CIVIS mit Sonde 2015/2

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02 — 2015

Digitalisierung

CIVIS & SONDE



CIVIS & SONDE



»Das Internet ist nur ein Hype.« Bill Gates, 1995


CIVIS & SONDE 02 — 2015

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Liebe Leserin, lieber Leser,

die vor Ihnen liegende Ausgabe von „CIVIS mit Sonde“ beschäftigt sich mit dem großen Thema der Digitalisierung. Was noch bis vor zwanzig Jahren nach Utopie klang, ist heutzutage für viele Menschen eine Selbstverständlichkeit und in ihrem Lebensalltag Realität geworden. Jeder kann in wenigen Sekunden Bestellungen von Büchern, Haushaltswaren, Kleidern, Arzneimitteln und Elektronikartikeln über das Internet aufgeben. Der Kühlschrank erkennt fehlende Lebensmittel von selbst und bestellt diese online automatisch nach, Autos fahren fast von alleine und selbst der Arztbesuch könnte bald durch den Einsatz von Online-Techniken überflüssig werden.

Auswirkung hat die Digitalisierung auf unseren Arbeitsalltag? Werden Menschen in ihrer Arbeit zunehmend durch Roboter ersetzt werden? Was sind Vor- und Nachteile der Digitalisierung und wie werden wir mit ihnen umgehen? Welchen Einfluss hat die Digitalisierung auf die Mobilität der Zukunft? Diese und viele weitere spannende sozioökonomischen Fragen sind bislang ungelöst und erwarten Sie in diesem Heft. Den vielen Autoren danken wir sehr herzlich für ihre klugen Anregungen und Gedanken zu verschiedenen Fragen der Digitalisierung. Wir wünschen Ihnen viel Spaß beim Lesen!

Die Digitalisierung hat unsere Form der Kommunikation nachhaltig verändert und unser Leben in vielen Bereichen stark vereinfacht. Die Welt ist über das Internet ein großes Stück näher zusammen gerückt. Klar ist: Der digitale Wandel wird tiefgreifende Veränderungen in unserer Gesellschaft hervorrufen.

Herzlichst

Erik Bertram Chefredakteur

Diese Ausgabe von „CIVIS mit Sonde“ soll sich eingehender mit politischen Fragen des digitalen Zeitalters befassen und im Hinblick auf unser Land diskutieren. Wie wird der digitale Wandel unser Leben in Zukunft verändern? Welche

PS: Besuchen Sie CIVIS mit Sonde doch auch mal in den sozialen Netzwerken auf Facebook und Twitter oder unter www.civis-mit-sonde.de!

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02 — 2015

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Neuland

Dorothee Bär und Konstantin von Notz im Gespräch 24

Europas digitale Zukunft

Karl-Theodor zu Guttenberg und Ulf Gartzke zur europäischen Tech-Agenda 30

Game Change

Andreas Winiarski zum Digitalen Ruck in Deutschland 36

Start-ups in Deutschland

Florian Nöll über die Rahmenbedingungen für Start-ups 42

Der Weg zum digitalen Binnenmarkt Constantin Gissler zur europäischen Digitalpolitik 48

Plädoyer für eine bessere Ordnungspolitik

Ansgar Baums zur Marktmacht digitaler Plattformen 54

Open for data

Thomas Jarzombek über das Potenzial offener Daten 60

Die Lebensrealität im 21. Jahrhundert Sven Volmering über digitale Bildung in der Schule

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Mobilität der Zukunft

Fabien Nestmann über die digitale Vernetzung von Verkehrsmitteln 72

Das Ende der Universalbank in der digitalen Ära Christian Grobe zu Fintech-Innovationen 78

Digitales Nudging

Lothar Funk zur Verhaltensökonomie im Digitalzeitalter 84

Cyberspace braucht Normen für Cyber-Sicherheit

Jan Neutze und Nemanja Malisevic über Cyber-Sicherheit 90

Ein politisches Naturtalent

Peter Hintze mit einem Nachruf auf Philipp Mißfelder 94

Die ganz große Pommesliebe Skrollan Olschewski im Portrait

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Impressum

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Moderation: Michael Lönne Fotos: Steven Lüdtke

Neuland

Dorothee Bär und Konstantin von Notz im Gespräch zu Chancen und Herausforderungen der Digitalisierung in Politik und Wirtschaft.



CIVIS: Alles, was digitalisiert werden kann, wird auch digitalisiert, so das geflügelte Wort. Es kursieren Studien, dass bis zur Hälfte aller Jobs in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren automatisiert werden könnten. Wann werden denn Politiker durch Roboter und Algorithmen ersetzt?

den Raum gestellt wird. Im Gegenteil, es ergeben sich ja durchaus auch vielfältige Chancen. CIVIS: Wie verändert Digitalisierung denn die Politik, siehe Piraten und Liquid Democracy? Entsteht da irgendwo etwas Neues oder wird Politik im traditionellen Rahmen bleiben in den nächsten fünf bis zehn Jahren?

Konstantin von Notz: Also bei manchem Politiker habe ich den Eindruck, dass das schon stattgefunden hat. Ernsthaft, man stellt ja immer wieder fest, dass der Produktivitätsanstieg in der Arbeitswelt durch die Technologisierung eigentlich gar nicht messbar ist. Die Angst, dass Maschinen irgendwann alle unsere Arbeitsplätze kapern, ist zwar in der Science-Fiction vorstellbar, aber der Realität entspricht das noch lange nicht. Deswegen bin ich sehr für eine unaufgeregte Diskussion. Wir sollten schauen, welche Bereiche des Arbeitsmarktes ein solcher Trend umfassen könnte und dann muss man darüber reden, wie solch eine Entwicklung abgefedert werden könnte. Die Menschen, deren Arbeitsplätze wegrationalisiert werden, sollen ja auch weiterhin ein produktiver Teil unserer Gesellschaft bleiben. Das hat viel mit Bildung und lebenslangem Lernen zu tun. Trotzdem sehe ich es nicht so dramatisch, wie es von einigen derzeit in

Dorothee Bär: Vor einigen Jahren habe ich es noch miterlebt, dass im Bundestag hauptsächlich per Fax kommuniziert wurde. Als Bürger musste man erst am „Vorzimmerdrachen“ vorbeikommen, um mit seinem Volksvertreter Kontakt aufzunehmen. Heute hat jeder die Möglichkeit, über die sozialen Netzwerke ganz selbstverständlich eine Rückmeldung in Echtzeit zu bekommen. Es hat sich also schon viel zum Positiven geändert, weil es inzwischen einen viel direkteren Zugang der Bürger zu den Abgeordneten gibt und umgekehrt. Zu Beginn meiner Zeit im Bundestag hatte ich noch kein internetfähiges Handy. Da wurde noch ganz normal per SMS miteinander kommuniziert oder telefoniert. Reaktionen auf meine Reden habe ich erst um einiges später per E-Mail bekommen und an meinem Schreibtisch durchgesehen.

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Heute kann man schon im Plenum eine Status­ meldung online abgeben und noch während man seine Rede hält, bekommt man ungefiltert Feedback. Gerade über Twitter ist das eine sehr unmittel­ bare Herangehensweise. Da sieht man, dass schon ein großer Wandel stattgefunden hat. Man ist viel näher am Bürger.

sehr weit. Wenn Sie sich aber anschauen, welche rassistischen Hetzkommentare unter Fotos von toten Kindern gepostet werden, dann ist das wirklich schwer auszuhalten. Die Herausforderung ist es, da die Waage zu halten. Ich habe an ein Unternehmen wie Facebook schon den Anspruch, dass auf Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben und auf Verhältnismäßigkeit geachtet wird. Da glaube ich, muss Facebook seine Policy überdenken. Trotzdem kann man in unserem Land natürlich frei seine Meinung kundtun, auch wenn einiges manchmal leider sehr schwer erträglich ist. Aber in einer Demokratie und in einem freien Rechtsstaat muss man so etwas aushalten.

CIVIS: Sie beide sind online sehr aktiv. Gibt es denn von älteren Kollegen auch Anfragen, einmal zu zeigen, wie das mit den sozialen Medien genau funktioniert und wie man damit näher an die Wähler herankommt? Konstantin von Notz: Im Grunde ist das eine Diskussion, die wir so vor vier Jahren hatten, als die Leute gefragt haben: „Twitter, muss ich das eigentlich machen?“ Inzwischen sind wir einen ganzen Schritt weiter und es gibt kaum mehr jemanden, der es nicht benutzt. In der Berliner Politik ist das einfach eine neue Form der Kommunikation geworden. Natürlich mit Vor- und Nachteilen. Beispielsweise wenn man liest, welche Facebook-Kommentare manche Kollegen nach Fernsehsendungen bekommen, wenn sie sich in der Flüchtlingspolitik engagieren. Dann denkt man manchmal, dass solche Instrumente vielleicht nicht immer nur ein Mehrwert für unsere Gesellschaft sind. Grundsätzlich stimme ich Dorothee aber völlig zu. Es ist einfach eine zeitgemäße Form, auch politisch zu interagieren. Die Abläufe sind viel schneller geworden und die Hemmschwelle, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten, ist insgesamt viel niedriger als damals. Das ist grundsätzlich gut.

Dorothee Bär: Die Frage ist natürlich auch, wie viel man selber aushalten möchte. Bei Twitter und Facebook blocke ich beleidigende Kommentare und auch Spam knallhart. Strafrechtlich relevante Posts haben da sowieso nichts verloren. Natürlich bekommt man dann sehr viele Anfeindungen. Oft kommt die Kritik, das sei doch Zensur. Das ist mir aber völlig egal.

Dorothee Bär: Das hat auch innerhalb der Fraktionen etwas verändert. Da geht es natürlich auch um die Deutungshoheit bei bestimmten Themen, die mittlerweile nicht mehr ausschließlich bei der Fraktionsspitze liegt. Der Bürger bekommt so ein unverstelltes Bild der Politik und das macht alle Parteien am Ende basisdemokratischer.

CIVIS: Besteht denn in sozialen Netzwerken die Gefahr einer nochmals verschärften Schweigespirale, also dass extreme Meinungen viel mehr Gehör finden als gemäßigte?

CIVIS: Muss man die Hetzkommentare in den sozialen Netzwerken denn ertragen oder sollte man beispielsweise Facebook stärker in die Pflicht nehmen?

Konstantin von Notz: Diesen Effekt kann es natürlich geben. Man muss aber sagen, dass es in der Kommunikation eigentlich schon immer so gewesen ist. Es schreiben ja auch eher die Leute Leserbriefe, die sich über etwas empören und nicht die, die mit allem zufrieden sind.

Konstantin von Notz: Es gibt Sachen, die sind strafrechtlich relevant und die werden auch zur Anzeige gebracht. Natürlich geht die Meinungsfreiheit glücklicherweise in Deutschland auch

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»Grundsätzlich gilt die alte Weisheit, dass man im Netz keine Wahlkämpfe gewinnt. Man kann aber verlieren, wenn man keinen zeitgemäßen Auftritt hat.« CIVIS: Aber die Hürde, eine E-Mail oder einen Brief zu schreiben, ist doch viel höher als einen Tweet abzusetzen?

Sie als Politiker dabei authentisch bleiben wollen, gilt oft das Zwei-Augen-Prinzip. Dann müssen Sie selbstverständlich auch dafür geradestehen, was sie sagen. Die niedrigschwellige Kommunikation kann eben auch für Politiker problematisch sein.

Dorothee Bär: Nein, die Hürde, eine E-Mail zu schreiben, ist nicht sonderlich hoch. Beim Brief würde ich zustimmen. Da schläft man vielleicht noch einmal eine Nacht drüber. Bei E-Mails und Kommentaren in den sozialen Netzwerken ist das völlig anders. Man sieht das ja schon allein an der Zeichensetzung und der Rechtschreibung. Vieles wird nicht noch einmal durchgelesen, sondern gleich abgesendet.

CIVIS: Was sehen sie denn als den großen Trend in der politischen Kommunikation auch mit Blick auf die US-Präsidentschaftswahlen und die Bundestagswahlen 2017? Dorothee Bär: Also mir macht Periscope unheimlich Spaß. Es ist halt einfach live und in Farbe. Da gibt es keinen zweiten Take und das finde ich schon aufregend. Authentisches Bewegtbild wird deshalb sicherlich in Zukunft noch wesentlich mehr genutzt werden, auch mit Blick auf You­­Tube. Dagegen finde ich Webseiten inzwischen ziemlich überholt. Ich möchte meine eigentlich schon länger abschalten, weil ich direktere Kanäle bevorzuge. In Zukunft wird es aber kein Vorteil mehr sein, Twitter oder Facebook zu benutzen, weil wir eben alle diese Kanäle für uns gewonnen haben. Es wird nur ein Nachteil sein, wenn man sie nicht nutzt.

Konstantin von Notz: Und genau das ist ja das besondere Phänomen, diese schnelle und niedrigschwellige Kommunikation. Natürlich kann das auch mal heikel sein. Beispielsweise gibt es mehrere Politiker in den USA, die auf Grund von unbedachter Nutzung dieser Kanäle tatsächlich schwer in die Bredouille gekommen sind.

Konstantin von Notz: Alles dreht sich um die richtige Integration in die Kommunikationsstrategie. Wir als Grüne gehen ja auch gerne an Bahnhöfe und verteilen Bio-Äpfel. Darauf würde ich jetzt auch nicht verzichten wollen. Aber wer kann schon sagen, was im kommenden Bundestagswahlkampf das entscheidende Erfolgsrezept sein wird? Der Drops ist noch nicht einmal eingeworfen. Dafür verändert sich einfach alles zu schnell. Grundsätzlich gilt die alte Weisheit, dass man im Netz keine Wahlkämpfe gewinnt. Man kann aber verlieren, wenn man keinen zeitgemäßen Auftritt hat.

Früher war die Schwelle für eine öffentliche Äußerung sehr viel höher. Das ist deshalb auch für politisch aktive Menschen nicht unkompliziert. Man kann sehr schnell auf Dinge reagieren. Wenn

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Dorothee Bär: Entscheidend ist auch, dass die Aufmerksamkeitsspanne von Politikern und Parteien immer größer werden muss. Wie kann ich bestimmte Debatten im Internet bestenfalls in Echtzeit verfolgen und schnellstmöglich mit den passenden Botschaften reagieren? Die Krisenkommunikation kann und muss ansetzen, bevor etwas in die klassischen Medien überschwappt. Das heißt aber eigentlich, dass ein Politiker 24 Stunden am Tag seine Kanäle beobachten muss. Was im Netz passiert, hat meiner Meinung nach zwar lange noch nicht die selbe Relevanz, als wenn eine Zeitung oder die Tagesschau darüber berichtet. Die aber beobachten die sozialen Netzwerke sehr aufmerksam und greifen die Debatten dort in ihrer Berichterstattung auf.

Konstantin von Notz: Der Ausschuss ist ehrlich gesagt total überflüssig. Die Digitale Agenda ist schließlich auch eine ziemlich dünne Suppe. Deutschland kommt damit nicht wesentlich voran und verharrt im digitalen Mittelmaß. Wir haben völlig zerfaserte Zuständigkeiten in drei Ministerien, die sich den Dreck unter den Fingernägeln nicht gönnen. Von den 400 Handlungsempfehlungen der Enquete-Kommission in der letzten Legislatur ist bedauerlicherweise praktisch nichts umgesetzt worden. Man hätte klare Verantwortlichkeiten schaffen müssen. Dass die Bundesregierung sich darum drückt, zeigen schon die Pläne zum Netzausbau bis 2018. Wenn man in den Kalender schaut, stellt man fest, dass der Termin nach den nächsten Bundestagswahlen liegt. Offenbar will man sich da aus der Haftung nehmen lassen. Das ist alles sehr ärgerlich und man hätte sich da eine progressivere Politik gewünscht. Aber eine große Koalition ist genau dazu halt nicht in der Lage.

CIVIS: Die Digitale Agenda ist in dieser Legislaturperiode ja eines der wichtigsten Projekte der Bundesregierung. Gleich drei Ministerien haben die Federführung und es gibt einen eigenen Ausschuss dazu im Deutschen Bundestag, dem Sie ja auch angehören, Herr von Notz.

CIVIS: Frau Bär, fehlt der Internet-Minister?

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Dorothee Bär: Es ist jetzt kein Geheimnis, das auch ich zu denjenigen gehört habe, die sich während der Koalitionsverhandlungen für einen Staatsminister oder ein eigenes Ministerium ausgesprochen haben. Die jetzige Aufstellung wird sicher auch keine Dauerlösung sein. Wir haben aber das Digitale als erstes Ministerium weltweit im Namen verankert und verbinden sinnvollerweise Verkehrs­ infrastrukturpolitik mit der digitalen Infrastrukturpolitik. Meines Erachtens sind wir auf einem guten Weg. Die Koordinierung der drei Ministerien in der Staatssekretärinnenrunde funktioniert viel besser, als ich es im Vorfeld vermutet habe, und die Tatsache, dass bestimmte Vorgänge nun einmal länger brauchen, liegt in der Natur der Sache. Es ist auch völlig egal, ob 50 Mbit/s bis 2018 oder 2020 im Koalitionsvertrag steht. Wir müssen hier schnellstmöglich vorankommen und dürfen uns auf dieser Zahl sowieso nicht ausruhen. Ich kann dem Kollegen aber versichern, dass wir auch 2017 schon absehbar auf der Zielgeraden sein werden.

nur in Deutschland, sondern in ganz Europa. Wir haben alle Möglichkeiten, eine gute und eigenständige Rolle zu spielen. Viel hat auch damit zu tun, was wir wettbewerbsrechtlich wollen und da muss man leider konstatieren, dass die europäische Politik derzeit völlig versagt. Uns ist es offenbar nicht möglich, im Bereich des Datenschutzes einen Standard zu setzen, an den sich auch Google oder Facebook halten. CIVIS: Warum ist das so? Konstantin von Notz: Weil diese Unternehmen enormen Lobbydruck machen und die entscheidenden Leute sich wegducken. Dorothee Bär: Wobei sich ja auch schon die Unternehmen untereinander in Deutschland nicht auf Standards einigen können, weil es ihnen leichter fällt, die amerikanischen Standards zu übernehmen, anstatt eigene zu entwickeln. Konstantin von Notz: Das stimmt, aber es ist nicht Sache der Unternehmen, sich auf Standards zu einigen, sondern es ist die Sache der Politik.

»Schon gar nicht sollten wir auf die Idee kommen, ein deutsches Google oder Apple bauen zu wollen. Das funktioniert nicht.«

CIVIS: Ist das so? Konstantin von Notz: Ja, natürlich. Wir hätten zum Beispiel bis heute sonst keinen Katalysator in Autos. Und sie können sicher sein, dass wir auch keinen Airbag hätten, wenn den Automobilunternehmen gesagt worden wäre: Bitte verständigt euch mal auf gemeinsame Richtlinien. Das kostet die alles Geld und ist daher letztlich eine Frage der politischen Gestaltung. Die Politik ist heute nur leider zu feige, wichtige Fragen des Datenschutzes oder des Urheberrechts zu gestalten. Safe Harbor ist eine Farce und doch machen wir das Spiel mit. Es ist ja noch nicht einmal nur der Datenschutz, sondern auch die fehlende Transparenz. Seit sechs Jahren beschäftige ich mich mit Datenschutz in der digitalisierten Welt und ich kann ihnen nicht sagen, was Facebook mit ihren Daten macht. Dieser Mangel an Transparenz und politischem Gestaltungswillen führt zu diesen oligopolen Strukturen.

CIVIS: Schauen wir in die Wirtschaft. Apple und Google haben zusammengenommen eine höhere Marktkapitalisierung als der gesamte DAX. Warum fällt es uns als Volkswirtschaft so schwer, Anschluss zu finden? Dorothee Bär: Ich bewundere schon diese Neugier im Silicon Valley, die Lust etwas Neues gestalten zu wollen. In Deutschland passiert allerdings auch einiges an spannender Forschung, insofern müssen wir uns nicht verstecken. Schon gar nicht sollten wir auf die Idee kommen, ein deutsches Google oder Apple bauen zu wollen. Das funktioniert nicht. Konstantin von Notz: Also ich sehe das auch nicht so kritisch. Es ist ein großer Trugschluss zu denken, das deutsche Modell könnte eine Kopie des Silicon Valley sein. Das würde in Deutschland so niemals funktionieren. Wir müssen doch eher überlegen, welche eigene Geschichte wir im Bereich der Digitalisierung erzählen wollen. Nicht

CIVIS: Peter Thiel sagt, Wettbewerb sei etwas für Loser. Konstantin von Notz: Ja und Demokratie ist auch etwas für Loser und Peter Thiel wird Kaiser. Wenn ich sowas höre...

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Dorothee Bär: Ich teile natürlich überhaupt nicht, dass die Politik zu feige wäre. Die Thematik ist nur extrem komplex. Wir sollten auch den Verbraucher nicht aus dem Spiel lassen. Hier müssen wir viel besser aufklären und befähigen. Was macht denn die Oma im ländlichen Franken oder im ländlichen Schleswig-Holstein mit dem tollen Breitband? Es mag sein, dass nicht alles, was in den Unternehmen geschieht, auch bekannt ist. Aber selbst die Sachen, die bekannt sind, wissen oder interessieren viele Bürgerinnen und Bürger nicht. Es muss eine gesellschaftliche Debatte um die Chancen und Risiken des digitalen Wandels geben. Das ist aber natürlich sehr viel anstrengender als nur zu konsumieren. Mit mündigen und kritischen Verbrauchern würde aber noch einmal ein ganz anderer Druck auf die Unternehmen aufgebaut werden können.

sehe ich das so, trotzdem haben wir eisenharte Regulierungen. Wenn diese Currywurstbude da drüben auch nur eine schlechte Wurst verkauft, dann wird der Laden direkt dichtgemacht. Eines ist sicher in Deutschland: Du kaufst nur Würstchen, die dich nicht krank machen. Dorothee Bär: Ich habe nicht gesagt, dass die Nutzer alleine verantwortlich sind. Sie tragen aber eben auch selbst Verantwortung für sich. Im Moment haben wir eine so große Bequemlichkeit und nur sehr wenig Druck seitens der Verbraucher für transparentere Regeln. Dieses bräsige „Wird schon nichts passieren“ macht mich ja auch narrisch, weil es niemandem egal sein dürfte, welche Menge an Daten jeden Tag von amerikanischen Unternehmen aber vielleicht ja auch vom Supermarkt und der Sparkasse um die Ecke gesammelt wird.

Konstantin von Notz: Das ist so, als wenn man im Lebensmittelbereich sagen würde: „Jeder ist verantwortlich für das, was er isst.“ Grundsätzlich

CIVIS: Haben wir denn überhaupt eine Chance, die Standards auch durchzusetzen?

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Konstantin von Notz: Ja, natürlich. Das ist so eine Mär, dass das nicht möglich sein sollte. Microsoft hat auch lange gedacht, dass man sich nicht an europäisches Recht halten müsste, bis sie einige Hundert Millionen Euro Strafe bezahlen mussten. Seitdem sehen die das anders. Es gibt nun einmal einen Gerechtigkeitsrahmen für das freie Spiel der Kräfte und dafür steht auch dieses Gebäude hier. Wir machen die Gesetze, an die sich Facebook und Peter Thiel und alle anderen halten müssen.

Dorothee Bär: Also viele Start-ups erzählen mir bei Besuchen, dass sie keine großen Probleme mit der Gründung gehabt haben. Man kann immer noch über eine 72-Stunden-Gründung oder die One-Stop-Agency sprechen. Das größere Problem ist aber doch, diese Start-ups zu mittelständischen Unternehmen weiterzuentwickeln. Wie schaffen wir es, die in ein Business zu bringen, das dann auch Bestand hat? Das ist das Entscheidende. Es darf auf der anderen Seite natürlich auch niemand ausgebremst werden. Aber einfach zu sagen, derjenige, der eine hippe Idee hat, bekommt vom Staat so viel Geld, bis er in Rente gehen kann, so funktioniert es eben auch nicht. Irgendwann muss auch die Wirtschaftlichkeit nachgewiesen werden. Was mich aber schon schockiert, ist, dass viele junge Menschen heute immer zuerst an ihre Sicherheit denken. Das habe ich erst kürzlich am Tag der offenen Tür im Ministerium miterlebet. Da haben junge Menschen als Motivation für ihre Ausbildung angeführt, dass man als Beamter sicher durchs Leben gehen könne. Da fragt man sich schon, ob wir in der Schule alles richtig machen. Mit 16 Jahren habe ich jedenfalls nicht an Sicherheit im Alter gedacht. In dem Alter muss man Abenteuerlust haben.

»Es gibt nun einmal einen Gerechtigkeitsrahmen für das freie Spiel der Kräfte und dafür steht auch dieses Gebäude hier.« Dorothee Bär: Wenn wir einen Rechtsrahmen für 500 Millionen Kunden schaffen, dann halten sich auch die Konzerne daran. Viele der entsprechenden Unternehmen beschäftigen ja fast mehr Juristen als kreative Köpfe und schauen sich die geltenden Spielregeln ganz genau an. Wir müssen das nur entschlossen genug angehen. Und wir brauchen den Druck der Verbraucher. CIVIS: Wie bewerten Sie die Rahmenbedingungen für Start-ups in Deutschland? Konstantin von Notz: Ich finde, dass man unbedingt mehr machen muss im Bereich der Förderung von Start-ups. Wobei ich das nicht nur für den digitalen Bereich, sondern grundsätzlich sehen würde, so dass kleine Unternehmen mit ein, zwei Mitarbeitern als wirtschaftliche Keimzellen unbürokratisch agieren und hoffentlich wachsen können. Zum Teil passiert das ja auch schon. Gerade was das Arbeitsrecht angeht, sind viele kleinere Unternehmen von Auflagen befreit, die große Unternehmen leisten müssen. Im Hinblick auf Venture Capital muss man schauen, wie man die Start-up-Szene unterstützen kann. Leute, die ihr Geld in Risiko-Unternehmen anlegen, tun halt genau das. Da kann der Staat jetzt versuchen, ihnen ein bisschen entgegen zu kommen, um ein Teil des Risikos wegzunehmen. Aber unter dem Strich kommen sie aus dem Risiko nicht heraus. Das ist Teil des Geschäfts und die Investoren wissen das auch.

CIVIS: Digitalisierung ist ja nicht nur für den Einzelnen ein Wohlstandsversprechen, sondern auch für die Gesellschaft insgesamt. Passiert genug, um dafür in Deutschland das Bewusstsein zu schaffen? Die britische Stiftung „Nesta“ wirkt zum Beispiel täglich mit 150 Mitarbeitern in Politik und Gesellschaft für mehr Innovationsfreude.

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»Wir müssen Brücken bauen, damit jeder Einzelne Lust am Engagement und am digitalen Wandel bekommt.« Konstantin von Notz: Es ist gut, wenn man so etwas macht. Aber es gibt bei uns auch einige Institutionen, die in dem Bereich bereits viel tun, zum Beispiel die IHK. Ich bin da völlig offen für neue Ansätze. Am Ende des Tages müssen wir aber schauen, dass wir nicht wieder irgendeinen Topf mit Staatsgeld schaffen und den dann verteilen. Das ist mir zu einfach.

Wir müssen also Brücken bauen, damit jeder Einzelne Lust am Engagement und am digitalen Wandel bekommt. Was bringt mir das persönlich? Was sind die Vorteile, wenn ich nicht in der Großstadt lebe, sondern auf dem Land? Wie kann ich mich mit Online-Petitionen politisch einbringen, ohne dass ich mir eine teure Fahrkarte nach Berlin kaufen muss? Das sehe ich schon als eine Aufgabe an. Die politischen Stiftungen machen aber auch schon einiges. CIVIS: Wie kann die Digitalisierung bei der Bewältigung der Flüchtlingsfrage helfen? Konstantin von Notz: Es gibt zahlreiche Ideen, wie man Flüchtlinge mit dem Mittelstand zusammenbringen und wie man Angebote für Sprache, Unterkünfte und für Informationen schaffen kann. Im Grunde ist das ja Ausdruck dessen, dass wir in der Gesellschaft einen ganzheitlichen Ansatz haben, wie wir mit dieser Herausforderung umgehen und den Menschen konkret helfen können. Das hört eben nicht an den Bahnhöfen auf mit den tollen Hilfsaktionen, sondern geht mit Überlegungen weiter, wie man die Integration langfristig erleichtern kann. Das gibt es auch im digitalen Bereich, wo man versucht, über Apps spannende Angebote zu schaffen. Dorothee Bär: Die Digitalisierung hilft auch dadurch, dass sie eine Graswurzelbewegung ist, die sich schneller und kostengünstiger koordinieren kann als das Schwarze Brett früher. Dadurch hat man die Möglichkeit, sehr schnell sehr viele Leute zu mobilisieren. Das ist ein klarer Vorteil unserer heutigen Zeit. Auch wenn Familien auseinandergerissen werden, gibt es jetzt die Möglichkeit, sie wieder zusammenzuführen.

Dorothee Bär: Die Frage ist doch, wie wir mehr Menschen dazu bekommen, sich zu engagieren, egal ob digital oder analog. Der eine ist in fünf Vereinen aktiv und der andere macht gar nichts.

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Dorothee Bär MdB ist Parlamentarische Staatssekretärin beim Bundesminister für Verkehr und Digitale Infrastruktur. Sie ist Vorsitzende des CSUnet und Mitglied im cnetz-Beirat.

Dr. Konstantin von Notz MdB ist stellvertretender Vorsitzender der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen und Obmann seiner Fraktion im Ausschuss Digitale Agenda sowie im NSA-Untersuchungsausschuss.

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Karl-Theodor zu Guttenberg Ulf Gartzke

Europas digitale Zukunft

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Das Bild Europas in Amerika sieht dieser Tage recht düster aus: Flüchtlingschaos, Debatte um Grexit und Brexit, der Aufstieg nationalistischer bzw. linkspopulistischer Parteien sowie die wachsende Bedrohung durch „home-grown terrorism“ à la Charlie Hebdo sind nur einige der massiven Herausforderungen, mit denen sich der „Alte Kontinent“ derzeit konfrontiert sieht. Hinzu kommt: Europa droht im globalen Wettbewerb mit Technologie- und Innovationszentren wie Silicon Valley, Seattle, Toronto, New York, Boston, Tel Aviv, Bangalore oder Seoul seine digitale Zukunftsfähigkeit zu verlieren.

Unicorn-Bewertungen noch längst keine Garantie für ein langfristig erfolgreiches Geschäftsmodell und gelegentlich am Rande der Absurdität. Darüber hinaus konnten europäische Tech-Firmen zwischen April 2014 und April 2015 insgesamt 46 „große“ Finanzierungsrunden von jeweils mehr als 30 Millionen Dollar durchführen – mit einem Gesamtvolumen von über 5,6 Milliarden Dollar. Im Jahr davor waren lediglich 30 solcher Finanzierungsrunden mit einem Gesamtvolumen von 2,9 Milliarden Dollar zu verzeichnen. Im europäischen Vergleich liegt Deutschland bei den Tech-Investitionen hinter Großbritannien und Schweden auf dem dritten Platz und konnte in den letzten zwölf Monaten drei Unicorns hervorbringen (Rocket Internet, Delivery Hero und Home24).

»Andere agieren, Europa reagiert.«

Doch trotz dieser grundsätzlich positiven Entwicklungen wird man den Eindruck nicht los, dass selbst die vielversprechendsten europäischen Start-ups lediglich marginal den Rückstand verringern – in einem Wettrennen, das schon vor langer Zeit gestartet wurde. Die von Europas Politik verfolgte Tech-Agenda bestätigt diese Einschätzung, auch wenn hier jüngst lobenswerte Schritte in die richtige Richtung eingeleitet wurden. So hat z.B. der von der EU im Mai 2015 angekündigte „Digitale Binnenmarkt“ – d.h. Begrenzung des Geo-Blocking, Aktualisierung des Urheberrechts, Vereinfachung des Telekommunikationssektors sowie verbesserte Standards in den Bereichen digitale Gesundheit, cloud computing, Cybersicherheit etc. – durchaus das Potenzial, die notwendigen Rahmenbedingungen für eine neue europäische Wachstums- und Innovationsoffensive im Tech-Sektor zu setzen.

Fraglos haben US-Tech-Giganten wie Google, Facebook und Uber in Brüssel und anderen Hauptstädten Europas mit erheblichen politisch-regulatorischen Problemen zu kämpfen und investieren deshalb massiv in ihre Lobby-Aktivitäten vor Ort. Zugleich gilt aber auch: Andere agieren, Europa reagiert. Aus amerikanischer Sicht sind denn auch das EU-Kartellverfahren gegen Google oder die massiven Anti-Uber-Proteste vor allem Ausdruck von Neid und Protektionismus, mit denen Europa auf die Technologieführerschaft der USA reagiert – eine Vormachtstellung, die nicht zuletzt durch die Snowden-Enthüllungen auch im sicherheitspolitischen Bereich klar vor Augen geführt wurde. Und während man in Deutschland gerne mit gewissem Stolz auf den mit 6,7 Milliarden Euro bewerteten Börsengang des international verzweigten „Rocket Internet“-Konglomerats verweist, werden die Samwer-Brüder diesseits des Atlantiks gerne als unkreative „copycats“ abgetan.

Aus amerikanischer Sicht werden derart wichtige EU-Initiativen aber leider allzu häufig von hoch-emotional bzw. ideologisch-dogmatisch motivierten Maßnahmen wie dem „Recht auf Vergessenwerden“, den Kartellverfahren gegen Google und Amazon oder der Untersuchung von Datenschutzstandards bei Facebook überlagert. Grundsätzlich ist natürlich wenig gegen diese Maßnahmen der EU einzuwenden. Jedes der betroffenen US-Tech-­ Unternehmen ist schließlich schneller gewachsen als es sich ihre Gründer jemals hätten träumen lassen und es bedarf daher nicht allzu großer Phantasie sich vorzustellen, dass die betroffenen Firmen, zumindest in der Vergangenheit, bestimmte rechtliche Grenzen – z.B. im Umgang mit Wettbewerbern oder Kundendaten – überschritten haben.

All dies sollte jedoch nicht zu dem Eindruck führen, als mache der europäische Tech-Sektor keine Fortschritte. So erhöhte sich beispielsweise im vergangenen Jahr die Zahl der so genannten „Unicorns“ – das sind Start-ups mit einer Bewertung von mindestens 1 Milliarde Dollar – in Europa um 13 Unternehmen. Hintergrund ist ein gestiegenes Interesse internationaler Investoren an europäischen Technologiefirmen, nachdem der Hype im US-TechSektor die jüngsten Finanzierungsrunden zahlreicher Start-ups extrem ambitioniert erscheinen ließ. Dabei sind – am Rande bemerkt – eine

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»Vor Google gab es Microsoft und vor Apple gab es IBM. Beispiele, die zeigen, dass Produkte, die wir heute noch für unantastbar halten, morgen schon in Frage gestellt sein können.«


»Europas Regierungen sollten den Kontinent zu einem ›Privacy 2.0‹ Datenschutz-Hub entwickeln.«

Für Europas digitale Ambitionen ist jedoch solch ein stark auf die Vergangenheit fokussierter Politikansatz wenig hilfreich und verstärkt nur den Eindruck, dass Brüssel den bestehenden Technologie-Rückstand gegenüber Amerika mit regulatorischen Mitteln auszugleichen versucht. Selbst die erfolgreiche Umsetzung eines „Connected Continent“ wird – für sich allein genommen – in Europa kein digitales Utopia hervorbringen können. Woran es dem Kontinent letztlich mangelt, ist die klare Botschaft an den Rest der Welt, in welchen Bereichen die Europäer künftig eine globale Technologie-Führerschaft erringen bzw. verteidigen wollen.

in manchen Bereichen an einer Verteidigung des Status quo interessiert – einem Status quo, der vor dem Hintergrund global fortschreitender technischer Innovationen auf Dauer nicht zu halten sein dürfte. Was bedeutet dies für Europas technologische Zukunftsaussichten? Fest steht: Diejenigen Marktbedingungen, die bislang den Aufstieg von Google und Facebook ermöglicht haben, werden sich weiter verändern und europäischen Unternehmen Chancen eröffnen, den zunehmend schwerfälligeren, etablierten (US-) Tech-Giganten Marktanteile abzunehmen. Europas Regierungen sollten z.B. die sich schon heute bietende Gelegenheit nutzen, den Kontinent mit geeigneten Bedingungen zum Zentrum eines zukünftigen „Privacy 2.0“-Datenschutz-Hubs zu entwickeln. Das rasante Wachs­ tum von inno­ vativen Technologien, Produkten und Dienst­leistungen im Datenschutz-Bereich wird Verbraucher dabei idealerweise in die Lage versetzen, nicht nur die Kontrolle über ihre persönlichen Daten zu behalten, sondern diese auch selektiv gemäß der jeweiligen Präferenzen gewinn­bringend einzusetzen.

»Wir sind erst am ›Ende des Anfangs‹ unseres neuen digitalen Zeitalters.« Und wenngleich man leicht zur Auffassung kommt, dass Europa sich im internationalen Technologie-Wettbewerb dauerhaft mit einem Sitz in der zweiten Reihe begnügen müsse, darf man nicht vergessen, dass wir erst am „Ende des Anfangs“ unseres neuen digitalen Zeitalters sind.

Immer mehr Verbraucher erkennen, dass ihre persönlichen Daten einen konkreten wirtschaftlichen Wert haben und sind prinzipiell bereit, diese Informationen zu adäquaten Konditionen (Gegenwert, Datenschutz, etc.) ausgewählten Unternehmen zur Verfügung zu stellen. Dieser neue Markt der sogenannten „personal data economy“ leidet bislang jedoch an fehlender Effizienz.

Vor Google gab es Microsoft und vor Apple gab es IBM. Beispiele, die zeigen, dass Produkte und Dienstleistungen von Unternehmen, die wir heute noch für unantastbar halten, morgen schon in Frage gestellt sein können. Hinzu kommt: Tech-Giganten wie Google und Apple sind mittlerweile aufgrund ihrer starken Marktposition

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Aktuelle Umfragen belegen, dass 80 Prozent der Verbraucher in wichtigen globalen Märkten – darunter Deutschland, Frankreich, USA, Kanada, Indien – bereit sind, persönliche Informationen wie Name, E-Mail-Adresse und Staatsangehörigkeit mit Marken bzw. Unternehmen zu teilen. Und noch 70 Prozent würden darüber hinaus ihr Geburtsdatum, Hobbies und Berufstand preisgeben. Demgegenüber bewerten aber nur 23 Prozent der Befragten die Informationen, die sie aktuell von ihren Anbietern erhalten, als für sie maßgeschneidert bzw. „hoch relevant“. Hier klafft eine große Marktlücke mit deutlichem Optimierungspotenzial.

die Nutzerprofile, die Google und Amazon über Suchmaschinenanfragen und Einkaufsverhalten generieren können, mit den sensiblen und intimen Informationen, die Unternehmen in unserem Wohnraum („smart home“) oder über unseren Gesundheitszustand („digital health“) generieren können. Eine Kernfrage der Zukunft wird sein, ob Verbraucher in Europa (und anderen Teilen der Welt) auch solche sensiblen Daten mit amerikanischen Tech-Firmen teilen wollen. Hier können europäische Firmen, Produkte und Dienstleistungen mit hohen Datenschutz-Standards und entsprechender Reputation sehr wettbewerbsfähige Alternativen bieten.

Darüber hinaus wird die schnell wachsende Verbreitung von „Ad-Blockern“ – d.h. Software zur Ausblendung von Werbung bzw. Online-Tracking – allein in diesem Jahr zu verringerten Werbeeinnahmen von weltweit knapp 22 Milliarden Dollar führen. Damit fällt der Verlust im Vorjahresvergleich um 41 Prozent höher aus – insbesondere in Europa, wo in einigen Ländern mittlerweile bereits mehr als ein Drittel aller Verbraucher Ad-Blocking-Software benutzt. Auch datensichere Hardware ist auf dem Vormarsch. So hat Silent Circle, Hersteller des nach eigenen Angaben abhörsicher verschlüsselten „Blackphone“, erst kürzlich eine Finanzierungsrunde von 50 Millionen Dollar abgehalten, um maßgeschneiderte Lösungen für Android-Handys zu entwickeln.

»Um die Zukunft zu gewinnen, muss Europa den Blick von der Vergangenheit in Richtung Zukunft wenden.« Um die Zukunft zu gewinnen, muss Europa nicht seine gesamte Tech-Agenda radikal ändern, sondern den Blick von der Vergangenheit in Richtung Zukunft wenden. Statt zu versuchen, Unternehmen wie Google oder Facebook nachträglich noch auf deren Spielwiese einzuholen, sollten Europas Regierungen und Unternehmer voraus blicken, um künftige Trends für Märkte, Produkte und Dienstleistungen zu erkennen und entsprechend zu entwickeln. Mit seiner Innovationskraft braucht Europa sich nicht zu verstecken.

Die Abschöpfung sensibler persönlicher Daten ist jedoch nicht auf unsere Computer und Smartphones beschränkt. Man vergleiche nur

Karl-Theodor zu Guttenberg ist ehemaliger deutscher Wirtschafts- und Technologiesowie Verteidigungsminister. Zur Zeit arbeitet er als Chairman von Spitzberg Partners in New York.

Dr. Ulf Gartzke ist Managing Partner von Spitzberg Partners. Zuvor war er Büroleiter der Hanns-Seidel-Stiftung in Washington und arbeitete für das World Economic Forum.

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Andreas Winiarski

Game Change

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Game Change ist das neue Normal. Wir stehen nicht an der Schwelle einer digitalen Transformation, sondern der permanenten Revolution unserer Märkte. Disruption wird zum Dauerzustand. Alles, absolut jedes Geschäftsmodell, wird in den nächsten Jahren digitalisiert oder durch disruptive Innovationen marginalisiert werden.

in der digitalen Arena, indem wir innovative Geschäftsmodelle adaptieren und mit einer weltweit einzigartigen Plattform für Technologie, Talente und Kapital bessere Prozesse aufsetzen und skalieren. Alle fünf der sogenannten Unicorns in Deutschland mit einer Marktbewertung von mehr als eine Milliarde Euro stammen aus dem Rocket-Stall (Rocket Internet, Zalando, Delivery Hero, Home24, Hellofresh) und wir bleiben hungrig. Wettbewerb ist schließlich nicht etwas für „Loser”, wie es Peter Thiel in seinem Loblied auf die „kreativen Monopole” postuliert, sondern konstitutiv für unsere Marktwirtschaft.

Unsere Schlüsselindustrien Automobil- und Maschinenbau sind Weltmarktführer und damit in einer hervorragenden Position, die Wertschöpfung aus der Verschmelzung von Bits und Atomen, von Ingenieurskunst und Internet, in und für Deutschland zu heben. Diese Chance, unseren Wohlstand zu wahren, können wir jedoch nur nutzen, wenn wir nicht saturiert im Status quo verharren, sondern hungrig angreifen.

Das Internet gehört eben nicht nur den Amerikanern. Während sich das Silicon Valley meist auf den heimischen US-Markt konzentriert, schaut Rocket Internet über den Tellerrand. Denn die Online-Märkte in Entwicklungs- und Schwellenländern mit stark wachsendem Mittelstand, moderner Internetinfrastruktur und wenig physischem Einzelhandel sind nicht etwa der „Rest der Welt”, sondern künftig ein Epizentrum des Wandels. Deutschland hat als allseits beliebter und weltgewandter Exportweltmeister alle Karten in der Hand, bei diesem absehbaren Entwicklungssprung eine entscheidende Rolle zu spielen. Wir dürfen es nur nicht wieder verschlafen.

»Der digitale Wandel ist kein fernes Schreckgespenst.« Denn die Kehrseite des exponentiellen Fortschritts im Digitalzeitalter ist die sehr reelle Gefahr für unsere stolzen Flaggschiffe, binnen kürzester Zeit von der digitalen Avantgarde im Silicon Valley und einer permanenten Brandung neuer Herausforderer mit disruptiven Ideen zu obsoleten Dinosauriern oder austauschbaren Zulieferern à la Foxconn degradiert zu werden. Allein Apple könnte mit seinen Barreserven in Höhe von 200 Milliarden Euro theoretisch von heute auf morgen Daimler, VW und BMW aufkaufen.

»Es scheint, als fehle im Land der Ideen und Tüftler oftmals nicht die Innovationskraft, sondern die Kraft zur Disruption.«

Der digitale Wandel ist kein fernes Schreckgespenst. Er passiert gerade sehr real und in atemberaubender Geschwindigkeit. Die Tempohärte der tiefgreifenden Veränderungen macht Zeit und nicht Kapital zur kostbarsten Ressource. Derzeit verschwenden wir Unmengen davon mit den immer gleichen Schattenfechtereien wie dem diffusen Wunsch nach „technologischer Souveränität”. Solch eine Nabelschau ist für einen Exportweltmeister gefährlicher Irrsinn. Deutschland hat wie kein zweites Land von der Globalisierung profitiert und wird auch bei der Digitalisierung zu den großen Gewinnern zählen, wenn wir die Herausforderung nur selbstbewusst annehmen.

Rocket Internet ist dabei nur eine Randnotiz der Digitalisierung. Wir müssen vielmehr unsere Kern­ industrien und das mittelständische Rückgrat der deutschen Wirtschaft fit machen für den permanenten, zuweilen exponentiellen Wandel im Digitalzeitalter. Es scheint aber, als fehle im Land der Ideen und Tüftler oftmals nicht die Innovationskraft, sondern die Kraft zur Disruption. Warum sieht man inzwischen in Berlin-Mitte an jeder Ecke einen Tesla Model S und nur selten ein deutsches Elektrofahrzeug? Warum stellt sich der neue VW-Chef Matthias Müller vor die Presse und erklärt, er glaube nicht an das autonome Fahren? Hochmut kommt vor dem Fall.

Der „Internet Frontrunner” (Merkel) Rocket Internet stellt sich dem offenen Wettbewerb

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»Allein Apple könnte mit seinen Barreserven in Höhe von 200 Milliarden Euro theoretisch von heute auf morgen Daimler, VW und BMW aufkaufen.«


»›Better done than perfect‹ ist ein geflügeltes Wort in der Startup-Branche, das wir uns auch in der Digitalpolitik zu Herzen nehmen sollten.« Nach dem „innovator’s dilemma” von Clayton M. Christensen liegt es regelmäßig nicht im rationalen Interesse von Markt- und Technologieführern in Nischen zu investieren, aus denen potenziell disruptive Innovationen entstehen könnten. Vordenker der deutschen Wirtschaftselite wie Klöckner-Chef Gisbert Rühl reagieren auf dieses Dilemma paradox, indem sie parallel zum laufenden Betrieb Start-ups aufbauen, die das eigene Geschäftsmodell kaputtzumachen versuchen.

USA dagegen 0,17 Prozent und in Israel gar 0,36 Prozent des Bruttoinlandproduktes als Wagniskapital investiert werden. Abseits vielerlei technischer Details wie den Rahmenbedingungen für institutionelle Anleger fehlt es in den Chefetagen der deutschen Wirtschaft offenbar immer noch am Bewusstsein für das digitale Momentum. Neben Kapital mangelt es vor allem auch an Köpfen. Für unsere Volkswirtschaft ist ein ständiger Zustrom qualifizierter Arbeitnehmer mittlerweile ein existenzieller Standortfaktor. Deutschlands Digitalwirtschaft geht mit mindestens 40.000 fehlenden IT-Fachkräften auf dem Zahnfleisch. Dieser Mangel wächst immer mehr zur Wachstumsbremse heran. Rocket Internet hat erst kürzlich 500.000 Euro für die Gewinnung von 100 neuen IT-Spezialisten ausgelobt. Wir hätten dieses Geld lieber in die Entwicklung unserer Mitarbeiter und Produkte investiert.

Aber auch neben diesem geradezu schizophrenen Managementansatz eröffnen Kooperationen mit Start-ups den etablierten Unternehmen eine tolle Chance, disruptive Innovationen extern auszuprobieren und bei Erfolg schließlich zu internalisieren.

»Eine lebhafte Start-upSzene müsste im ureigensten Interesse der deutschen Industrie liegen.«

Wir können nur mit einer offensiv gelebten Willkommenskultur für qualifizierte Zuwanderer den Bedarf nach den digitalen Köpfen von heute und morgen halbwegs decken. Statt weit ausgebreiteter Arme erwartet die leistungs- und integrationswilligen Talente oft aber eine Odyssee durch das deutsche Bürokratie-Dickicht. Die Bearbeitung durch die Zentrale Auslands- und Fachvermittlung dauert in einer Vielzahl der Fälle nicht etwa zwei Wochen, sondern mehrere Monate. Nichtigkeiten, wie etwa die Anerkennung von Universitätsabschlüssen in kostenpflichtigen „Zeugnisüberprüfungsverfahren“ oder verschleppte Visa­­verfahren in den Botschaften, verzögern den Prozess enorm und lassen die Kandidaten verun­ sichert in der Luft hängen.

Agile Start-ups sind eben nicht nur eine große Herausforderung für unsere etablierten Industrie­ tanker, weil sie sehr viel flexibler, dynamischer und fokussierter neue Nischen erschließen können. Richtig gedacht sind sie aus den gleichen Gründen eine große Chance für die etwas angestaubte Deutschland AG, sich neuen Schwung und Vitalität ins Haus zu holen. Eine lebhafte Start-up-Szene müsste also im ureigensten Interesse der deutschen Industrie liegen. Verstehe da einer, warum hierzulande nur 0,02 Prozent, in den

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Haben wir das dringend benötigte Talent dennoch einmal für Deutschland gewonnen, möchten wir diese Wertschöpfungskraft auch möglichst lange am Digitalstandort halten. Für solche Klebeffekte muss den ambitionierten jungen Menschen eine klare Perspektive aufgezeigt werden. Ein Einwanderungsgesetz mit transparentem Rechtsrahmen würde nachhaltiges Vertrauen, beiderseitige Planungssicherheit und nicht zuletzt auch ein Signal der Einladung vermitteln.

und schaffen es, diese PS mittels toller Kommunikation und spannender Kooperationen auf die Straße zu bringen. Auch wir brauchen einen solchen Katalysator für den digitalen Wandel, der berät und antreibt, der fördert und fordert. Ein energischer Thinktank dieses Formats wäre ein strategischer Schlüssel zur Etablierung der wissensbasierten Netzwerke, die Innovation treiben und das vielbeschworene Ökosystem für Kapital und Köpfe erst schaffen.

Für den digitalen Ruck in Deutschland fehlt es zudem an einer unabhängigen Institution wie dem britischen Change Agent Nesta. Die aus Lotto­mitteln finanzierte Stiftung wirkt in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft Großbritanniens für Freude an Innovation und Wandel.

„Better done than perfect” ist ein geflügeltes Wort in der Start-up-Branche, das wir uns auch in der Digitalpolitik zu Herzen nehmen sollten. Nie wurde unternehmerisches Risiko und Innovationsfreude individuell wie gesamtgesellschaftlich mehr honoriert als heute. Es gilt, die Forderung nach einem Schulterschluss zwischen Politik, Industrie und Start-ups endlich mit Leben zu füllen und gemeinsam in unserer Gesellschaft die Lust auf Fortschritt neu zu entfachen.

Rund 150 Mitarbeiter leben die Nesta-Mission „Making innovation flourish“ mit einer exzellenten Translationsforschung zur Digitalisierung

Andreas Winiarski ist Senior Vice President Global Communications der Rocket Internet SE und Gründer der „digital native agency” RCKT. Er ist Mitglied im Beirat Junge Digitale Wirtschaft des Bundeswirtschaftsministers und im Beirat des cnetz.

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Florian Nรถll

Start-ups in Deutschland

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Halbzeit in Berlin. Das große Thema dieser Koalition ist die Digitalisierung. Oder? Im Sommer des letzten Jahres wurde, dem Koalitionsvertrag folgend, die Digitale Agenda der Bundesregierung der Öffentlichkeit vorgestellt. Wer große Erwartungen in die Digitale Agenda gesteckt hatte, der musste feststellen, dass diese nur bedingt erfüllt wurden. Viele Formulierungen kamen nicht über den Koalitionsvertrag hinaus. Statt einer klaren Roadmap mit konkreten Maßnahmen wirkte die Agenda eher wie eine Absichtserklärung.

Warum wird die Digitalisierung nicht als ein solches Ereignis behandelt? Ein Grund liegt wahrscheinlich in der menschlichen Vorstellungskraft. Wir können die Zukunft eigentlich nur linear voraussehen. 30 lineare Schritte sind ungefähr 30 Meter. Das stellt uns vor kein Problem. Die digitale Entwicklung verläuft jedoch nicht linear. Die digitale Entwicklung ist disruptiv, sie verläuft exponentiell. Wie weit laufe ich mit 30 exponentiellen Schritten? Richtig, etwa 27 Mal um die Erde. 2008 wurden weltweit 355 3D-Drucker verkauft, 2013 waren es 70.000 und im Jahr 2018 werden es zwei Millionen sein.

Die Optimisten stellten jedoch zu Recht fest, dass diese Digitale Agenda einen enorm wichtigen Meilenstein darstellt. Es war der Zeitpunkt der Erkenntnis – der Erkenntnis, dass die Digitalisierung alle Bereiche unserer Gesellschaft und Wirtschaft erfassen wird und die Politik diesen Prozess begleiten muss. Die Union initiierte die #cnight als Digital-Event, berief eine Zukunftskommission zum Thema und Bundeskanzlerin Angela Merkel setzte sich sichtbar an die Spitze der parteiinternen Bewegung.

Nun könnte man meinen, dass die Entwicklung der Digitalen Wirtschaft in den vergangenen 20 Jahren als Ereignis ausreichen müsste, um die Alarmsirenen zum Schrillen zu bringen. Eine Entwicklung, die wir nur beobachtet haben, ohne daran ernsthaft teilzunehmen. Apple, Google, Facebook und Amazon sind heute mehr wert als der gesamte DAX. Aus der „New Economy” der USA wurde „The Economy”. Wenn diese letzten 20 Jahre das Hinspiel auf dem Weg hin zu einer neuen Wirtschaft waren, dann haben wir es haushoch verloren. Diese Niederlage tat uns jedoch nicht weh. Schließlich sind Google, Facebook und Co. auf der grünen Wiese neu entstanden. Zwar haben wir an diesem Wertzuwachs nicht partizipiert, aber es wurde uns zumindest spürbar auch nichts weggenommen.

»Die digitale Entwicklung verläuft exponentiell.« Zwei Jahre nach dem Koalitionsvertrag und ein Jahr nach der Digitalen Agenda scheint der Erkenntnis jedoch keine schnelle Umsetzung zu folgen. Politische Kraftakte folgen oft dramatischen Ereignissen. Bei solchen Ereignissen zeigt die Politik regelmäßig, dass sie zu schnellen Entscheidungen fähig ist. Der Nuklearkatastrophe von Fukushima folgte die rasante Abkehr von der Atomenergie und auch in der aktuellen Flüchtlingskrise beweist die Politik Handlungsfähigkeit.

Jetzt kommt das Rückspiel. 90% der deutschen Weltmarktführer sind im Business-to-business-­ Bereich. Deutsche Konzernlenker, besonders aus der Automobilwirtschaft, vermitteln konsequent den Eindruck, mit Blick auf die Digitalisierung alles im Griff zu haben. Zwar hat man stellenweise den Eindruck, dass auch die politischen Entscheider solchen Aussagen nur noch bedingt Glauben schenken, aber laut widersprechen will einem erfolgreichen DAX-Boss offensichtlich auch niemand. Es wäre angebracht. Laut einer in diesem Jahr erschienen Studie der Zeitschrift Capital wissen mehr als 50% der deutschen Unternehmen nicht, welche Geschäftsmodelle für sie in Zukunft relevant sind. Facebook, die größte News-Seite der Welt, produziert keine Inhalte. Uber, das weltweit größte Taxi-Unternehmen, besitzt keine Fahrzeuge. AirBnB, der größte Bettenvermieter der Welt, besitzt keine Hotels und Alibaba, der wertvollste Händler der Welt, besitzt keine Lager.

Dabei ist es nicht einmal entscheidend, ob die getroffenen Entscheidungen richtig oder falsch sind. Entscheidend ist nur, dass etwas entschieden wird. Selbstverständlich ist die Digitalisierung weder ein plötzliches Ereignis noch eine humanitäre Katastrophe. Die Griechenlandkrise oder auch die Finanzkrise mit Maßnahmen wie der fünf Milliarden schweren Abwrackprämie zeigen, dass auch wirtschaftliche Ereignisse deutliche und schnelle Reaktionen ermöglichen.

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Wir müssen uns eine ernsthafte Frage stellen: Was passiert, wenn wir die zweite Halbzeit ebenfalls verlieren? Wenn es uns nicht gelingt, unsere Geschäftsmodelle erfolgreich zu transformieren? Sieht es in Baden-Württemberg im Jahr 2025 dann aus wie in Detroit 2013?

Die Start-up-Welt könnte so schön sein. Ist sie aber nicht, weshalb die Bundesregierung ihrem im Koalitionsvertrag definierten Ziel, eine neue Gründerzeit zu schaffen, trotz der guten Maßnahmen aus dem Bundeswirtschaftsministerium kaum näher gekommen ist. Das Highlight dieser Gegenbewegung kam ausgerechnet aus dem Bundesfinanzministerium. Während die Start-up-Welt auf das im Koalitions­ vertrag versprochene Venture-Capital-Gesetz wartete, bekam sie stattdessen den Entwurf für ein Investmentsteuerreformgesetz serviert. Was zunächst harmlos klingt, wäre nicht weniger als der Todesstoß für die Start-up-Finanzierung in Deutschland gewesen.

»Was passiert, wenn wir auch die zweite Halbzeit verlieren?« Wenn wir dieses Szenario nicht erleben wollen, sind alle Teile unserer Gesellschaft gefragt, entschlossen und mutig die neuen Herausforderungen anzugehen. Und es gilt, was schon Einstein wusste: „We cannot solve our problems with the same thinking we used when we created them."

Es war die Bundeskanzlerin, die diesen Gesetzentwurf im Rahmen der #cnight einkassierte. Wenige Tage später verabschiedete das Bundeskabinett ein Eckpunktepapier für Wagniskapital. Ein Venture-Capital-Gesetz ist das zwar noch nicht, aber immerhin ein Schritt in die richtigte Richtung. Den durch den Koalitionsvertrag geweckten Erwartungen wird das Papier jedoch nicht gerecht. Unter dem Strich werden die bereits bestehenden Rahmenbedingungen zwar nicht verschlechtert, aber leider auch nicht signifikant verbessert. Insbesondere sucht man in dem Papier vergebens nach regulatorischen Maßnahmen zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für die Wachstumsfinanzierung von Start-ups.

Lassen Sie uns einen Blick auf den Stand der Umsetzung der Digitalen Agenda werfen. Nach einer Analyse des IT-Verbands Bitkom wurden bis zum Sommer von 121 in der Agenda definierten Einzelmaßnahmen 36 umgesetzt, bei 60 hat die Arbeit begonnen. Bei 25 Projekten ist bislang allerdings noch nichts passiert. Vor dem Hintergrund, dass in den USA 80% der neuen Jobs von Unternehmen geschaffen werden, die jünger als zehn Jahre sind, beschränke ich meine Bestandsaufnahme auf die Start-up-Förderung. Hier ist es insbesondere Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel, der aus Sicht der Startup-Branche in den ersten zwei Jahren der großen Koalition seinen Job gemacht hat. Er hat schnell erkannt, dass das fehlende Wachstumskapital das größte Handicap für die Start-ups in Deutschland ist. In der Folge hat er angestoßen, dass die KfW ab sofort wieder als Ankerinvestor in Venture Capital Fonds investieren wird. Das hatte sie während der Banken- und Finanzkrise nicht mehr getan.

Das Venture-Capital-Gesetz ist leider nicht das einzige Missverständnis zwischen Start-ups und der Politik. Da wäre noch das Bürokratiemonster mit dem Namen Mindestlohngesetz. Um Missverständnissen vorzubeugen: Der Mindestlohn für reguläre Beschäftigungsverhältnisse war nie ein Thema für die Startup-Branche. 80% unserer Start-up-Gründerinnen und -Gründer in Deutschland sind Akademiker und in der Mitarbeiterschaft ist das Qualifikationsniveau kaum geringer. Natürlich gibt es Ausnahmen, beispielsweise in der Logistik im E-Commerce. Aber selbst dort werden die Löhne in der Regel mindestens nach Tarif gezahlt. Die Zeiten von schlecht oder gar überhaupt nicht bezahlten Praktika sind in der Start-up-Welt vorbei, der Kampf um die besten Köpfe beginnt heute schon in der Uni. „If you pay peanuts, you get monkeys“ ist eine HR-Weisheit, die bereits bei der Auswahl von Praktikanten Anwendung findet.

Als weitere Maßnahme setzt die Bundesregierung beim Europäischen Investitionsfonds (EIF) einen 500 Millionen Euro schweren Wachstumsfonds auf. Hinzu kommen weitere Aktivitäten. Der German Accelerator, ein Programm, das deutsche Start-up-Unternehmen bei der Internationalisierung unterstützt, wird auf Boston ausgeweitet. Ausgeweitet wird auch der INVEST-Zuschuss für Business Angel.

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»Die Regierung ist dem Ziel einer neuen Gründerzeit nicht näher gekommen.«

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Der Gesetzgeber sollte, so die Forderung der Branche, bei der Konstruktion des Mindestlohns die Ausbildungsleistung anerkennen, die Start-ups im Rahmen von Praktika erbringen. Dass Start-ups die Ausbildungsbetriebe für die Digitale Wirtschaft sind, belegte Gisbert Rühl, Vorsitzender des Vorstands des Stahlhändlers Klöckner & Co., im Rahmen des Mitgliederkongresses #CDUdigital. Stolz berichtete er, dass er für die Umsetzung seiner Digitalstrategie schon acht Mitarbeiter bei Start-ups abgeworben hat. Acht Mitarbeiter mit digitalen Qualifikationsprofilen, die es außerhalb der Start-up-Welt fast nirgendwo gibt. Wenn dann 61% der vom Deutschen Start-up Monitor befragten Gründer angeben, ihre Einstellungspolitik für Praktikanten aufgrund der Einführung des Mindestlohns geändert zu haben, dann wird deutlich, dass der Mindestlohn unser Fachkräfteproblem in der Digitalen Wirtschaft verschärfen wird.

2014 war auch das Jahr, in dem Justizminister Maas sich vornahm, das Crowdinvesting in Deutschland zu verbieten. Mit dem Wind der Prokon-Pleite im Rücken brachte er das Kleinanlegerschutz­gesetz auf den Weg. War mangelnde Regulierung der Grund dafür, dass Privatanleger bei Prokon viel Geld verloren haben? Sicher nicht. War die Finanzierung von Prokon vergleichbar mit Crowd­ investing? Sicher nicht. Kann die deutsche Startup-Szene auf die 100 Millionen Euro verzichten, die 2014 auf diesem jungen Finanzierungsweg investiert wurden? In den USA beschließt man den JOBS Act, in Deutschland das Kleinanlegerschutzgesetz. Das sagt eigentlich alles. Tim Mazzarol, Professor an der University of Western Australia, hat in einem Artikel sechs Wege aufgezeigt, mit denen Regierungen Entrepreneurship fördern können. Entrepreneurship ist dabei ein geeigneter Oberbegriff für alle diese Start-up-Themen. Der für mich zentrale Punkt bei Mazzarol: „Ensure that government policy is broadly focused – Policy should be developed that is holistic and encompasses all components of the ecosystem rather than seeking to ‘cherry pick’ areas of special interest.“ In der Digitalen Agenda der Bundesregierung kann man einen solchen ganzheitlichen Ansatz herauslesen. Das Handeln der großen Koalition passt dazu jedoch nicht.

Der Mindestlohn ist aber auch jenseits der Ausbildungsfrage Sinnbild für eine inkonsequente Gründungs- und Digitalpolitik. Vorausgegangen war die Verabschiedung eines Eckpunktepapiers „zur weiteren Entlastung der mittelständischen Wirtschaft von Bürokratie“ durch das Bundeskabinett. „Gründerinnen und Gründer sollen sich auf ihr Geschäftskonzept konzentrieren und nicht mit Formularen und Behörden unnötig Zeit verschwenden“, heißt es darin. Außerdem: „Grün­der sollen in den ersten drei Jahren grundsätzlich von Berichts- und Informationspflichten befreit werden.“

Vielleicht fehlt genau hier jetzt der Internetminister. Ein Minister, der ausschließlich die Interessen und Herausforderungen von Digitaler Wirtschaft und Gesellschaft im Blick hat und seine Kabinettskollegen wenn nötig an das gemeinsame Ziel erinnert. Bislang kümmert sich jeder nur um seinen eigenen Kram, mal für, mal gegen Gründer. Damit muss ab heute Schluss sein. Kein Gesetz darf mehr verabschiedet werden, das Gründungen behindert. Dicke Bretter sind dafür da, um durchgebohrt zu werden. Lasst uns mutig sein, so wie es unsere Gründerinnen und Gründer jeden Tag sind.

Meine Frage: Wo ist die Befreiung von den Berichtspflichten in den ersten drei Jahren nach der Gründung beim Mindestlohn? Wenn man im Dezember einen umfassenden Bürokratieabbau ankündigt und dann direkt am 1. Januar – auch für alle Gründer – die Mindestlohndokumentationspflichtenverordnung in Kraft setzt, dann klingt das nach einem üblichen Vorsatz für ein neues Jahr, an den man sich nie halten wollte.

Florian Nöll ist Vorsitzender des Bundesverbandes Deutscher Start-ups e.V. und Mitglied im geschäftsführenden Vorstand des cnetz.

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Constantin Gissler

Der Weg zum digitalen Binnenmarkt

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Seit einigen Jahren erleben wir fundamentale Umwälzungen, die zunehmend die gesamte Wirtschaft erfassen. Wer sich heute der Digitalisierung nicht stellt, droht im globalen Wettbewerb ins Hintertreffen zu geraten.

nationalstaatliche Lösungen werden in der globalen Digitalwirtschaft nicht ausreichen. Unter Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker wurde der Bereich Digitale Wirtschaft und Gesellschaft stark aufgewertet und zu einer der Topprioritäten erklärt. Bereits ein halbes Jahr nach Antritt legte die neue Kommission mit der Strategie für den Digitalen Binnenmarkt, kurz DSM-Strategie, im Mai 2015 einen Fahrplan mit 16 Maßnahmen vor. Noch zum Jahresende werden die ersten Gesetzesvorschläge erwartet. Die DSM-Strategie zeigt einerseits, dass es der Kommission ernst ist mit dem Thema Digitales. Andererseits wird auch schnell klar: Die Fragestellungen werden zunehmend politischer. Ging es in der Digitalen Agenda für Europa 2010 noch um die Rahmenbedingungen für Verbraucher und Unternehmen bei Themen wie Datenschutz, Datensicherheit oder IT-Fähigkeiten, so zeichnen sich jetzt unzählige digitale Grabenkämpfe ab, die die Brüsseler Gesetzesverfahren vor große Herausforderungen stellen werden.

»Die Hotspots der Digitalwirtschaft sind die USA, Israel und China.« Dabei könnten die Ausgansbedingungen besser sein: Deutschland und Europa sind im Bereich der Digitalwirtschaft nicht auf den Spitzenplätzen. Die Hotspots der Digitalwirtschaft sind derzeit die USA, Israel und China. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Den Unterschied machen die rechtlichen Rahmenbedingungen, das Angebot an Fachkräften, das Geld für Wagnis und Wachstum bei jungen Tech-Firmen und schließlich die Größe des Heimatmarktes. Zwar ist der europäische Markt in der Theorie mit 500 Millionen Einwohnern durchaus groß. In der Praxis allerdings handelt es sich um 28 nationale Märkte mit 24 Amtssprachen und enormen Kaufkraftunterschieden. Unternehmer müssen sich mit teils unterschiedlichen Verbraucher- und Datenschutzrechten auseinander setzen. Das Urheberrecht variiert von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat. Zudem wollen verschiedene Mehrwertsteuersätze beachtet und weitere rechtliche Hürden genommen werden.

»Die EU-Kommission hat die digitale Wirtschaft stark aufgewertet.« Zweifelsohne mangelte es auch der abgelaufenen Kommissionsamtszeit nicht an Zündstoff. Die Verhandlungen zur Datenschutzgrundverordnung, die nach vier Jahren demnächst abgeschlossen werden sollen, wurden begleitet von intensiven Debatten über striktere Vorgaben, nicht zuletzt mit Blick auf Onlineangebote.

Manche sprechen davon, dass im digitalen Zeitalter die erste Halbzeit für Europa verloren ging. Noch treffender könnte man vielleicht vom Hinspiel sprechen, denn mit dem Rückspiel wechselt auch der Spielort – wir bekommen ein Heimspiel.

Gleiches gilt für die EU-Vorschläge zur IT- und Netzsicherheit im Bereich kritischer Infrastrukturen. Zudem wurden die Abschaffung der Roaming-Gebühren und die gesetzliche Verankerung der Netzneutralität durchaus kontrovers diskutiert. In diesem Mandat allerdings kommen neue Konfliktlinien hinzu, die die Veränderungen auf den Märkten und den zunehmenden Wettbewerb im Internet widerspiegeln.

Mit der Transformation der Wirtschaft und der Verschmelzung von IT mit der klassischen Industrie entstehen neue Chancen für Deutschland und Europa. In vielen klassischen Wirtschaftssektoren belegen unsere Unternehmen noch immer internationale Spitzenplätze und können auf gesammelte Erfahrung, Expertise und eine exzellenten Reputation bauen. Diese Faktoren muss Europa sich auf dem Weg zur vernetzen Wirtschaft zunutze machen. Es ist zu begrüßen, dass man in Brüssel unterdessen diese Chancen erkannt hat, denn rein

Mit dem Boom der Digitalwirtschaft und dem Aufkommen neuer, disruptiver Dienste geraten bewährte Geschäftsmodelle und ganze Wertschöpfungsketten unter Druck und selbst Marktführer können sich ihrer Stellung nicht mehr sicher sein.

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»Zwar ist der EU-Markt theoretisch mit 500 Millionen Einwohnern durchaus groß. In der Praxis allerdings handelt es sich um 28 nationale Märkte mit 24 Amtssprachen.«


Die DSM-Strategie kann der Internetwirtschaft und der Digitalisierung der Industrie einen enormen Schub geben. Gleichzeitig birgt sie aber auch Gefahren, wenn bei der Überarbeitung der Regeln weniger förderliche oder gar kontraproduktive Ideen eingebracht werden.

die Regulierung von Internetplattformen. Obwohl noch zu klären ist, was man unter einer Plattform genau zu verstehen hat, wird der Ruf nach Regulierung bereits laut. Die EU-Kommission führt hierzu im Herbst zunächst eine öffentliche Konsultation durch und behält sich weitere Schritte vor. Selbst wenn es die erklärte Absicht ist, nach objektiver Analyse der Sachlage nur tatsächlich bestehende Probleme anzugehen, ist zu befürchten, dass in den kommenden Jahren das Damoklesschwert der Regulierung über der Digitalbranche in Europa hängen wird.

Die uns bevorstehenden politischen Debatten in Brüssel werden zum Nebenschauplatz der Marktumwälzungen und im schlimmsten Fall zum Hauptschauplatz, nämlich dann, wenn Rufe laut werden, gewissermaßen per Gesetz erfolgreiche Geschäftsmodelle zu bestimmen. Das hat in Deutschland schon nicht funktioniert, wie man am Beispiel des Leitungsschutzrechtes sehen kann.

An der Modernisierung und Harmonisierung der einschlägigen Regelwerke führt kein Weg vorbei. Wenn unser Ziel ist, global wettbewerbsfähige Digitalunternehmen hervorzubringen, müssen diese im ersten Schritt einen europäischen Markt vorfinden, auf dem sie entsprechend wachsen können. Gleich dem klassischen Binnenmarkt müssen auch die virtuellen Grenzen abgebaut werden. Die kulturelle Vielfalt gilt es dabei zu erhalten, denn sie gehört zweifelsohne zu den einzigartigen Stärken Europas.

Im Zuge der Urheberrechtsreform auf EU-Ebene wird es primär darum gehen, den Rechtsrahmen zu modernisieren und weiter zu harmonisieren, um zunehmend grenzüberschreitend verfügbaren Onlineangeboten Rechnung zu tragen. Dieser Schritt ist überfällig, da die Regeln schon seit längerem der Realität im Netz hinterherhinken und somit viele rechtliche Grauzonen für Verbraucher und Unternehmen entstanden sind. Diese wirken sich hemmend auf das weitere Wachstum aus und erschweren insbesondere Start-ups die Expansion über ihr Heimatland hinaus. In den Fokus rücken wird zudem die Frage der Durchsetzung von Urheberrechten online.

»Geschmäcker und Sprachen lassen sich nicht harmonisieren.«

Illegale Inhalte im Netz möglichst schnell zu entfernen, ist sicherlich im Interesse aller Beteiligten. Wie man dabei vorgeht, ist aber umstritten. Bisher gilt: Wer ohne Kenntnis des Inhalts Daten speichert oder durchleitet, ist hierfür grundsätzlich nicht haftbar, muss aber bei Hinweisen auf illegale Aktivitäten entsprechend reagieren.

Neben einer schrumpfenden und alternden Bevölkerung wird sie aber auch weiterhin eine besondere Herausforderung für die Wirtschaft darstellen – Geschmäcker und Sprachen lassen sich eben nicht harmonisieren. Umso mehr sollten die europäischen Entscheider jetzt Rückgrat und Weitsicht beim Thema Digitales beweisen.

Dieses Prinzip ist in der EU seit der Jahrtausendwende festgeschrieben und hat sich bewährt, jedoch drängt man auf Seiten der Urheber seit Jahren auf Änderungen. Hier gilt es aber mit Bedacht vorzugehen. Höhere Haftungsrisiken, Rechtsunsicherheiten und Überwachungspflichten könnten das Wachstum in der Digitalwirtschaft, insbesondere von Cloud-Diensten, ausbremsen – kontraproduktiv, zumal die illegalen Inhalte zumeist auf ausländischen Servern lagern.

Wir dürfen nicht der Versuchung erliegen, klassische Wirtschaftssektoren überhastet vor der aufkommenden digitalen Konkurrenz schützen zu wollen. Derlei Maßnahmen sind über kurz oder lang nicht nur zum Scheitern verurteilt, sondern sie machen zugleich die letzten Chancen auf eine volkswirtschaftliche Spitzenposition Europas zunichte. In der digitalen Transformation der gesamten Wirtschaft darf das Ziel nicht sein, traditionelle Geschäftsmodelle möglichst lange zu erhalten, sondern dem digitalen Wandel den Weg zu ebnen. Nur so können wir für nachhaltiges Wachstum und Wohlstand in Europa sorgen.

Während es sich beim Urheberrecht um lange schwelende Konflikte handelt, hat eine andere Debatte erst im letzten Jahr an Fahrt aufgenommen:

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»Es ist zu befürchten, dass in den kommenden Jahren das Damoklesschwert der Regulierung über der Digitalbranche in Europa hängen wird.« Constantin Gissler ist Leiter des Brüsseler Büros des Branchenverbandes Bitkom. Zuvor arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter von Jürgen Creutzmann im EU-Parlament und war in der Politikabteilung der US-Großkanzlei Mayer Brown tätig.

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Ansgar Baums

Pl채doyer f체r eine bessere Ordnungspolitik

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Eine gute Wirtschaftspolitik beruht auf einer klaren Vorstellung, was Staat und Unternehmen zu tun und zu lassen haben. Dieser Kompass fehlt uns bei Industrie 4.0.

Dieses Schreckensszenario wird dann immer öfter mit der Forderung nach einem „aktiven Staat“ verbunden. Der Zusammenhang ist klar: Je schwärzer das Bild von Industrie 4.0, desto leichter lassen sich starke Interventionen des Staates rechtfertigen. Brauchen wir also eine neue Wettbewerbs­ politik, die Plattformen in die Schranken weist? Ist eine Ex-ante-Regulierung von Plattformen gerechtfertigt? Sollte der Staat die Entwicklung nationaler digitale Plattformen fördern?

„Industrie 4.0 ist die erste industrielle Transformation, die durch den Staat verordnet wird“ – dieser nicht ganz ernst gemeinte Kommentar war kürzlich auf einer der zahlreichen Konferenzen zum Thema in Berlin zu hören. Überraschend war die Reaktion der Anwesenden: Nachdenkliches Kopfnicken. Was wollen wir bei Industrie 4.0 eigentlich vom Staat? – Diese Frage stellen sich angesichts der vielen politisch aufgeladenen Industrie-­­ 4.0Veranstaltungen immer mehr Manager.

Mindestens ebenso schwarz ist das Bild des „Plattform-Kapitalismus“. Für Sascha Lobo und ByungChul Han sind digitale Plattformen das Architekturprinzip einer „hyperkapitalistischen“ Welt. Damit ergibt sich eine überraschende Allianz aus politisch eher links orientierten Plattform-­ Kapitalismus-Kritikern und bislang eher als wirtschaftsliberal zu bezeichnenden StandortPoliti­kern, die vor allem eines eint: Angst vor den Strukturveränderungen, die digitale Plattformen auslösen. Das Kernproblem ist: Beide Sichtweisen vereint ein holzschnittartiges Bild digitaler Plattformen, das zu falschen Schlussfolgerungen führt. Die Plattformisierung ist in der Tat ein Mega­ trend – die Ausformungen dieser Plattformen sind allerdings so heterogen, dass hier Differenzierung dringend notwendig ist.

»Digitale Plattformen bestimmen die Spielregeln im Markt.« Der Schlüssel zum Verständnis von Industrie 4.0 ist die Entwicklung digitaler Plattformen. Plattformen fungieren als Mittelsmänner zwischen Endkunden und Unternehmen. An sich nichts Neues – für die Analyse dieser Dreiecksbeziehung hat Jean Tirole kürzlich den Wirtschaftsnobelpreis erhalten. Die Digitalisierung hat Plattformmärkten allerdings eine völlig neue Dynamik verliehen. Amazon und Ebay haben das Einkaufen plattformisiert, Uber macht das gleiche mit dem Taxi-Markt, Airbnb im Hotelgewerbe. Deutsche Automobilhersteller kaufen den Kartendienst Here, um Zugriff auf präzise Geodaten zu haben, die eine Kerntechnologie zukünftiger Mobilitätsplattformen sind. Elsevier entwickelt sich vom Verlag zu einer Wissensplattform, die Inhalte anderer Verlage integriert – die Liste ließe sich endlos fortsetzen.

Das gilt vor allem für die Architekturprinzipien digitaler Plattformen – diese können sehr unterschiedlich sein: Während einige Plattformen Entscheidungsmacht und Wertschöpfung im Kern einer Plattform – also bei ihrem Betreiber – konzentrieren, gibt es viele Beispiele für Plattformen, die das Gegenteil tun, nämlich Macht und Wertschöpfung in der „Peripherie“ der Plattform verteilen. Oft existieren diese unterschiedlichen Plattformtypen im gleichen Markt in direkter Konkurrenz. Ein Beispiel sind PC-Betriebssysteme, die wohl zu den ältesten digitalen Plattformen gehören: Während Apple OS X ein sehr geschlossenes System ist (unter anderem kann es nur auf Apple Hardware genutzt werden), steht Linux für das Gegenteil. Es bietet fast unbegrenzte Möglichkeiten der Anpassung und lässt sowohl dem Applikationsentwickler als auch dem Nutzer alle Optionen offen.

Digitale Plattformen sind aber mehr als nur Vermittler: Sie bestimmen die Spielregeln im Markt und verändern die Wertschöpfungsstrukturen. An diesem Punkt wird es politisch – und oft holzschnittartig: Werden die deutschen Mittelständler zu Sklaven einer digitalen Plattform, die sie selbst nicht kontrollieren können? Entstehen digitale Monopole, die aufgrund der Netzwerkeffekte immun gegenüber Wettbewerb sind? Wandert durch die Plattformisierung im großen Maßstab Wertschöpfung aus Deutschland ab?

Plattformisierung heißt auch nicht Monopolisierung. Eine historische Analyse von Plattformisierungsprozessen zeigt, dass sich in vielen Marktsegmenten drei bis fünf Plattformen etablieren.

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ÂťDie Politik sollte sich auf die Gestaltung guter Rahmenbedingungen fĂźr das Entstehen digitaler Plattformen in Deutschland konzentrieren.ÂŤ


»Wir sollten am ordoliberalen Wirtschaftsmodell festhalten statt industriepolitische Experimente zu finanzieren.« Konkurrierende Plattformen entstehen dann sehr schnell, wenn existierende Plattformen von Marktteilnehmern als zu restriktiv wahrgenommen werden. Das beste Beispiel ist der Erfolg von Android als Alternative zum geschlossenen iOS-Betriebssystem von Apple. Android ist Ihnen nicht offen genug? Gerade etabliert sich mit Cyanogen ein And­­­ roid-Ableger, der dem Plattform-Betreiber Google noch weniger Eingriffsmöglichkeiten bietet.

unterschätzen. Besonders deutlich wird dies anhand des „Browser-Krieges“: Ende der 90er galt es als ausgemacht, dass der Internet-Browser eine Schlüsseltechnologie sei, die es seitens des Staates genau zu beobachten gelte. Die Verfahren richteten sich gegen Microsofts Strategie, den Browser Internet Explorer direkt mit der Windows-Plattform zu verknüpfen (Plattform-analytisch also eine Verbindung zwischen Plattform-Kern und einer bestimmten Applikation, die vertikal integriert wird).

»Der Aufbau von Plattformen ist eine hochkomplexe Management-Aufgabe.«

Viel wichtiger als die Tatsache, dass am Ende die Vielfalt von Browsern nie wirklich in Gefahr geriet, dürfte jedoch sein, dass der PC-basierte Internet-Browser aufgrund vieler neuer Innova­tionen rapide an Bedeutung verloren hat. Wer hätte 1999 mit dem rapiden Wachstum des mobilen Internets gerechnet? Heute verbinden sich 35 Millionen Menschen in Deutschland über das Smartphone mit dem Internet. Viele davon wiederum tun dies mit Apps, umgehen also die Browser komplett. Was 1999 als zentrale Machtfrage der digitalen Ökonomie erschien, erweist sich rückblickend als Fußnote der digitalen Innovationsgeschichte.

Ein weiteres Missverständnis: Plattformisierung ist nicht gleichbedeutend mit Disruption. Sicherlich gibt es disruptive Plattformen wie Uber, die besonders viel öffentliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen. In vielen Fällen wird die Plattformisierung aber eher als ein Prozess der Umschichtung ablaufen: Wertschöpfung wird durch neue Geschäftsmodelle mal mehr, mal weniger dramatisch neu verteilt. So werden digitale Plattformen in der Landwirtschaft von Großgeräteherstellern wie Claas dominiert. Newcomer haben es aufgrund der hohen Preise der Hardware schwierig.

Damit ergibt sich ein wesentlich differenziertes Bild der Plattformisierung, als uns die Propheten der digitalen Apokalypse glauben machen wollen. Die geforderte Plattform-Industriepolitik, die dem Staat eine aktive Rolle im Marktgeschehen zuschreibt, wäre ein Fehler. Der Aufbau von Plattformen ist eine hochkomplexe Management-Aufgabe, die ein vertieftes Verständnis von Märkten erfordert. Auch die staatlich angeleitete Organisation nationaler Plattformen basiert auf einem Denkfehler.

Und letztlich: Plattformen sind nicht unangreifbar. Das Horrorszenario einer Plattform, die aufgrund ihrer Netzwerkeffekte und ihres Datenschatzes nicht mehr angreifbar ist, dürfte nur in sehr wenigen Ausnahmefällen überhaupt realistisch sein. Vor allem, weil wir Macht und Tempo digitaler Innovationen nach wie vor

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Für einen deutschen Mittelständler ist es irrelevant, wer eine Plattform betreibt – viel wichtiger ist die Frage, ob eine Plattform Marktzugänge verschafft und seine Wertschöpfung erhöht. Statt nationaler Plattformen brauchen wir ein internationales Engagement deutscher Unternehmen in jenen Organisationen, in denen Plattformen definiert werden.

Vorsicht ist auch beim Thema Wettbewerbsrecht geboten. Die Forderung, digitale Plattformen ähnlichen Regulierungsbeschränkungen wie TK-Infrastrukturen zu unterwerfen, ist Gift für den Standort. Diese euphemistisch als Plattform-Neutralität bezeichnete Forderung verkennt, dass Plattformen keine Infrastrukturen, sondern schnell wandelnde Geschäftsmodelle sind. Sollte Missbrauch stattfinden, ist eine evidenzbasierte Einzelfallbetrachtung der richtige Weg. Pläne, Plattformen ex ante zu regulieren, gehen in die falsche Richtung. Forderungen, die Marktmacht von Unternehmen nicht nur anhand von Umsätzen, sondern anhand weicher Kriterien wie „Datenmacht“ zu bemessen, öffnen Willkür Tür und Tor und machen Investitionen in Plattform-Geschäftsmodelle in Deutschland unattraktiver.

Die Politik sollte sich stattdessen auf die Gestaltung guter Rahmenbedingungen für das Entstehen digitaler Plattformen in Deutschland konzentrieren. Hier besteht Handlungsbedarf: Durch Gerichtsentscheidungen ist das Haftungsprivileg für Plattform-Betreiber in den letzten Jahren stark eingeschränkt worden. Je stärker Plattformen für Regulierungszwecke in Anspruch genommen werden, umso unattraktiver wird der Plattform-Standort Deutschland – und umso schwieriger ist es für Start-ups, Plattformen zu etablieren. Hier muss die Politik gegensteuern.

Industrie 4.0 muss wirtschaftspolitisch gestaltet werden. Wir sollten dabei an den Regeln des ordoliberalen Wirtschaftsmodells festhalten statt industriepolitische Experimente zu finanzieren.

Ansgar Baums ist Head of Governmental Relations Europe bei Hewlett-Packard. Zuvor arbeitete er von 2010 bis 2012 als Director for Government Relations und war von 2006 bis 2010 Bereichsleiter Wirtschaftspolitik des Branchenverbands Bitkom.

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Thomas Jarzombek

Open for data oder warum sich zu viele Politiker auf physische Infrastruktur konzentrieren

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Ein Jahr ist die Digitale Agenda der Bundesregierung inzwischen alt. Dabei steht vor allem eines im Raum: Wie kann der Staat den richtigen Rahmen schaffen für den digitalen Wandel?

verfügbar sein. Denn sie sollen nicht nur BMW, Volkswagen und Co. helfen, sondern auch die Grundlage der Innovation für Start-ups und krea­ tive App-Tüftler sein. Wenn man Informationen über Straßensperrungen und Kontaktschleifen hinzunimmt, so bekommt das Connected Car eine Dateninfrastruktur, mit der es bremsfrei durch die Stadt gleiten kann. Ein klarer Fortschritt.

»Die richtige Infrastruktur besteht vor allem aus Daten.«

Wie kommen wir aber dahin? Der Weg zu Inter­ operabilität und Open Data ist steinig. Denn die Daten in diesem Beispiel kommen von Kommunen, aber auch von Landesbehörden. Die IT vor Ort ist dabei höchst unterschiedlich. In manchen Kommunen finden sich moderne Computer in den Verkehrsleitzentralen, in anderen viel ältere Systeme. In manchen Kommunen stammt alles von einem Hersteller, in anderen von mehreren. Wie bekommt man diese unterschiedlichen Systeme verbunden? Wie ist der Datenstandard für die Schnittstelle? Müssen Kreuzungen kartographiert und Haltelinien erfasst werden?

Ein solchen Rahmen zu schaffen, heißt vor allem eine passende Infrastruktur zu schaffen. Doch damit meine ich keineswegs die viel diskutierte Frage des Breitbandausbaus. Natürlich ist kein digitaler Wandel denkbar, wenn Menschen und künftig auch Dinge keine Verbindung in das Internet bekommen. Deshalb legt der Bundesverkehrsminister nun auch erstmals ein echtes Förderprogramm des Bundes auf. Doch ist es ganz wichtig zu betonen: Die richtige digitale Infrastruktur besteht keineswegs nur aus physischen Komponenten. Sie besteht vor allem aus Daten.

Auch ohne Experte für Verkehrsleitzentralen zu sein – man bekommt schnell eine Vorstellung, dass der Prozess vor allem eines ist: teuer. Jedenfalls zunächst. Denn es muss in Computer, Software, Programmierer und allerlei Dinge investiert werden, die für den Wähler unsichtbar sind. Und dann kommen stetig neue Herausforderungen auf Kommunen zu, die gerade so wichtig sind, dass eigentlich für gar nichts anderes Ressourcen übrig bleiben. Gestern waren das U3-Plätze, heute sind es Flüchtlinge.

Politiker lieben es, das Band für eine neue Straße durchzuschneiden oder den Knopf zu drücken, mit dem das neue Breitbandnetz in Betrieb geht. Erfolge sichtbar zu machen, ist wichtig in der Politik. Doch das ist auch eine große Gefahr, denn mindestens genauso wichtig wie die Länge der Leitungen ist der Aufbau einer leistungsstarken Dateninfrastruktur. Das klingt erst einmal sehr abstrakt, trocken und irgendwie unsexy. Dennoch: Es muss sein. Um welche Art von Daten handelt es sich aber und was ist zu tun?

Dennoch ist die Investition von Kommunen in eine Dateninfrastruktur sinnvoll. Und wirtschaftlich. Vor allem aber ist es ein wichtiges Signal für die Innovationsfähigkeit. Denn in Kalifornien lässt sich seit einigen Jahren bestaunen, welche Aufmerksamkeit intelligenter Verkehr bekommt, wenn man den passenden rechtlichen Rahmen gibt. Googles selbstfahrendes Auto hat jedenfalls eine Menge Glanz auf die eigentlich marode US-amerikanische Automobilindustrie geworfen.

Denken wir an das Connected Car und später auch an das selbstfahrende Auto. Effizient können diese Fahrzeuge nur sein, wenn sie nicht mehr mit Tempo 50 auf rote Ampeln zufahren, stetig bremsen und beschleunigen müssen. Doch die Farbe der Ampel um die Ecke oder in 800 Metern Entfernung kann auch eine hochauflösende Kamera nicht erfassen, ebenfalls nicht die Logik, wann rot zu grün wird und umgekehrt.

Schon ist davon die Rede, dass in den USA an die 100.000 smarte Ampeln angeschafft werden. Daher: Wir müssen ebenfalls Innovationssignale setzen. Denn nur dort, wo die Erprobung und Nutzung möglich ist, wird auch entwickelt. Und dort wo entwickelt wird entsteht die Wertschöpfung. Siehe Apple: „Designed in California. Made in China.“

Notwendig ist es also, solche Phasen aller Ampeln an einer einheitlichen Schnittstelle zur Verfügung zu stellen. Als Open Data. Das bedeutet: Die Daten müssen maschinenlesbar, standardisiert und frei

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»Es muss in Computer, Software, Programmierer und allerlei Dinge investiert werden, die für den Wähler unsichtbar sind.«



In Open Data zu investieren macht aber auch wirtschaftlich Sinn. Hohe volkswirtschaftliche Kosten durch Verkehrslärm und Feinstaub werden reduziert. Viele Ausbesserungsmaßnahmen am Asphalt vor Ampeln können die Kommunen durch das Vermeiden von Bremsen und Beschleunigen einsparen. Es gibt also gute Gründe für Interoperabilität und Open Data, doch meist nur wenig Geld auf der kommunalen Ebene. Ohne Förderprogramme des Bundes werden wir daher nicht zum Ziel kommen. Und das sollte darin bestehen, wenigstens die 25 größten Städte im Mobilitätsdatenmarktplatz (MDM) der Bundesanstalt für Straßenwesen anzubinden. Das ist die zentrale Plattform und Schnittstelle des Bundes für alle Mobilitätsdaten.

Sogar in Echtzeit. Wenn an einem kalten Morgen Löcher im Asphalt aufplatzen, könnte die Gemeinde bereits um neun Uhr durch die Daten all der Autos auf dem Weg zur Arbeit die idealen Erstziele für den städtischen Teer-Laster zum Flicken liefern. Hier werden wir über gesetzliche Regelungen sprechen, wie wir einerseits den Verkehr durch das Liefern von Daten verbessern können und andererseits auch Daten aus den Autos zum gleichen Zweck abholen. Natürlich vollständig anonymisiert. Und noch eine Herausforderung gibt es vor Ort. Wie nutzt die öffentliche Hand selbst ihre Daten? Viel zu wenig. Nehmen wir doch einmal eine typische Busroute. Wann und wie wurde die wohl festgelegt? Ich vermute vor vielen, vielen Jahren. Von einem Stadtplaner auf der Basis von Annahmen. Dank Apps wie „Ally“, einem intelligenten Routenplaner in der Stadt, kann man schon heute sehr gut analysieren, wo Menschen von A nach B wollen. Und das in großer Menge. Damit lässt sich genau identifizieren, wo der Bedarf nach Routen liegt. Doch wie kann eine Gemeinde damit die Busrouten optimieren?

Das kann auch keine Stadt alleine. Drei Städte haben im Rahmen des Forschungsprogramms URBAN genau die gerade beschriebene Dateninfrastruktur aufgebaut. Doch wie kommen die Daten ins Auto? Die Hersteller der Software im Auto müssen ebenfalls investieren und eine Schnittstelle bauen. Das kostet jedoch ebenfalls viel Geld. Niemand wird das investieren, solange nur wenige Städte auf diese Weise angebunden sind. Es müssen also alle größeren Städte erfasst werden, erst dann wird auch die Industrie Vertrauen schöpfen und diese Daten nutzen.

Gleiches gilt für Big Data. Wann kommt mein Bus tatsächlich? Dank GPS weiß der örtliche Verkehrsbetreiber inzwischen immer häufiger, wo sein Bus gerade fährt. Doch wann kommt er an einer bestimmten Haltestelle an? Ohne Big-Data-Analyse lässt sich kaum eine zuverlässige Vorhersage machen. Das ist alles keine Raketenwissenschaft, aber doch ein ziemliches Brett. Ob ein solches Know-how bei jedem örtlichen Verkehrsbetrieb aufgebaut werden kann? Und falls ja, ob das sinnvoll und wirtschaftlich wäre? Ich glaube nicht. Auch hier ist die Politik gefordert.

Die Industrie ist aber selbst gefragt als Datenlieferant. Wechseln wir hier einmal die Perspektive: Wie wird Google wohl ein Auto sehen? Als Mobilitätsmittel? Oder eher als Sensor? Es ist ein faszinierender Sensor. Man kann Straßenzustände erfassen, Temperaturen, sogar die Länge der Röcke von Frauen im Vorbeifahren dank der neuen 360-Grad-Kameras. Voyeuristischer Unsinn? Es gibt Volkswirte, die glauben, daraus einen zuverlässigen Konjunkturindikator entwickeln zu können.

Eine gute Zukunft dank Open Data, Big Data oder Interoperabilität? Ja, wenn wir jetzt Gas geben. Dabei mögen die Beispiele aus dem Verkehr helfen. Man findet die Chancen der Daten in allen Bereichen. Alleine in der Gesundheitswirtschaft und Medizin schlummern unendliche Potenziale, beispielsweise um Korrelationen bei seltenen Krankheiten zu entdecken oder Patienten vor der Einnahme inkompatibler Medikamente zu schützen.

Die Möglichkeiten scheinen schier grenzenlos. Ohne abschweifen zu wollen, glaube ich, dass die wirtschaftliche Zukunft der Automobilbranche davon abhängen wird, die Hoheit über diese Daten zu behalten und diese kommerziell zu verwerten. Aber es gibt auch einen Anspruch auf solche Daten jenseits des kommerziellen Gedankens. Heute machen wir Verkehrswegeplanung nach relativ alten Kriterien. Wie alt ist eine Straße und wann muss sie erneuert werden? Dabei wäre mit den Daten der Dämpferkennungen aus den Autos ein perfekter Straßenzustandsbericht möglich.

Wir müssen diese Themen erobern, auch wenn sie trocken und kompliziert anmuten. Aber genau das ist die Führungsverantwortung von Politikern und den Spitzen der Verwaltungen.

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»Wie nutzt die öffentliche Hand ihre Daten? Viel zu wenig.« Thomas Jarzombek ist Mitglied des Deutschen Bundestags und Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion für Digitale Agenda. Er ist Sprecher und Gründungsmitglied des cnetz.

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Sven Volmering

Die Lebensrealität des 21. Jahrhunderts Ăœber Digitale Bildung in der Schule

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Die meisten von uns erinnern sich gerne an das Jahr 2014, in dem Deutschland Fußballweltmeister wurde. Der Titel war, bei allem notwendigen Glück, Lohn für den Tüchtigen, der sich nach den Debakeln bei großen Turnieren um die Jahrtausendwende auf den Weg machte, die Talentförderung in Deutschland neu zu gestalten. Vor einer ähnlichen Herausforderung steht Deutschland bei der Digitalen Bildung.

ist eng mit Medienkompetenz verknüpft und beinhaltet den sicheren, verantwortungsvollen und kritischen Umgang mit digitalen Medien und Programmen. Dies ist mit Blick auf den Datenschutz wichtig, aber auch für bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Es geht dabei nicht um die „totale Zwangsdigitalisierung“, wie der ehemalige Präsident des Deutschen Lehrerverbandes Josef Kraus befürchtet. Es geht auch nicht um die Abschaffung wichtiger Kulturtechniken wie Lesen und Schreiben. Vielmehr geht es um den didaktisch sinnvollen Einsatz, der dazu führen kann, dass die Geräte auch einmal aus bleiben. Wenn aber in einer Minute im Internet 204 Millionen E-Mails verschickt, 13,8 Millionen WhatsApp-Nachrichten versendet, 42.000 Fotos bei Instagram hochgeladen, 277.000 Tweets gesendet werden, dann ist das die Lebensrealität, mit der unsere Kinder und Jugendlichen aufwachsen. Schule ist zu oft ein „Ort des digitalen Fastens“, wie ein Lehrer jüngst in einem Zeitungsbeitrag kritisiert hat. Dies konterkariert ausgezeichnete Projekte wie den Medien­­pass NRW und es ist auch ein wenig plump, die Angst vor digitalen Medien damit zu begründen, dass man die überwältigende Mehrheit unserer Kinder und Jugendlichen als potentielle Cyber-Mobber darstellt.

»Ohne eine stärkere Verankerung digitaler Medien in allen Lernprozessen droht im internationalen Vergleich Mittelfeldgeplänkel.« Wir hinken den Weltmeistern hinterher. Nur 1,5 Prozent der deutschen Schülerinnen und Schüler haben bei der internationalen ICIL-Studie 2013 die höchste Kompetenzstufe erreicht. ICIL steht für „International Computer and Information Literacy“, dabei geht es um den sicheren Umgang mit Computer- und Informationstechniken. Computereinsatz findet viel zu selten und wenig fächerübergreifend statt, nur 30 Prozent aller Kinder haben in der Schule regelmäßig Kontakt damit. Der internationale Mittelwert liegt bei 52 Prozent. Die Studie macht klar, dass das Aufwachsen in einer technologisch geprägten Welt nicht automatisch zu kompetenteren Nutzern führt. 30 Prozent der Schüler verfügen nur über sehr gering ausgeprägte digitale Kompetenzen; mit Zuwanderungshintergrund sind es sogar 40 Prozent. Ohne eine stärkere Verankerung digitaler Medien in allen Lernprozessen droht im internationalen Vergleich Mittelfeldgeplänkel und auf Sicht der Abstieg.

Es war längst überfällig, dass der Deutsche Bundestag über Digitale Bildung debattiert und einen maßgeblich von der CDU/CSU geprägten Antrag beschlossen hat. Dies ist auch Anerkennung für viele in der Bildung tätige Erzieher, Lehrer, Ausund Fortbilder, die als Pioniere Innovationen in ihre Einrichtung bringen und dafür unseren Dank verdienen. Es gibt viel zu tun. Der Antrag von CDU/CSU und SPD gibt sowohl der Bundesregierung, als auch den Ländern sehr konkrete Aufträge und Handlungsempfehlungen für die Entwicklung einer Strategie „Digitales Lernen“ auf den Weg. Das Feedback von vielen Lehrerverbänden, Professoren, Institutionen und Vereinen war ausgesprochen positiv. Alle Experten des Fachgesprächs zur Digitalen Bildung im Bildungsausschuss haben die richtige Zielsetzung des Antrags gelobt. Wir gehen mit unseren Forderungen über den Koalitionsvertrag hinaus, berücksichtigen die wichtigsten Ergebnisse der Enquete-Kommission „Internet und Digitale Gesellschaft“ und leisten somit einen wichtigen Beitrag zur Digitalen Agenda der Bundesregierung.

Die Bereiche Lernen, Wissensaneignung und Mediennutzung ändern sich durch die Digitalisierung weiter fundamental. Zwei Drittel der Lehrer sind der Auffassung, dass der Einsatz digitaler Medien junge Menschen motivierend dabei unterstützt, Informationen wirksamer zu verarbeiten. 72 Prozent der Eltern und Schüler wünschen einen verstärkten Einsatz digitaler Medien. Um digitale Spaltung zu vermeiden, müssen wir allen Kindern und Jugendlichen eine vernünftige digitale Grundbildung zukommen lassen. Diese

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»Die Union muss über die schulische Ausbildung reden und diese an die Lebensrealität des 21. Jahrhunderts anpassen.«


Die Bundesminister Johanna Wanka und Sigmar Gabriel haben vor einiger Zeit den Startschuss für die Plattform Industrie 4.0 gegeben, in der Wirtschaft, Gesellschaft, Wissenschaft und Politik den Schulterschluss suchen. Eine ähnliche Zusammenarbeit streben wir beim – von der CDU geforderten – „Pakt für Digitale Bildung“ an, der die unterschiedlichen Aktivitäten dieser Akteure bündeln soll, um inhaltlich und infrastrukturell voranzukommen. Ich durfte auf der diesjährigen CeBIT als Pate Schüler aus Dorsten beim OpenRoberta­-Projekt begleiten, bei dem Kinder spielerisch lernen, einen Lego-Roboter zu programmieren. Solche Kooperationsprojekte müssen stärker vernetzt und bekannt gemacht werden.

einen Schritt weitergehen. Deutschland benötigt dringend eine Grundsatzdebatte über die Frage, in welche Richtung sich die Schulpolitik, als ein zentraler Bestandteil der Bildungspolitik, in unserem Land zu Beginn des 21. Jahrhunderts entwickeln muss. Diese Debatte ist überfällig, da viele der tiefgreifenden politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen der letzten 20 Jahre bei ehrlicher Betrachtung letztlich noch gar nicht auf breiter Basis im Schulsektor angekommen sind. Für CDU/CSU bieten sich hier eigentlich enorme Profilierungschancen. Die gesamte politische Linke führt in Endlosschleife, wie im Filmklassiker „Und täglich grüßt das Murmeltier“, immer wieder die ideologisch aufgeladenen Debatten der 70er Jahre und setzt ihren gleichmacherischen Einsatz für Einheitsschulen und Leistungsanforderungsabbau fort: keine Noten, keine Hausaufgaben, kein Sitzenbleiben. Diese Politik wird zwar von einer großen Mehrheit der Bevölkerung deutlich abgelehnt, nichtsdestoweniger muss die Union die Meinungsführerschaft nach außen deutlicher verkaufen.

Es ist unerlässlich, bei der Aus- und Weiterbildung von Pädagogen und Lehrkräften anzusetzen. Die Qualitätsoffensive Lehrerbildung des Bundes leistet dazu ihren Beitrag. Wir brauchen eine Anpassung der Curricula und Prüfungsordnungen bei der Lehrerausbildung, bei der sich bislang nur magere zwölf Prozent Kenntnisse über digital basierten Unterricht aneignen konnten. Das ist zu wenig.

»Neben der digitalen Grundbildung brauchen wir digitale Exzellenz.«

Die Union muss über die schulische Ausbildung reden und diese an die Lebensrealität des 21. Jahrhunderts anpassen. Und zwar ernsthaft und nicht mit Blick auf Zeitungsschlagzeilen! Die ständigen Forderungen nach neuen Fächern bringen nichts – außer enttäuschte Erwartungen und Frust bei den entsprechenden Verfechtern und Lobbyisten sowie unnötige Grabenkämpfe zwischen den Befürwortern einzelner Fächer. Wichtiger und realistischer ist etwas anderes: Ein Staatsvertrag muss festgelegen, welche Kernkompetenzen und grundsätzlichen Bildungsinhalte deutschlandweit in der Schule gelehrt werden, damit ein einheitlicher Standard gilt, der zum Beispiel das Risiko eines Schulwechsels zwischen Bundesländern minimiert sowie eine stärkere Vergleichbarkeit der Bildungspolitik einzelner Länder ermöglicht. Die Länder können diese, wo es notwendig ist, im Hinblick auf länderspezifische Besonderheiten und Prüfungen durch eigene Vorgaben ergänzen.

Schließlich müssen wir über die Bundesländergrenzen hinweg über einheitliche Standards bei der Medienkompetenz für die unterschiedlichen Altersstufen der Schüler reden und diese in einer Ländervergleichsstudie überprüfen. Deshalb hat der Bundestag aufgrund der Wichtigkeit des Themas angeregt, über einen Länderstaatsvertrag oder einen weitergehenden Beschluss der Kultusministerkonferenz nachzudenken. Neben der digitalen Grundbildung brauchen wir digitale Exzellenz. Im Koalitionsvertrag wurde vereinbart, nach dem Vorbild der Eliteschulen des Sports, unsere IT-Spitzenkräfte von morgen an Profilschulen IT/Digital auszubilden. Diese Vereinbarung müssen wir dringend mit Leben füllen. Die Länder könnten dies beispielsweise mit frei werdenden BAföG-Mittelentlastungen durch den Bund finanzieren. Wenn man ehrlich ist, reicht dieses Programm jedoch nicht aus. Daher muss die CDU aus meiner Sicht noch

Ansonsten muss den Schulen die Freiheit gegeben werden, stärker als bisher jenseits starrer Lehrpläne auf aktuelle Ereignisse in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik thematisch reagieren zu können, ohne ständig durch zentrale Vorgaben gefesselt zu sein.

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»Schule ist zu oft ein ›Ort des digitalen Fastens‹, wie ein Lehrer jüngst in einem Zeitungsbeitrag kritisiert hat.« Dies macht neue Fächer obsolet und ermöglicht die Integration in die bestehenden. Eine zen­trale Chance, dieses System zum Erfolg zu führen, bietet die Digitale Bildung. Dafür müssen jedoch die Rahmenbedingungen stimmen. Je nach Regierungskonstellation kann es sein, dass alle fünf Jahre eine große Strukturreform oder thematisch schlecht vorbereitete Vorhaben durchgeführt werden müssen, die die Kapazitäten in den Schulen massiv belasten und zu einem Prozess der ständigen Unruhe und der permanenten Reform führen. Jüngstes Beispiel ist die schlecht vorbereitete Implementierung der Inklusion im rot-grünen NRW.

Hintergrund gerät. Dokumentationspflichten, das Schreiben von Papieren für die Schublade und die Erhebung unwichtiger Statistiken rauben Zeit, die für die Schüler fehlt. Deshalb müssen wir ernsthaft darüber diskutieren, wie wir den Bürokratieaufwand an deutschen Schulen massiv reduzieren. Vor dem Hintergrund meiner eigenen Erfahrungen als Lehrer bin ich davon überzeugt, dass kleinere Lerngruppen effektiver als größere Lerngruppen sind. Der demographische Wandel birgt bei allen Risiken und negativen Folgen in der Bildungspolitik die große Chance, dieses alte politische Ziel zu erreichen. Deshalb sollte die CDU den bisherigen Stand an Stellen in den Schulen nicht abbauen, sondern mindestens halten, damit wir den großen Herausforderungen der Bildungspolitik besser entgegentreten können.

Damit muss Schluss sein! Die Kollegien und Schulleitungen ächzen nicht nur unter den Reformen, sondern auch unter einem enormen Bürokratieaufwand, der dazu führt, dass die Hauptaufgabe des Unterrichtens immer weiter in den

Sven Volmering ist seit 2013 für die CDU im Deutschen Bundestag. Zuvor unterrichtete Volmering, Jahrgang 1976, Sozialwissenschaft, Politik und Geschichte an Gymnasien in Nordrhein-Westfalen. Sechs Jahre lang war er Vorsitzender der Jungen Union Nordrhein-Westfalen.

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Fabien Nestmann

Mobilität der Zukunft Flexibel, Ükologisch, vernetzt

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Die Digitalisierung wird den Verkehrsbereich in den kommenden Jahren vom Kopf auf die Füße stellen. Eine Mobilität 4.0 mit ähnlich einschneidenden Entwicklungen, wie sie die Massenmotorisierung mit sich brachte, kündigt sich an. Kleine Start-ups und globale Tech-Giganten entwickeln in rasender Geschwindigkeit Applikationen, von denen die Mobilitätsforschung bislang nur geträumt hat. Der eigene PKW ist passé. Das Smartphone rückt in den Mittelpunkt der Mobilität, denn es regelt den Zugang zu und strukturiert die individuellen Mobilitätsoptionen.

Trennung wichtiger städtebaulicher Funktionen nach sich: hier das zentral gelegene Einkaufszentrum mit großzügigen Parkmöglichkeiten, dort die vorstädtische Reihenhaussiedlung mit Garagenhöfen. Nur wer einen eigenen PKW besaß, konnte am kommerziellen und gesellschaftlichen Leben voll teilhaben. Dieses automobilzentrierte Mobilitätsverständnis neigt sich wahrnehmbar dem Ende zu. In den westlichen Industrienationen einschließlich Deutschland gehen die zurückgelegten Autokilometer pro Person bereits seit einigen Jahren zurück. Gleiches gilt für die Neuzulassungen von Autos seit dem Jahr 2000 – Ausnahme ist 2009, mit seinem durch die Abwrackprämie künstlich angeheizten Konsum. Wissenschaftler sprechen bereits vom „peak-car“, um den sich immer schneller vollziehenden Paradigmenwechsel zu beschreiben. Die Gründe für diesen Wandel sind vielschichtig, aber ein ökologisch bewussterer Lebensstil und die Möglichkeit, Mobilität preisgünstiger und individueller zu gestalten, gehören zu den wesentlichen Einflussfaktoren. Neue Technologien und die Digitalisierung machen es möglich.

»Der eigene PKW ist passé. Das Smartphone rückt in den Mittelpunkt der Mobilität.« Dieser Wandel ist nicht nur technologischer Natur, sondern er erfordert auch ein gesellschaftliches Umdenken und politisches Handeln. Denn die Potenziale digitaler Infrastrukturen können mit den derzeitigen Rahmenbedingungen nur mühsam erschlossen werden. Wirtschaft und Politik sollten ein Interesse daran haben, gemeinsam das vorhandene Innovationspotenzial zu heben und Deutschland zum Vorreiter vernetzter Mobilität zu machen.

Ökologischere Mobilität In 20 Jahren wird es zurückblickend kaum mehr nachvollziehbar sein, dass wir heute erhebliche Ressourcen für ineffiziente und damit teure Mobilität aufwenden. Denn durchschnittlich wird ein PKW in Deutschland gerade einmal 45 Minuten am Tag genutzt, einschließlich der oft langwierigen Parkplatzsuche. Ist ein Fahrzeug dann tatsächlich einmal in Bewegung, befindet sich darin selten mehr als eine Person. Für diese Form des so genannten motorisierten Individualverkehrs halten wir unzählige tausend Quadratkilometer Parkplätze und mehr als 640.000 km Straßennetz vor. Und trotzdem kommen die 43 Millionen PKW in Deutschland oft nur im Schritttempo voran.

Abschied vom eigenen PKW Über Jahrzehnte war das Streben nach Mobilität untrennbar mit dem Automobil verbunden. Das eigene Auto war Ausdruck von Unabhängigkeit und Individualität. Zugleich dienten Marke, Modell und Preis als Gradmesser des eigenen wirtschaftlichen Erfolgs – das Auto als Statussymbol. Wer es zu etwas gebracht hatte, besaß mindestens ein, besser aber mehrere Fabrikate deutscher Provenienz. Und er wurde nicht müde, seiner individuellen Mobilität freien Lauf zu lassen. Ob auf der Brenner-Autobahn, auf dem Weg in den Italien-Urlaub oder der innerstädtischen Schnellstraße zum Einkaufsbummel in der Innenstadt, das Automobil bestimmte nicht nur das individuelle Mobilitätsverhalten, sondern auch das Landschaftsbild.

Das können und wollen sich viele Menschen angesichts veritabler Alternativen nicht mehr leisten. Denn zum einen wird der Platz knapp in den Metropolen. Zum anderen sind viele Menschen nicht länger bereit, die mit dem Massenverkehr einhergehenden Nachteile wie Lärm- und Feinstaubbelastung grenzenlos hinzunehmen. Das bisherige Primat des Automobils muss immer häufiger dem neuen Primat der Lebensqualität weichen.

Die These von der „autogerechten Stadt“ wurde zum planerischen Leitbild und zog in der Folge breite Asphaltschneisen und die räumliche

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»Die Mobilität der Zukunft wird noch mehr als bisher ein Mix sein aus verschiedenen Angeboten, aus denen die Kunden sich kurz vor Fahrtbeginn ihre Lösung zusammenstellen.«


Die Zukunft gehört der vernetzten Mobilität

stammt. Natürlich haben Anforderungen an Qualität, Sicherheit und Transparenz auch weiterhin ihre uneingeschränkte Berechtigung. Aber dass in Zeiten von Smartphones und Satellitennavigation Aufträge nur „fernmündlich“ übermittelt werden dürfen und jeder Fahrer alle Straßen einer Stadt auswendig kennen soll, dient dann doch eher dem Schutz des bestehenden Angebots vor Innovation als dem Schutz der Verbraucher. Es ist daher an der Politik, ein Update für das Smartphone-Zeitalter vorzunehmen.

Gerade junge Menschen verbinden heute mit Mobilität nicht primär den eigenen PKW. Die „Generation Easyjet“ strukturiert Mobilität vor allem vom eigenen Smartphone aus. Nicht der Besitz zählt, sondern der zuverlässige Zugang zu bezahlbaren Fortbewegungsoptionen und Mobilitätsdienstleistungen. Und spätestens mit der Einführung autonomer Fahrzeuge wird ein eigener PKW vollends obsolet. Uber ist Teil der Bewegung, verdichtete und vernetzte Mobilität Realität werden zu lassen. Unserem Geschäftsmodell liegt die Einsicht zu Grunde, dass für die meisten Menschen in urbanen Räumen ein eigener PKW bereits heute überflüssig ist. Viele Mobilitätsbedürfnisse lassen sich schneller und günstiger mit einer Kombination aus ÖPNV, Carsharing, Taxi, Fahrrad und zu Fuß decken. Situativ ergibt sich aber immer wieder der Bedarf für individuelle Mobilität – beispielsweise, weil das Fahrziel mit dem ÖPNV nur umständlich zu erreichen ist. Für diese Verdichtung der bestehenden Infrastruktur gibt es heute kein jederzeit verfügbares und günstiges Angebot.

»Es ist daher an der Politik, ein Update für das Smartphone-Zeitalter vorzunehmen.« Technologie bringt Stadt und Land zusammen Und es ist an der Zeit, den ländlichen Raum an die in urbanen Zentren bereits zunehmend verdichtete Mobilität anzubinden. Dafür braucht es Anreize für ein Mindestangebot, das flexibel auf schwankende Nachfrage reagieren kann. Das wird nur gelingen, wenn wir an Lösungen arbeiten, die ÖPNV und Gelegenheitsverkehr zusammendenken.

Das gilt in ähnlicher Form auch für ländliche Gebiete, wenigstens aber für Stadtrandlagen. Wo der letzte S-Bahnhof mehr als einen Kilometer entfernt liegt, ist die Nachfrage nach Carsharing möglicherweise zu gering, nicht aber für Uber oder Taxen.

Dazu bedarf es jedoch nicht nur technologischer Innovation, sondern ebenso eines modernen gesellschaftlichen Rahmens. Denn die Geschichte verdichteter Mobilität ist auch eine Geschichte von Wettbewerb und von mutiger Regulierung, oder anders ausgedrückt: Liberalisierung. Low-CostAirlines haben Europas Städte zusammengebracht, jetzt vernetzen Fernbusse die deutschen Städte in nie dagewesenem Ausmaß. Voraussetzung für diese Erfolgsgeschichten war immer die bewusste Entscheidung, einen stark geschützten Markt aufzubrechen, und die Kräfte des freien Wettbewerbs für das bestmögliche und innovativste Angebot sorgen zu lassen. Unter dem Strich stand stets Mobilität für Menschen, für die vergleichbare Reisen zuvor unerschwinglich oder mühsam anzugehen waren.

Uber macht damit den Verzicht auf den eigenen PKW attraktiv. Je mehr Leute auf ein eigenes Fahrzeug verzichten und sich alternativer Transportmittel bedienen, desto mehr Nachfrage wird es auch nach Mobilitätsdienstleistungen geben. Das Erfolgsgeheimnis liegt dabei in unserer Technologie, die Angebot und Nachfrage in Echtzeit zusammenbringt und durch statistische Analyse gar zukünftige Nachfrage antizipieren kann. Dadurch dauert es nie lange, bis ein Fahrzeug verfügbar ist und die selbständigen Uber-Fahrer sind stetig ausgelastet. Davon profitieren beide Seiten – Kunden durch kurze Wartezeiten, Fahrer durch attraktive Verdienstmöglichkeiten.

Daran anschließend muss es jetzt gelingen, ein Marktmodell für urbane Mobilitätsangebote zu entwickeln, das ein Mindestangebot auch in ländlichen Gebieten sicherstellt, gleichzeitig aber modern und technologieoffen ist.

Um das volle Potenzial vernetzter Mobilität zukünftig ausschöpfen zu können, bedarf es in Deutschland allerdings einer Modernisierung des Rechtsrahmens, der im Kern aus den 50er-Jahren

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»Die Geschichte von verdichteter Mobilität ist eine Geschichte von Wettbewerb und von mutiger Regulierung.« Das können auch Bürgerbusse sein, wie es sie in einigen Kommunen schon gibt. Angebote wie diese schließen die Lücke zwischen der Nachfrage, die es auch in der Ebene gibt, und den Angeboten, die fast überall hinter denen der Zentren zurückbleiben.

Plattformdienste wäre diese Vielfalt nicht möglich. Auf dem Land ist diese Auswahl noch nicht möglich. Die Mobilität der Zukunft wird noch mehr als bisher ein Mix sein aus verschiedenen Angeboten, aus denen die Kunden sich erst kurz vor Fahrtbeginn ihre jeweils bevorzugte Lösung zusammenstellen. Das gemeinsame Ziel ist, unnötige Fahrten mit dem Privat-PKW zu vermeiden und die Auslastung für alle Verkehrsträger zu erhöhen. Das kommt nicht nur unseren Straßen und der Umwelt zu Gute, sondern am Ende auch den Ticketpreisen für den kommunalen Nahverkehr, wenn S-Bahnen, U-Bahnen, Tram und Busse besser ausgelastet sind. Wir sollten daher gemeinsam daran arbeiten, vernetzte Mobilität schnellstmöglich und bestmöglich zur Realität werden zu lassen. Davon profitieren am Ende wir alle.

Die große Herausforderung vernetzter Mobilität wird vor allem darin liegen, Bürgerinnen und Bürger in Stadtrandlagen an urbane Mobilität anzubinden und in einem zweiten Schritt ähnlich attraktive Angebote für den ländlichen Raum zu schaffen. Ohne Innovationen ist dies nicht machbar. Wer heute innerhalb von München reist, hat bereits die Wahl zwischen mehr als einer Hand voll Verkehrsträger: S-Bahn, U-Bahn, Tram, Bus, Uber, Taxi, Privatwagen. Hinzu kommen statio­ näre und flexible Sharing-Angebote für Autos und Fahrräder. Ohne Smartphones und ohne

Fabien Nestmann ist Director Public Policy für Deutschland, Österreich und die Schweiz beim amerikanischen Mobilitäts-Start-up Uber. In dieser Funktion tritt er regelmäßig als Sprecher des Unternehmens in Presse und Fernsehen auf.

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Christian Grobe

Das Ende der Universalbank Warum Fintech-Unternehmen das Bankgesch채ft der Zukunft bestimmen werden

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Ohne Universalbanken wäre der Siegeszug des industriellen Kapitalismus undenkbar gewesen. Sie haben Konzerne mit Krediten für ihr Wachstum versorgt, die wachsenden privaten Vermögen angelegt und den dazugehörenden Zahlungsverkehr abgewickelt.

Transferwise oder Worldremit. Anleger, die ihr Geld in Aktien, Anleihen oder Immobilien investieren wollen, tun dies über Wealthfront oder Vaamo. Und Firmen, die ihr Wachstum mittels Kredit finanzieren möchten, stellen ihren Antrag bei Kreditmarktplätzen wie Funding Circle oder Zencap.

»Fintech ist das Schreckgespenst des Bankensektors.«

So unterschiedlich die Geschäftsmodelle all dieser Fintech-Unternehmen auch sein mögen, so sehr gleichen sich die Faktoren für ihren beachtlichen Erfolg. Zwei Aspekte sind dabei besonders hervorzuheben.

Mit dem Übergang von der industriellen zur digitalen Ära gerät dieses Modell, alle Finanzdienstleistungen unter einem Dach zu bündeln, jedoch stark unter Druck. Die Musterschüler des Digitalzeitalters, Apple und Google, haben mit Google Wallet und Apple Pay den Banken bereits den Kampf um die Abwicklung des gesamten Zahlungsverkehrs im Handel angesagt. Diese prominente Kreuzung aus modernen Technologiefirmen und klassischer Finanzdienstleistung ist nur das sichtbarste Beispiel eines tiefgreifenden Strukturwandels, der innerhalb der nächsten zehn Jahre mit dem endgültigen Verschwinden der Universalbank enden könnte.

Erstens: Fintechs bieten keine neuen Finanzprodukte – und sind damit nicht allein. Sie orientieren sich an erfolgreichen Unternehmen wie Ebay, das den herkömmlichen Gebrauchtwarenhandel über einen Online-Marktplatz revolutioniert, und Skype, das klassische Ferngespräch kostenfrei über das Internet ermöglicht. Wie ihre Vorbilder setzen sie auf Technologie und das Internet als Vertriebskanal, um bewährte Bankdienstleistungen jederzeit bequem und einfach zugänglich zu machen. Die Auslandsüberweisungen von Transferwise beispielsweise nutzen einen virtuellen Marktplatz samt Matching-Algorithmus, um für die zu überweisende Summe in Landeswährung eine passende Gegensumme eines anderen Nutzers direkt im Zielland und in der Zielwährung zu finden.

Das aufziehende Schreckgespenst des traditionellen Bankensektors trägt einen eingängigen Namen: Fintech („Financial Technology“). Seit rund fünf Jahren entsteht unter dieser Gattungsbezeichnung, angeführt von Start-ups in den USA und Großbritannien, eine neue Generation Finanzdienstleister. Mit rund 12 Milliarden Dollar und einem Plus von über 200% gegenüber 2013 konnte kein Zweig der digitalen Wirtschaft im letzten Jahr mehr Wagniskapital auf sich vereinen als diese junge Branche. Tendenz: weiter stark steigend.

Traditionelle Banken haben das Potenzial dieser technologisch vermittelten und online-basierten Angebote natürlich längst erkannt. Ihnen sind aber aufgrund ihrer komplexen IT-Architektur Fesseln angelegt, die eine schnelle Nachahmung verhindern. Ein gutes Beispiel dafür ist die jüngst vorgestellte Digitalstrategie für Firmenkunden der Commerzbank. Zieljahr für die vollständige Umsetzung: 2020. Zweitens: Fintech dehnt vormals exklusive Dienstleistungen des Private Banking auf eine breite Öffentlichkeit aus. War es bisher das Privileg großer Vermögen oder gar institutioneller Investoren direkt in ein breites Portfolio von Mittelstandskrediten zu investieren, öffnet Fintech diese Anlageklasse erstmals für Privatanleger. Bei Zencap können diese beispielweise bereits mit einem Minimalbetrag von 100 Euro direkt in den deutschen Mittelstand investieren. Noch weiter gehen Online-Vermögensverwalter wie das amerikanische Unternehmen Wealthfront.

Wer sind diese Fintechs? Warum sollten sie in so kurzer Zeit in der Lage sein, eine der kapitalstärksten Branchen tiefgreifend umzukrempeln? Und was bedeutet ihr möglicher Siegeszug für den Bankenstandort Deutschland? Fintechs sind eindimensionale Produktspezialisten. Sie zerlegen zielgerichtet die integrierte Wertschöpfungskette traditioneller Universalbanken. Wer heute Geld aus Deutschland ins Ausland überweisen möchte, nutzt das Angebot von

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ÂťTraditionellen Banken sind aufgrund ihrer komplexen IT-Architektur Fesseln angelegt, die eine schnelle Nachahmung verhindern.ÂŤ



Über einen automatisierten Anlagealgorithmus kommen erstmals auch kleine Sparer mit Vermögen ab 5.000 Euro in den Genuss individueller Vermögensberatung. Technologie verwaltet dabei aktiv ein diversifiziertes und steueroptimiertes Fondsportfolio entsprechend der eigenen Sparziele und übernimmt damit die manuelle Arbeit herkömmlicher Vermögensberater. Und das zu einem Bruchteil der Kosten und frei von den Verzerrungen menschlicher Anlageentscheidungen, die Verhaltensökonomen jüngst zuhauf nachgewiesen haben. Sogar die Investment Bank Goldman Sachs sieht damit die Demokratisierung des Finanzwesens heraufziehen.

Darüber hinaus stellt das drohende Sterben der klassischen Universalbank auch die Systemfrage. Mit ihrem Fokus auf kleine Sparer und Firmenkunden fokussieren sich Fintechs auf das für Filialbanken unprofitable Massengeschäft. Nicht umsonst flüchten sich Premiumanbieter wie die Deutsche Bank in profitable Nischen und planen gar die vollständige Aufgabe des filialbasierten Privatkundengeschäfts.

»Deutschland droht erneut abgehängt zu werden.«

Es ist ein großes Versprechen, das die Fintech-Revolution für Bankkunden bereithält. Doch bei aller Euphorie, gilt es auch die Risiken im Auge zu behalten – sowohl für den Kunden als auch für den Bankenstandort Deutschland.

Den zahlreichen europäischen Regionalbanken, insbesondere den Genossenschaften und Sparkassen, ist dieser Weg der Großbanken jedoch verbaut. Damit droht eine entscheidende Säule des Bankensystems mit ihrer Offline-Filialstruktur zwischen agilen Digitalanbietern und spezialisierten Premiumbanken zu zerbröckeln. Nur eine überzeugende Digitalisierungsstrategie als Antwort auf die Fintech-Herausforderung könnte das verhindern.

In Kontinentaleuropa ist die Fintech-Industrie noch im Frühstadium, mit wenigen aktiven Unternehmen in diesem Bereich. Diese Pioniere bewegen sich weitgehend in einem undefinierten Rechtsraum. Die meisten Länder haben zwar über das letzte Jahr nationale Gesetzesvorhaben zur Regulierung der digitalen Finanzbranche angestoßen. Allerdings hat dieser grundsätzlich begrüßenswerte Impuls zu einem regulatorischen Flickenteppich geführt, der dem einheitlichen europäischen Kapitalmarkt Hohn spricht. Nachhaltige Regulierung, die europaweite Professionalitätsstandards etabliert, kämen dabei nicht nur den Anlegern zugute, sondern wären gleichzeitig ein effektives Mittel, um drohende Regulierungsarbitrage und damit ungewollte Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden.

Beide Risiken sind allerdings beherrschbar wie ein Blick nach Großbritannien zeigt. Dort ist im letzten Jahr bereits eine vorbildliche Regulierung durch das BaFin-Pendant FCA auf den Weg gebracht worden. Gleichzeitig gelingt es den traditionellen Banken über Technologie- und Vertriebskooperationen die nationale Wettbewerbsfähigkeit in der digitalen Zukunft zu sichern. Deutschland dagegen droht erneut als verspätete Nation abgehängt zu werden.

Dr. Christian Grobe ist Gründer und Geschäftsführer von Zencap, einem Online-Marktplatz für innovative Mittelstandsfinanzierung. Vor seiner Zeit bei Zencap war der promovierte Politologe sechs Jahre lang Berater bei McKinsey & Company.

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anders als andere


Lothar Funk

Digitales Nudging

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Hintergund

Weitgehend Einigkeit herrscht darüber, dass hierbei weiterer Handlungsbedarf besteht. Unklar bleibt jedoch, ob dies allein ausreicht, oder ob hier darüber hinaus weitere Maßnahmen angemessen eingesetzt werden können, die ebenfalls auf verhaltensökonomischen Erkenntnissen beruhen.

Der Siegeszug der Verhaltensökonomie scheint unaufhaltbar. Zunehmend dient das Modell des Nutzen oder Gewinn maximierenden rationalen wirtschaftlichen Verhaltens in erster Linie nur noch als wichtiges Referenzmodell, während komplexere Praxisprobleme unter der oft realistischeren Annahme eines nur eingeschränkt rationalen Verhaltens von Konsumenten analysiert werden. Begründung: So lässt sich häufig besser erfassen, wie Menschen sich tatsächlich verhalten.

Kontroversen um Nudging Die Staaten in der Europäischen Union verpflichten heute die Anbieter, den Konsumenten erforderliche Informationen zu liefern, um ihren Schutz zu gewährleisten. Die für den gesamten Binnenmarkt gesetzten Regeln sind zudem einheitlich anzuwenden. Darüber hinaus sollte aus einer verhaltensökonomischen Perspektive ebenfalls für die Herstellung tatsächlicher Wahlfreiheit gesorgt werden, die nur dann gegeben ist, wenn ein Konsument vorhandene Entscheidungsmöglichkeiten sowohl wahrnehmen als auch verstehen kann, also vorhandene Informationsbarrieren zwischen Anbieter und Nachfrager tatsächlich auch aus dem Weg geräumt werden.

»Im Digitalen ergeben sich Probleme für die Verbraucherschutzpolitik.« Die Vorsitzende der wichtigsten Ökonomen­ organisation im deutschsprachigen Raum, des Vereins für Socialpolitik, die Münchener Volkswirtschaftsprofessorin Monika Schnitzer, brachte die Sache im Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Anfang September 2015 auf den Punkt: „Man möchte zwar gerne rational handeln, schafft es aber oft nicht. Beispielsweise spielt sogenanntes zeitinkonsistentes Verhalten oft eine Rolle. Viele nehmen sich immer wieder vor: Morgen fange ich an abzunehmen oder morgen höre ich mit dem Rauchen auf, aber dann wird es doch immer wieder verschoben. Man muss auch berücksichtigen, dass Menschen gar nicht alle komplizierten Maximierungskalküle ausrechnen können, möglicherweise Präferenzen haben, die beeinflusst sind durch ihre Umwelt, dass sie soziale Präferenzen haben, dass es ihnen auch wichtig ist, wie es anderen Menschen geht.“

Aus Sicht einer problemorientierten Verbraucherpolitik ist dies etwa möglich durch verbesserte Qualität der Informationen und ihrer Bereitstellung, indem etwa eine systematische Verwirrung von Verbrauchern zu unterbleiben hat, weil Fehl­ einschätzungen der möglichen Kunden die Folge wären. So wurde kürzlich untersagt, alkoholisches Bier als „bekömmlich“ zu bewerben.

»Nudging soll Handlungen zum eigenen Vorteil beeinflussen.«

Gerade im digitalen Bereich ergeben sich verhaltensökonomisch relevante Probleme für die Verbraucher(schutz)politik. Darauf verwies Schnit­zer ebenfalls in dem FAZ-Interview: „Verbraucher, die beschränkt rational sind, können möglicherweise nicht richtig einschätzen, welcher Handyoder Versicherungsvertrag für sie der beste ist. Die weniger gut informierten Menschen zahlen mehr, sie werden abgezockt. Und mit den höheren Preisen, die sie zahlen, werden oft die günstigeren Preise für besser informierte Menschen quersubventioniert.“ Die Schlussfolgerung der Ökonomin: „Hier braucht es Aufklärung und Bildung.“

Darüber hinaus schob sich in jüngerer Zeit das Konzept des „liberalen Paternalismus“ in den Mittelpunkt der aktuellen Debatte. „Nudging“, also sanftes Schubsen bzw. gezieltes Anstoßen zur gezielten Steuerung menschlichen Verhaltens ohne grundsätzliche Begrenzung der Entscheidungsfreiheit, ist bei dieser Form des auch als „sanft“ bezeichneten Paternalismus das Mittel der Wahl. Im Gegensatz zu traditioneller staatlicher Regulierung, sind „Nudges“ weder Ver- noch Gebote. Auch handelt es sich hier nicht um finanzielle Strafen oder Anreize.

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Es geht vielmehr darum, durch eine bewusst andere Ausgestaltung der Entscheidungsarchitektur als zuvor Entscheidungen und Handlungen der Menschen zu ihrem eigenen Vorteil und zugunsten der Gesellschaft insgesamt zu beeinflussen. Das Konzept gewann durch das in deutscher Sprache erstmals 2009 veröffentlichte Werk „Nudge: Wie man kluge Entscheidungen anstößt“ der US-Wissenschaftler Richard H. Thaler und Case R. Sunstein erhebliche Aufmerksamkeit, wurde aber schon seit 2003 durch diese beiden Autoren vor allem in englischer Sprache publik gemacht.

Begriff für Standardvorgaben, der sich in der Fachsprache schon eingebürgert hat) ersetzt werden. Die prinzipielle Bedeutung von Voreinstellungen für das Entscheidungsverhalten gilt dabei in der verhaltensökonomischen Literatur als belegt. Ein einfaches Beispiel verdeutlicht, worum es in der Praxis geht: Ersparnisse bei Papierverbrauch und Druckerpatronen – beispielsweise bei Standardausdrucken an öffentlichen Hochschulen – sind etwa möglich, indem man die häufig vom Hersteller vorgenommene Voreinstellung ganzund einseitigen Ausdrucks bei hoher Schriftqualität durch eine andere Standardeinstellung (verkleinert und doppelseitig bei schlechterer Schriftqualität) ersetzt.

Der Ansatz lässt sich in vielen Bereichen privat, in der Wirtschaft und bei der staatlichen Verwaltung und Regierungsführung anwenden, um zu besseren Ergebnissen als bisher beizutragen. Er beruht auf von Verfechtern des Ansatzes als empirisch robust eingeschätzten Verhaltenstendenzen von vielen Menschen, die für die Politikgestaltung durch staatliches Nudging als unmittelbar relevant angesehen werden. Bekannte Beispiele hierfür, die mit völlig rationalem Verhalten zur Maximierung des eigenen Nutzens oft nicht leicht vereinbar sind, sind unter anderem •

»Die Vorteile von kontrollierten Nudges überwiegen die Nachteile.«

der Status-quo-Effekt (Beibehaltung eines eingespielten Verhaltens, auch wenn dessen Änderung sehr nutzensteigernd wäre), Prokrastination, also eine besonders starke Präferenz für die Gegenwart (also zugleich eine systematische Minderschätzung künftiger Bedarfe) und die Neigung, (oft nur kurzfristig unangenehme) Verhaltensänderungen aufzuschieben, der Framing-Effekt, bei dem eine Entscheidung stark davon abhängt, wie Informationen dargeboten werden (größerer Verhaltenseinfluss von einfachen und verständlichen sowie Aufmerksamkeit fördernden, auffälligen Informationen, etwa eine Erinnerungs-SMS bei fälligen Zahlungen) oder unrealistischer Optimismus, wonach es oft zu einem Überschätzen des Eintretens von guten im Vergleich zu schlechten Dingen kommt.

Häufig schießt eine nicht selten einseitige und polemisch verzerrende Berichterstattung zum Nudging-Konzept (Novo-Argumente H. 119, I/2015 spricht von „Psychotricks“, um „die störrischen Bürger zu besseren Menschen zu formen“) weit über das Ziel hinaus – insbesondere seit dem Bekanntwerden der Einstellung von drei verhaltensökonomisch geschulten Mitarbeitern auch im deutschen Bundeskanzleramt. Unklar ist nach wie vor, inwieweit Nudging in der Praxis der deutschen Regierungspolitik überhaupt eine Rolle spielen soll. Denn bisher äußerte sich nur das Justiz- und Verbraucherministerium hierzu zustimmend. Dabei ist klar zu konstatieren, dass die grundsätzlichen Befürworter dieser Konzeption Nudges weder als Allheilmittel ansehen. Ebenfalls übersehen sie nicht das grundsätzliche Risiko, dass zuständige „Entscheidungsarchitekten“ solche gezielten Anstöße zu ihrem eigenen persönlichen Vorteil ausnutzen können. Trotz möglicher Gefahren dürften jedoch die Vorteile aber die Nachteile aus Sicht der Verfechter des Ansatzes weit überwiegen, wenn der staatliche Einsatz von Nudges kompetent, transparent und – zur Vermeidung von Missbrauch – klar kontrollierbar erfolgt.

Bessere Entscheidungen als zuvor können sich vor diesem Hintergrund allein daraus ergeben, dass die grundsätzlich möglichen Optionen anders präsentiert und gewichtet werden, indem beispielsweise bisherige Standardvorgaben, die in Kraft treten, wenn man sich nicht ausdrücklich dagegen entscheidet, durch neue „Defaults“ (der englische

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»Häufig schießt eine nicht selten einseitige und polemisch verzerrende Berichterstattung zum Nudging-Konzept weit über das Ziel hinaus.«

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Lehren aus Großbritannien

Smarteres Regieren durch digitales Nudging

Die Erfahrungen mit Nudging im Ausland zeigen, dass die unter Publizisten und Akademikern in Deutschland noch vielfach vertretene Skepsis wohl übertrieben ist. Dafür leistet die wissenschaftliche Empirie verhaltensökonomischer Forschung seit längerer Zeit die Vorarbeit durch sachliche Aufklärung.

Beispiele für geschickt gewählte Entscheidungsstrukturen und wirksame Nudges finden sich gerade im digitalen Bereich, von denen hier einige vorgestellt werden sollen. Anbieter von Dienstleistungen und Produkten gestalten vertragliche Standardvorgaben bei freier Gestaltbarkeit verständlicherweise oft so, dass dies in erster Linie ihren eigenen Interessen dient. Dies lässt sich bei Abschlüssen von Verträgen und Erklärungen von Nutzern leicht zu deren Lasten ausnutzen.

Zudem dürften die bezifferbaren Erfolge etwa der in Großbritannien tätigen Nudging Unit zu einem Umdenken auch in Deutschland beitragen. Sie basiert auf dem Ansatz, nur dann tätig zu werden, wenn es um die Förderung individuellen und gesellschaftlichen Wohlbefindens geht, nicht aber, wenn versteckte Manipulationen zur Gewinnerhöhung privater Unternehmen das Ziel sind.

Hierauf wurde bereits reagiert, indem mit der Verbraucherrechte-Richtlinie der EU von 2011 im Online-Handel der Einsatz von voreingestellten, bereits angekreuzten Kästchen deutlich eingeschränkt wurde, wenn eigentlich die Optionen (etwa bezogen auf den Abschluss von Reiseversicherungen bei Flügen) frei wählbar sind. Zuvor waren verhaltensökonomische Erkenntnisse schon beim Kartellrechtsfall von Microsoft und der Europäischen Kommission bedeutsam.

»Staatliche Ersparnisse sind durch Nudging möglich.«

Den automatisch von Microsoft installierten Default-Internetbrowser (automatische Koppelung des Betriebssystems Windows mit dem Internet Explorer) hat das Unternehmen aufgrund der drohenden Regulierung durch „freiwillige Selbstkontrolle“ abgeschafft. Dies diente dazu, wieder mehr Wettbewerb auf dem Markt für Internetbrowser zu ermöglichen und Missbrauch zu verhindern. Für die Mehrzahl der Nutzer ist Direktmarketing durch unerwünschte Werbe-E-Mails und Anrufe lästig, weshalb in einer Reihe von Staaten, insbesondere in Dänemark, Großbritannien, den Niederlanden und den USA, Änderungen der Defaultregelungen erfolgten, sodass ein für die Industrie verbindliches Opt-out erfolgen kann.

Im jüngsten Rechenschaftsbericht des britischen „Behavioural Insight Team“ vom Juli 2016 wurden Ersparnisse von mindestens 300 Millionen britischen Pfund identifiziert, die sich vor allem aus Verbesserungen bei den Steuerzahlungen der Bürger, bei der Verringerung der Abbruchraten im Studium durch eine spezielle E-Mail-Betreuung gefährdeter Studierender und durch eine verringerte Inanspruchnahme staatlicher Leistungen durch verbesserte Aufnahme von Beschäftigungsmöglichkeiten durch den Einsatz von Nudges ergeben haben. Nach Angaben des Leiters der Nudge Unit, David Halpern, war dies nur möglich durch die bewusste Nutzbarmachung der Macht der „Behavioural Psychology“. Die Erfahrungen etwa Großbritanniens zeigen also, dass grundsätzlich staatliche Ersparnisse und volkswirtliche Vorteile durch Nudging möglich sind.

»Nicht alle Maßnahmen digitalen Nudgings werden begrüßt.«

Setzen sich die bisherigen Erfolge beim Nudging in Großbritannien und in anderen Ländern, die es anwenden (etwa USA, Spanien, Österreich), fort, so dürften künftig auch hierzulande bisher vorhandene Urteile zu diesem Thema erheblich an Sachlichkeit gewinnen und die jeweiligen Vorund Nachteile vorurteilsfreier als häufig bisher beurteilt werden.

Wie anfangs erwähnt, bestehen häufig Probleme beim Wechsel etwa von digitalen Tarifen und Verträgen, wenn eine breite Auswahl existiert und es um komplexe Produkte geht. Es kann hier oft zu einer Benachteiligung großer Gruppen von

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Käufern durch die Anbieter wegen nur begrenzter Informationsverarbeitungskapazitäten oder durch den Status-quo-Bias kommen. So konstatieren Lucia A. Reisch und Julia Sandrini in ihrer Studie „Nudging in der Verbraucherpolitik“ von Anfang 2015: „Eine breite Auswahl und komplexe Produkte führen häufig zu Entscheidungsverweigerung oder zur Wahl schlechterer Optionen. Ein wichtiger Nudge ist daher die Gestaltung des ,Wieʻ der Informationen – im Sinne maximaler Übersichtlichkeit und Vergleichbarkeit.“ Mög­ liche Ansatzpunkte sind hier gesetzliche Verpflichtungen von Unternehmen, wie etwa in Großbritannien, interessierten Verbrauchern ihre Daten in elektronischer Form nutzerfreundlich verfügbar zu machen, um so effizientere Anbieterwechsel als zuvor zu ermöglichen.

informiert sind, dass das Angebot kostenpflichtig ist. Hierdurch wird kein potenzieller Käufer daran gehindert, diese Angebote wahrzunehmen, wenn es seinen Kaufwünschen entspricht – aber unfreiwillige Transaktionen können verhindert werden.

Verbraucherschutz im Internet lässt sich insbesondere auch dadurch verbessern, indem Kostenfallen, bei denen etwa Verbraucher unfreiwillig für angeblich kostenfreie Produkte wie Rezepte zahlen müssen, beseitigt werden, wie es die Verbraucher­richtlinie der Europäischen Kommission vom Juni 2014 vorsieht. Hiernach müssen Verbraucher bei der Nutzung von digitalen Angeboten ausdrücklich bestätigen, dass sie über die Zahlungspflichtigkeit der betreffenden Angebote

Denn die Effekte solcher Regulierungen können zu einer verzögerten Realisierung effizienter Käufe für vollständig informierte Konsumenten führen und somit unter anderem zu erhöhten Kosten für sie, sodass die gesellschaftliche Wohlfahrt hierdurch nicht immer erhöht wird. Auch auf diesem Gebiet sollten also unerwünschte Nebenwirkungen immer im Auge behalten werden, um wirklich dem „liberalen“ Aspekt beim Nudging genügend Rechnung zu tragen.

Nicht all diese Maßnahmen digitalen Nudgings werden von Experten eindeutig begrüßt. So gibt es durchaus auch Argumente gegen eine starke Ausweitung von „Cooling-off“-Perioden, also der Einführung einer Bedenkzeit bei impulsiven Internetkäufen, innerhalb derer ein Kauf aus beliebigen Gründen über vom Anbieter bereit zu stellende Musterwiderufsformulare widerrufen werden kann, wie es ebenfalls die Verbraucherrichtlinie der Europäischen Kommission vorsieht.

Prof. Dr. Lothar Funk ist Professor für Volkswirtschaftslehre, insbesondere internationale Wirtschaftsbeziehungen, an der Hochschule Düsseldorf.

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Jan Neutze Nemanja Malisevic

Cyberspace braucht Normen f端r Cybersicherheit

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Die Bedeutung des Cyber-Raumes ist für alle Gesellschaftsbereiche in den vergangenen zwei Jahrzehnten rasant gewachsen. Diese Entwicklung wird sich weiter fortsetzen. Im Laufe der nächsten 10 Jahre wird die Anzahl von Internetbenutzern auf 4,75 Milliarden anwachsen. In entwickelten Ländern werden mehr als 90 Prozent der Bevölkerung online sein und in Schwellenländern werden es fast 70 Prozent sein. Industrie 4.0, das so genannte Internet of Things, Big Data sowie Cloud Computing sind nur einige weitere Themen, die man hier sinngemäß auch anbringen könnte.

Eine Möglichkeit, dieser Entwicklung entgegenzuwirken, ist die Verabschiedung von cybersicherheitsrelevanten Normen, welche darstellen, wie ein verantwortungsvolles Handeln von Staaten im Cyber-Raum aussehen könnte. Warum sind besagte Normen so wichtig, um cybersicherheitsrelevanten Risiken effektiv und nachhaltig zu begegnen? Um diese Frage zu beantworten, ist es hilfreich kurz die komplexe Beziehung von Staaten zum Cyber-Raum zu betrachten. So sind Staaten (a) Benutzer von Informations- und Kommunikationstechnologien und Daten. Sie sind (b) verantwortlich für den Schutz des Cyber-Raumes, und zwar nicht nur bezogen auf kritische Infrastrukturen, sondern auch auf den einzelnen Internetbenutzer. Staaten sind (c) verantwortlich für Regulierung, wie z.B. für das kürzlich verabschiedete IT-Sicherheitsgesetz. Oftmals sind Staaten jedoch auch (d) verantwortlich für die Ausnutzung bzw. Operationalisierung des Cyber-­ Raumes für Spionage, komplexe Cyber-Operationen und weitere militärische Zwecke.

»Der Cyberspace birgt neben vielen Vorteilen auch Risiken.« Natürlich bringt all dies viele Vorteile für Staat, Wirtschaft, Wissenschaft und die Bürgerinnen und Bürger. Jedoch müssen sich alle User des Cyber-Raumes darüber im Klaren sein, dass er auch Risiken birgt, welche es zu verstehen und zu bewältigen gilt.

Je mehr sich Staaten mit den technischen Möglichkeiten auseinandersetzten, die es ihnen erlauben, den Cyber-Raum sowohl zu beschützen als auch auszunutzen, desto größer wird die Anzahl an möglichen Rechtfertigungen für beide Stoßrichtungen sein. Nicht alle Staaten werden hier den gleichen Fokus setzen bzw. zum gleichen Ergebnis kommen – so wie sich auf zwischenstaatlicher Ebene Ansichten, Präferenzen und Gesetze oft unterscheiden. Dies bedeutet auch, dass Staaten zu unterschiedlichen Ergebnissen bezüglich offensiver Operationen im Cyber-Raum kommen werden. Das ist dahingehend besonders problematisch, da es oftmals nicht möglich ist, Cyber-Angriffe im Vorhinein genau einzugrenzen, was leicht zu ungewollten bzw. unvorhergesehenen Konsequenzen führen kann. Ein Verlust der Eskalationskontrolle könnte hier leicht die Folge sein.

So ist mit der steigenden Bedeutung des Cyber-­ Raumes auch eine steigende Anzahl und Komplexität vieler Cyber-Angriffe einhergegangen. Dies beinhaltet einerseits Angriffe nichtstaatlicher Akteure, sprich Cyber-Krimineller, welche die Möglichkeiten der immer größeren digitalen Vernetzung zur kriminellen Bereicherung nutzen. Andererseits muss man sich jedoch der Realität stellen, dass der Cyber-Raum für eine wachsende Anzahl von Staaten vermehrt eine Domäne geworden ist, die es zu operationalisieren gilt, so wie es auch zu Lande, zu Wasser, in der Luft sowie teilweise auch im Weltraum bereits geschehen ist und weiter geschieht. Auch diese Entwicklung wird sich fortsetzen und sie birgt klare Risiken. In der eng vernetzten Domäne des Cyber-Raumes kann ein Angriff leicht und schnell eskalieren, was zu unvorhergesehenen und möglicherweise katastrophalen Konsequenzen führen könnte. Erschwerend kommt hinzu, dass eine klare Zuordnung eines Angriffs mitunter schwer bis unmöglich sein kann und somit das Potenzial einer Fehleinschätzung stets präsent ist. Dies trägt unter Anderem zu einer wachsenden „Cyber-Unsicherheit“ seitens der internationalen Staatengemeinschaft bei.

Weiterhin muss man sich vor Augen führen, dass die stetige Weiterentwicklung von sowohl offensiven als auch defensiven Cyber-Kapazitäten – um es anders zu formulieren: ein Cyber-Wettrüsten – die zwischenstaatliche Unsicherheit grundsätzlich erhöhen wird, insbesondere wenn es keine international anerkannten „rules of the road“ oder Normen gibt, die einen verantwortungsvollen Umgang von Staaten mit besagten Kapazitäten beschreiben.

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Das ist weder im Interesse der internationalen Staatengemeinschaft noch im Interesse von Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft. Vor diesem Hintergrund hat Microsoft im Dezember 2014 einen Initialkatalog an cybersicherheitsrelevanten Normen veröffentlicht. Unter Normen verstehen wir nicht zwingenderweise eine rechtlich bindende internationale Konvention (auch wenn diese langfristig wünschenswert sein könnte).

Grundsätzlich waren diese Initialvorschläge als ein Denkanstoß bzw. Beitrag zur internationalen Diskussion dieses, für die internationale Sicherheit und Stabilität so wichtigen Themas vorgesehen. Die Tatsache, dass sich Aspekte einiger der oben genannten Gedanken im aktuellen Bericht der UN Group of Governmental Experts on Developments in the Field of Information and Telecommunications in the Context of International Security wiederfinden, welcher vor Kurzem veröffentlicht wurde (A/70/174), ist somit positiv zu bewerten. Nichtsdestotrotz besteht weiter dringender Handlungsbedarf.

Vielmehr verstehen wir den Begriff Normen zunächst als „politisch bindende“, staatliche Absichtserklärung, welche die Unterstützung von Staaten mit offensiven Cyber-Kapazitäten finden könnten. Konkret handelt es sich um folgende Normvorschläge:

»Internationale Cyber-Normen werden dringend benötigt.«

1.) Staaten sollten nicht versuchen, Schwachstellen (z.B. sogenannte Backdoors) in Software zu integrieren und grundsätzlich Aktivitäten vermeiden, durch welche das Vertrauen der Gesellschaft in IT-Produkte und -Dienste erschüttert werden könnte.

International verabschiedete cybersicherheits-­ relevante Normen werden weiterhin dringend benötigt – und zwar von Staaten, Industrie und Zivilgesellschaft. Ohne eine breite internationale Diskussion darüber, welches Verhalten von Staaten in Cyberspace akzeptabel und welches inakzeptabel ist, bleibt es nur eine Frage der Zeit, bis ein Cyber-Angriff derart eskaliert, dass er weitreichende Folgen sowohl im Cyberraum als auch in der realen Welt nach sich zieht.

2.) Staaten sollten prinzipiell dem Grundsatz folgen, Schwachstellen in IT-Produkten und Diensten den entsprechenden Herstellern zu melden, statt sie zu lagern, zu kaufen, zu verkaufen und auszunutzen. 3.) Staaten sollten sich bei der Entwicklung von Cyber-Waffen in Zurückhaltung üben und sicherstellen, dass solche Waffen limitiert, präzise und nicht wieder verwertbar sind.

Obwohl es auf internationaler, zwischenstaatlicher Ebene in der letzten Zeit durchaus positive Ergebnisse bezüglich dieses Themas gegeben hat – z.B. bei den Vereinten Nationen oder der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) –, so schreiten konkrete Maßnahmen und dieImplementierung von Cyber-­ Sicherheitsnormen nur langsam voran.

4.) Staaten sollten sich verpflichten, solche Waffen nicht zu verbreiten. 5.) Staaten sollten ihr Engagement hinsichtlich offensiver Cyber-Angriffsoperationen begrenzen, um mögliche Eskalationen zu vermeiden.

Im Hinblick auf cybersicherheitsrelevante vertrauensbildende Maßnahmen bietet der deutsche OSZE-Vorsitz 2016 eine konkrete Möglichkeit, die entsprechenden Diskussionen und Verhandlungen voranzutreiben. Bezüglich eines Normenpakets ist der Weg vergleichsweise weniger klar definiert.

6.) Staaten sollten den Privatsektor bei Bestrebungen unterstützen, deren Ziel es ist, Cyberangriffe (a) aufzudecken und (b) einzugrenzen, sowie besagten Angriffen (c) entgegenzuwirken und sich von ihnen (d) zu erholen.

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»Staaten sollten ihr Engagement hinsichtlich offensiver Cyber-Angriffsoperationen begrenzen, um mögliche Eskalationen zu vermeiden.«

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Staaten spielen die Schlüsselrolle bei der Entwicklung cybersicherheitsrelevanter Normen. Allerdings müssen sie hierbei stets verschiedene Interessen und Agenden, z.B. diplomatischer, geheimdienstlicher, militärischer, ökonomischer und strafrechtlicher Natur, abwägen. Eine wirksame und nachhaltige Lösung dieses Problems muss allen relevanten Akteuren Gehör schenken – durch einen sogenannten Multi-Stakeholder-­ Ansatz. Bezogen auf cybersicherheitsrelevante Risiken beinhaltet dies insbesondere Vertreter aus Wissenschaft und Wirtschaft.

Besagte Normen müssen sich den Entwicklungen und Realitäten des Cyberraumes anpassen – das heißt, sie müssen kontinuierlich verbessert und weiterentwickelt werden. Ein erstes Normenpaket wäre ein Anfang der entsprechenden Diskussion, nicht deren Ende, so wie auch das im Dezember 2013 im Rahmen der OSZE verabschiedete Paket cybersicherheitsrelevanter vertrauens­ bildender Maßnahmen ein wichtiger erster Schritt war, dem idealerweise noch viele weitere Pakete folgen werden.

»Eine Eskalation im Cyberraum hätte weitreichende Folgen für die Gesellschaft.«

Konkret bedeutet dies, dass in weiteren Verhandlungen zu diesem Thema – in allen relevanten Foren – Wissenschaft und Wirtschaft konsultiert werden sollten. Es ist im klaren Interesse der internationalen Staatengemeinschaft, die Expertise dieser beiden Gruppen in die entsprechenden Diskussionen mit einfließen zu lassen. Historisch betrachtet gibt es auch mehrere konkrete Beispiele für ein entsprechendes Engagement des Privatsektors – beispielsweise bei der Entwicklung der Chemiewaffen- bzw. den Seerechtskonventionen.

Die Zeit drängt. Staaten können es sich nicht leisten, mit der Gestaltung von Cyber-Normen zu warten, bis ein Eskalationsfall eintritt. Stattdessen sollten sie – gemeinsam mit Vertretern aus Wirtschaft und Wissenschaft – daran arbeiten, sich schnellstmöglich auf einen robusten Ansatz zu verständigen, welcher ein verantwortungsvolles Handeln von Staaten im Cyberraum beschreibt.

Dass die Ausarbeitung cybersicherheitsrelevanter Normen kein linearer oder gar einfacher Prozess sein wird, dominiert von einem Land oder einer internationalen Institution, sollte in Anbetracht der Komplexität des Themas offensichtlich sein. Eine effektive und nachhaltige Lösung hat nur Aussicht auf Erfolg, wenn sie durch einen Multi-Stakeholder Ansatz charakterisiert wird, wenn sie auf positiven Entwicklungen im Bereich der vertrauensbildenden Maßnahmen aufbaut und in umfassenden und global anerkannten cybersicherheitsrelevanten Normen kulminiert.

Der Weg von einer Fehleinschätzung hin zur Eskalation im Cyberraum ist kurz. Es steht zu erwarten, dass er mit der stetigen Weiterentwicklung der entsprechenden Technologien zukünftig immer kürzer werden wird. Eine solche Eskalation hätte weitreichende Folgen für alle Bereiche der Gesellschaft. Dem gilt es gemeinsam und entschlossen entgegenzuwirken.

Dieser Text basiert in wesentlichen Teilen auf dem Microsoft Whitepaper „International Cybersecurity Norms“, welches im Dezember 2014 im Rahmen des East-West Institute Cyber Summit in Berlin veröffentlicht wurde.

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»Staaten können es sich nicht leisten, mit der Gestaltung von CyberNormen zu warten, bis ein Eskalationsfall eintritt.«

Jan Neutze leitet bei Microsoft den Bereich Cybersicherheit für Europa, Mittlerer Osten & Afrika (EMEA). Vor seiner jetzigen Rolle bei Microsoft arbeitete er bei den Vereinten Nationen im Planungsstab des UN-Generalsekretärs zu den Themen Cybersicherheit und Anti-Terrorismus.

Nemanja (Neno) Malisevic leitet den Bereich Cybersicherheit in Deutschland für Microsoft’s Global Security Strategy & Diplomacy (GSSD) Team. Vor Microsoft arbeitete Malisevic als erster „Cyber Security Officer“ bei der Organisation für Sicherheit & Zusammenarbeit in Europa (OSZE).

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Ein politisches Naturtalent Ein Nachruf auf Philipp MiĂ&#x;felder

von Peter Hintze

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Drei grundlegende Eigenschaften machen einen erfolgreichen Politiker aus: Erfolg in der Politik hat, wer für sich und seine Positionen in Partei und Parlament für Mehrheiten sorgen kann. Zum politischen Erfolg gehört auch die Fähigkeit, mit seinen Anliegen im öffentlichen Raum Resonanz zu erzeugen. Dies gelingt nur demjenigen, dessen Person und dessen Überzeugungen sichtbar werden. Dazu gehört der Mut zur Differenz und zur Kontroverse. Und schließlich muss ein Politiker Menschen überzeugen und für sich einnehmen können. Nimmt man dies zum Maßstab, so war Philipp Mißfelder ein hochbegabter und erfolgreicher Politiker. Dies verschaffte ihm auch bei denjenigen hohen Respekt, die ihm kritisch begegneten.

die parteipolitischen Grenzen hinweg und half ihm, einen guten Kontakt zu den Medien auch dann zu halten, wenn der Gegenwind einmal kräftiger blies. Der politische Blick von Philipp Mißfelder richtete sich nach innen und nach außen, auf unser Land und zugleich auf die Welt. Generationengerechtigkeit und außenpolitische Verlässlichkeit – das waren die beiden großen Themen, denen er sich als JU-Vorsitzender und als Außenpolitiker widmete und die in ihrer Bedeutung für unsere Zukunft und insbesondere für nachfolgende Generationen mehr gemeinsam haben, als es den Anschein hat. Denn diese Themen sind es, die für den langfristigen Erfolg unseres Landes von zentraler Bedeutung sind. So wie sich an einem fairen Ausgleich zwischen den Generationen die langfristige Stabilität der sozioökonomischen Grundlagen unserer Gesellschaft bemisst, so beruht die Möglichkeit, Einfluss zu nehmen auf die Geschicke der Welt, auf guten Beziehungen zu unseren Partnern in Europa und der Welt.

»Sein Humor baute Brücken über die parteipolitischen Grenzen hinweg.« Philipp Mißfelder war ein durch und durch politischer Mensch. Bei ihm als „Homo politicus“ fielen persönliche und politische Sozialisation praktisch zusammen. Er bekleidete früher als viele andere seiner Generation wichtige politische Ämter – in Schüler Union und Junger Union, im CDU-Präsidium und als außenpolitischer Sprecher unserer Fraktion. Und er tat dies als Vorsitzender der Jungen Union auch länger als jeder seiner Amtsvorgänger.

Philipp Mißfelder konnte Menschen faszinieren, auch solche, die ihm kritisch gesonnen waren. Und er selbst ließ sich faszinieren von der Dynamik des politischen Geschehens. Sein Sinn für die wachsende Komplexität, Ambiguität und Widersprüchlichkeit der Weltgesellschaft prädestinierte ihn zu einem scharf analysierenden und abgewogen urteilenden Außenpolitiker. Er wusste um die Notwendigkeit und verfügte über die Fähigkeit, bisweilen schwierige Kompromisse schließen zu müssen, wenn es darum geht, widerstreitende Interessen in Einklang zu bringen. Das machte ihn zu einem geschätzten Gesprächspartner und klugen Botschafter christlich-demokratischer Politik in der Welt.

Dazu gehört Talent. Philipp Mißfelder war ein politisches Naturtalent, das ihm als Frühvollendetem nicht nur in die Wiege gelegt worden war. Er hat es sich dank seiner ausgeprägten politischen Intelligenz auch erarbeitet. Dazu verhalf ihm eine für den politischen Erfolg entscheidende Fähigkeit: Die Fähigkeit zur Distanz. Distanz ist die Bedingung dafür, seine Umwelt genau zu beobachten, Sachverhalte präzise zu analysieren und auch sich selbst und die eigenen Chancen richtig einschätzen zu können. Distanz schafft Freiräume, die braucht, wer Neues anstoßen, eigene Wege beschreiten und freiverantwortlich gestalten will. Und schließlich ist Distanz die Quelle des Humors. Philipp Mißfelder verfügte über einen feinen, sein Gegenüber einnehmenden Humor, der sich auch auf die eigene Person beziehen konnte. Sein Humor baute Brücken über

Diese Fähigkeit ruhte auf einem festen Wertefundament, das für ihn eine unabdingbare Voraussetzung dafür war, die Interessen Deutschlands und Europas in der Welt erfolgreich verteidigen und glaubhaft für demokratische und rechtsstaatliche Verhältnisse eintreten zu können. So waren ihm, dem ehemaligen Koordinator der Bundesregierung für die transatlantischen Beziehungen, die Partnerschaft zu den Vereinigten Staaten und der Zusammenhalt der westlichen Wertegemeinschaft ebenso eine Herzensangelegenheit und ein Gebot der politischen Vernunft, wie es gute Beziehungen zu Israel waren.

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Peter Hintze ist seit 2013 Vizepr채sident des Deutschen Bundestags. Von 2005 bis 2013 war er Parlamentarischer Staatssekret채r beim Bundesminister f체r Wirtschaft und Technologie. Von 1992 bis 1998 war Hintze Generalsekret채r der CDU.

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»Philipp Mißfelder hat bereits in jungen Jahren mehr erreicht als die meisten in ihrer gesamten politischen Karriere.« Als studierter Historiker hatte Philipp Mißfelder ein besonderes Gespür dafür, dass Verlässlichkeit in den Beziehungen zu unseren Partnern in der Welt und die Bereitschaft, mit unseren Bündnispartnern die gemeinsamen Werte gegen Anfechtungen entschlossen zu verteidigen, für Deutschland eine existenzielle Bedeutung haben.

wiedervereinigten Deutschland mit vielen mutigen Beiträgen gestärkt zu haben, wenn es um den gemeinsamen Kampf gegen den internationalen Terrorismus ging, war eines der großen politischen Verdienste von Philipp Mißfelder. Philipp Mißfelder hat bereits in jungen Jahren mehr erreicht als die meisten in ihrer gesamten politischen Karriere. Ihm, der ein politisches Ausnahmetalent war, stand noch ein großer Weg bevor. Ich werde seinen feinsinnigen Humor vermissen, der für heitere Pausen in der Politik sorgte. Mir fehlt Philipp Mißfelder als wichtiger Gesprächspartner.

Wohlfeile Äquidistanz und deutsche Sonderwege waren ihm eine intellektuelle Zumutung. Für ihn gehörten der Wille, Verantwortung in der Welt zu übernehmen, und die feste Einbettung in NATO und EU für das Deutschland im 21. Jahrhundert unabdingbar zusammen. Dieses Bewusstsein im

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Portrait

Skrollan Olschewski: Die ganz große Pommesliebe Skrollan? Klingt schwedisch. „Bist Du Schwedin?“ Nee, meine Mama ist ein Hippie. So beantwortet Skrollan ungefähr zweimal pro Tag die Frage nach ihrem Vornamen. Benannt hat ihre Mutter sie nach einer Romanfigur aus Astrid Lindgrens Buch „Ferien auf Saltkrokan“. Im Nachschlagewerk Wikipedia heißt es: „Als Vorname ist Skrollan in Deutschland ungebräuchlich.“ Wer will denn auch schon einen gebräuchlichen Namen?!

Und dann erzählt sie auch schon voller Begeisterung von Aktionen, die sie dort mit Kommilitonen durchgezogen hat, von einem kongolesischen Aktivisten, der sich in Italien aufgemacht hat, um für den Frieden auch im Kongo bis nach Brüssel zu wandern. Oder von knallbunten Socken, sozial und ökologisch verträglich produziert. Plötzlich war sie zurück in Berlin. Denn aufgewachsen ist Skrollan in der Hauptstadt, geboren im Urban-Krankenhaus. Schuld ist das Formular, mit dem sie sich in Maastricht für ein Auslandssemester beworben hat. „Man musste da einen vierten Ort angeben, und ich kam neben Südkorea noch auf Berlin.“ Und das Schicksal bevorzugte Skrollans vierte Wahl. Zurück in der Heimat, studierte sie weiter an der Humboldt Universität und jobbte bei der Konrad-Adenauer-Stiftung und war „zur richtigen Zeit am richtigen Ort!“

Aber kommen wir zu den wichtigen Dingen des Lebens: Pommes! Studiert hat die Berlinerin European Studies, und zwar in Maastricht. Da war doch was? Noch mal schnell Wikipedia konsultiert, Suchbegriffe Pommes, Niederlande: „Heute gelten Pommes frites außerhalb von Belgien, Frankreich und den Niederlanden als eher einfache Beilage.“ Aha, die Holländer haben eine engere Beziehung zu ihren Friets. Irgendwie waren in den Niederlanden alle meine Freunde so pommes-affin, erklärt denn Skrollan auch ihre Pommesliebe. So war eine knackige Überschrift schnell gefunden und ein Blog ganz fix gegründet: Pommesluv.

Fortan koordinierte sie nämlich im Team Wirtschaftspolitik, Hauptabteilung Politik und Beratung, das Projekt Unternehmensgründungen. Dass sie in ihrem Politikstudium den Schwerpunkt auf Wirtschaftspolitik gelegt hatte, kam dabei gerade recht. Bei der KAS analysierte Skrollan das Wertefundament von Start-up-Gründern vis-á-vis Unternehmern der Old Economy. Und zwischen zwei Pommes erklärt Skrollan, dass Start-ups wirklich etwas anderes sind, als die Autowerkstatt um die Ecke, weil sie neue Ideen antreiben.

Nun testet Skrollan schon seit einem halben Jahr Imbissbuden von Münster bis München – und mit ihr noch eine Handvoll Korrespondenten. Denn die pommes-affinen Freunde aus dem Studium hat es mittlerweile in die halbe Welt verstreut. Naja, oder nach Paris, Brügge und so. Und überall gibt es Fritten. Lag ja dann wohl irgendwie nahe, dass wir uns am Imbiss getroffen und „Friets Speciaal“ verkostet haben.

Der Konrad-Adenauer-Stiftung bleibt Skrollan treu: Neben dem Studium will sie dort weiterarbeiten. Studium? Noch nicht genug studiert? „Nach dem Bacherlor kommt jetzt das Jura-Studium.“ Die Pommes sind aufgegessen, die Sonne geht bald unter, wir müssen weiter. Die Bewertung der Fritenqualität haben wir vergessen, denn Skrollans noch ganz junge Hündin Frieda ist eine äußerst süße Dackeldame.

In Maastricht hat sich Skrollan in der Studentenschaft Concordantia engagiert. Da geht es für Studenten ganz pragmatisch um Prüfungsvorbereitungen. Aber auch das kritische Denken außerhalb des Lehrplans steht auf dem Programm.

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02 — 2015

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