicht um eine umfassendere Analyse der Entwicklungen in den Vereinigten Staaten. Im Brennpunkt steht vielmehr zunächst der von Trump und der Republi­ kanischen Partei erfolgreich mobilisierte Sünden­ bockmechanismus, d.h. die Wahlparolen, mit denen die Trump-Wähler gekapert wurden. Durch das Übertreiben an sich marginaler Probleme und die Stigmatisierung unschuldiger, aber leicht identifizierbarer Minderheiten lenkte man von den sozioökonomischen Wurzeln der gegenwärtigen Krise ab. Denn für diese Krise sind nicht die Einwanderer, islamistische Terroristen, Russland, China und die anderen Schreckgespenster verantwortlich, die Trump sowohl in seinen Wahlreden als auch in seinem

Es war Thatcher, die diese Strategie am entschiedensten vorantrieb. In England wurden den einst mächtigen Gewerkschaften systematisch die Flügel gestutzt. 1986 gab es den „Big Bang“ in der Londoner City, durch den die liberalisierten Großbanken gegenüber der produzierenden Industrie begünstigt wurden. Es begann jene “Finanzialisierung” der britischen Wirtschaft durch die London zu einer globalen Drehscheibe ausgebaut wurde, auf der täglich Milliarden-Summen zirkulierten, und zwar im Auftrag von Reichen aus aller Welt, die sich auf einer ruhelosen Suche nach den lukrativen Investitionschancen befanden.

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leisten konnten oder denen nur sehr ungenau erklärt wurde, dass sie bei einem Anstieg der Zinssätze ihre monatlichen Zahlungen vielleicht nicht mehr zu leisten imstande waren. Als dann die Zinsen tatsächlich anzogen, verloren zahllose Familien über Nacht ihre Häuser.

Während die Industrien in den Midlands und im Norden Englands verfielen, bot Thatcher den Wohlhabenden Steuervergünstigungen und nahm Kürzungen im Sozialetat vor, einschließlich des National Health Service, der universalen, nach dem Zweiten Weltkrieg eingeführten Krankenversorgung. Wer es sich leisten konnte, nahm eine private Zusatzversicherung auf, während den Krankenhäusern die Mittel fehlten, ihre bisherigen Leistungen für den Durchschnittsbürger aufrecht zu erhalten.

Inzwischen hatten die geschickten Makler ihre wackeligen Hypotheken mit anderen festeren Papieren zu Paketen geschnürt, die nun über die global operierenden Großbanken als solide Investitionen angeboten wurden. Auch auf dem Aktienmarkt gingen die Kurse steil hoch. Neben dem Wechselkurskasino entstand eine neoliberale Börsen-Spielbank, in deren glitzernden Hallen viele Investoren vergaßen, dass Aktien Risiko-Papiere sind, die auch an Wert verlieren oder gar abstürzen konnten. Das Kartenhaus fiel 2007/8 schließlich zusammen und produzierte eine Krise, die nur dadurch vor einem globalen Zusammenbruch gerettet werden konnte, dass die Zentralbanken Milliarden zur Erhaltung der Liquidität und der Verhinderung von Massenbankrotts bereitstellten.

»Den Krankenhäusern fehlten die Mittel, ihre Leistungen für den Durchschnittsbürger aufrecht zu erhalten.« In den Vereinigten Staaten verlief dieser Wandel etwas langsamer und erreichte schließlich unter US-Präsident Bill Clinton seinen Höhepunkt. Umgeben von neoliberalen Beratern aus der New Yorker Wall Street trieb er die „Finanzialisierung“ der amerikanischen Wirtschaft voran. Wie schon in England erlebten nun auch die großen Industriezentren der USA in Pennsylvanien, Ohio und Michigan einen Niedergang. Der Lebensstandard der bisher gut bezahlten Arbeiterschaft sank ab, während in den Finanzzentren des Landes riesige Vermögen angesammelt wurden und die Gehälter und Boni der Bankiers und Börsenmakler ins Astronomische stiegen. Nachdem das Abkommen von Bretton Woods, das den Dollar nach 1945 zur Leitwährung gemacht hatte, schon infolge des kostspieligen Vietnam-Krieges 1971 zusammengebrochen war, ließ sich jetzt auch mit den flexiblen Wechselkursen spekulieren und viel Geld verdienen. Washington kürzte wie London obendrein die öffentlichen Ausgaben, um weitere Steuerermäßigungen zu finanzieren. Es fehlte an Geld, für die Modernisierung der Infrastruktur der Schulen, Straßen und des Berufsverkehrs.

Rebellionen der Wähler im Jahr 2016 Obwohl es in den letzten zehn Jahren gelang, das internationale Finanz- und Handelssystem zu regenerieren und die Arbeitslosigkeit abzubauen, blieben der Schock und die Verunsicherung gerade unter amerikanischen Industriearbeitern so stark, dass sie 2016 gegen diese neoliberale Wirtschaftsund Sozialpolitik rebellierten und einen Präsidenten wählten, der ihnen Millionen neue, gut bezahlte Jobs versprach. In Großbritannien wurde derweil nicht der Thatcherismus und die Finanzialisierung der Wirtschaft für die Rückschläge verantwortlich gemacht, sondern die Europäische Union. Wie in Trumps Amerika wurden auch dort Sündenböcke gefunden, um abwärts mobile und zornige Wähler für den Brexit zu gewinnen. Unter diesen Umständen steht die EU vor einer schwierigen Entscheidung, die durch den Brexit ironischerweise allerdings erleichtert wird. Gibt das Ausscheiden der immer nur bremsenden Engländer doch den übrigen Mitgliedern die Chance zu einem festeren Zusammenschluss, wobei die jetzt offenbare Komplexität der Brexit-Verhandlungen ein abschreckendes Beispiel für die anderen Länder bietet. Für die EU und die Bundesrepublik ist daher eines deutlich geworden:

Zu den Bankiers stießen in den Boom-Jahren der neunziger Jahre die Hausmakler und regionalen Finanzinstitute. Angesichts sehr niedriger Leitzinsen boten sie Käufern, die sich den Traum eines Eigenheims erfüllen wollten, billige Hypotheken an, die sich die Träumer aber von ihrer Einkommenslage her entweder überhaupt nicht

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»Der Lebensstandard der bisher gut bezahlten Arbeiterschaft sank ab, während in den Finanzzentren des Landes riesige Vermögen angesammelt wurden.« Sich nicht durch Trumps nationalistische Reden gegen die transatlantischen Beziehungen irritieren zu lassen, sondern weiterhin für enge europäisch-amerikanische Beziehungen auf den Gebieten der Militär- und Außenpolitik einzutreten. Die Aufrechterhaltung dieser Beziehungen heißt indessen nicht, dass man dem neoliberalen Amerika in der Wirtschafts- und Sozialpolitik folgt, wie sie in dem Haushaltsentwurf Trumps neue Urständ feiert.

beschlossen „Kostendämpfungen“ bei der universalen Gesundheitsversorgung. In den Hartz-Gesetzen verschärften sich die Bedingungen, unter denen Arbeitslosenunterstützungen gezahlt wurden. Dennoch: auf keinem dieser Gebiete griff der Gesetzgeber so hart durch wie in Amerika. Immer wieder wurde betont, dass man die Marktwirtschaft zwar nicht aufgeben werde, aber den Sozialstaat gleichwohl nie so demontieren werde wie jenseits des Atlantiks.

Neoliberalismus in Deutschland

Die Soziale Marktwirtschaft in der Praxis

Zwar wurden die amerikanischen und britischen Rezepte in den neunziger Jahren auch in der Bundesrepublik aufgegriffen. Es kam zu Privatisierungen öffentlicher Unternehmen. Der Finanzsektor, voran die Deutsche Bank, rückten von ihrer traditionellen Rolle als Hausbanken von Industrie- und Handelsunternehmen ab und nahmen über ihre Londoner Zweigstellen am Karussell der weltweiten Währungs- und Aktienspekulation teil. Dank Steuerreformen, die die besser Gestellten begünstigten, öffnete sich auch in der Bundesrepublik die Schere zwischen Arm und Reich, wenn auch nicht so weit wie in den USA. Es kam wie dort zu Steuerhinterziehungen und zum Verstecken großer Vermögen in Steuerparadiesen.

Diese Distanzierung von der amerikanischen Wirtschafts- und Sozialpolitik, wie sie schon Mitte der neunziger Jahre artikuliert wurde, ist indessen nur zu verstehen, wenn man sich der Wurzeln der „Sozialen Marktwirtschaft“ von 1949 erinnert. Der Begriff bekanntlich stammte von Alfred Müller-Armack, dem Staatssekretär in Ludwig Erhards Wirtschaftsministerium, und wurde dann von seinem Minister übernommen. Zudem stand letzterer unter dem Einfluss der „ordoliberalen“ Schule um Walter Eucken an der Freiburger Universität, für den es „nichts [gab], was nicht sozial wäre“. Diese fundamentale Einstellung ist nicht nur aus den Biografien der beiden und ihren Erfahrungen während der Hitler-Zeit zu erklären. Vielmehr ist sie auch vor dem Hintergrund der Millionen von Kriegerwitwen und -waisen, von Kriegsversehrten, Ausgebombten sowie von Ostflüchtlingen und -vertriebenen zu sehen, die man nicht einfach den kalten Winden einer kapitalistischen Wettbewerbswirtschaft aussetzen konnte und wollte.

Auch der deutsche Sozialstaat geriet zur Zielscheibe neoliberaler Politik. Es kam zu Kürzungen im Bundesetat sowie in den Ländern und Kommunen. Regierung und Parlament

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»Es bestehen hier politischlegislative Kooperationschancen, deren antipopulistisches Potenzial für Wirtschafts- und Bildungseliten einsichtig ist.«

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Sie bedurften der sozialen Hilfe, wobei auch die Erinnerung an eine bis in die Bismarckzeit zurückreichende Sozialpolitik ein Vorbild war. Doch wie sollte diese Unterstützung der Schwachen finanziert werden?

Das Manufaktursystem, das man in Amerika und England so sträflich vernachlässigte, ist stark und modern. Die Zeichen der Wirtschaft und damit der Einkommen der Wohlhabenden stehen auf weiterem Wachstum.

Die wirksamste Lösung fand sich damals im Lastenausgleichsgesetz von 1952. Es erlegte allen Westdeutschen, die ihre Vermögen über das Kriegsende hinweggerettet hatten, eine Steuerabgabe auf, die am Ende von den rund drei Millionen Zahlungspflichtigen nicht weniger als 37 Milliarden DM aufbrachte. Das war der Topf, aus dem dann nach verschiedenen Antragsschlüsseln den Geschädigten Gelder für Existenzgründungen gezahlt wurden. Es ist heute allgemein anerkannt, dass dieses Gesetz, unterstützt durch das „Wirtschaftswunder“ der fünfziger Jahre, nachhaltig zur wirtschaftlichen und psychischen Stabilisierung der westdeutschen Gesellschaft beigetragen hat.

In der CDU bestehen Traditionen, die in den Anfängen der Sozialen Marktwirtschaft mit ihrem sozialen Imperativ, oder gar in der katholischen Soziallehre seit dem Ende des 19. Jahrhunderts wurzeln. Bei der SPD gibt es parallele sozialdemokratisch-reformistische Traditionen, die ebenfalls Jahrzehnte zurückreichen und in der Bundesrepublik 1959 im Godesberger Programm erneut artikuliert wurden. Auch bei den Grünen gibt es abgesehen vom Umweltschutz seit langem ein auf größere soziale Gerechtigkeit hin orientiertes Gedankengut. Es bestehen hier also politisch-legislative Kooperationschancen, deren antipopulistisches Potenzial für Wirtschafts- und Bildungseliten einsichtig ist, sofern sie mit einem Appell an eine gesamtgesellschaftliche Solidarität und gegen eine Sündenbock-Demagogie à la Trump artikuliert werden.

Drei Jahrzehnte später stellten die großen politischen Parteien und die Eliten der Bundesrepublik ihre Fähigkeit erneut unter Beweis, durch eine Sondersteuer erhebliche Mittel zu mobilisieren, um große wirtschafts- und sozialpolitische Probleme anzupacken, nämlich Anfang der neunziger Jahre mit der „Solidaritätsabgabe“ nach der Wiedervereinigung. Die damals bewilligten zusätzlichen Mittel sind für eine Modernisierung der verfallenen ostdeutschen Infrastruktur insgesamt erfolgreich eingesetzt worden. Auch auf diese Erfahrungen können die großen Parteien heute erneut zurückgreifen. Es gilt das Pendel des Neoliberalismus, das auch in Deutschland allzu stark zugunsten der besser Gestellten ausgeschlagen ist, in Richtung auf eine größere soziale Gerechtigkeit wieder mehr zur Mitte zu verschieben. Der Zeitpunkt für eine solche Politik scheint günstig.

Mit den über eine neue Solidaritätsabgabe gewonnenen Mitteln könnte man auch die Investitionen vornehmen, durch die sich die Integration, Bildung und Ausbildung der Flüchtlinge aus dem Mittelosten und Nordafrika vorantreiben ließe. Friederike Römer hat kürzlich herausgefunden, dass großzügige Wohlfahrtsstaaten dazu neigen, Migranten eher Zugang zu ihren Sozialleistungen zu gewähren als zum Beispiel die ungeneröse Trump-Administration und die Republikaner in Washington. Diese Großzügigkeit und die damit zu erwartende Stabilisierung der Gesellschaft ließe sich mit einem Solidaritätsbeitrag der besser Gestellten gerade auch in deren Eigeninteresse langfristig sichern.

Prof. Dr. Volker Berghahn ist Seth Low Emeritus Professor für Geschichte an der Columbia University, New York. Er forscht zu moderner deutscher Geschichte und europäisch-amerikanischen Beziehungen. Zuletzt erschien von ihm "American Big Business in Britain and Germany: A Comparative Study of Two 'Special Relationships' in the Twentieth Century” (Princeton University Press, 2014).

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Florens Mayer

#AKK bremst den #Schulzzug Die Wahl im Saarland – Analyse und Erkenntnisse für die Union für das Wahljahr 2017

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Wahl möglich erscheinende Abwahl der CDU-geführten Landesregierung. Eine rechnerisch mögliche rot-rote Koalition erreichte verheerende Zustimmungswerte. Das drohende Szenario einer Regierung aus SPD und Linken mobilisierte viele CDU-Wähler.

Durch Martin Schulz wurde die Wahl im Saarland noch einmal spannend. Er verhalf den Genossen an der Saar zwischenzeitlich zu einem gewaltigen Stimmungshoch. Mitte März lag die SPD (34 Prozent) nahezu gleichauf mit der CDU (35 Prozent). In der Woche vor der Wahl gaben 79 Prozent der SPD-Anhänger an, Martin Schulz sei ein wichtiger Grund, die SPD zu wählen. Ein Drittel der saarländischen SPD-Anhänger ging sogar noch einen Schritt weiter: Ohne Martin Schulz würden sie nicht die SPD wählen. So lässt sich nach der Saarlandwahl das Potenzial des zuletzt viel bemühten Schulz-Effekts nun auch beziffern.

»Für annährend sechs von zehn CDU-Wählern war das Thema Wirtschaft wahlentscheidend.«

Zwar gelang es der SPD im Saarland wie im Bund seit Langem einmal wieder, sich selbst zu begeistern. Die Saarländer ließen sich von dieser neugewonnen Euphorie jedoch nicht allzu sehr anstecken. Die Union erreichte im Saarland 40,7 Prozent – mehr als 40 Prozent der Stimmen hatten CDU und CSU zuletzt bei der Bundestagswahl 2013 erreicht. Ausschlaggebend für den Erfolg der Saar-CDU war ihre starke Stammwählerbasis. Jeder zweite Wähler im Saarland hatte seine Wahlentscheidung schon vor längerer Zeit getroffen bzw. wählt immer dieselbe Partei. Von dieser großen Wählergruppe wählte knapp jeder Zweite die CDU.

Die SPD scheiterte im Saarland an Annegret Kramp-Karrenbauer. Jeder zweite CDU-Wähler gab am Wahltag an, sich wegen ihr für die CDU entschieden zu haben. Dies ist auf ihre politischen Erfolge als Ministerpräsidentin zurückzuführen. Mit ihrer Arbeit als Ministerpräsidentin sind 76 Prozent aller Saarländer zufrieden bis sehr zufrieden. Im bundesweiten Vergleich der Ministerpräsidenten landet sie damit gemeinsam mit dem baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann auf Platz eins. Insbesondere ihr Einsatz für saarländische Interessen auf der Bundesebene – etwa im Rahmen der Verhandlungen über den Bund-Länder-Finanzausgleich – wurde von den Wählern honoriert. 76 Prozent der Saarländer sind der Meinung, Annegret Kramp-Karrenbauer habe die Interessen des Saarlandes in Berlin erfolgreich vertreten. Schließlich gelang es ihr, eine perfekte Geschlossenheit im eigenen Lager herzustellen: 96 Prozent der CDU-Anhänger entschieden sich bei der hypothetischen Direktwahlfrage – „Für wen würden Sie sich entscheiden, wenn man die Ministerpräsidentin direkt wählen könnte?“ – für sie.

»Das drohende Szenario einer Regierung aus SPD und Linken mobilisierte viele CDU-Wähler.« Doch auch in der Schlussphase des Wahlkampfs gelang es der CDU, noch einmal viele Wähler zu mobilisieren. Dreißig Prozent aller Wähler entschieden sich erst in den letzten Tagen vor der Wahl oder sogar erst am Wahltag für eine Partei. Gut ein Drittel davon wählte die CDU. Dies ist ein guter Wert, wenn man bedenkt, dass traditionell die kleineren Parteien in dieser Phase besonders gut abschneiden. Auch bei der Saarlandwahl entschieden sich in dieser Phase überdurchschnittlich viele Wähler für FDP und Grüne. Ausschlaggebend für das starke Abschneiden der CDU in der Schlussphase des Wahlkampfes – so darf begründet spekuliert werden – war auch die aufgrund der politischen Stimmung vor der

Thematisch setzte die CDU im Wahlkampf auf Zukunftsinvestitionen. Ziel war die Entwicklung des Wirtschaftsstandorts Saarland. Damit hatte sie auf das richtige Thema gesetzt. Für annährend sechs von zehn CDU-Wählern war das Thema Wirtschaft wahlentscheidend. Mit ihrer Entscheidung, Wahlkampfauftritte türkischer Politiker im Saarland zu verbieten – auch wenn dort gar keine AKP-Auftritte geplant waren –, gelang es Kramp-Karrenbauer zudem, sich als entscheidungsstarke Politikerin zu profilieren.

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Die Mehrheit der Deutschen hatte sie bei dieser Entscheidung auf ihrer Seite. Gut drei Viertel sind der Meinung, die deutsche Politik solle Wahlkampfauftritte türkischer Politiker nicht zulassen.

kündigt an, Arbeitsmarkt- und Sozialreformen zurückzudrehen. Für den Ausgang der Wahl im September wird entscheidend sein, welcher Sichtweise die Deutschen eher zuneigen: Den Wohlstand sichern oder das Land verändern?

Ihrem Anspruch, Volkspartei zu sein, wurde die Union im Saarland voll und ganz gerecht. In allen Alters-, Bildungs- und Berufsgruppen fuhr sie starke Ergebnisse von knapp 30 Prozent bis hin zu über 50 Prozent der Stimmen ein und verbesserte zudem ihr Ergebnis im Vergleich zu 2012 in nahezu allen Bevölkerungsgruppen. Bei Arbeitern und Angestellten war ihr Zuwachs sogar knapp zweistellig.

Nimmt man die Stimmung im Saarland als Referenz, steht es hinsichtlich dieser Frage unentschieden. Die eine Hälfte (47 Prozent) ist der Auffassung, die Verhältnisse in Deutschland seien alles in allem in Ordnung, die andere Hälfte (51 Prozent) meint, die Verhältnisse müssten sich spürbar ändern. Sobald sich eine der beiden Sichtweisen durchsetzt, stattet sie einen der beiden Kandidaten mit einem entscheidenden Vorteil aus.

Die größte Zustimmung erfährt die Saar-CDU – das hat sie mit der CDU Deutschlands bei der Bundestagswahl 2013 gemeinsam – von Frauen der Altersgruppe 60 Jahre und älter. Stärker als andere Parteien profitierte die CDU von der gestiegenen Wahlbeteiligung im Saarland. Nach dem Wählerwanderungsmodell von infratest dimap gelang es ihr, durch die Mobilisierung von 28.000 früherer Nichtwähler Verluste aufgrund der Überalterung der Wählerschaft – landauf, landab eine große Herausforderung für die Union – deutlich zu kompensieren.

47 Prozent der Saarländer sind der Auffassung, Angela Merkel sichere eher den Wohlstand. 32 Prozent sagen das über Schulz. Umgekehrt sagen 62 Prozent der Saarländer, Martin Schulz sorge eher für notwendige Veränderungen im Land. 23 Prozent sagen das über Angela Merkel. Wie lange hält der Schulz-Effekt noch an und wie stark ist er überhaupt? Auch wenn er deutlich schwächer ausfiel als von der SPD erhofft und von vielen erwartet, auch im Saarland gab es ihn, den Schulz-Effekt. Es wäre ein Fehler zu glauben, er sei eine reine Medienerfindung.

»Die Bundeskanzlerin betont, dem Land gehe es so gut wie nie zuvor.«

Martin Schulz konnte bei seinen Unterstützern im Saarland vor allem durch seine Ankündigung, die Arbeitsmarktreform Agenda 2010 zu korrigieren, punkten. 91 Prozent der SPD-Anhänger und 72 Prozent aller wahlberechtigten Saarländer finden dieses Vorhaben gut. Auch die Anhänger der Grünen (85 Prozent) und Linken (84 Prozent) weiß er damit hinter sich. Doch Schulz profitiert auch vom Reiz des Neuen. 96 Prozent der SPD-Anhänger und 76 Prozent aller wahlberechtigten Saarländer sind der Meinung, Schulz bringe frischen Wind in die Politik.

Die Saarlandwahl bildete den Auftakt zu einem Superwahljahr. Und obwohl die knapp 800.000 saarländischen Wahlberechtigten nur gut ein Prozent aller bundesweit Wahlberechtigten ausmachen, lohnt es sich, die demoskopischen Erkenntnisse dieser Wahl mit Blick auf die noch ausstehenden Wahlen genauer zu betrachten. Die Erfolgsaussichten der Union bei diesen Wahlen hängen von der Beantwortung von drei Fragen ab.

Bei aller Diskussion über Martin Schulz als SPD-Wahlmotiv darf auch der, wenn man so möchte, Merkel-Effekt nicht vergessen werden. Denn selbst nach zwölf Jahren Regierungsverantwortung ist die CDU-Bundesvorsitzende nach wie vor ein starkes Argument für eine CDU-Wahl. Im März entschied Martin Schulz die hypothetische Direktwahlfrage – „Für wen würden Sie sich entscheiden, wenn man den Bundeskanzler direkt wählen könnte?“ – noch für sich.

Wie steht es um Deutschland und die Deutschen? Diese Frage beantworten Angela Merkel und Martin Schulz höchst unterschiedlich. Während die Bundeskanzlerin betont, dem Land gehe es so gut wie nie zuvor, sagt der Herausforderer, in Deutschland herrsche soziale Ungerechtigkeit. Merkel möchte den Wohlstand sichern, Schulz

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»Für den Ausgang der Wahl wird entscheidend sein, welcher Sichtweise die Deutschen zuneigen: Den Wohlstand sichern oder das Land verändern?« Das hat sich nach der Saarlandwahl geändert. Aktuell würden sich 46 Prozent der Wahlberechtigten in Deutschland für Angela Merkel entscheiden und 40 Prozent für Martin Schulz.

realistische Szenario einer Regierung unter Beteiligung der Linken mobilisiert viele CDU-Wähler. Wobei davon auszugehen ist, dass hier der Mobilisierungsschub in Ost und West unterschiedlich stark ausfällt. Ebenso wichtig ist es, die Wähler in der heißen Phase des Wahlkampfs etwa durch Tür-zu-Tür-Aktionen oder Wahlwerbebriefe direkt anzusprechen und so zu mobilisieren.

Gelingt der Union, was der Saar-CDU gelungen ist – die Geschlossenheit im eigenen Lager herzustellen und die eigenen Wähler ausreichend zu mobilisieren? Die Beantwortung dieser Frage hängt mit Blick auf die Landtagswahlen und die Bundestagswahl von der Kampagnenfähigkeit der Union ab.

Auch das hat die Union im Saarland erfolgreich vorgemacht: Im Vorfeld der Wahl suchte sie an 75.000 Haustüren das Gespräch mit dem Bürger. Schließlich hat die Saarlandwahl auch ein Beispiel dafür geliefert, wie wert- und wirkungsvoll Angela Merkels Einsatz im Wahlkampf sein kann: In der Gemeinde Sankt Wendel, in der die Saar-CDU wenige Tage vor der Wahl ihre Abschlusskundgebung gemeinsam mit Angela Merkel abhielt, erreichte die CDU ihr landesweit zweitstärkstes Ergebnis (55,4 Prozent) und auch ihren landesweit zweitstärksten Stimmenzuwachs im Vergleich zu 2012 (+13,2 Prozentpunkte).

Die Saarlandwahl hat gezeigt, wie wichtig die CDU-Stammwähler und die grundsätzlich zur CDU tendierenden Wähler sind. Diese machten im Saarland mehr als jeden zweiten Unionswähler aus. Sie müssen zum einen frühzeitig, beispielsweise mittels Briefwahlkampagnen, und zum anderen mit klassischen CDU-Themen – Wirtschaft und Sicherheit – angesprochen werden. Und auch das hat die Saarlandwahl gezeigt: das

Florens Mayer leitet das Berliner Büro des Meinungsforschungsinstituts dimap. Er verantwortet bei dimap den Bereich Meinungsforschung und Kampagnen und ist Ansprechpartner für Regierungen, Parteien, Stiftungen und Verbände.

Quellen: SR-SaarlandTREND von infratest dimap | Erhebungszeitraum: 19.-23.01.2017 | n=1.002; ARD-DeutschlandTREND von infratest dimap | Erhebungszeitraum: 06.-08.03.2017 | n=1.002; SR-SaarlandTREND von infratest dimap | Erhebungszeitraum: 13.-15.03.2017 | n=1.001; ARD-morgenmagazin von infratest dimap | Erhebungszeitraum: 20.-22.03.2017 | n=1.023; SR-Vorwahlerhebung von infratest dimap | Erhebungszeitraum: 20.-23.03.2017 | n=1.003; SR-Exit Poll von infratest dimap | Erhebungszeitraum: 26.03.2017 | n=104.584; ARD-DeutschlandTREND von infratest dimap | Erhebungszeitraum: 10.-11.04.2017 | n=1.002.

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Reinhard Stuth

Klima, Wirtschaft und Politik Wer wandelt sich langsamer?

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sonderlich für Erfolgsgeschichten der Vergangenheit. Viel wichtiger ist der Eindruck, dass die Parteien und ihre Protagonisten sich für die großen Themen der Zukunft interessieren und eine konkrete Vorstellung von den Aufgaben und ihren Lösungen haben. Die meisten Wähler spüren genau: Veränderungen liegen in der Luft. Dieses gilt allemal für den Klimawandel. Viele würde es beruhigen, zu wissen: Die maßgeblichen Vertreter im künftigen Bundeskabinett spüren dieses auch.

Bisweilen ist Politik bemerkenswert bedächtig: Das Klima wandelt sich. Die Wirtschaft stellt sich darauf ein. Die Politik in Deutschland ist jedoch anderweitig beschäftigt. Wird das gut gehen ? Der Klimawandel ist Teil der Wirklichkeit. Jeder kann ihn in der eigenen Region und überall in der Welt sehen. Eine überwältigende Mehrheit der Naturwissenschaftler stellt fest: Dieser Klima­ wandel ist vom Menschen mindestens mit verursacht. Das Tempo des Erderwärmung nimmt eher zu als ab. Die Folgen sind enorme Kosten für Bürger, Verbraucher, Landwirtschaft, Industrie, Länder und Gemeinden sowie die heimische Natur.

Der Klimawandel schadet offenkundig Mensch und Natur, Landwirtschaft und Volkswirtschaft, Gesellschaft und sogar dem Frieden. Politische Verantwortung fängt damit an, die Wirklichkeit ernst zu nehmen: Zunehmend Hochwasser in Bayern, Starkregen-Ereignisse in Nordrhein-Westfalen, Sandsturm in Mecklenburg-Vorpommern, häufige Waldbrände vielerorten, extrem teurer Küstenschutz in Hamburg und Schleswig-Holstein, Atemwegserkrankungen in Baden-Württemberg und Hessen – der Klimawandel, beschleunigt durch Diesel, Öl und Kohle, kommt unser Land immer teurer zu stehen. Wer hierzu genauere Zahlen sucht, frage beim Gesamtverband der deutschen Versicherungswirtschaft (GDV ) und dem Deutschen Wetterdienst nach.

Die Wirtschaft reagiert auf das sich ändernde Klima mit Investitionsentscheidungen und neuen Geschäftsmodellen. Die Gründe für die Unternehmen sind vielfältig: Es geht um die Wünsche von Kunden, langfristige Renditeerwartungen und durchaus immer wieder auch um gesellschaftliche Verantwortung. Ein zukunfts- und gewinn­ orientiertes Unternehmen kann es sich einfach nicht leisten, den Klimawandel zu ignorieren. Die Elefanten der alten deutschen Energiewelt und viele Stadtwerke erkennen: Anpassung ist eine Überlebensfrage.

Hinzu kommen immer einschneidendere Maßnahmen gegen die Feinstaub- und Lärmbelastung in unseren Städten. Wem die Folgen von Treibhausgasen und anderen Schadstoffen in der Luft ziemlich egal sind, dem sind die dadurch unausweichlich werdenden Fahrverbote für Innenstädte folglich auch ziemlich egal.

»Die Bundespolitik erkennt kaum die Dimension der Klimapolitik.« Am langsamsten ist hingegen die Politik in Deutschland. CDU- und CSU-Politiker sind dabei keine rühmliche Ausnahme. Vom Vorstand der Bundestagsfraktion bis zum Bundesvorstand der Mittelstandsvereinigung der CDU/CSU gilt: Hingebungsvoll werden die Schlachten der Vergangenheit wiederholt und wiederholt, als ob es um das Vormittagsprogramm öffentlichrechtlicher Fernsehanstalten ginge. Energiepolitik besteht immer noch zuerst in einer Polemik gegen die EEG-Umlage. Die Bundespolitik erkennt kaum die Dimensionen der Klimapolitik – weder hinsichtlich der Risiken, noch der Chancen und schon gar nicht der Dringlichkeit.

Klimapolitik ist also nicht nur Umwelt-, Energieund Gesundheitspolitik. Klimapolitik ist auch Haushaltspolitik, Wirtschafts- und Standort­ politik und allemal Generationenpolitik. Auch andere Zahlen sprechen eine klare Sprache. Deutschland ist verpflichtet, den CO₂-Ausstoß bis 2050 um 80 Prozent zu senken. Die Folgen sind klar: Auch 2050 werden die Industrie (Prozesswärme) und die Landwirtschaft (Methan) nicht ohne erhebliche CO₂-Belastung auskommen. Deutschland wird das verbindliche Ziel also nur einhalten können, wenn bis 2050 Strom, Mobilität und Raumwärme/ Kühlung überhaupt kein CO₂ mehr ausstoßen. Spielräume für politische Kompromisse oder Rechenkunststücke sind 2050 nicht mehr möglich.

Ein Bundestagswahlkampf bietet die hervorragende Gelegenheit, Themen neu zu setzen. Bekanntlich interessieren sich Wähler nicht

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und in Mecklenburg-Vorpommern Geothermie für private und gewerbliche Kunden.

Die Zeit für die Dekarbonisierung drängt daher. Die Ziele sind erreichbar, aber nicht mit deutscher Gemütlichkeit. Die mittelfristige Politik in Deutschland, die demnächst – nach der kommenden Bundestagswahl – ein Koalitionsvertrag bestimmen wird, hat folglich zwei Optionen: Entweder den eigenen Bürgern und der Welt zu sagen: Wir wollen das nicht schaffen (obwohl wir es könnten). Oder aber schneller zu werden.

Zu Beginn genossen die erneuerbaren Energien manche Subventionen und Privilegien. Dieses ermöglichte den Aufbau einer starken, dezentralen, neuen Maschinenbau-, Elektro- und Bauindustrie in Deutschland. Inzwischen stehen die Erneuerbaren im Wettbewerb. Das ist gut. Markt und erneuerbare Energien kommen zusammen.

Ein Blick auf die deutsche und die europäische Wirtschaft zeigt: Unternehmer wie Unternehmen waren auch in den letzten Jahren innovativ und anpassungsfähig. Sie können im weltweiten Wettbewerb mithalten. Dieses gilt übrigens, wie meistens, für den Mittelstand mehr als für die Elefanten und Dinosaurier. Vorgestern die Telekommunikationbranche, gestern die Energieerzeuger, die sich selbst altväterlich „Versorger“ nannten, und heute die Automobilbranche: Sie alle waren und sind langsam. Und viel zu viele Bundestagsabgeordnete, die mehr auf alte Großindustrie (und ihre redegewandten Verbände) hören, als auf Mittelständler und Start-ups, sie erkennen noch später die Zeichen der Zeit.

»Rein wirtschaftlich betrachtet wird es für die Kohle eng.« Mittlerweile sind die Kosten der erneuerbaren Energien wettbewerbsfähig mit Kohle- und Gaskraftwerken. Selbst die bislang als besonders teuer dargestellte Windenergie auf See wurde in letzter Zeit geradezu dramatisch günstiger. Solar- und Windparks haben technologieoffene Ausschreibungen nicht mehr zu fürchten. Rein wirtschaftlich betrachtet wird es eher für die Kohle eng.

Während manche Politiker noch über die großen Stromautobahnen von Nord- nach Süddeutschland streiten und locker Milliarden für eine Erdverkabelung beschließen, bringen Viessmann, Stiebel Eltron und Tesla attraktive, kapazitätsstarke, dezentrale Speicherlösungen für private Haushalte auf den Markt, die ein beträchtliches regionales Lastmanagement im Norden ermöglichen. Während manche Politiker sich noch über die Höhe der EEG-Umlage aufregen (die nur knapp ein Viertel des Strompreises ausmacht), bietet die bayerische Sonnen GmbH eine Stromversorgung zum Nulltarif an (Eigenwerbung: „Wir schaffen die Stromkosten ab!“). Grundlage sind eine private Photovoltaik-Anlage und eine Sonnen-Batterie.

Denn zum Preis der Energieversorgung gehören auch Subventionen und volkswirtschaftliche Kosten der Braun- und Steinkohle. Kohlekraftwerke verschmutzen Luft und Böden (saurer Regen). Sie schädigen Menschen, Tiere und Wirtschaftsgüter durch Feinstaub. Quecksilber und Stickoxide aus dem Rauch der Kohlekraftwerke schaden der Gesundheit der Bewohner. Die Braunkohlenutzung in der Lausitz führt zum Sulfat­ anstieg im Berliner Trinkwasser. Alle diese Folgekosten zahlen nicht die Kohlekraftwerkbetreiber. Kohle, Öl und Diesel kommen noch anders wirtschaftlich unter Druck. Die Kapitalmärkte, immer besonders sensibel für neue Entwicklungen, zeigen einen großen Trend zu nachhaltigen, klimafreundlichen Kapitalanlagen. Große Privatinvestoren, wie der weltweit größte Vermögensverwalter Blackrock aus New York, orientieren sich neu. Sie halten Klimafaktoren für unterbewertet und gewichten ihre Portfolios neu, unter anderem zugunsten von Green Bonds.

Während manche Politiker die Elektromobilität noch unter Hinweis auf eine Technologie­ offenheit bremsen, bauen Japaner, Chinesen und Koreaner immer größere Stückzahlen von Wasserstoff-/Brennstoffzellen-Autos und die französische Alstom bringt Wasserstoff-Triebwagen auf deutsche Schienen. Während viele Politiker noch über den Strommarkt diskutieren, haben deutsche Mittelständler längst mit der viel wichtigeren Wärmewende begonnen und nutzen in Bayern

Versicherer wie die Allianz und die Münchener Rück sowie der norwegische Pensionsfonds, zweitgrößtes Vorsorgeinstitut der Welt, ziehen

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»Während manche Politiker die Elektromobilität noch unter Hinweis auf eine Technologie­offenheit bremsen, bauen Japaner, Chinesen und Koreaner immer größere Stückzahlen von Wasserstoff-/Brennstoffzellen-Autos.«

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»Der Bund muss für die Elektromobilität endlich die notwendige Infrastruktur ermöglichen.« ihre Investitionen aus CO₂-intensiven Industrien ab. Der Familienfonds der US-amerikanischen Rockefellers verkauft seine Öl-Beteiligungen, unter anderem an Exxon.

Forschung, Entwicklung und Marktanwendung gehen muss, werden andere uns überholen. Für die Mobilität wird Strom das Öl (Benzin, Diesel) als Leitenergie ablösen – egal, ob die Fahrzeughersteller sich am Ende für die Batterie-, die Wasserstoff-/ Brennstoffzellen- oder für eine hybride Technologie entscheiden. Dieses wird die Automobil-Zuliefererindustrie in einen großen Strukturwandel bringen. Der Bund muss für die Elektromobilität einen guten rechtlichen Rahmen und endlich die notwendige Infrastruktur ermöglichen. Die betroffenen Menschen brauchen neue Perspektiven. Diese liegen nicht in Subventionen für veraltete Strukturen.

Ein Ausstieg der öffentlichen Hand aus Vermögensanlagen (z.B. für Pensionsrückstellungen) in Unternehmen, deren Geschäftsmodell dem Ziel der Klimaneutralität klar widerspricht, ist daher marktwirtschaftliche Klimapolitik. San Francisco und andere Städte zeigen, wie dieses geht. Die Parlamente in Irland und Neuseeland drängen ebenfalls auf den Ausstieg („Desinvestment“). Die deutsche Politik kann nach der Bundestagswahl Tempo aufnehmen, oder anders gesagt: Wieder Anschluss an die technologische und wirtschaftliche Entwicklungen und die internationalen politischen Trends finden. Neben einer grundlegenden Reform von Steuern und Abgaben (CO₂-Mindestpreise, Abschaffung der Stromsteuer) sowie einem völlig neuen Rahmen für die Wärmewende sind weitere Maßnahmen möglich:

Deutschland muss den steigenden Strombedarf überwiegend aus erneuerbaren Energien decken. Denn Atomenergie ist zu teuer und hat immer noch keine Lösung für den Abfall, Kohle ist zu dreckig und Erdgas würde die Abhängigkeit von politisch unzuverlässigen Lieferländern erhöhen. Das Beste aber ist: Deutschland ist nicht rohstoffarm. Wir haben mit Wind, Sonne, und Erdwärme nahezu unbegrenzte natürliche Ressourcen. Durch die erneuerbaren Energien werden aus Energie-Importen heimische Investitionen, oft aus der eigenen Region. Beherzte Klimapolitik hat eben viele Gewinner.

Dezentrale, digitalisierte Lösungen für Erzeugung, Speicherung und Verteilung mit umfassenden, IT-gestützten Vernetzungen werden zum Kern der Energieversorgung gemacht. Ohne eine kräftige Startförderung, die vor allem in

Reinhard Stuth ist Geschäftsführer der HanBao Neue Energien GmbH (Hamburg) und ist an Unternehmen in Schwerin und Chile beteiligt. Er war Staatsrat und Senator in Hamburg.

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Zeitschrift für Politik, Gesellschaft, Religion und Kultur

„GEISTIGE AUSEINANDERSETZUNGEN GEHÖREN ZUM LEBEN; UND SIE SIND NOTWENDIG ZU JEDEM FORTSCHRITT.“

9 €, Nr. 540, September/Oktober 2016, 61. Jahrgang, ISSN 0032-3446, www.politische-meinung.de

NRW ZUM SCHWERPUNKT Guido Hitze, Im Westen die Besten?; Christina Schulze Föcking, „Operation Marriage“; Kurt Biedenkopf, Erinnerungen und Betrachtungen; Matthias Burchardt, Bildung in Nordrhein-Westfalen INTERVIEW Serap Güler über die Integration in NRW; Armin Laschet, „Sanierung West“ KOMMENTIERT Fritz Eckenga, Hinterm Bindestrich geht’s weiter RÜCKBLICK: ZERFALL DES SOWJETIMPERIUMS Markus Wehner, Was geschah mit den russischen Reformern? 9 €, Nr. 541, November/Dezember 2016, 61. Jahrgang, ISSN 0032-3446, www.politische-meinung.de

Nr. 539, Juli/August 2016 Populismus – Diagnosen zu einem Phänomen

ZUM SCHWERPUNKT Monika Hohlmeier, Bayerische Heimat und deutsche Hauptstadt; Wolfgang Schäuble, Auch Berlin ist nicht Weimar; Pascale Hugues, Die große Provinzstadt; Ole von Beust, Großstädte ticken anders INTERVIEW Frank Henkel über den Hauptstadtbeschluss, die Berliner CDU und die Perspektiven der Stadt IMPULSE Nico Lange, Lehren aus drei Jahren Erfahrung mit der AfD WÜRDIGUNG Hans-Gert Pöttering, Vierzig Jahre Europäische Volkspartei 9 €, Nr. 538, Mai/Juni 2016, 61. Jahrgang, ISSN 0032-3446, www.politische-meinung.de

Die Politische Meinung

Hauptstadt, Metropole, Zukunftsort

Die Politische Meinung

POPULISMUS Diagnosen zu einem Phänomen

ZUM SCHWERPUNKT Paula Diehl, Rechtspopulismus und Massenmedien; Patrick Moreau, Ferne „Brüsseler Welt“; Viola Neu, Heimatlosigkeit des Protestes INTERVIEW Peter Tauber über Populisten und ihre Botschaft IMPULSE Katharina Senge, Zum neuen Integrationsgesetz 9 €, Nr. 539, Juli/August 2016, 61. Jahrgang, ISSN 0032-3446, www.politische-meinung.de

Oskar Lafontaine

Die Politische Meinung

FRANKREICH Vor der Wahl

ZUM SCHWERPUNKT Günter Müchler, Wohin steuert Frankreich und mit wem?; Claire Demesmay, Die deutsch-französischen Beziehungen nach dem Brexit; Gilles Kepel, Motive, Entwicklung und Ziele des Dschihadismus INTERVIEW Gesicht zeigen! Julia Klöckner über die Debatte um das Vollverschleierungsverbot INAUGURATION Frank Priess, Folgen und Folgerungen aus der US-Wahl NACHRUF Hans-Gert Pöttering zum Tode von Roman Herzog 9 €, Nr. 542, Januar/Februar 2017, 62. Jahrgang, ISSN 0032-3446, www.politische-meinung.de

Nr. 543, März/April 2017

Nr. 538, Mai/Juni 2016 Berlin – Hauptstadt, Metropole, Zukunftsort

Nr. 537, März/April 2016 Türkei – Schlüsselmacht einer Krisenregion

BERLIN

Demokratie – Vertrauen in die Zukunft

Die Politische Meinung

Die Politische Meinung

9 €, Nr. 537, März/April 2016, 61. Jahrgang, ISSN 0032-3446, www.politische-meinung.de

Im Westen was Neues?

Die Politische Meinung

Die Politische Meinung

ZUM SCHWERPUNKT Thomas Petersen, Statistische Befunde zur Wahrnehmung einer sozialen Spaltung; Karl-Rudolf Korte, Bürgerliche Mitte?; Dorothea Siems, Nur noch Abstieg?; Eva Maria Welskop-Deffaa, Mitte, Maß und Leistung INTERVIEW Annegret Kramp-Karrenbauer über die Schwäche der demokratischen Mitte und die Reaktionen auf gestärkte politische Ränder STANDPUNKTE Rupert Scholz, Zum Einsatz der Bundeswehr im Inneren FOKUS EUROPA Hans-Gert Pöttering, Zu den Konsequenzen der britischen Ausstiegsentscheidung

ZUM SCHWERPUNKT Jürgen Hardt, Die wachsende Bedeutung der deutschtürkischen Beziehungen; M. Murat Erdoğan, Syrische Flüchtlinge im Stimmungsbild der Türkei; Gülistan Gürbey, Der Kurdenkonflikt; Yaşar Aydın, „Neue Türkei“ INTERVIEW Norbert Röttgen, Die Europäer können ihre Aufgaben nicht an die Türkei delegieren 100. DEUTSCHER KATHOLIKENTAG Thomas Sternberg, Der Katholikentag als Demonstration für den Dienst am Menschen; Heinrich Bedford-Strohm, Charta Oecumenica IMPULSE Norbert Arnold, Gene Editing – Wissen wir, was wir tun?

Angstististderdereine Angst ist derAngst einzige sichereRatgeb Ratg sichere Ratgeber, sichere Leb den das LebendendendasdasLebe überhaupthath überhaupt hat.überhaupt

Die Politische Meinung

Die Politische Meinung

MITTE Aufbruch oder Abgesang

Schlüsselmacht einer Krisenregion

Nr. 542, Januar/Februar 2017

Die Politische Meinung

TÜRKEI

Frankreich – vor der Wahl

9 €, Nr. 536, Januar/Februar 2016, 61. Jahrgang, ISSN 0032-3446, www.politische-meinung.de

Die Politische Meinung

Die Politische Meinung

Die Politische Meinung Nr. 540, September/Oktober 2016 Mitte – Aufbruch oder Abgesang

ZUM SCHWERPUNKT Petra Bahr, Sprechen über das Eigene; Herfried Münkler, Aus Flüchtlingen „Deutsche“ machen; Julia Klöckner, Integration – Pflicht für alle; Manfred Lütz, Das ambivalente „Wir“ KOMMENTIERT Klaus Dicke, Nur nicht hochschaukeln! Über die öffentliche Debatte nach den Ereignissen in Köln ERZÄHLT Marica Bodrožić, Deutsche Sprache – Meine tragbare Heimat IMPULSE Andreas Jacobs, Die NATO und der Kampf gegen den IS; Karl-Josef Laumann, Fortschritte bei der Pflege

Die Politische Meinung

WIR Was uns prägt, was uns eint

Nr. 541, November/Dezember 2016

Die Politische Meinung

NRW – im Westen was Neues?

Wir – was uns prägt, was uns eint

Nr. 536, Januar/Februar 2016

Konrad Adenauer in einem Brief an William F. Sollmann, 16. März 1946

Oskar Lafontaine Oskar Lafontaine

Die Politische Meinung

DEMOKRATIE Vertrauen in die Zukunft

ZUM SCHWERPUNKT Thomas Schmid, Woher kommt der Hass auf die Eliten?; Volker Kauder, Warum der Freihandel für Deutschland so wichtig ist; Angelika Nußberger, Über Demokratie und Menschenrechte; Marc Calmbach, Zum Institutionenvertrauen junger Menschen INTERVIEW Jens Spahn über Generationengerechtigkeit und die Weiterentwicklung des Rentensystems IMPULSE Arne Schönbohm über Cybersicherheit und den Erfolg der Digitalisierung ERINNERT Hans-Gert Pöttering zum 50. Todestag Konrad Adenauers 9 €, Nr. 543, März/April 2017, 62. Jahrgang, ISSN 0032-3446, www.politische-meinung.de

Die Politische Meinung erscheint sechsmal im Jahr. Der Bezugspreis für sechs Hefte beträgt 50,00 € zzgl. Porto. Der Einzelheftpreis beträgt 9,00 €. Schüler und Studenten erhalten einen Sonderrabatt (25 Prozent). Die Bezugsdauer verlängert sich jeweils um ein Jahr, sofern das Abonnement nicht bis zum 15. November eines Jahres schriftlich abbestellt wird. Unter pia.grundheber@kas.de können Sie ein Abonnement oder ein kostenloses Probeexemplar bestellen. www.politische-meinung.de www.facebook.com/DiePolitischeMeinung


Martin Röckert

Warum wir überrascht waren Die Wahl von Donald Trump

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hoffen. Alles klar. Man muss also nicht die ganze Nacht wach bleiben, die Wahl ist gelaufen. So der Eindruck, den die ARD vermittelte. Da waren die Wahlen noch in vollem Gange. Acht Stunden später sah die Welt ganz anders aus.

November 2016: Apathische Journalisten in den Medien. Empörung in den sozialen Netzwerken. Entsetzen in den Parteien. Führende Parteimitglieder der Grünen können nächtelang nicht schlafen, einige fallen eigenen Aussagen zufolge sogar in Depressionen. Die politische Linke ist hart getroffen. Auch in bürgerlichen Kreisen verwundertes Augenreiben. Was war passiert?

»Ist Schönenborn in dieser Nacht von seiner persönlichen politischen Attitüde geleitet worden?«

Die Vereinigten Staaten von Amerika haben in einer freien demokratischen Wahl einen neuen Präsidenten gewählt. Das tun sie seit über 200 Jahren regelmäßig alle vier Jahre. Mehr war eigentlich nicht passiert. Eigentlich. Der 45. Präsident der USA ist Donald J. Trump, männlich, 70 Jahre alt, Unternehmer, Republikaner. Dieses Mal aber muss etwas anders gewesen sein, dass solche zum Teil pathologischen Reaktionen ausgelöst hat. Die Fürsorgepflicht gebietet es, die Auslöser zu analysieren.

Wahlexperte Schönenborn spekulierte in der Wahlnacht folgendermaßen: „Wenn Clinton diesen Staat verliert, reicht ihr Vorsprung noch deutlich. Oder wenn sie diesen Staat verliert, da könnte es vielleicht etwas eng werden, dann reicht ihr Vorsprung immer noch. Oder wenn sie diesen Staat verliert, auch dann verliert sie die Wahl nicht.“ Ist Schönenborn in dieser Nacht von seiner persönlichen politischen Attitüde geleitet worden? Weil niemals sein kann, was niemals sein darf? Hat sie ihm suggeriert, dass Trump gar nicht Präsident werden kann, nur Clinton? Denn sonst hätte er auch anders herum spekulieren müssen, z.B. dass Clinton, wenn sie alle drei Staaten verliert, die ganze Wahl verliert.

»Nur vier von 100 Deutschen hätten Donald Trump ihre Stimme gegeben.« Lassen sie uns zuerst noch ein paar Zahlen betrachten: Neun von zehn Deutschen ist am Mittwochmorgen ihr Smartphone in den Latte macchiato gefallen. Denn sie gingen am Vorabend mit der Gewissheit zu Bett, dass, wenn sie am nächsten Morgen erwachen, Hillary Clinton die erste weibliche Präsidentin der USA ist. Nur vier von 100 Deutschen hätten Donald Trump ihre Stimme gegeben. In kaum einem anderen Land der Erde hätte er mehr als zehn Prozent erhalten.

Eine undemokratische Wahl? Die USA sind mit 323 Millionen Einwohnern und einer Fläche von fast zehn Millionen Quadratkilometern das drittgrößte Land der Welt. Es spannt sich mit 50 Bundesstaaten zwischen zwei Ozeane und vereint die unterschiedlichsten Bevölkerungsgruppen und Mentalitäten. Vom liberalen Leben in der Bucht von San Francisco bis zur regelmäßigen Sonntagskirche in den konservativen Weiten Montanas. Ein hoher Stellenwert im amerikanischen Wahlsystem kommt den starken Nationalstaaten zu. Es sind schließlich die „United States of America“. Jeder Bundesstaat bekommt unabhängig von seiner Einwohnerzahl mindestens zwei Wahlmännerstimmen. Ein Kompromiss der Gründerväter, um die Selbstständigkeit, Souveränität und Mitsprache der Staaten bei der Wahl des gemeinsamen Präsidenten zu gewährleisten. Gewinnt ein Kandidat also viele Staaten, kann es zu einem abweichenden Ergebnis bei Wählerstimmen und Wahlmännerstimmen kommen.

Aber bleiben wir in Deutschland. Wenn es darum geht, ein Gefühl für den amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf zu bekommen, sind wir selbstverständlich auf Medienberichte, Politiker- und Expertenmeinungen angewiesen. Und es wurde viel berichtet. In der ARD-Sondersendung am Wahlabend zur Präsidentschaftswahl legte Schönenborn mit einer Karte der USA an einer digitalen Wand die Prognose für diese Wahlnacht dar. Der Balken für Hillary Clinton stand bei 268 „sicheren“ Wahlmännern. 270 Wahlmänner braucht man zum Sieg. Der Balken für Donald Trump war vergleichsweise winzig. Trump müsse alle „swing states“ gewinnen und auf „Sensations­ergebnisse“

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für skandalös, aber immerhin unterhaltsam. „Typisch USA, dass da so einer ernsthaft kandidiert“. Undenkbar, dass er am Ende tatsächlich der mächtigste Mann der Welt werden könnte. Welch ein Irrtum. Deshalb reagierten viele perplex. Und beleidigt, weil sich gerade politisch Interessierte über diverse Medien selbst als gut und breit informiert ansahen.

Nach der Wahl wurde der Vorwurf laut, die Präsidentschaftswahl der USA sei undemokratisch. Das Wahlsystem lässt es aber durchaus zu, dass ein Kandidat Präsident wird, der nicht landesweit die Mehrheit der absoluten Wählerstimmen erhält. Das ist bei Donald Trump der Fall. Er hat im „popular vote“ etwa 2,8 Millionen Stimmen weniger als Hillary Clinton. Wenn man sich die Verteilung der Wählerstimmen anschaut, stellt man fest, dass Clintons Vorsprung im „popular vote“ fast ausschließlich aus dem Wahlergebnis in Kalifornien resultiert: Dort hatte sie rund vier Millionen Stimmen mehr.

»Es gewann der Außenseiter, der Politik-Anfänger, der mit dem Unterhaltungswert.«

Aber der Vorwurf einer undemokratischen Wahl ist nicht begründet. Er ignoriert die Besonderheiten der USA und des amerikanischen Wahlsystems. Schon ein Jahr vor der „general election“ beginnen dort die Vorwahlen. Bei den Republikanern gab es diesmal 17 Kandidaten, bei den Demokraten sechs. In langen Wahlkämpfen und Abstimmungen haben beide Lager ihre Präsidentschaftskandidaten ermittelt. So gab es einen intensiven demokratischen Findungsprozess lange vor der Hauptwahl.

Dabei darf so ein Wahlergebnis in den USA nicht überraschen. Vor acht Jahren ist Hillary Clinton schon einmal angetreten und schon damals rechneten viele mit ihrem Sieg. Damals wurde sie bereits in den Vorwahlen geschlagen. Von einem „nobody“, einem unbekannten Senator aus Illinois. Mit Barack Obama ist erstmals ein Mann mit afroamerikanischen Wurzeln Präsident geworden. Das hatte damals auch kaum jemand für möglich gehalten. 2016 hat Hillary Clinton die Vorwahlen erfolgreich absolviert und mit ihr kandidierte nun erstmals eine Frau in der „general election“. Es gewann der Außenseiter, der Politik-Anfänger, der mit dem Unterhaltungswert. Die USA bleiben das „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“. Zu viele in Deutschland haben das vergessen.

»Der Vorwurf einer undemokratischen Wahl ist unbegründet.«

Dabei gab es durchaus Hinweise auf einen anderen Ausgang. So nahmen an den republikanischen Vorwahlen so viele Menschen teil wie nie zuvor. Insbesondere bei den offenen Vorwahlen, also den Wahlen, wo auch Nicht-Republikaner teilnehmen können, triumphierte Trump deutlich gegen seine Mitbewerber. Ein wichtiger Hinweis auf sein Mobilisierungspotential, das er im Gegensatz zu seiner Rivalin hatte und das gerade in den umkämpften Staaten oft den Ausschlag gibt.

Einer der Grundgedanken der Gründerväter war, dass die Bundesstaaten ein Mitspracherecht haben müssen und der Präsident alle Teile des Landes mit seinen zum Teil großen Unterschieden repräsentieren muss. Donald Trump gewann deutlich mehr Staaten und repräsentiert somit mehr Mentalitäten der Amerikaner als Hillary Clinton. Das Wahlsystem wurde in der Vorberichterstattung nie genauer erläutert und überhaupt nur unzureichend erklärt. Dafür gab es hunderte Artikel, die negativ über die Person Donald Trump berichteten. Und statt eines Politikprofessors saß als Wahlexperte in der ARD-Wahlnacht ein Schauspieler.

Das Ergebnis der Neuauszählung im Bundesstaat Wisconsin, die von der grünen Präsidentschaftskandidatin Jill Stein mit Hilfe von Spendengeldern angestoßen wurde, war Ende 2016 der Schlusspunkt unter den Präsidentschaftswahlkampf. Jill Stein hatte den Verdacht des Wahlbetruges in Wisconsin zugunsten von Donald Trump geäußert. Die Zahlen der Statistiker würden den Verdacht zulassen, an den Wahlmaschinen habe es

Irrtum Die meisten Menschen in Deutschland haben geglaubt, Donald Trump wird schon nicht Präsident werden. Sie hielten seine Kandidatur zwar

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»Es ist völlig legitim, das Wahlergebnis einer demokratischen Wahl nicht anzuerkennen.«

entsprechende Manipulationen gegeben. Das Ergebnis der Neuauszählung: Donald Trump erhielt 131 Stimmen mehr. Die blanke Ironie. Wurde ihm doch noch wenige Wochen vor der Wahl unterstellt, er würde das Ergebnis im Falle einer Niederlage nicht anerkennen. Dabei hatte Trump bei einem Auftritt lediglich gesagt, er werde das Ergebnis akzeptieren, wenn er gewinnt. Im Übrigen ist es völlig legitim, das Wahlergebnis einer demokratischen Wahl nicht anzuerkennen und juristisch anzufechten, wenn man Beweise dafür hat, betrogen worden zu sein. Die Schuldfrage In der gefühlten Mehrzahl der Berichterstattungen suchte man nach Gründen für den unerwarteten Wahlausgang. Die ersten Schuldigen waren Meinungsforscher und Statistiker: Sie hätten mit ihren Zahlen und Prognosen falsch gelegen. Im ARD-Brennpunkt am Abend nach der Wahl sagte Jörg Schönenborn über die Wahlprognosen des Vorabends: „In den letzten zehn Tagen vor der Wahl wurden gerade in den swing states keine aktuellen Umfragen gemacht – ein völliger Blindflug der Wahlforscher.“ Wenn er das am Abend nach der Wahl feststellen kann, warum wurde den Zuschauern am Wahlabend, in der Wahlnacht und in den Tagen davor nicht einfach gesagt, dass man mit der Prognose sehr, sehr vorsichtig sein muss? Dass der Wahlausgang offen ist?

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Filmemacher Michael Moore einen Aufsatz mit dem Titel „Fünf Gründe, warum Donald Trump die Wahl gewinnen wird“. Auch deutsche Journalisten wie Jan Fleischhauer waren ob des prognostizierten Wahlsieges von Clinton skeptisch. Aber es waren sehr wenige. Oder diese Berichte fanden zu wenig Beachtung. Der Wahlsieg Trumps war nicht zuletzt ein Schlag ins Gesicht zahlreicher medienpolitischer Eliten.

Anschließend gab man „social bots“ die Schuld. Ihnen folgten die „fake news“ und schließlich versuchten einige, es Wladimir Putin in die Schuhe zu schieben. Mit angemessener Selbstkritik tun sich viele Medieneliten und Politiker schwer. Einige von ihnen waren im Vorfeld der Wahl in den Staaten. SPD-Vize Ralf Stegner hat sogar selbst Tür-zu-Tür Wahlkampf für Clinton gemacht und damit entscheidende Stimmen für Trump mobilisiert. Aber zu viele sind Opfer der „Informationsblase“ geworden, vor der sie häufig gewarnt, in der sie aber selbst gesessen haben.

Wie geht es weiter? Viele Berichterstatter, Journalisten und Experten in den USA und in Deutschland müssen sich mit ihrer Wahrnehmung und Berichterstattung kritisch hinterfragen: Warum wurden Besonderheiten des Wahlsystems nur oberflächlich erklärt? Warum wurden kritische Berichte nicht ernst genommen und Zahlen falsch oder gar nicht interpretiert? Warum folgten so viele der Empörungseuphorie, anstatt aus ihrer Informationsblase auszubrechen?

Wer von ihnen war denn im mittleren Westen? Oder im „rust belt“ bei den großen Seen und hat mit den Enttäuschten gesprochen, die noch vor acht Jahren dem Slogan „Yes we can“ gefolgt sind? Wir sehen häufig nur die Bilder von Manhattan, Washington, der Golden Gate Bridge und vom Hollywood Boulevard. Eine schöne heile Welt, in der mehrheitlich demokratisch gewählt wird. Wer hat sich die Mühe gemacht und ist auf den dreckigen Pisten durchs Landesinnere gefahren? Wer hat mit den Armen und Abgehängten gesprochen, die sich schon lange nicht mehr davon beeindrucken lassen, welches hochbezahlte Hollywoododer Popsternchen sich gerade eben für Hillary ausgesprochen hat?

Die Berichterstattung muss an Ausgewogenheit zurückgewinnen. Sie darf nicht vornehmlich von der persönlichen politischen Attitüde, sondern muss von gewissenhafter Analyse geleitet werden. Dazu bedarf es gerade in den kommenden Monaten und Jahren spürbar mehr Sachlichkeit in der Berichterstattung.

»Der Wahlsieg Trumps war ein Schlag ins Gesicht zahlreicher medienpolitischer Eliten.«

Zum Wahlversprechen Trumps, eine Mauer an der Grenze zu Mexiko zu bauen, sagte Schönenborn im ARD-Brennpunkt am Abend nach der Wahl: „Im Grunde ist jedem bei gesundem Menschenverstand klar, dass das ein unrealistisches Projekt ist.“

Es gab damals auch Journalisten, die einen Wahlausgang zu Gunsten von Trump prognostizierten. Im Juli 2016, vier Monate vor der Wahl, schrieb der umstrittene amerikanische Autor und

Man möchte ihm zurufen, dass Donald Trump nun der mächtigste Mann der Welt ist. Und dass er vorher Bauunternehmer war.

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»Die Berichterstattung muss an Ausgewogenheit zurückgewinnen und darf sich nicht von persönlichen politischen Attitüden leiten lassen.« Martin Röckert ist gelernter Physiotherapeut und studierte Politik und Publizistik in Mainz. Von 2013 bis 2015 war er Bundesvorsitzender des RCDS. Derzeit arbeitet er als Referent für Grundsatzfragen und strategische Planung bei der CDU Thüringen.

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Carsten Linnemann

Stresstest fĂźr die Demokratie Ăœber Schiedsrichter, Spielertrainer und Sahra Wagenknecht

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Mechanismus aber über Jahre hinweg komplett ausgehebelt. Wer „grünen Strom“ produzierte, wurde mit einem staatlichen, für 20 Jahre garantierten Festpreis belohnt. Und zwar egal, ob der Strom benötigt wurde oder nicht. Ein Traum für finanzstarke Investoren, die auf Rendite-Jagd sind. Aber ein Albtraum für den ganz normalen Verbraucher, der am Ende für die Kosten geradestehen muss.

Ich kann es immer noch nicht glauben. Sahra Wagenknecht hat Ende Januar an der Universität Siegen einen Vortrag gehalten. Volles Haus. Thema: „Rückbesinnung auf das Wirken Ludwig Erhards“. Wie weit ist es eigentlich gekommen, dass die oberste Linke Deutschlands die Soziale Marktwirtschaft für ihre Zwecke missbraucht?

»Die Wirtschaftspolitik in Deutschland hat sich sehr weit vom Grundgerüst der Sozialen Marktwirtschaft entfernt.«

So funktioniert Umverteilung von unten nach oben, aber keine Soziale Marktwirtschaft. Wenn die Energiewende gelingen soll, braucht es jetzt dringend mehr Mut zu Markt und Wettbewerb. Und zwar weit über die bisherigen Trippelschritte in Form von Ausschreibungs- und Direktvermarktungsmodellen hinaus. Beispiel Haftung: Unser Wirtschaftssystem beruht eigentlich auf dem einfachen Grundsatz, dass derjenige, der den Nutzen hat, im Zweifel auch den Schaden zu tragen hat. Warum sonst sollte man die Risiken des eigenen Handelns auch vernünftig abwägen? Im Falle der Euro-Rettungsschirmpolitik wird dieses Prinzip jedoch schon seit vielen Jahren durchbrochen, vor allem in den südlichen Ländern lassen wichtige Reformen weiter auf sich warten. Warum auch, im Zweifel zahlt ja der (deutsche) Steuerzahler. Auf dieser Grundlage hat die Währungsunion keine Zukunft. Es braucht vielmehr eine Insolvenzordnung für Staaten, an deren Ende die Sanierung oder der Austritt steht.

Was auf den ersten Blick absurd erscheint, kann auf den zweiten Blick gar nicht so sehr überraschen. Im Bundestag vergeht kaum eine Rede zu wirtschaftspolitischen Themen, ohne dass sich der Redner aufschwingt, seine Forderung sei „ganz im Sinne der Sozialen Marktwirtschaft“. Kurzum: Unser Wirtschaftssystem ist zu einem Feigenblatt geworden, mit dem sich mittlerweile alle Parteien schmücken, während in der Bevölkerung seit Jahren das Vertrauen in unser Wirtschaftssystem sinkt. Besonders die breite Mitte unseres Landes hat den Eindruck, dass es nicht mehr gerecht zugeht, dass einige wenige von unserem Wirtschaftssystem sehr stark profitieren, sie selber aber zunehmend abgehängt werden.

Beispiel Privateigentum: Der einzelne Bürger sollte durch sein Privateigentum in der Lage sein, sein Leben selbstbestimmt zu führen. Doch dann muss ihm der Staat auch genügend Spielraum für den Erwerb von Privateigentum lassen, anstatt ihm immer tiefer in die Taschen zu greifen! Seit Jahren schon steigt gerade die Belastung der Mittelschicht.

Dabei handelt es sich aber nur um einen scheinbaren Widerspruch. Denn wer sich etwas genauer mit den Regeln der Sozialen Marktwirtschaft beschäftigt und diese mit der Wirklichkeit abgleicht, der erkennt: Diese Regeln werden inzwischen reihenweise verletzt. Die Wirtschaftspolitik in Deutschland hat sich sehr weit vom Grundgerüst der Sozialen Marktwirtschaft entfernt. Der Staat hat sich gerade in den zurückliegenden Jahren von einem Schiedsrichter zu einem außerordentlich engagierten Mitspieler entwickelt, mindestens aber zu einem Spielertrainer, der massiv ins Spielgeschehen eingreift. Wir denken schon an die Ausnahme, bevor wir uns überhaupt die Regel angeschaut haben.

Der Sparkassenverband vermeldet hierzu, dass 60 Prozent ihrer Kunden am Ende des Monats kein Geld mehr übrig hat, um etwas zur Seite zu legen. Gleichzeitig jagt der deutsche Fiskus von Steuerrekord zu Steuerrekord. Der Staat zieht die Menschen mit dieser Politik erst in die Bedürftigkeit und verteilt das Geld hinterher durch zahllose Programme wieder zurück. Mit Selbstbestimmtheit hat das nichts mehr zu tun. Es ist daher dringend an der Zeit für eine große Steuerstrukturreform, die die Belastung gerade kleiner und mittlerer Einkommen reduziert.

Beispiel Preismechanismus: Preise sorgen dafür, dass Angebot und Nachfrage sich angleichen. Mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz wurde dieser

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»Die CDU muss sich wieder eine unverwechselbare Erkennungsmelodie geben.«

Beispiel konstante Wirtschaftspolitik: Der Staat hat dafür zu sorgen, dass Unternehmen und Familien durch konstante Rahmenbedingungen Planungssicherheit für ihre Zukunft haben. Doch gerade beim Thema Alterssicherung ist Deutschland alles andere als nachhaltig aufgestellt. So werden beispielsweise gerade auf Bundesländerebene viel zu geringe Rückstellungen für die Beamtenpensionen gebildet. Wir müssen uns also ehrlich machen: Wenn Pensionsansprüche entstehen, müssen dafür auch entsprechende Rücklagen gebildet werden, was im Umkehrschluss für mich bedeutet: Verbeamtungen dürfen nur noch stattfinden, wenn eine versicherungsmathematisch korrekt gerechnete und testierte Rückstellung gebildet wird. Ansonsten nicht. Ich würde sogar noch einen Schritt weitergehen. Für welche Bereiche brauchen wir überhaupt noch das Beamtenverhältnis? Diese unbequeme Frage müssen wir uns jetzt stellen, ansonsten müssen unsere Kinder den Preis für unsere Bequemlichkeit zahlen.

auszuweiten droht. Denn der Ansehensverlust von Journalisten, Wirtschaftsführern, Gewerkschaftsbossen, ja sogar von Kirchenvertretern ist nicht weniger auffällig als bei uns Politikern. Diese Entwicklung ist hochbrisant. Denn sie führt zu einer Entfremdung zwischen Bürgern und Eliten und letztlich zu wachsendem Misstrauen in unsere demokratischen Strukturen und unsere Wirtschaftsordnung. Was heißt das für uns Politiker? Wir müssen versuchen, zerstörtes Vertrauen wieder aufzubauen. Nur baut sich bekanntlich Vertrauen viel schwerer auf, als dass es zerstört werden kann. Ein schwieriges Unterfangen also, zumal in den Augen vieler Bürger die Parteien sich kaum noch unterscheiden. Aufgrund des Defizits an Gegensätzen wenden sich viele Bürger nicht nur von den etablierten Parteien ab, indem sie nicht mehr zur Wahlurne gehen, sondern sie wählen auch bewusst Protest. Dabei sind ihnen Programm und Personal der „Alternativen“ oft sogar gleichgültig. Es geht ihnen mit ihrer Wahlentscheidung nur um das Signal an die Etablierten: „Sowas mache ich nicht mehr mit.“ Wenn sie dann noch zusätzlich von Seiten der etablierten Parteien „in eine Ecke“ gestellt werden, schweißt das Protestwähler erst recht zusammen.

»Die beiden Regierungsparteien haben sich gegenseitig regelrecht abgeschliffen.«

Die Große Koalition hat diese demokratieschädliche Entwicklung noch befördert, denn die beiden Volksparteien, die bislang Stabilität in das Parlament und in unsere Demokratie brachten, haben sich in der gemeinsamen Regierungszeit regelrecht gegenseitig abgeschliffen. Die Parteien haben dramatisch an Profil verloren, und dieses Profil gilt es jetzt wieder zu schärfen.

Kurzum: Die Regeln unserer Wirtschaftsordnung werden zu häufig missachtet, was dazu führt, dass der Bürger das Gefühl hat, es geht nicht mehr gerecht zu in unserem Land. Daraus ist inzwischen eine Politikerverdrossenheit erwachsen, die sich immer mehr zu einer Elitenverdrossenheit

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Ein solches Profil gewinnt man aber nicht, wenn man bereits mit Kompromissvorschlägen in die Debatte einsteigt. Vielmehr gehört an den Anfang einer Debatte immer die grundsätzliche Überzeugung, der Kompromiss gehört ans Ende. Die Bürger wissen sehr genau, dass sich in Regierungskoalitionen keine Partei zu 100 Prozent mit ihren Positionen durchsetzen kann. Sie wollen aber wissen, für welche Meinung die Partei steht und für welche Überzeugungen sie wirbt.

Verbündeten und Köpfen für bestimmte Projekte umschauen. Echte Volksparteien wird es dann nicht mehr geben. Gleichzeitig wächst die Gefahr, dass die extremen Ränder erstarken. Die Demokratie wird einem Stresstest unterzogen. Welche Schlussfolgerungen sind daraus für die CDU zu ziehen? Die wichtigste lautet: Sie muss sich wieder eine unverwechselbare Erkennungsmelodie geben. Sie muss wieder klar sagen, wofür sie steht und wofür nicht. Sie muss sich verabschieden von der sogenannten asymmetrischen Demobilisierung, bei der durch das Vermeiden klarer Positionen versucht wird, die potenziellen Wähler des politischen Gegners von der Wahlurne fernzuhalten oder sie für sich zu gewinnen.

Meine Prognose ist, dass wir in den nächsten Jahren eine gravierende Umwälzung des Parteiensystems erleben, wenn es den Parteien nicht gelingt, wieder ihre Markenkerne herauszuarbeiten. Dann werden sich alle Parteien in Richtung der 10- bis 20-Prozent-Quoten einpendeln, die einen von oben, die anderen von unten. Der Wähler wird sich zunehmend nur noch nach

Wahl kommt von wählen. Und wählen kann man nur, wenn es Unterschiede gibt.

Dr. Carsten Linnemann

Buchtipp

ist seit 2009 Mitglied des Deutschen Bundestags. Seit 2013 ist er außerdem Bundesvorsitzender der Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung (MIT) von CDU/CSU.

Carsten Linnemann: „Die machen eh, was sie wollen“, erschienen im Herder-Verlag

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Florian Hartleb

Fürchtet Euch nicht Zehn Tipps für den Umgang mit Populisten

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europäischen Bevölkerung Halt gibt. Das zeigen die gegenwärtigen Entwicklungen deutlich, die auf Tendenzen von Antipolitik hinweisen. Hier zählen Schlagworte mehr denn ausgefeilte Konzepte, übertrifft der „gesunde Menschenverstand” intellektuelle Einwürfe. Populisten wissen, dass Fakten und eine vernünftige Argumentation irgendwie langweilig und unspektakulär sind und deshalb die Wirksamkeit der Kommunikation vermindern. Verdrehen von Fakten bis hin zu Lügen sowie das Ausblenden von Realpolitik schaden den Populisten oftmals nicht. Das gilt für die Wortführer der Brexit-­ Kampagne ebenso wie für Donald Trump.

Antipopulismus sollte nicht heißen, die Bedeutung von Identität zu unterminieren und dabei dem Kosmopolitismus bedingungslos zu folgen. In der Flüchtlingskrise entstand der fatale Versuch seitens der politischen Meinungsführer in Deutschland, bedingungslose Grenzöffnung grundsätzlich als modern und moralisch richtig, kontrollierte Einwanderung hingegen als nationalistisch und rückwärtsgewandt hinzustellen. Wir wissen auch: Eine Gesellschaft braucht Heimat, Folklore, Brauchtum und eine gemeinsame Feierkultur, um im globalen Zeitalter sinnstiftend zu bleiben und mit Moderni­sierung nicht zu überfordern. Bei allem Abgesang über das Ende des Nationalstaats gilt immer noch: Wenn dieser nur noch als Zweigstelle des Kosmo­ politismus und Relikt von Hinterwäldlertum und Provinzialität wahrgenommen wird, fehlt nicht nur ein ideologischer Überbau, sondern ein Leitfaden. In diese Lücke können dann Rechts­ populisten leicht stoßen, nicht nur bei den Modernisierungsverlierern oder Abgehängten solcher Prozesse.

»Populisten wissen, dass Fakten und eine vernünftige Argumentation irgendwie langweilig und unspektakulär sind.« Dennoch: In der politischen Auseinandersetzung müssen Populisten immer wieder nach ihren Lösungsideen befragt werden. Was schlagen sie zur Bekämpfung von Abwanderung und Altersarmut vor, wie nutzen sie die Digitalisierung in Wirtschaft und Gesellschaft, wie reagieren sie auf ökologische Herausforderungen? Wie gehen sie mit den politischen Konfliktherden wie im Nahen und Mittleren Osten um?

Mit intellektuellen Mitteln ist jemanden wie Donald Trump jedenfalls kaum beizukommen. Wer so agiert, läuft direkt in die Falle: Populismus überschreitet Normen, greift zu absichtlichen „Ausrutschern“, die immer wieder wiederholt werden. Es wirkt: Ein dumpfer Antiintellektualismus ist auf den Vormarsch – trotz aller Worte von der aufgeklärten Gesellschaft, vom Informationszeitalter, von der Weltgesellschaft im liberal-demokratischen Zeitalter. Immerhin galten die USA in jedem politischen Lehrbuch der westlichen Hemisphäre als Referenzpunkt von Demokratie.

In einer kleinteilig gewordenen Gesellschaft ist es schwierig, einen gesamtgesellschaftlichen „Ruck” zu erzeugen. Auf den ersten Blick einfache Fragen stellen sich: Für was steht der Westen eigentlich? Aspekte wie Freiheit, Toleranz, Wohlstand oder Weltoffenheit müssen verteidigt werden – ebenso geht es aber auch um Wehrhaftigkeit oder Wachsamkeit gegenüber einer extremistischen, gar terroristischen Bedrohung. Autoritäre Entwicklungen müssen beim Namen genannt werden. Wladimir Putin ist ebenso kein „lupenreiner Demokrat” (so der einstige deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder), wie Recep Tayyip Erdoğan in der Türkei das unschuldige Opfer eines Putsches ist, weswegen er zu totalitär anmutenden Säuberungsaktionen griff. Deutschland droht sogar zum Nebenschauplatz schwerer innertürkischer Konflikte zu werden.

Durch die veränderten Rahmenbedingungen steht es außer Frage, dass Reformideen für eine lebendige Demokratie munter wie ernsthaft diskutiert werden. Immer wieder ist die grassierende Wahlmüdigkeit ein Thema. Wählen ab 16, e-voting (wie etwa in Estland seit Jahren landesweit praktiziert wird), Wählen in Supermärkten, Einkaufszentren oder Bahnhöfen lauten immer wieder gehörte Vorschläge, die aber nicht per se dazu führen, Populisten zu schwächen. Die Auseinandersetzung mit dem Populismus wird immer schwieriger, da ihre Politik der Vereinfachung, Zuspitzung und Empörung quasi als „Ersatz­ religion” immer breiteren Teilen der

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wenn sie weniger technokratisch und mehr emotional vorgetragen werden.

Aus den europäischen Erfahrungen erweisen sich folgende populäre Gegenstrategien im Umgang mit Populisten oftmals als falsch, wirken also kontraproduktiv:

• Agenda-Setting: Wer Chancenthemen entdeckt, hat einen klaren Wettbewerbsvorteil. Der politische Diskurs verengt sich dann nicht auf EU, Finanzmärkte, Migration, Flüchtlinge, Terrorismus und die schwierige weltpolitische Gemengelage.

• Therapeutischer Ansatz („wir müssen die Sorgen, Ängste und Nöte der Menschen ernst nehmen“); Bewertung: Hier wird ein bemutterndes Überlegenheitsgefühl konstruiert, welches das Urteil bestärkt, die Elite sei arrogant;

• Unterscheidbarkeit: Momentan verläuft die politische Auseinandersetzung zwischen den „guten Demokraten“ und den „bösen Populisten“. Wichtiger wäre, den Markenkern stärker herauszustreichen, etwa christdemokratische und sozialdemokratische Politikansätze stärker voneinander abzugrenzen.

• schlichtes Lamentieren („Ob Trump, Russlands Propaganda, etc. - Fakten zählen nichts mehr, deshalb sind wir hilflos den Populisten ausgeliefert“); Bewertung: Damit gibt man das Feld der politischen Auseinandersetzung auf, resigniert im Grunde;

• Differenzierung: Es gibt nicht „den“ (Rechts-) Populismus, ebenso wenig „den“ Wutbürger. Anders als im Jahr 2016 sollten nicht Trump, Orbán, Le Pen & Co. in einen Topf geworfen werden. Die populistischen Kräfte sind immer noch tendenziell heterogen und widersprüchlich. Mit einer zunehmenden Vernetzung untereinander holen sie nur eine Entwicklung nach, welche die anderen Parteien längst eingeleitet haben. Vor allem unterscheiden sich die Anti-Establishment-Formationen nicht nur in ihren Forderungen, sondern auch in ihrer Radikalität. Keineswegs alle Populisten sind Extremisten und eine Gefahr für die Demokratie an sich.

• Beschwichtigungsrhetorik („die Populisten entzaubern sich durch Politikunfähigkeit von selbst, sind ohnehin Eintagsfliegen“); Bewertung: Die empirischen Beispiele in Europa beweisen das Gegenteil; • „Dummheitsvorwurf“: („die Wähler der Populisten seien einfach schlicht, gar dumm“; Bewertung: Das beleidigt eine situativ unzufriedene Bevölkerungsgruppe, mit der Gefahr, sie dauerhaft zu entfremden; • „Extremismusvorwurf“ („die Rechtspopulisten sind Faschisten oder Extremisten, gar „neue Nazis“, eine Schande“); Bewertung: Das treibt den Kräften noch mehr Wähler zu.

• Entlarvung: Auch wenn es in der Öffentlichkeit wenig beachtet wird, sollte die Parlamentsarbeit der Populisten genauer unter die Lupe genommen werden. Setzen diese ihre Vorgaben um, nehmen sie in Ausschüssen und Arbeitskreisen aktiv am parlamentarischen Leben teil? Immer wieder macht das Personal auf den Listen und in den Parlamenten durch Unerfahrenheit und Unprofessionalität von sich reden.

• Komplexitätsfalle („die politischen Probleme oder Herausforderungen sind so komplex geworden, dass sie der Normalbürger nicht mehr verstehen kann“); Bewertung: Das schürt die Sehnsucht nach Vereinfachung, für die Populisten stehen. – eigene Aufstellung – Als zielführend hingegen erweist sich folgender Leitfaden:

Als Richtschnur für eine erfolgreiche wie nachhaltige Politik sollten folgende 10 Punkte dienen:

• Selbstbewusstein: Demokraten müssen von ihren Ideen überzeugt sein, um überzeugen zu können. Nur mit dem Glauben an die eigene Stärke kann den Populisten der Garaus gemacht werden. Hier zählen Traditionslinien, Leistungsbilanzen und Werte – allerdings nur,

• Klare Sprache statt nebulöse Floskeln: Viele Politiker unterliegen der Falle, sich in nebulösen Worthülsen zu ergehen, statt selbstbewusst zu agieren. Gerade in Zeiten der Unsicherheit sind klare Ansprachen wichtig.

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»Wer neue Ideen jenseits der Tagespolitik einbringt, verschafft sich einen unschätzbaren Vorteil.« ist kein Relikt der Vergangenheit, sondern notwendig, um einen gesamtgesellschaftlichen Kitt über Standesgrenzen herbeizuführen. Dazu gehört der patriotische Rückgriff auf Normen und Werte, um die massiven gesellschaftlichen Veränderungsprozesse mit einem positiven Label zu versehen. Lokalität und Kosmopolitismus müssen sich nicht ausschließen, sie können einander ergänzen.

Auch deshalb sind die Populisten derzeit so erfolgreich. Die Flüchtlingskrise hat gezeigt, dass es massive Kommunikationsprobleme gab. Verschraubte Formulierungen und eigenartige Neologismen verdecken oftmals Substanzlosigkeit in der Sache. Industrie 4.0., Regierung 2.0 oder Wirtschaftswunder 2.0. sind interessante Begriffe, die aber noch nicht viel deutlich machen. Mittlerweile wird auch gerne ein „Post“ vor gängige Begriffe gestellt – ob Postdemokratie, Postmoderne oder neuerdings die Beschwörung des postfaktischen Zeitalters. Beim Thema „Europa” verfängt die gängige Sonntagsredenrhetorik nicht mehr. Die Managementsprache – von „Synergieeffekten” über „Optimierungspotentiale“ bis hin zur „Clusterbildung” – bleibt oftmals vage, wirkt technokratisch und gibt Populisten Auftrieb.

• Entkräften von Lügen und Halbwahrheiten: In einer allgemeinen, von sozialen Medien diktierten Empörungsgesellschaft müssen Probleme deutlich benannt und im nächsten Schritt konzeptualisiert und eingeordnet werden. Durch eine Parallelöffentlichkeit grassieren Verschwörungstheorien, Halbwissen und ein systematisches Verdrehen von Fakten. Die Auseinandersetzung mit offensichtlichen „Lügen“ und einer Verrohung der Sprache bleibt keinem Politiker mehr erspart. Er sollte aber nicht in die populistische Falle laufen, auf den Zug der Empörung aufspringen und sich auf Scheingefechte einlassen, die auf der persönlichen Ebene geführt werden.

• Europäisches und globales Denken: Immer wichtiger wird ein Denken in größeren Zusammenhängen, über nationale Grenzen hinweg. Je weiter der Horizont, desto weniger hat die Bevölkerung Angst vor den gegenwärtigen Modernisierungs- und Globalisierungsprozessen. Wer über Digitalisierung in allen Lebensbereichen, Immigration als zentrale Gegenwartsaufgabe, die Umwälzungen in Wirtschafts-, Umwelt-, Energie- oder Gesundheitspolitik spricht, sollte immer wieder auf best-practice-Beispiele in anderen europäischen Ländern verweisen. Hier leisten etwa Think-tanks fruchtbare Arbeit, die direkt in den politischen Prozess eingespeist werden können. Auch durch den Blick über den Tellerrand gelingt es, Zuversicht zu verbreiten und Glaubwürdigkeit zu verkörpern. Wer „Brüsselbashing“ betreibt und stets auf einen künstlichen Gegensatz zwischen „Europa“ und „Nationalstaat“ verweist, agiert populistisch.

• Herausstreichen von Chancen: Politik hat einen Gestaltungsauftrag. Dazu gehört eine Vision von einer lebendigen Bürgergesellschaft ebenso wie eines gesellschaftlichen Zusammenlebens, in der es Generationengerechtigkeit ebenso gibt wie neue Chancen für die jüngere Generation. Die Wähler erwarten Antworten darauf, wie sich die Gesellschaft durch Immigration und Flüchtlinge verändert, mit einer veränderten Bevölkerungszusammensetzung umgeht. Veränderungsprozesse erzeugen erst einmal ein Grummeln innerhalb von Teilen der Bevölkerung. Die politischen Entscheidungsträger sind mit dem Problem konfrontiert, dass klassische Hierarchien in institutionellen Bahnen immer weniger zählen. Wer aber neue Ideen jenseits der Tagespolitik einbringt, verschafft sich einen unschätzbaren Vorteil.

• Identitätspolitik im Sinne von Fortschritts­ optimismus: Ob lokal, landsmannschaftlich, national oder europäisch – Identitätspolitik

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deutschen Bundeskanzler Gerhard Schröder (als einstiger „Putinversteher” Lobbyjob bei Gazprom) oder den einstigen EU-Kommissionspräsidenten José Manuel Barroso (Berater bei der US-Bank Goldman & Sachs).

• Ansprechen und Erklären statt Ausklammern von Problemen: Der Wohlfahrtsstaat stößt an seine Grenzen, wie sich an einer ungleichen Einkommensentwicklung ablesen lässt. Der Anteil der Mittelklasse in den westlichen Industriegesellschaften ist in den letzten zwei Jahrzehnten deutlich geschrumpft. Auch deshalb ist eine Zweidrittelgesellschaft entstanden, in der sich die Unterschicht, das so genannte Prekariat, abgekoppelt hat. Die internationale Lage bietet derzeit ein düsteres Bild für Europa, das von Konflikt- und Kriegsregionen umzingelt ist. Natürlich war die Politik ungenügend auf die Flüchtlingsherausforderung vorbereitet. Die Präsidentschaft von Donald Trump könnte eine Zäsur im transatlantischen Verhältnis bedeuten.

»Populismus ist auch eine Antwort auf die Konsenskultur.« • Mut zum Konflikt: Populismus ist auch eine Antwort auf die Konsenskultur, von der Koalitionsbildung bis zur politischen Auseinandersetzung. PR-Experten und Demoskopen raten gerne zu weichgespülten Wahlkämpfen in der „Mitte”, um keine Wählergruppen zu vergraulen. Die jüngsten Erfahrungen zeigen jedoch, dass das Wasser auf den Mühlen der Populisten ist. Diese können sich dann als Kämpfer gegen ein Elitenkartell und Vertreter unbequemer Wahrheiten ausspielen, zudem als „Stachel im Fleisch des Establishments“ Öl in das Feuer der politischen Debatte gießen.

• Aufzeigen von eigenen Belastungsgrenzen und Plädoyer für eine neue Offenheit: Für viele Menschen ist der Politikerberuf unattraktiv geworden. Im kapitalistischen System lässt sich in vielen anderen Bereichen mehr verdienen. Daher nimmt es nicht wunder, dass erfolgreiche Politiker dem Lockruf der Wirtschaft unterliegen, als Lobbyist tätig werden oder sich gar nicht erst die parteipolitische „Ochsentour“ antun. Folge ist ein starres, in sich geschlossenes System. Deshalb brauchen Demokratien durch andere Rekrutierungswege eine Frischzellenkur, durch neue Möglichkeiten für unkonventionelle Quer- und Seiteneinsteiger, die an unterschiedlichen Orten, national wie international gearbeitet haben. Dazu gehört Offenheit im Denken, statt im eigenen System zu verharren. Manche Sicherheiten kann Politik kaum liefern. Die Wirtschaft ist in vielen Branchen nicht in der Lage, Konjunkturprognosen für die nächsten Jahre abzugeben.

• Mehr Reflexion statt Reflexe: Entscheidend ist, die populistische Empörungsspirale durch Versachlichung zu durchbrechen, gesellschaftliche Individualisierung nicht in Polarisierung münden zu lassen. Das gelingt nur, wenn die etablierten Kräfte besser in die neuen Mediensphären eindringen, wo bei aller Kritik der zentrale Informationsfluss stattfindet. Zentral bleibt hier die Medienkompetenz, von der Zuverlässigkeit der Quellen bis hin zur Prüfung der Faktenlage, ebenso klare Verhaltensregeln. Und die Politik wird in der Außendarstellung trivial, wirkt gefangen zwischen tagesaktuellen Placebos und strukturellem Sachzwang.

• Bewahrung der moralischen Integrität: Wenn Politiker unmittelbar nach ihrer Amtszeit eindeutige Lobbyjobs annehmen, die ihr einstiges Wirken in einem ganz anderen Licht erscheinen lassen, gefährdet das die Glaubwürdigkeit des Systems. Das gilt für den ehemaligen

Der Beitrag ist die Schlussfolgerung aus dem gerade erschienenen politischen Sachbuch „Die Stunde der Populisten. Wie sich unsere Politik trumpetisiert und was wir dagegen tun können“ (Wochenschau-Verlag: Schwalbach/Ts. 2017).

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»Entscheidend ist, die populistische Empörungsspirale durch Versachlichung zu durchbrechen.« Dr. Florian Hartleb ist promovierter Politikwissenschaftler, Buchautor und Publizist, zudem tätig als politischer Berater und Lehrbeauftragter an verschiedenen Hochschulen und Universitäten. U.a. arbeitet er freiberuflich für die Konrad-Adenauer-Stiftung. Er forscht und schreibt insbesondere zu den Themenbereichen Populismus und Digitalisierung.

Buchtipp Florian Hartleb: „Die Stunde der Populisten“, erschienen im Wochenschau-Verlag

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Eckhard Jesse

Populismus von Pegida Kampfansage an die Eliten

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höchst unterschiedliche Sichtweisen dar, „wobei die Deutungen von und die Positionierungen zu Pegida oft mehr über die Dispositionen der Sprecher*innnen, über die Strukturen und Funktionen der Organisationen und Institutionen, die sie vertreten, oder über die Logiken und Paradoxien des Zusammenspiels von Parteipolitik, medialer Öffentlichkeit, ‚wissenschaftlicher’ Expert*innen­ kultur und sozia­­ len Bewegungen verraten, als über die Bewegung selbst“ (S. 5).

Populistische Bewegungen, ob von rechts, ob von links, spielen in Europa mittlerweile eine große Rolle. Auch die Bundesrepublik Deutschland ist davon nicht verschont geblieben. Das gilt etwa für die Partei Die Linke auf der einen Seite, für die Alternative für Deutschland (AfD) auf der anderen Seite. Auch die Dresdner Protestbewegung, „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ (Pegida), die seit dem Herbst 2014 montägliche „Abendspaziergänge“ veranstaltet, zuletzt aber nur etwa 2.000 Personen auf die Beine gebracht hat, ist ein Phänomen des Populismus. Dieser kann extremistisch sein, muss es aber nicht.

Nach der umfassenden Einleitung Heims folgt ein Überblicksbeitrag von einem „Antifa Recherche Team Dresden“. Mehrere Autoren haben sich folge­richtig auf das Extremismus-Paradigma „eingeschossen“. Laut Francesca Barp und Hannah Eitel trägt dieses zur Verharmlosung von Pegida bei. Dabei rücken sie Begriffe wie „Normalität“ und „Mitte“ in den Vordergrund, dazu noch mit dem Adjektiv „gut“ versehen, obwohl sie in der vergleichenden Extremismusforschung überhaupt keine Rolle spielen. Der Logik des Extremismusansatzes unterstellen sie: „Die normale Mitte ist demokratisch. Kann eine Bewegung also für sich beanspruchen zur Mitte zu gehören, sind ihre Äußerungen legitim, sie äußern ihre Sorgen und diese müssen in politisches Handeln übersetzt werden. Würde die Bewegung nicht zur normalen Mitte gehören, müsste sie ausgegrenzt werden“ (S. 127). So wird ein Popanz „erledigt“, aber nicht das Konzept des Extremismus widerlegt, das den demokratischen Verfassungsstaat als Richtschnur hat – und nicht, wie behauptet, den Status quo. Offenkundig wollen sich die Autoren nicht auf das Extremismuskonzept einlassen. Hängt das damit zusammen, dass dieses sowohl eine rechte als auch eine linke Variante berücksichtigt, ebenso eine fundamentalistische?

»Populismus versteht sich als Kampfansage gegen die Elite.« Populismus versteht sich dabei als Kampfansage gegen die (politische, wirtschaftliche und kultu­ relle) Elite. Oft wird dabei die jeweilige populistische Kraft nur separiert behandelt, ohne die Rahmenbedingungen hinreichend zu berücksichtigen. Pegida ist die bisher einzige größere und länger andauernde außerparlamentarische rechte Protestbewegung in Deutschland nach 1945. Die politische Kraft verweist auf "Repräsentations­ lücken" (Werner J. Patzelt) im politischen System. In dem Sammelwerk des Dresdner Soziologen Tino Heim sollen „Wechselwirkungen zwischen Pegida, Politik, akademischen Expert*innen und Medien“ (S. 3 f.) erhellt werden. Diese Absicht ist löblich, denn es wäre unangemessen, diese Bewegung nur als lokales Dresdner Phänomen zu betrachten. Der Ansatz wird in den meisten der zwölf Beiträge durch politische Einlinigkeit konter­ kariert. Was wäre das für eine Chance gewesen, die Haltung von Pegida zur Politik, zu den Medien, zur Zivilgesellschaft und zu den Sozialwissenschaften intensiv zu beleuchten – und umgekehrt! Doch diese Chance wurde nicht nur durch Einäugigkeit vergeben, sondern auch durch mangelnde Systematik.

Der Berliner Soziologe Peter Ullrich macht sich das Konzept der “gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ des Bielefelder Sozialpsychologen Wilhelm Heitmeyer ebenso zu eigen wie das des „Rechtsextremismus der Mitte“, das Leipziger Studien immer wieder zu erkennen glauben. Beide dienten „der Stabilisierung des eigenen, bedrohten Selbstbilds“ (S. 237). Immerhin vergleicht der Autor Pegida mit den „Mahnwachen für den Frieden“ und „Occupy“ insgesamt recht differenziert. Sie sind als Ausfluss postdemokratischer Verhältnisse „inhaltlich teilweise völlig gegensätzlich ausgerichtet, teilen aber doch bestimmte Strukturmerkmale [...]. Ihre postdemokratischen

Mit „Spiegel“ ist gemeint, dass sich bei den Diskursen um Pegida vielfältige gesellschaftliche Haltungen widerspiegeln. Zugleich stellt die Bewegung eine Art „Projektionsfläche“ für

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Mobiler Beratungsteams, die dazu dienen sollen, zivilgesellschaftliches Engagement zu stärken, und zwar am Beispiel der Stadt Altenberg. Was an dem Beitrag missfällt, ist die mangelnde Differenziertheit. „Menschenrechtsorientierte Positionen“ (S. 13) stünden rassistischen gegenüber.

Kernmerkmale [...]: die radikale Ablehnung des politischen Systems und seiner Vertreter*innen, minimales Vertrauen in politische und sonstige Institutionen, geringe politische Erfahrung und organisatorische Einbindung, Ablehnung politischer Verortung und Einordnung sowie stattdessen vor allem spontaner Protest auf der Basis schwacher Identitäten, die stark durch internetgeprägte Subjektivität gekennzeichnet sind“ (S. 232). Diese Thesen widerstreiten nicht extremismustheoretischen Annahmen.

Diese Kritik gilt partiell auch für Maria Steinhaus’, Timo Heims und Anja Webers Abhandlung „So geht sächsisch“ (Titel einer Imagekampagne aus dem Jahre 2015), die hart nicht nur mit der Haltung der sächsischen Landesregierung gegenüber Pegida und ihren Gegnern ins Gericht geht: „Auf dem rechten Auge blind, auf dem linken paranoid“ (S. 153). Die Union wird zum Teil für das Befeuern „rassistischer und chauvinistischer Ressentiments“ (S. 186) verantwortlich gemacht. Jedenfalls lassen die Autoren mangelnde Differenziertheit erkennen, wenn sie Thesen der Sächsischen Unon aus dem Jahre 2005 in eine Analogie zu den Parolen Pegidas rücken. „Die dort formulierten ‚12 Thesen’ vereinigen alles, was Wertkonservatismus aufzubringen hat und was in ähnlicher Form auch Pegida verkündet“ (S. 173).

»Die Union wird für das Befeuern rassistischer Ressentiments verantwortlich gemacht.« Marc Drobot und Martin Schroeder kritisieren bei Pegida (diese Bewegung gilt als „fundamentalistisch“) zwar zu Recht “zugespitzte stereotype Differenzen, die stark wertend aufgeladen sind“ (S. 296), aber gilt das nicht auch für manche fundamentalistischen Kritiker der Bewegung mit ihrem Anspruch auf Deutungshoheit? Eine Antwort auf diese Frage klammern sie in ihrem Beitrag „Wie man bekämpft, was man selbst repräsentiert“, der sich auf Vergleiche unterschiedlichster fundamentalistischer Gruppierungen bezieht, konsequent aus. „Fundamentalisten beziehen sich auf Fundamentalisten. Ihr gemeinsamer Feind sind liberale, weltoffene, antiautoritäre Ansichten“ (S. 301). Auch dieses Diktum lässt sich mit Extremismusansätzen vereinbaren.

In einigen Beiträgen, denen es aufgrund von „Soziologenkauderwelsch“ oft an sprachlicher Klarheit mangelt, wird nicht nur Pegida kritisiert, sondern auch der demokratische Staat. „Beide verbindet vielmehr ein geteiltes Interesse, in eskalierenden globalen Krisenkonstellationen den Status quo und die privilegierte geopolitische Position Europas und Deutschlands zu ver­ teidigen“ (S. 28). Die abschließende, 100-seitige Diskursanalyse Timo Heims „Politischer Fetischismus und die Dynamik wechselseitiger Projektionen“ erhellt diese Position. „An die Stelle der Interessendurchsetzung in der Verdrängungskonkurrenz nationaler Wettbewerbsstaaten müsste die globale Aushandlung von Menschheitsinteressen treten. [...] Die Aufgabe wäre es – jenseits ‚bewährter’ Rezepte der Kompensation von wachstums- und marktinduzierten (Zer-)Störungen durch noch mehr Markt und Wachstum –, den Raum für neue Visionen und Konzepte zu öffnen“ (S. 426). Heim beruft sich auf eine „Wiederbelebung des demokratischen Klassenkampfes“ (S. 427). Pegida verschwinde weder durch Gegenproteste noch durch Übernahme ihrer Positionen, „sondern nur dadurch, dass ihre gesellschaftlichen Ursachen überwunden werden“ (S. 431).

Ein Lichtblick ist das Interview mit Justus H. Ulbricht, der sich bei dem 2013 von der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung ins Leben gerufenen Angebot „Kommune im Dialog“ engagiert. Dessen Erfahrungen im Umgang mit Bürgern, die der Aufnahmebereitschaft von Flüchtlingen eher skeptisch gegenüberstehen, seien beides: ermutigend und entmutigend. Der für das Periodikum „Dresdner Hefte“ Verantwortliche nennt Beispiele von Personen, die bereit seien, ihre Positionen zu überdenken und zu revidieren, ebenso aber auch „radikale Empathieverweigerung“ (S. 210). Markus Kemper und Petra Schickert vom Kulturbüro Sachsen berichten knapp von der Arbeit

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»Man gewinnt den Eindruck, dass die Kritik an Pegida als eine Art Projektionsfläche für Antikapitalismus dient.« Offenkundig gilt als ein tragender Faktor der Kapitalismus, wobei „Klassenherrschaft hier kein politische Herrschaft einer Gruppe [meint], sondern eine spezifische Selektivität der Funktionslogik staatlicher und wirtschaftlicher Institutionen“ (S. 370).

vielfältigen Interaktionen zwischen einer populistischen Bewegung und der etablierten Politik, den Medien, den gesellschaftlichen Gegner sowie der Wissenschaft differenziert einfängt.

Die Intention des Bandes, den vielfältigen Wechselwirkungen nachzuspüren, verdient Anerkennung, doch sie bleibt weithin nur Anspruch. Der Leser gewinnt in mehreren Beiträgen den Eindruck, dass die Kritik an Pegida als eine Art Projektionsfläche für Antikapitalismus dient. Möge ein Buch auf den Markt kommen, das die

Mit Interaktion ist dabei nicht nur die Wechselbeziehung zwischen der populistischen Kraft und den anderen Faktoren gemeint, sondern auch zwischen diesen Faktoren untereinander. Etwa: Wie berichten Medien über Gegner des politischen Protestes? Wie setzt sich die Wissenschaft mit der etablierten Politik auseinander? Denn diese Aspekte wiederum wirken auf populistische Kräfte zurück, sei es sie stärkend, sei es sie schwächend.

Prof. Dr. Eckhard Jesse

Buchtipp

war von 1993 bis 2014 Professor im Fach Politikwissenschaft an der TU Chemnitz. Er ist seit 1989 Herausgeber des Jahrbuches Extremismus & Demokratie.

Timo Heim (Hrsg.): „Pegida als Spiegel und Projektionsfläche“, erschienen im Springer VS Verlag, Wiesbaden 2017.

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Nachruf von Christine Lieberknecht

Reformer – streitbar – leidenschaftlich Erinnerungen an Peter Hintze

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Genau zwei Monate später, am 23. Mai 1990, sollte ich dann im Anschluss an einen eigenen Vortrag über die Situation evangelischer Kirchen in der DDR im Bonner Konrad-Adenauer-Haus Gelegenheit bekommen, mit Peter Hintze im munteren Gespräch und in überschaubarer Runde zu plaudern. Eingeladen hatten der EAK-Bonn gemeinsam mit den EAK-Verbänden von RheinSieg und Mittelrhein.

Es war in der Uni-Halle Wuppertal. Auf dem Programm stand „10.00 Uhr – Ansprache des Bundesvorsitzenden des Evangelischen Arbeitskreises der CDU/CSU“. Wer ist dieser Vorsitzende? Und warum gibt es da keinen Namen? So fragte ich mich ahnungslos im März 1990. Genau dreißig Minuten waren für die Ansprache des EAK-Bundesvorsitzenden, platziert zwischen dem Grußwort der damaligen Wuppertaler Oberbürgermeisterin und SPD-Landtagsabgeordneten Ursula Kraus und dem bereits um 10.30 Uhr anschließenden Podiumsgespräch zum Thema „Freiheit – Menschenwürde – Sozialordnung“ vorgesehen. Erst am Vortag war der damalige Beauftragte der Bundesregierung für den Zivildienst, der Theologe und Pfarrer Peter Hintze, in das Amt an der Spitze des EAK gewählt worden; das erklärte auch den Namensverzicht im Programm.

»Ich war angetan von der aufmerksamen Art seines Zuhörens.«

Was folgte, waren auf den Punkt genau dreißig Minuten messerscharfe Analyse und spannende Programmatik mitten in der Zeit des Umbruchs in der Noch-DDR und der Bonner Entscheidungen für den ab jetzt gemeinsam zu gehenden Weg. Nur wenige Tage nach der von der „Allianz für Deutschland“ aus CDU, Demokratischem Aufbruch und DSU grandios gewonnenen Volkskammerwahl vom 18. März 1990 entwarf Peter Hintze binnen Wochenfrist am 24. März für seine neue Funktion eine Agenda notwendiger Handlungsfelder und -schritte, die er zugleich aus der Überzeugung seines christlichen Glaubens zu begründen wusste.

Peter Hintze erzählte von seinen Erfahrungen als Theologiestudent in Bonn und an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal, von den Einflüssen der Barmer Bekenntnissynode von 1934 auf seine theologischen und politischen Überzeugungen. Er berichtete von der Jugendarbeit im Evangelischen Pfarramt in Königswinter, in dem er von 1980 bis 1983 Dienst tat, und schließlich von der Ernennung zum ersten Bundesbeauftragten für Zivildienst im damals durch Bundesfamilienminister Heiner Geißler für diese Aufgabe neu geschaffenen Amt. Nicht wenige sahen in dieser Entscheidung von Heiner Geißler den „Durchbruch einer neuen Haltung“ gegenüber jungen Männern, die den Dienst mit der Waffe aus Gewissensgründen verweigerten und damit nicht unbedingt zu den klassischen Anhängern der Union gehörten.

„Am Beginn einer neuen Ära des EAK“ hatte er sein leidenschaftlich vorgetragenes Plädoyer selbstbewusst und historisch korrekt überschrieben. Die von ihm exemplarisch benannten Themen vom wirksamen Umweltschutz, der Überwindung der Langzeitarbeitslosigkeit, einem gerechten Ausgleich von Jung und Alt und von Frauen und Männern mag zu diesem Zeitpunkt sicher nicht jeder auf der eigenen Prioritätenliste gehabt haben. Peter Hintze jedoch war fest überzeugt davon, dass gerade diese Themen „insbesondere junge Menschen sehr beschäftigen“. Und darauf kam es ihm an. Das von ihm am Ende seiner Rede zitierte Wort des französischen Literaten und Nobelpreisträgers Romain Rolland „Mein Vaterland ist nicht gestern, mein Vaterland ist morgen“ ist seit jenem Tag fest in meiner kleinen persönlichen Spruchsammlung notiert.

Als junge Pastorin beeindruckte mich das alles sehr. Nicht weniger angetan war ich von der aufmerksamen Art seines Zuhörens bezüglich meiner Schilderungen des kirchlichen Lebens unter den Bedingungen der DDR. Als wir uns dann nach den für die CDU sehr erfolgreichen Thüringer Landtagswahlen im Oktober und für den Deutschen Bundestag im Dezember 1990 in neuen Funktionen regelmäßig in den verschiedensten Gremien der CDU begegneten, war mit jenem abendlichen Gespräch „unter uns Pastorentöchtern“ ein Grund gelegt, der über zweieinhalb Jahrzehnte bis zu seinem Tod am 26. November 2016 tragen sollte. Dazu gehörten neben vielen Jahren gemeinsamer Arbeit im CDU-Bundesvorstand das beständige Ringen um die Zukunftsfähigkeit der CDU in den verschiedenen CDUGrundsatzprogrammkommis­sionen, zunächst für

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das erste gesamtdeutsche CDU-Grundsatzprogramm von 1994 mit seiner Grundlegung der „sozialen und ökologischen Markwirtschaft“. Die Treffen zur gemeinsamen Arbeit in Antragskommissionen und Parteitagspräsidien unter seiner Leitung sind Legion. Dazu gehörten über viele Jahre auch die Parlamentariertreffen mit den britischen Konservativen, den Tories, in Adenauers ehemaligem Urlaubsort in der Villa La Collina in Cadenabbia.

Konrad-Adenauer-Haus „volle Breitseite“ gegen alle, die nur irgendwie in Gefahr stehen könnten, sich mit den Ewiggestrigen aus SED und PDS einzulassen. Die „Rote-Socken-Kampagne“ war geboren. Sie wirkte scharf und polarisierend. Besonders bei den Stammwählern im Westen verfehlte sie den gewünschten Erfolg nicht. Das Echo im Osten blieb bis in die eigene Partei hinein zwiespältig. SPD, Grüne und PDS schäumten. Medien diffamierten ihn als gnadenlos.

Mit seinem rheinisch-fröhlichen Gemüt, seinem glasklaren Denken und Argumentieren und seinem leidenschaftlichen Drang zur Tat hatte Bundeskanzler Helmut Kohl den evangelischen Theologen und inzwischen Vollblutpolitiker nach dessen Einzug in den Deutschen Bundestag 1990 schon bald zu weiterreichenden Aufgaben berufen. Nach der Funktion als Parlamentarischer Staatssekretär an der Seite der ebenfalls neu in den Deutschen Bundestag eingezogenen und von Helmut Kohl zur Bundesministerin für Familie, Frauen und Jugend berufenen Dr. Angela Merkel übernahm Peter Hintze in der unmittelbaren Folge einer Kabinettsumbildung 1992 von Volker Rühe das Amt des CDU-Generalsekretärs, während Volker Rühe Bundesminister der Verteidigung wurde. Seine Minister-Chefin Angela Merkel übernahm hingegen das vakant gewordene Amt an der Spitze des EAK.

»Gnadenlos aber war Peter Hintze selbst im Blick auf die härtesten SED-Genossen nie.« Genau das aber war Peter Hintze, gerade wenn es um theologische und seelsorgerliche Belange ging, selbst im Blick auf die härtesten SED-Genossen nie. Im Gegenteil. So sah er beispielsweise in der Aufnahme von Erich Honecker durch Pfarrer Holmer in dessen Lobetaler Pfarrhaus „ein überzeugendes Beispiel für die Freiheit eines Christenmenschen, … für die Liebe Christi, die sich gerade an ihren Feinden erweist“ und erntete damit unter den ostdeutschen Parteifreunden nicht nur Beifall. Dennoch: Peter Hintze hatte Erfolg. Bundeskanzler Helmut Kohl konnte die Koalition aus CDU/CSU und FDP und damit seine Regierungsarbeit für vier weitere Jahre fortsetzen, während Peter Hintze sich intensiv wichtigen Reformvorhaben in der Partei, Alltagsarbeit inklusive, widmete. Das 1994 beschlossene erste gesamtdeutsche Grundsatzprogramm wies dafür die notwendige Richtung. Die Verankerung eines stärkeren ökologischen Bewusstseins, die Einführung des Frauenquorums, mehr Einsatz für internationale Entwicklungshilfe und Bekämpfung weltweiter Fluchtursachen standen für Peter Hintze schon in den 1990er Jahren auf dem Programm. „Nicht Asyl in der Fremde, sondern Hilfe in der Heimat“ so lautet seine feste Überzeugung bereits im Jahr 1992.

Nun war Peter Hintze nicht mehr nur innerhalb des Evangelischen Arbeitskreises für die Integration der neuen Landesverbände und die von ihm ins Leben gerufenen „Deutschland-Foren“ zuständig, sondern für die Integration der neuen CDU-Landesverbände insgesamt sowie für die Grundsatzarbeit der Gesamtpartei, deren Kommissionsarbeit damals in den Händen des Parlamentarischen Staatssekretärs Reinhard Göhner lag. Außerdem warf schon bald der Bundestagswahlkampf 1994 seine Schatten voraus. Die Deutsche Einheit war in den neuen Ländern zwar deutlich sichtbar vorangekommen, doch machte sich auch Unmut breit. Noch immer waren Tausende Menschen in den neuen Ländern arbeitslos und längst nicht jeder hatte seinen neuen Platz im wiedervereinigten Deutschland gefunden. Dazu kam die durch einstige Kommunisten tolerierte Minderheitsregierung von Rot-Grün in Sachsen-Anhalt im Frühsommer 1994. Mit aller Entschiedenheit bedeutete diese Konstellation für den Generalsekretär und obersten Wahlkampfmanager im

Es ärgerte Peter Hintze bei der Fülle der von ihm angestoßenen und durchgesetzten Projekte, wenn seine Arbeit als Generalsekretär rückblickend vor allem medial immer wieder auf die

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»Die Treffen zur gemeinsamen Arbeit in Antragskommissionen und Parteitagspräsidien unter seiner Leitung sind Legion.«

Vizepräsident. Allerdings verlagerte er seine Interessen und seinen politischen Einsatz zunehmend auf die Europa- und Außenpolitik. Schon mit der Konstituierung des Deutschen Bundestages nach der für CDU und CSU verlorenen Wahl 1998 wurde Peter Hintze europapolitischer Sprecher der Fraktion und Vorsitzender der entsprechenden Arbeitsgruppe. Anfang der 2000er Jahre übernahm er für mehr als ein Jahrzehnt die Vizepräsidentschaften in der Christlich Demokratischen Internationale (CDI) und in der Europäischen Volkspartei (EVP).

„Rote Socken-Kampagne“ verkürzt wurde. Einer Neuauflage der scharfen Abgrenzung gegen die nun vollends zur PDS mutierten ehemaligen SED-Genossen für die Wahl 1998 bleib der erhoffte nochmalige Erfolg allerdings versagt. Gerhard Schröder gewann die Wahl und mit ihm übernahm erstmals ein rot-grünes Regierungsbündnis die Macht im Bundeskanzleramt. Nur drei Tage nach der verlorenen Bundestagswahl trat Peter Hintze als Generalsekretär zurück. Nachfolgerin im Amt des Generalsekretärs wurde wiederum Dr. Angela Merkel, die ihn 1992 bereits im Amt als EAK-Vorsitzende beerbt hatte.

»Peter Hintze brauchte für seinen Einfluss kein Staatsamt. Er besaß natürliche Autorität genug.«

Es war dem jungen CDU-Landesvorsitzenden aus Niedersachsen, Christian Wulff, vorbehalten, in dieser schwierigen Situation den scheidenden Generalsekretär Peter Hintze gegen innerparteiliche Kritiker in Schutz zu nehmen. Wörtlich mahnte er: „Ich warne vor vorschnellen ungerechten Schuldzuweisungen an die Adresse von Peter Hintze.“ – Eine Treue, die Peter Hintze gegenüber Christian Wulff offensichtlich nie vergessen hat. Viele Jahre später, als Christian Wulff sich heftigsten Anwürfen im Amt des Bundespräsidenten ausgesetzt sah und am Ende das Amt verlor, war Peter Hintze einer der ganz wenigen, die sich vorbehaltlos vor Christian Wulff stellten und ihn mit klarer Diktion, Herzenswärme und Mut verteidigten.

Auf Peter Hintzes Wortmeldungen, seine Einschätzungen und seinen Rat hörten europäische und internationale Regierungschefs, Staatspräsidenten und Parlamentarier. Peter Hintze brauchte für seinen Einfluss kein Staatsamt. Er besaß natürliche Autorität genug. Er hatte etwas zu sagen. Ab Januar 2006 übernahm er zudem das Amt des Vorsitzenden der größten CDU-Landesgruppe im Deutschen Bundestag, der CDU-Abgeordneten aus Nordrhein-Westfalen.

Peter Hintze blieb im politischen Geschäft, war durchgehend Abgeordneter des Deutschen Bundestages und zuletzt seit 2013 dessen

In all den genannten Funktionen galt Peter Hintze als einer der wichtigsten Ratgeber von

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seiner ganzen christlichen Auffassung vom Menschen her war er nie darauf bedacht, sein Gegenüber einfach zu überreden. Es ging ihm darum zu überzeugen. Er selbst hoffte, nie in eine so leidvolle Situation zu kommen, in der sich für ihn die Frage nach einer aktiven Sterbehilfe stellen würde. „Ich habe eine starke Liebe zum Leben“ lautete sein Bekenntnis an dieser Stelle.

Angela Merkel. Folgerichtig wollte sie ihn mit seiner Expertise und seiner Vertrauenswürdigkeit gern unmittelbar ins Bundeskanzleramt berufen. Doch dies lehnte Peter Hintze aus privaten Gründen ab, ohne dass dies sein Verhältnis zu Angela Merkel beeinträchtigt hätte. Es war keineswegs selbstverständlich, gleichermaßen vertraulichen Zugang zu Helmut Kohl wie zu Angela Merkel zu haben. Auch seine gelegentlich quer zum Mainstream der Partei laufenden Überzeugungen haben seinen Vertrauensverhältnissen nie geschadet. Vielmehr schienen sie ihm zusätzliche Glaubwürdigkeit zu vermitteln.

Neben seinen parlamentarischen, europäischen und internationalen Ehrenämtern boten sich Peter Hintze als Parlamentarischem Staatssekretär im Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie seit 2005 zusätzliche spannende Zukunftsthemen. Im Jahr 2007 erhielt er zudem die spezielle Aufgabe des Beauftragten der Bundesregierung für Luft- und Raumfahrt. Ein Amt, das er bis zum Jahr 2013 innehaben sollte. Diese Funktion wiederum eröffnete mir als Ministerpräsidentin eines Bundeslandes mit äußerst erfolgreichen Forschungsstandorten auf diesem Gebiet noch einmal eine ganz neue Dimension der freundschaftlich kollegialen Zusammenarbeit. Firmenbesuche vor Ort in Jena, Strategiegespräche in kleiner Runde, seine Beiträge auf Podien und Vorträge waren stets von gewinnender Ausstrahlung, visionärer Kraft und freundschaftlicher Verbundenheit geprägt. Was Peter Hintze in seiner Funktion versprach, das hielt er auch. Und bei aller Hingabe und Leidenschaft zur Sache hatte er sich spürbar über all die Jahre die menschliche Vertrautheit aus den Anfängen der 1990er Jahre bewahrt.

»Leidenschaftlich kämpfte er in den letzten Jahren um die Beantwortung fundamentaler bioethischer Fragen.« Leidenschaftlich kämpfte er in den letzten Jahren, seit 2013 selbst mit der Diagnose einer heimtückischen Krebserkrankung konfrontiert, um die Beantwortung fundamentaler bioethischer Fragen am Beginn und am Ende des Lebens. Besonders auf dem Feld der assistierten Sterbehilfe war sein Kampf um liberalere Positionen gegen die Mehrheitsmeinung der Partei und der Kirchen unerbittlich. Gleichwohl argumentierte er immer wieder von seiner theologischen Auffassung her und war davon überzeugt: „Gott hat uns geschaffen, damit wir unser Schicksal selbst bestimmen“. Und: „Wir sind nicht Jesus.“ Niemand könne von uns verlangen, dass wir ein solches Leid aushalten, nur weil Jesus es uns vorgelebt habe. Das Interview mit Raoul Löbbert vom Oktober 2015, in dem Peter Hintze seine Positionen für die Leser von „Christ und Welt“ ausführlich darlegt, wird auch zukünftig mit Gewinn zu lesen sein; auch dann, wenn man seine Meinung an dieser Stelle nicht teilt. Auch das gehört zu den beeindruckenden Seiten an Peter Hintze: von

So sehe ich Peter Hintze heute vor mir: mit seiner Geradlinigkeit, seinem Wissen, seiner Leidenschaft, seiner freundlichen Ironie und seiner rheinischen Fröhlichkeit, mit seiner aus dem christlichen Glauben geborenen Gottes- und Menschenliebe, mit seiner Liebe zum Leben. Das alles wird bleiben. Auch werde ich weiter mit Gewinn in den von Peter Hintze niedergeschriebenen Gedanken, Argumentationen und Entwürfen für ein gutes Leben lesen.

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»Für den Generalsekretär und obersten Wahlkampfmanager im Konrad-Adenauer-Haus galt: ›volle Breitseite‹ gegen alle, die nur irgendwie in Gefahr stehen könnten, sich mit den Ewiggestrigen aus SED und PDS einzulassen.«

Christine Lieberknecht MdL war von 2009 bis Dezember 2014 Ministerpräsidentin des Freistaates Thüringen und Landesvorsitzende der CDU Thüringen. Bis 1990 als Pastorin tätig, bekleidete sie seit der Bildung der ersten freigewählten Landesregierung fast durchgehend als Ministerin oder Landtagspräsidentin führende Positionen der Landespolitik. Sie ist stv. Bundesvorsitzende des Evangelischen Arbeitskreises in der CDU.

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Denise Bittner im Portrait

»Kommunalpolitik ist sexy!« von Anja Pfeffermann

Mittagspause im „Lampenladen“, der Kantine im Paul-Löbe-Haus des Bundestags in einer Sitzungswoche, irgendwann zwischen Aschermittwoch und Ostern. Zu Mittag gibt es Süppchen und Salat - Denise Bittner schlicht: „Ich faste.“ Und gesteht beim Espresso danach: „Ich denke manchmal schon darüber nach, mit welcher Süßigkeit ich am Ostersonntag das Fasten wieder breche.“

– kein Zweifel, Denise ist Überzeugungstäterin! Man erwischt sich schon jetzt beim Gedanken, eigentlich sollte sie selbst Politik machen. Und, Gott sei Dank, sie tut es! Denn begeisternde Politiker, na davon reden doch ständig alle, dass wir die brauchen. Denise Bittner ist 31 Jahre alt und seit Herbst 2016 für die CDU Mitglied der Bezirksverordnetenversammlung – eine Berliner Spezialität der Bezirksverwaltung, ähnlich einem Gemeinderat, aber fast ausschließlich konzentriert auf die Kontrolle eben jener Verwaltung. Weil sie Kommunalpolitik tatsächlich sexy findet („man kann so viel bewegen und muss nicht immer nur meckern“) bloggt sie darüber, um andere anzustecken. Da hat sie auch mal darüber geschrieben, dass die BVV (Achtung, Abkürzungen lauern!) das Gleiche sei wie ein Kommunalparlament. Im nächsten Beitrag hat sie das kurz korrigiert, „mea culpa“.

Im Bundestag arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Büro von Christina Schwarzer aus dem Berliner Bezirk Neukölln. Sie beantwortet also Bürgerpost, bereitet Termine für Schwarzer vor und geht schon auch mal zu Ausschusssitzungen, denn „ihre“ Abgeordnete ist Obfrau im Ausschuss „Familie, Senioren, Frauen und Jugend“ und Mitglied im Ausschuss „Digitale Agenda“. „Die Themen sind also breit gefächert und so nah an der großen Politik dran sein, ist spitze.“ Breites Grinsen, dazu leuchtende Augen

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(zum Beispiel: VZÄ = Vollzeitäquivalent) und schildert unter dem Hashtag #BockaufBVV ihre Leidenschaft für Kommunal­politik. Sie will die Menschen begeistern, „da nimmt man sie halt am besten mit und erklärt Politik – auch wenn es gerade nur um Hundekot oder Sportplätze geht“.

Vielleicht ist das besonders niedersächsisch an ihr: ohne viel Aufhebens einen Fehler bemerken, ihn korrigieren, die Verantwortung dafür übernehmen. Naja, das und diese niedersächsische Begeisterung für Grünkohl. Sie sagt schon auch selbst über sich „Ich bin ein Landei“, sie kommt aus der niedersächsischen Provinz. Die Grünkohltour übers Land mit Bollerwagen und Hochprozentigem – man kann sich Denise lebhaft dabei vorstellen.

Eine weitere Bittner-Leidenschaft: Wahlkampf. „Ich dachte ja selbst nicht daran, dass ich jetzt schon wieder kann…“ Im vergangenen Herbst standen die Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus an, sie leitete den Wahlkampf von David Paul aus ihrem CDU-Kreisverband. Den ganzen Sommer über war sie im Wahlkreis unterwegs, verteilte Flyer, klopfte an Haustüren, organisierte Veranstaltungen, dachte sich mit David Aktionen aus, um die Bürger zu erreichen, verteilte noch mehr Flyer und Eis.

»Interessiert sie sich denn wirklich für Hundekot im Park, für desolate Schulklos bis hin zu Ampelschaltungen an Kreuzungen?«

Gereicht hat es am Ende leider nicht für den Kandidaten. Aber „der Wahlkampf war toll!“ – und hat Lust auf mehr davon gemacht. Jetzt überlegt sie, wie sie ihren Job als Mitarbeiterin der Bundestagsabgeordneten Schwarzer in Einklang bringen kann mit dem Wahlkampf für ihre Chefin vor Ort.

Fragt man übrigens andere nach Denise, fällt häufiger mal „Klein, aber oho!“. Ja, Denise ist ungefähr einen Meter sechzig groß und kann sich ganz bestimmt in allen Lebenslagen durchsetzen, sie ist ja auch eine große Schwester. Aber die Begeisterung für Politik und die Anliegen der Menschen stechen deutlich hervor. Nochmal die Nachfrage: Interessiert sie sich denn wirklich für Hundekot im Park, für desolate Schulklos bis hin zu Ampelschaltungen an Kreuzungen? „Joah, das gehört nicht nur dazu, sondern ist genau das, worüber sich die Menschen doch täglich aufregen.“ Das passiere ja vor ihren Haustüren. Und dafür müsse sich halt jemand einsetzen.

»Den ganzen Sommer über war sie im Wahlkreis unterwegs, verteilte Flyer, klopfte an Haustüren, organisierte Veranstaltungen.« Apropos Chefin, die Arbeit ruft, die Mittagspause im „Lampenladen“ ist vorbei, Denise muss zurück ins Büro. Noch schnell ein Tipp: „Schau mal auf Facebook, da wirbt Christina Schwarzer jetzt mit ‚orange ist the new black‘ – wie findest du denn das?“ Augenzwinkern. Und dann die Überlegung: „Vielleicht esse ich an Ostern Kinderschokolade, das ist doch nie verkehrt.“

Das macht sie nun, im Berliner Bezirk Pankow, vor ihrer Haustür, ist da jetzt selbst Mitglied in Ausschüssen, nämlich „Schule, Sport, Gesundheit“ (Kommentar im Blog: „Juhuuu!“) und „Kultur, Weiterbildung und Städtepartnerschaften“. Sie übernimmt Verantwortung. Im Kurznachrichtendienst Twitter berichtet sie von Sitzungen, erklärt im Blog die Abkürzungen der Berliner Verwaltung

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»Vielleicht ist das besonders niedersächsisch an ihr: ohne viel Aufhebens einen Fehler bemerken, ihn korrigieren, die Verantwortung dafür übernehmen.«

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01 — 2017

Impressum CIVIS mit Sonde Paul-Lincke-Ufer 8b, 10999 Berlin Tel: +49 (0)30 616518-11 Fax: +49 (0)30 616518-40 E-Mail: info@civis-mit-sonde.de ISSN: 1432-6027 Preis: 8,00 Euro (ermäßigt 4,00 Euro) Abo- und Einzelheftbestellung: www.civis-mit-sonde.de Druck: Westermann Druck Zwickau GmbH, www.westermann-zwickau.de

Chefredakteur: Erik Bertram Geschäftsführer: Michael Lönne Konzeption & Art Direction: Jonas Meyer, jmvc.de Fotografie: Maximilian König, www.maximilian-koenig.com Illustrationen: Roland Brückner, bitteschoen.tv Redaktion: Barbara Ermes, Sebastian Hass, Anja Pfeffermann und Carl-Philipp Sassenrath Bewegtbild: Marcel Schlegelmilch Herausgeber: Dorothee Bär, Ursula Männle, Arnold Vaatz, Mario Voigt, Matthias Wissmann und Jenovan Krishnan als Bundesvorsitzender des RCDS Beirat: Christoph Brand, Stephan Eisel, Matthias Graf von Kielmansegg, Jürgen Hardt, Johannes Laitenberger, Gottfried Ludewig, Fabian Magerl, Peter Radunski, Hans Reckers, Christian Schneller, Wulf Schönbohm, Axel Wallrabenstein und Johannes Zabel

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»Wer Abschottung anstelle von Weltoffenheit fordert, wer sich sprichwörtlich einmauert, wer statt auf Freihandel auf Protektionismus setzt und gegenüber der Zusammenarbeit der Staaten Isolationismus predigt, wer zum Programm erklärt ›Wir zuerst!‹, darf sich nicht wundern, wenn es ihm andere gleichtun – mit allen fatalen Nebenwirkungen für die internationalen Beziehungen, die uns aus dem 20. Jahrhundert hinreichend bekannt sein sollten.« Norbert Lammert zur Eröffnung der 16. Bundesversamlung


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