Meret Oppenheim Eine Einführung

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Simon Baur Christian Fluri (Hg.)

Christoph Merian Verlag



Meret Oppenheim Eine Einführung

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Meret Oppenheim Eine Einführung Simon Baur Christian Fluri (Hg.)

Christoph Merian Verlag

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Meret Oppenheim Eine Einführung Inhaltsverzeichnis

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Simon Baur, Christian Fluri Pelzige Schlangenlinien durch das Unbewusste Zu Meret Oppenheim Eine Einführung Christian Fluri Der Surrealismus als Revolte gegen die Fesseln der Vernunft Meret Oppenheim und der Surrealismus

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Simon Baur Vom Paradies unter der Erde bis zum Geheimnis der Vegetation Naturbezüge im Werk von Meret Oppenheim 105

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Sabine Altorfer Feministin wollte sie nicht sein Meret Oppenheim als weiblicher Künstler Claire Hoffmann «Die Idee erscheint schon im Kleide ihrer Form» Meret Oppenheims Umgang mit Materialien Simon Baur Läbchuechegluschti und Kaminschaufel für Hexenküche Meret Oppenheims Entwürfe fürTische, Mode und Schmuck Silvia Buol Termiten im Auto und Gazelle im Mund Körperliche Präsenz in den Werken von Meret Oppenheim Simon Baur Eine ‹Non› sagende Ente neben dem Orangenbaum Druckgrafik von Meret Oppenheim 5

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Annemarie Monteil Begegnung im Cocon Chiffrenschriften in Meret Oppenheims Werken Christian Fluri «DeinTraum Liebes, ist ein Meisterwerk» Meret Oppenheim und Max Ernst Martin Zingg «Zartäugige Wandelgänge essen Butter am laufenden Band» Zu den Gedichten von Meret Oppenheim Simon Baur Auf den Fährten des Steppenwolfs Meret Oppenheim und ihre Heimatstadt Basel Silvia Buol Ein besonderes Paradies auf der Verkehrsinsel Meret Oppenheims Ideen und Projekte für Brunnen Susanna Petrin Die geplatzte Geistkugel lebt auf anderen Kunststernen weiter Meret Oppenheims Einflüsse auf junge Künstlerinnen und Künstler

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Katharina Rosenstingl Meret Oppenheim (1913 –1985)

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Literaturempfehlungen Autorinnen und Autoren Bildnachweis Impressum



Pelzige Schlangenlinien durch das Unbewusste Zu Meret Oppenheim Eine Einführung

Simon Baur Christian Fluri im Sommer 2013 für M.O.

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Meret Oppenheim ist eine der bekanntesten Künstlerinnen überhaupt, sie hat ihren Platz in derselben Liga wie Frida Kahlo, Louise Bourgeois, Cindy Sherman, Marina Abramović oder Camille Claudel. Ihre bekannte Pelztasse ‹Le déjeuner en fourrure› ist die Ikone des Surrealismus, die Fotos von Man Ray, in denen sie nackt und mit geschwärztem Oberarm an der Druckerpresse steht, sind Kult. Meret Oppenheim fasziniert seit Generationen Menschen auf der ganzen Welt und quer durch alle Gesellschaftsschichten. Man hat den Eindruck, sie bediene zahlreiche Wünsche, Träume und Phantasien. Sie wirkt auch als ideale Projektionsfläche, weil sie mit ihren Ideen und Gedanken das Bild des Künstlers – vor allem des weiblichen Künstlers – revolutionierte und zahlreichen zeitgenössischen und späteren Künstlerinnen zu einem neuen Selbstbewusstsein verholfen hat. Dass es zu dieser Prominenz kam, ist alles andere als selbstverständlich. Zwar wuchs Meret Oppenheim in einem gutbürgerlichen Milieu auf, das schon früh auf ihre künstlerischen Interessen einging und ihren expliziten Wunsch, Künstlerin zu werden, ernst nahm. Ihr Grossvater väterlicherseits leitete in Hamburg einen renommierten Verlag, ihre Grossmutter mütterlicherseits war eine der bekanntesten Schweizer Autorinnen der Dreissigerjahre und malte nebenbei wunderschöne Blumenaquarelle, die bis heute gesuchte Sammlerstücke sind. Als der Vater ihr die Wahl lässt, sich in Paris oder München zur Künstlerin auszubilden, entscheidet sich Meret Oppenheim für Paris. Es dauert einige Zeit, bis sie Anschluss an die dortigen Künstlerkreise findet, in der Anfangszeit ist oft von einsamen Momenten die Rede. Dann scheint alles recht schnell zu gehen. Über die Bekanntschaft mit einigen Schweizer Künstlern, die sie noch aus Basel kennt, lernt sie Alberto Giacometti und Hans Arp kennen, dazu kommen später Man Ray, Max Ernst, Marcel Duchamp, Pablo Picasso und Dora Maar, Yves Tanguy, Leonor Fini und die Dichter André Breton, Alain Jouffroy, André Pieyre de Mandiargues und Benjamin Péret. Meret Oppenheim wird zu Ausstellungen eingeladen, entwickelt eigene Ideen, lässt sich von anderen Künstlern und ihren Arbeiten inspirieren und findet in diesen wenigen Jahren bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges ihren künstlerischen Ausdruck. Das Unbewusste hat in dieser Zeit bei ihren surrealistischen Freunden Hochkonjunktur, und auch sie stellt die

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Weichen nicht bewusst. Aber bis zu ihrer Rückkehr in die Schweiz entstehen ikonische Werke wie ‹Le déjeuner en fourrure› (die legendäre Pelztasse), ‹Ma gouvernante – my nurse – mein Kindermädchen›, ‹Steinfrau› und der ‹Tisch mit Vogelfüssen› – Werke, die ihr zum internationalen Durchbruch verhelfen, die sie ein Leben lang nicht mehr loslassen und die sie manchmal auch verwünschen wird. Während des Krieges beschliesst Meret Oppenheim, in Basel die Kunstgewerbeschule zu besuchen, um die im Eigenstudium erworbenen Fähigkeiten zu vertiefen. Gleichzeitig erlebt sie die ersten Jahre einer langen Krise, in der sie vieles erschafft, aber auch vieles wieder vernichtet. Später wird sie sagen, sie habe in jener Zeit die Last der jahrhundertelangen Unterdrückung der Frau verspürt und sich davon befreien müssen. Tatsache bleibt, dass auch in diesen Krisenjahren zahlreiche wichtige Werke entstehen, die ihre Kunst prägen; Arbeiten, die politische, soziale und kulturpolitische Aspekte thematisieren. Nach einer schlaflosen Nacht ist 1954 die Krise abrupt beendet und Meret Oppenheim mietet sich wieder ein Atelier. Ende der Fünfzigerjahre befreit sie sich vom Surrealismus, ohne aber mit den Protagonisten von damals den Kontakt abzubrechen – die Freundschaften bestehen weiter. Als Künstlerin jedoch orientiert sie sich neu, obwohl das Unbewusste für sie immer von zentraler Bedeutung bleibt. Sie, die selbst gesagt hat, die Freiheit werde einem nicht gegeben, man müsse sie nehmen, löst sich aus zahlreichen Pflichten und Zwängen, lebt als Frau und als Künstlerin gemäss ihren eigenen Vorstellungen und realisiert in ihren letzten 25 Jahren ein dichtes und spannendes Werk, das oft als blasse Fortsetzung ihrer frühen Arbeiten (miss)verstanden wird. Dabei haben Bilder und Objekte wie ‹Das Geheimnis derVegetation› (1972), ‹Teich in einem Garten› (1975), ‹Termitenkönigin› oder der Brunnen auf dem Berner Waisenhausplatz von 1983 in ihrem Werk die gleiche ikonische Bedeutung wie die Pelztasse oder das Foto von Man Ray. Nur mit dem Unterschied, dass Kunstgeschichte und Kunstmarkt ihrem Spätwerk bisher zu wenig Aufmerksamkeit entgegengebracht haben – was sich spätestens dann ändern dürfte, wenn alle Frühwerke in Privat- oder Museumsbesitz übergegangen sind.

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Aber das Ikonische liegt in Meret Oppenheims späten Jahren noch woanders: in ihr selbst. Sie wurde zu einem Vorbild für junge Künstler und liess ihrerseits keine Gelegenheit verstreichen, junge Kunstschaffende zu unterstützen. So auch in ihrer viel beachteten Dankesrede für den Basler Kunstpreis 1975, die sie dem jungen Künstler und speziell dem weiblichen Künstler widmete. 1982 nahm sie an der von Rudi Fuchs organisierten ‹documenta 7› in Kassel teil und zwei Jahre später wurde sie mit einer grossen Retrospektive im Musée d’art moderne de la ville de Paris geehrt, in jener Stadt also, wo vor über fünfzig Jahren ihre Karriere als Künstlerin begonnen hatte. Trotz der Bedeutung, die Meret Oppenheim dem Unbewussten beimass, ist es bemerkenswert, dass sie auch ihren Tod voraussah. Im Alter von 36 Jahren – 1949 – hatte sie einen Traum, in dem eine geschnitzte Holzstatue eine Sanduhr in der Hand hält und sie umdreht. Dazu schrieb sie: «Der Traum war kurz vor od. nach meinem 36. Geburtstag. Hälfte des Lebens?» Und tatsächlich kam es so. Ihren Freunden vertraute sie 1985 an, sie werde den ersten Schnee nicht mehr erleben. Sie starb am 15. November 1985 während den Vorbereitungen zu einer Ausstellung in der Edition Fanal in Basel. Unbewusstes, Traum, Realität, Freiheit, Unabhängigkeit, Schönheit, Trauer – Begriffe, die im Leben und Werk von Meret Oppenheim wiederkehren. Obwohl uns dieses Werk auf den ersten Blick einfach erfassbar und gedanklich logisch erscheint, ist es bei konzentrierter Beschäftigung doch sehr komplex, assoziativ, poetisch und vielschichtig. Auch dafür ist die Pelztasse symptomatisch: Sie oszilliert zwischen Verlockung und Abneigung, wie das gesamteWerk und auch die Person von Meret Oppenheim. Man ist von ihrem Werk entweder fasziniert oder empfindet es als marginal, zwischen diesen beiden Polen bleibt nicht viel. Aber verstanden wird sie von vielen nach wie vor nicht, und weil manche mehr über Meret Oppenheim als Mensch und Künstlerin wissen wollen, haben wir dieses Buch erarbeitet. Die Autorinnen und Autoren aus ganz unterschiedlichen Fachgebieten eint die Faszination an der Kunst, den Gedichten und Träumen von Meret Oppenheim. Und weil wir wissen, dass auch über Meret Oppenheims 100. Geburtstag am 6. Oktober 2013 hinaus sich viele für ihr Leben und

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Werk interessieren werden, veröffentlichen wir diese Texte. Sie wurden mit wenigen Ausnahmen für eine Serie in der ‹bz Basel› verfasst. Die Herausgeber sind dort beide als Journalisten tätig und regten an, jeweils gegen Ende Monat eine Seite Meret Oppenheim und einem Aspekt ihres Lebens und Werks zu widmen. Der Christoph Merian Verlag war bereit, diese Texte in einer etwas erweiterten Zusammenfassung und mit zahlreichen Bildern versehen als Buch zu publizieren. Dass uns dieser Beitrag zum Oppenheim-Jahr 2013 gelungen ist, freut uns beide am meisten. Doch wir wissen auch, dass wir dies nie allein geschafft hätten. Deshalb hier unser Dank für die zahlreiche Unterstützung, die wir bei diesem Buchprojekt erfahren durften. Wir danken den Autorinnen und Autoren Sabine Altorfer, Silvia Buol, Claire Hoffmann, Annemarie Monteil, Susanna Petrin, Katharina Rosenstingl und Martin Zingg für ihre spannenden Textbeiträge, welche die Substanz dieses Buches bilden. Es ist uns gelungen, aus einigen Archiven bisher unbekanntes Fotomaterial zu heben; dafür danken wir Margrit Baumann, Dominik Labhardt, Silvia Bühler, Rudolf Probst, Ad Petersen, Ole Eshuis, Andres Pardey, Roland Wetzel, Annja Müller-Alsbach, Gilberte Miszczak, Kenneth Nars, Regula Anklin, Peter Herzog, Sylvia Winkelmayer, VALIE EXPORT, Kurt Kladler, Francisco Sierra, Natascha Burger, Hubert Winter, Kathleen Bühler und Therese Bhattacharya-Stettler. Weitere Unterstützung haben wir von den nachfolgenden Personen erhalten: Bice Curiger, Matthias Zehnder, Werner Lüthy, Helmut Eichenberger, Christoph A. und Dominique Bürgi, Mirjam Fruttiger, Rosmarie Anzenberger, Claus Donau, Oliver Bolanz, Karin Matt, Andrea Bikle, Jiri Oplatek, Andrea Schweiger, Lisa Wenger, Martin A. Bühler, Adrian Bühler, Martin Hug, Christof Wamister, Felix Hafner, Veronika Gutmann. In unseren Dank schliessen wir all jene ein, die nach der Manuskriptabgabe und dem Druckbeginn in irgendeiner Art und Weise zum Gelingen dieses Buches beigetragen haben. Gedruckt mit Unterstützung der Berta Hess-Cohn Stiftung, Basel. Für die Möglichkeit, die Texte als Buch herauszugeben, danken wir der ‹bz Basel›.

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Der Surrealismus als Revolte gegen die Fesseln der Vernunft Meret Oppenheim und der Surrealismus

Christian Fluri

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Mit ‹Le déjeuner en fourrure› – der berühmten Pelztasse – schuf Meret Oppenheim 1936 ein Werk, das schnell zur Ikone des Surrealismus wurde und die junge Künstlerin mit einem Schlag berühmt machte. Zur Ikone wurde die mit Pelz überzogene Tasse, weil sie zusammenbringt, was in unserem funktionalen, auf die dingliche Realität bezogenen Denken eigentlich nicht zusammen geht. Sie ist mehrdeutig und rätselhaft zugleich und folgt darin der berühmten Beschreibung des Jünglings Mervyn in den ‹Gesängen des Maldoror› von Lautréamont: «schön (…) wie die zufällige Begegnung eines Regenschirmes mit einer Nähmaschine auf dem Seziertisch». Eine Metapher, die zum ‹surrealistischen Grundsatz› wurde. André Breton setzte den Titel von Meret Oppenheims Werk anlässlich der von ihm inszenierten ‹Exposition surréaliste d’objects› in der Galerie Charles Ratton in Paris. ‹Le déjeuner en fourrure› nimmt Bezug auf Max Ernsts Bild ‹Le déjeuner sur l’herbe› aus dem gleichen Jahr, das Édouard Manets berühmtes Gemälde von 1864 herrlich parodiert, zugleich aber auch auf das impressionistische Original. Die Pelztasse mit Pelzlöffel ist in ihrem animalischen Charakter von unterschwelligem Eros, sie steht auch für das verdrängte Triebhafte, das demVernunftmenschen Angst einzujagen vermag. Daraus und aus der völlig neuen Idee und Form ist wohl die Verstörung zu erklären, die das Werk damals auslöste. Ausserdem gilt dieses Kunstobjekt, das zu den ‹Urgesteinen› der Sammlung des Museum of Modern Art in New York gehört, als Beispiel einer ‹création automatique› – was in Anlehnung an die ‹écriture automatique› einen Schaffensprozess bezeichnet, der nicht durch die Ratio gleichsam vorkontrolliert wird. ‹Le déjeuner en fourrure› wird für Meret Oppenheim aber auch zur Last, die ihre künstlerische Entwicklung erschwert. Immer wieder wird ihre Kunst auf diese eine Ikone reduziert werden. Ihr reiches, vielschichtiges Werk der folgenden Jahre läuft neben der Pelztasse unter ‹ausserdem›; nicht von ungefähr durchlebt sie in den Vierzigerjahren eine kreative und persönliche Krise. Erst nach Jahrzehnten hat sie gelernt, mit der Bedeutungsmasse dieses frühen Erfolgs spielerisch umzugehen, so im Jahr 1967, als sie an einer Retrospektive im Moderna Museet in Stockholm in einer Fernsehaufzeichnung gleichsam aus der Pelztasse trinkt. Damit

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unterläuft sie quasi den Mythos, wie Josef Helfenstein in ‹Meret Oppenheim und der Surrealismus› schreibt (siehe Literaturempfehlungen) – und verweist zugleich auf die ursprüngliche Rätselhaftigkeit ihres Kunstobjekts zurück.

Die Freiheit als Programm Pelztasse = Surrealismus = Meret Oppenheim, diese Gleichung stimmt nicht. Meret Oppenheim würde auf sie vielleicht ironisch mit der in das ‹Schulheft› gesetzten Gleichung x = Hase antworten. Mit ihr hob sie schon als Jugendliche die mathematische Logik aus den Angeln. Breton liebte ihr ‹Schulheft› als grandioses surrealistisches Zeugnis. Tatsächlich war Meret Oppenheims Schaffen zwischen 1932 bis 1937 in Paris in Form, Gestalt und Inhalt von beeindruckenderVielfalt und ganz eigenem Ausdruck. Damit erfüllte sie einen zentralen Grundsatz der Surrealisten. Denn ihnen war die individuelle Freiheit auch im künstlerischen Ausdruck ein ureigenes Anliegen. Sie verstanden Surrealismus nicht als Schule, sondern als eine Bewegung von Künstlern, die ihre eigenen Medien und Formen, ihre eigene Bildsprache entwickelten. «Einzig das Wort Freiheit vermag mich noch zu begeistern. (…) Unter so viel Ungnade bleibt uns, wie man zugeben muss, die grösste Freiheit, die des Geistes, doch gewährt», schrieb André Breton im ersten ‹Surrealistischen Manifest› von 1924. Auch Meret Oppenheim war die Freiheit in der Phantasie und in der Kunst – losgelöst von traditionellen Werten – heilig. Sie hat diese Freiheit im Denken bereits in ihrem ‹Schulheft› gefeiert und stimmt darin mit Breton überein, der im Manifest die «realistische Haltung» als «jedem intellektuellen und moralischen Aufbruch absolut feindlich» geisselt und folgert: «Sie ist mir ein Gräuel, denn sie ist aus Mittelmässigkeit gemacht, aus Hass und platter Selbstgefälligkeit.» Was die Surrealisten hier behaupteten und ihre Zeitgenossen verspotteten, wurde für die nachfolgenden Generationen zu einer historischen Erfahrung: Die naturwissenschaftliche, funktionale Logik hat kräftig mitgearbeitet an den Vernichtungsmaschinerien des 20. Jahrhunderts.

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Die Demontage von Männerphantasien Meret Oppenheim rebellierte auch gegen die der Frau zugewiesene Rolle. Schon bevor sie nach Paris ging, zerschlug die junge Frau 1931 in ihrem Aquarell ‹Votivbild (Würgeengel)›, einer Satire auf die Ikone der Maria mit dem Jesuskind, das Mutterideal: Die Mutter, die das eigene Frau-Sein vernichtet hat, presst das Blut aus dem Neugeborenen. Ein ebenso gewaltsames Bild wider die traditionelle Frauenrolle ist die Tuschezeichnung ‹Ein Knabe mit Flügeln saugt an der euterförmigen Brust einer Frau› von 1933. Meret Oppenheims auf der Traumwelt aufbauende Bildsprache ist von rätselhafter Mehrdeutigkeit und steckt voller geistiger Wider­ haken. In ‹Ma gouvernante – my nurse – mein Kindermädchen› von 1936 wird ein zusammengebundenes Paar weisse Damenschuhe auf demTablett serviert – wie ein gebratenes Poulet. Das ist eine Demontage der dominanten, bedrohlich wirkenden Mutterfigur, erzählt aber auf einer anderen Ebene auch von Männerphantasien, die den Eros der Frau ein- und abschnüren. Diese Bilder von Leblosigkeit reichen bis zur völligen Erstarrung, wie es im Ölbild ‹Steinfrau› von 1938 der Wasserfrau ergeht. Sie, die in der populär-romantischen Vorstellung verlockend und todbringend zugleich ist, ist bei Meret Oppenheim versteinert, imWasser baumeln die einer Fischflosse gleichenden Beine. Das Bild weckt Assoziationen an René Magrittes Gemälde ‹Collective Invention› (1934), in dem er die Nixe bildlich umkehrt und den Mythos kippt. In vielen surrealistischen Werken begegnen wir brutalen, zerstörerischen Männerphantasien. Sie geben den kriegerischen und zivilen Gewaltorgien faschistischer Gesellschaften und Staaten albtraumhaften bildlichen und literarischen Ausdruck. Darin liegt eine Sprengkraft surrealistischer Kunst – auch in Meret Oppenheims Werk.

Die Poesie des Traumhaften Zugleich feierte die surrealistische Kunst die poetische Kraft eines neuen, freien Denkens – eines Denkens, das sich aus den Träumen speist, diesem Königsweg zum Unbewussten. «Ich

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glaube an die künftige Auflösung von Traum und Wirklichkeit in einer Art absoluter Realität, wenn man so sagen kann: Surrealität», schreibt Breton. Das Wunderbare, das Breton im ‹Surrealistischen Manifest› preist, finden wir beispielsweise in Meret Oppenheims Bild ‹La nuit, son volume et ce qui lui est dangereux›. Auf gelber – an künstliches Licht erinnernder – Farbfläche schweben ein rechteckiger schwarzer Kubus – transparent und intransparent zugleich – und darüber ein röhrenartiges Gebilde, durch das eine schmale, lange weisse Wolke strömt. Formen, die im Grunde inhaltsleer sind, gewinnen hier etwas Geheimnisvolles und Berückendes, sie lösen im Betrachter Fragen aus. Ist dieses sich ausdehnende Weiss Symbol für ein sich ausbreitendes, nicht gebändigtes Denken? Und die Nacht? Der Klotz, von dem wir nicht wissen, ob er fällt oder schwebt, öffnet sich in unseren Deutungsversuchen traumhaft zum offenen, nicht zu vermessenden Feld.

Am Rande der Surrealisten So grandiose surrealistische Werke Meret Oppenheim auch herstellt, die junge Frau bleibt doch eine Randfigur im Kreis der älteren Künstler. Sie findet zwar über die Schweizer Künstler Alberto Giacometti und Kurt Seligmann schnell Anschluss an die Surrealisten – und diese staunen immer neu über die Arbeiten «ihres Meretleins» –, lassen sie aber doch nicht ganz in den innersten Kreis. So väterlich herablassend heute das «Meretlein» klingt, der Diminutiv ist im damaligen zeitlichen Kontext zu lesen: «Meretlein» ist der Kosename für die aus gesellschaftlichen Zwängen befreite Frau und bezieht sich auf Gottfried Kellers unergründliches, hexenhaftes Meretlein im ‹Grünen Heinrich›. Umgekehrt hält auch Meret Oppenheim selbst Distanz zum Surrealisten-Kreis – sie besteht auf Unabhängigkeit und künstlerischer Freiheit, lässt sich nicht zu sehr einbinden in die Gruppe der schon gestandenen Künstler. Sie nimmt viele Einflüsse in sich auf, aber lässt sich nicht beeinflussen, sondern entwickelt Eigenständigkeit. Ab 1937 nabelt sie sich ab von Paris, kehrt nach Basel zurück – und muss hier erfahren, dass ihrer eigenen Kunst wie

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der Gruppe der Surrealisten schlichtes Unverständnis entgegenschlägt. Im beginnenden Zeitalter der geistigen Landesverteidigung wird neue Kunst als das bedrohliche Fremde abgelehnt. Aber Meret Oppenheim geht ihren eigenen Weg und erfindet sich als Künstlerin stets neu. In der Nachkriegszeit wendet sie sich vom Surrealismus ab – nicht von ihren alten Mitstreitern aus der Pariser Zeit, sondern von den Epigonen, die den Surrealismus esoterisch verkitschen.

1 ‹Das Schulheft›, 1930 Tinte, Collage 20.5 × 33.5 cm

3 ‹Das Tragikomische›, 1944 Öl auf Pavatex 39 × 70 cm

2 4 ‹Ma gouvernante – my nurse – ‹Steinfrau›, 1938 mein Kindermädchen›, 1936 Öl auf Malkarton Objekt: weisse Damenschuhe, 59 × 49 cm Papiermanschetten, auf ovaler Metallplatte 5 14 × 21× 33 cm ‹Votivbild (Würgeengel)›, 1931 Tusche, Aquarell 34 ×17.5 cm

6 ‹Le déjeuner en fourrure›, 1936 Objekt: Tasse und Teller aus Porzellan sowie ein Löffel, alles mit einem dünnen Pelzchen überzogen Tasse Ø 11 cm, Teller Ø 24 cm, Löffel 20 cm

7 ‹La nuit, son volume et ce qui lui est dangereux›, 1934 Tusche, Öl, auf Graukarton 81 × 65 cm 8 ‹Ein Knabe mit Flügeln saugt an der euterförmigen Brust einer Frau›, 1933 Tusche 21 × 27 cm


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Vom Paradies unter der Erde bis zum Geheimnis der Vegetation Naturbezüge im Werk von Meret Oppenheim

Simon Baur

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In einem Schulheft steht eine Wurzelrechnung. Darunter wird x als Hase definiert, und es ist ein Hase zu sehen, der soeben einem Comic entsprungen ist. Eine ungewohnte Kombination: die rationale Mathematik und der lustige Hase, und es erstaunt nicht, dass sich André Breton, der Papst der Surrealisten, dafür interessierte. Dieses frühe Objekt von Meret Oppenheim – die 17-Jährige wollte damit ihrem Vater klarmachen, wie wenig sie sich für die Schule interessierte – kombiniert auf eigentümliche Weise Aspekte der Rationalität mit dem Unbewussten, für das sich die Surrealisten so sehr interessierten. Doch vielleicht steht der Hase gar für noch grössere Zusammenhänge, wie sie der Kritiker in den ‹Basler Nachrichten› anlässlich ihrer ersten Einzelausstellung 1936 sah: Bei ihren Arbeiten handle es sich um «Konglomerate aus Psychologie, Psychopathologie, der Neurotik, Angst und Alb, Schrecken und Traum, Spiel und tieferem Sinn». Die Naturbezüge in Meret Oppenheims Werken können folglich sehr weitreichend sein, und sie passen in jedem Fall wunderbar zum Surrealismus. Robert Kopp hat in seinem Aufsatz ‹Wenn Bilder die Welt verändern könnten› das surrealistische Bild in seiner gesamtenVielfalt definiert: «Surrealistische Bilder sind Funken, Blitze, Illuminationen, die für einen Augenblick die Nacht zerreissen. Es sind Bilder desTraumes, der Halluzination, sie entstehen unter dem Einfluss von Drogen oder Hypnose. Sie werden nicht bewusst produziert, sondern entspringen dem Unbewusstsein. Sie haben nicht schön zu sein, sondern unerwartet, wie die zufällige Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch in ‹Les Chants de Maldoror› von de Lautréamont. ‹Rein psychischer Automatismus, durch den man mündlich oder schriftlich oder auf jede andere Weise den wirklichen Ablauf des Denkens auszudrücken sucht. Denkdiktat ohne jegliche Kontrolle durch die Vernunft, jenseits jeder ästhetischen oder moralischen Überlegung›. André Breton hielt stets an dieser Definition fest, nicht um Kunst oder Moral geht es ihm, sondern um Freilegung unbewusster Kräfte.» Sicherlich ist das x in Hasenform eine solche Kraft. Im Februar 1933 entsteht die Zeichnung ‹Zwei Vögel (Wachtraum)›, zu der Meret Oppenheim schreibt: «Die Vögel näherten sich einander

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mit geöffneten Schnäbeln. Als ihre Zungen sich berührten, entstand ein leuchtend roter Edelstein.» Zudem steht auf der Vorderseite: «C’est pour la nouvelle magie. Wachtraum. Das gleiche Motiv sah ich in einer Ausstellung von Südsee-Kunst in Basel, ein paar Monate später (Vier Südsee-Kulturen – Juni – Juli 1933).»

Natur als mystische Erfahrung Ist diese neue Magie identisch mit den Aspekten, wie sie in Robert Kopps Definition auftauchen? Auch eines von Meret Oppenheims Hauptwerken, das grossformatige Gemälde ‹Das Geheimnis der Vegetation› von 1972, geht auf einenTraum zurück, den sie mehr als zwanzig Jahre früher hatte. «Ich ging auf einem steinigen Pfad einen Berg hinauf (es war der San Salvatore). Ich sah meine Freundin Irène Zurkinden in sonnendurchschienenem hellgrünem Gebüsch stehen. Auch ihre Wimpern und Haare (die von Natur blond sind) hatten einen grünen Schimmer. Ich sagte: ‹Ich bin das Geheimnis der Vegetation.›» Im Bild taucht zusätzlich als wichtiges neues Element die Schlange auf, die in zwei Bahnen die symmetrisch angelegte Komposition senkrecht durchläuft. Jedoch wird hier das geträumte Naturerlebnis in eine abstrakte Komposition übertragen; statt einer Frau alsVerkörperung des Mysteriums der Natur sind es abstrakte Zeichen: eine grosse weisse Fläche im Hintergrund, die wie eineTür in eine lichtdurchflutete Traumwelt, vielleicht das Paradies, erscheint; dazu ein weisser Kreis und eine blaue Augenform, die als polare Kräfte zu erkennen sind. Zusätzlich wird das Bild von grünen Rhomben überzogen – ganz ähnliche tauchen in ‹Dunkle Berge, rechts gelb-rote Wolken› (1977–1979) und ‹Teich in einem Park› (1961–1975) auf –, zwischen denen sich leere weisse Rechtecke tummeln. Hier ist sie, diese Art von Illumination und Geistesblitz, wie wir sie in der Natur immer wieder finden.

Unerwartete Begegnungen 1940 – in einem Jahr, das man gemeinhin Meret Oppenheims persönlicher wie künstlerischer Krise zurechnet – entsteht die

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