Übermensch - Friedrich Nietzsche und die Folgen

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Friedrich Nietzsche und die Folgen

Christoph Merian Verlag

Herausgegeben von Benjamin Mortzfeld fĂźr das Historische Museum Basel


Inhaltsverzeichnis 4 Vorwort Historisches Museum Basel 6 Andreas Urs Sommer An Nietzsche wachsen. Eine Einleitung 10 Armin Thomas Müller Nietzsches Jugendlyrik 16 Hans Gerald Hödl Nietzsche als Schüler und Student 20 Andrea Bollinger Nietzsche und Basel 26 Francisco Arenas-Dolz Friedrich Nietzsche in seinen Vorlesungen 32 Patrick Wotling Wagners Bedeutung für Nietzsche 37 Emil Walter-Busch Burckhardt, Bachofen und Nietzsches «Basler Welt » 42 Barbara von Reibnitz Nietzsche und Overbeck 47 Hubert Treiber Paul Rée und Nietzsches «Réealismus» 50 Fernando R. de Moraes Barros Heinrich Köselitz alias Peter Gast. Freund, Gefolgsmann, Komponist und Musikdenker 54 Christian Niemeyer Elisabeth Förster-Nietzsche (1846–1935) 58 Mike Rottmann Nietzsche als Leser und Exzerptor

64 Pia Daniela Schmücker Schlangengift und Feuerzeichen. Anmerkungen zu Nietzsches Gesund und Kranksein 6 8 Hans-Peter Anschütz Schopenhauer und der frühe Nietzsche 72 Carlotta Santini Nietzsche und die Altertumswissenschaft 76 Enrico Müller Zwischen Traum und Rausch. Zu Nietzsches ‹tragischer › Kunstphilosophie 80 Vivetta Vivarelli Der Nietzsche der radikalen Aufklärung. Leben und Denken als ‹freier Geist › 84 Sebastian Kaufmann Nietzsche als Lyriker 90 Volker Gerhardt Leben im freien Fall. Philosophieren nach dem Tod Gottes 94 Beatrix Himmelmann Glück, Wille und Macht bei Kant und Nietzsche 99 Katharina Grätz ‹ Also sprach Zarathustra› als weltliches Evangelium und als Parodie: Zarathustra-Welten 103 Paolo D’Iorio Die ewige Wiederkunft des Gleichen


110 Jakob Dellinger Der «Wille zur Macht – und Nichts ausserdem»? Zur Problematik des Leitbegriffs von Nietzsches vermeint- lichem Hauptwerk 114 Claus Zittel Ästhetische Kalküle in Nietzsches Moralkritik 117 Heinrich Meier Die «Umwerthung aller Werthe» und das philosophische Leben 122 David Marc Hoffmann Das Nietzsche-Archiv in Weimar und die Basler Nietzsche-Tradition 126

Axel Pichler Von Zahnbürsten und dem «Glück des Greises». Nietzsches Nachlass und ‹Der Wille zur Macht ›

132 Ralf Eichberg Frühes Nietzsche-Gedenken in Naumburg und Röcken 137 Renate Reschke Friedrich Nietzsche in der bildenden Kunst 141

Matthias Politycki Schatz im Silbersee. Wie ich der Nietzscheaner wurde, der ich schon als Schüler zu sein glaubte

145 Milan Wenner Nietzsche in der politischen Rechten 1933–1945

149 Robert Krause Linke Intellektuellen-Dämmerung. Nietzsche in der frühen Kritischen Theorie 153 Magnus Striet Nach dem Tod Gottes. Zwischen heroischem Realismus und Melancholie 157 Helmut Heit Nietzsches Nachwelten: Nietzsche in den (Philosophien der) Wissenschaften 162 Markus Wild Nietzsches Naturalismus 167 Benjamin Mortzfeld Katalog 274 Siglenverzeichnis 275 Namensindex 278 Bibliografie 290 Abbildungsverzeichnis 292 Dank/Impressum


Vorwort Am 15. Oktober 2019 jährt sich der Geburtstag von Friedrich Nietzsche zum 175. Mal. Gleichzeitig ist es 150 Jahre her, dass der aus Röcken stammende Pfarrerssohn, der in Bonn und Leipzig klassische Philologie studiert hatte, ohne Habilitation eine Professur an der Universität Basel antrat. Die Stadt zählte damals rund 45 000 Einwohner und befand sich wegen der Industrialisierung in einem radikalen Wandel. Sie liess beispielsweise ihre jahrhundertealten Befestigungsanlagen niederreissen, um Platz für die zuziehende Arbeiterbevölkerung zu schaffen. 1869 führte das vergleichsweise fortschrittliche erste Basler Fabrikgesetz den 12-Stunden-Tag ein, Samuel Bell legte mit seiner ‹Ochsenmetzg› den Grundstein für den bald grössten Schlachtbetrieb der Schweiz, und das selbstbewusste Bürgertum begann mit dem Bau der Kunsthalle Basel. Die altehrwürdige Universität jedoch litt noch immer an den finanziellen Folgen der Kantonstrennung von 1832/33, während ihr mit den 1832 und 1835 neu gegründeten Universitäten in Zürich und Bern sowie dem 1855 eröffneten eidgenössischen Polytechnikum ( heute ETH ) neue Konkurrenten erwuchsen. Es fehlte daher in Basel einerseits an Studenten und andererseits an Haushaltsmitteln, um vakante Lehrstühle zu besetzen. Folglich musste die Universität in ihrer Personalpolitik unkonventionelle Wege beschreiten, was zur Berufung einer Reihe sehr junger, erst viel später renommierter Forscher führte. Auch Friedrich Nietzsche kam unter diesen Umständen zu seiner Basler Professur. Ihn unterstützte nach dem frühen, krankheitsbedingten Ende seiner Lehrtätigkeit im Jahr 1879 die Freiwillige Akademische Gesellschaft zusammen mit dem Kanton Basel-Stadt und dem Heusler’schen Vermächtnisfonds mit einem Ruhegehalt, von dem er fortan lebte. Zu Ehren des während zehn Jahren in Basel wirkenden Freidenkers veranstaltet das Historische Museum Basel eine Sonderausstellung, die den Altphilologen, den Philosophen und den Menschen Friedrich Nietzsche mit seinem Umfeld vorstellt und die weitreichenden Folgen seiner Ideen bis in unsere Gegenwart mit in den Blick nimmt. Naturgemäss können eine Ausstellung und eine Publikation sein unstetes Leben, sein facettenreiches Werk und seine intensive Wirkungsmacht nur in Ausschnitten beleuchten. Wir verstehen die von uns ausge-

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wählten Schlaglichter daher als Einstieg und Appetitanreger für Interessierte. Schau und Publikation verschaffen eine Grundlage zum Verständnis des Phänomens Friedrich Nietzsche und offerieren gleichzeitig viele mögliche Anknüpfungspunkte, sich im Anschluss vertiefend mit weiteren Gedanken und Schriften des Philosophen auseinanderzusetzen. Die Besucherinnen und Besucher werden feststellen, dass Nietzsche sich nicht in griffigen Aphorismen und geistreichen Zitaten für jede Lebenslage erschöpft. Dass diese Ausstellung und die Begleitpublikation überhaupt realisiert werden konnten, haben wir dem Nietzsche-Kenner und -Aficionado Peter Buser zu verdanken, der spontan, unkonventionell und unbürokratisch das Projekt mit einer ausserordentlichen Spende gerettet hat. Dafür gebührt ihm unser allerherzlichster Dank. Besonders danken möchten wir auch unserem wissenschaftlichen Beirat Andreas Urs Sommer, der schon vor dem Amtsantritt des unterzeichnenden Direktors begann, dessen Nietzsche-Fantasien zu befeuern, und der seither mit Verve und Nachdruck das Projekt begleitet und konzeptionell geformt hat. Ein grosser Dank gilt ausserdem den Autorinnen und Autoren für ihre Beiträge, Enrico Müller für das behutsame Fachlektorat, Rosmarie Anzenberger für das Korrektorat, Natascha Jansen für die Neuaufnahmen zahlreicher Exponate und Thomas Dillier für die gelungene Gestaltung des Buches. Danken möchten wir auch dem Christoph Merian Verlag für die angenehme Zusammenarbeit und die Aufnahme in sein Verlagsprogramm. Grossen Dank für einen weiteren Unterstützungsbeitrag schulden wir der Stiftung für das Historische Museum und ihrem Präsidenten Bernhard Burckhardt. Ebenso danken wir Christian Stauffenegger und Christoph Stadelmann von Stauffenegger + Partner, Basel für das Design der Ausstellung, Philipp Emmel und Tweaklab für die Medienstationen, Christiane Hoffmann für die Übersetzung der französischen Texte und Francesca Cauchi für die Redaktion der englischen Texte. Unser Dank schliesst auch David Marc Hoffmann für zahlreiche Hilfestellungen und Ratschläge mit ein. Schliesslich danken wir allen Leihgeberinnen und Leihgebern ganz herzlich dafür, dass sie unsere Ausstellung mit ihren zahlreichen Kostbarkeiten Realität werden liessen. Marc Fehlmann, Direktor Benjamin Mortzfeld, Kurator

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An Nietzsche wachsen Eine Einleitung Andreas Urs Sommer Wir sind Friedrich Nietzsche nicht gewachsen. Oder warum sonst kursieren so viele einander widersprechende Vorstellungen von diesem enfant terrible der Philosophie, die jeweils einen einzelnen Aspekt herausgreifen, zum allein Wichtigen erklären und monströs vergrössern? Die Geistes- und Kulturgeschichte der letzten hundertfünfzig Jahre liefert dazu überaus reichhaltiges Anschauungsmaterial: Nietzsche als Fetischist des ungehemmten ‹Übermenschen› oder als Verkörperung von ‹Entartung›, als imperialistischer Machtwillensprediger oder als antiimperialistischer Widerständler, als Proto-Nazi oder als guter Europäer, als Antisemit oder als Anti-Antisemit, als Queer-Denker oder als Quer-Denker. Wir scheinen Friedrich Nietzsche nicht gewachsen zu sein, wenn wir ihn in so viele und so unterschiedliche Facetten aufsplittern müssen. Dieses Buch bündelt – zusammen mit der Ausstellung im Historischen Museum Basel aus Anlass von Nietzsches 175. Geburtstag – Versuche international renommierter Fachleute, möglichst zahlreiche dieser Facetten zu veranschaulichen. Es zeigt zunächst, wie Nietzsches Lebenswelten gewachsen sind: seine Herkunft aus dem protestantisch-preussisch-sächsischen Milieu, seine mittels historisch-philologischer Wissenschaft betriebene Emanzipation aus der familiären Erwartungsschablone, wie der Vater Pastor zu werden, seine Zeit als Altphilologie-Professor in Basel und seine Jahre als freischaffender Philosoph im Austausch mit Freunden und Feinden, schliesslich sein Abtauchen in die geistige Umnachtung und sein Aufstieg zum ideenpolitischen Vermarktungsobjekt in den geschäftstüchtigen Händen seiner Schwester. Dieses Buch will sodann wesentliche Facetten von Nietzsches Denkwelten zum Leuchten bringen: seinen frühen Zugriff auf die Alten und den Versuch, die Philologie als Leitwissenschaft zu etablieren, seine Hinwendung zu Arthur Schopenhauer und Richard Wagner im Bestreben, seiner Gegenwart eine kulturphilosophische Radikalkur angedeihen zu lassen. Seine Erfindung einer sich stetig radika-

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lisierenden Aufklärung, die dem freien Geist die Zügel schiessen lässt, in Aphorismen-Büchern ebenso wie als abenteuerlicher Lyriker. Seine Diagnose vom ‹Tode Gottes›, die eine neue Art des Weltumgangs, eine neue Art der Glückserschaffung und eine neue Art der Willensbestimmung herausfordert. Sein bekanntestes Werk, ‹ Also sprach Zarathustra›, das einerseits philosophische Heilslehren – ‹Übermensch›, ‹ewige Wiederkunft des Gleichen›, ‹Wille zur Macht › – in Aussicht zu stellen scheint und sich andererseits parodistisch immer wieder selbst ins Wort fällt, jegliche Festlegung aufweicht und experimentell hintertreibt. Sein Bemühen, die Gründe und Abgründe jener Moral zu erforschen, deren Geltung Nietzsches Zeitgenossen genauso unbedingt und unverbrüchlich erschien wie manchen noch heutzutage. Sein Bestreben, «große Politik» zu machen und mittels einer «Umwerthung aller Werthe» den Moral-, Denk- und Gefühlshaushalt des Abendlandes vollständig umzustürzen und neu zu prägen – und sich dafür doch wieder ins Gewand des verschmähten Erlösers zu hüllen. Endlich seine Sicht auf ein gelingendes philosophisches Leben. Das Buch fördert schliesslich vielfältige Facetten von Nietzsches Nachwelten ans Licht. Nietzsches Denken und Nietzsches Existenz haben fast alle Bereiche der intellektuellen Selbstverständigung der Moderne mit geprägt. Sich mit ihm auseinanderzusetzen, ist geradezu zum Kriterium von Modernität geworden – keineswegs nur an den Stätten, die sich seinem Erbe verpflichtet wähnten, dem Nietzsche-Archiv in Weimar und bei den Archiv-Gegnern in Basel, an den heutigen Nietzsche-Institutionen in Sachsen-Anhalt, in Sils-Maria und rund um den Globus. Nietzsche ist vielfältig Literatur und Kunst geworden und heute noch ein Treibmittel kulturellen Schaffens. Politisch beflügelt er die Rechten, aber auch die Linken, Identitäre und Nicht-Identitäre. Nietzsche ist für Theologen ein Stein des Anstosses und für die Wissenschaften eine Provokation; er ist ein Abgott sowohl der Postmodernen als auch der Posthumanisten – und zugleich ihr Abdecker. Und Nietzsche bleibt eine Ikone der Populärkultur. Es mag sein, dass wir Nietzsche nicht gewachsen sind. Aber die Moderne ist an ihm, mit ihm, gegen ihn gewachsen. Dieses Buch soll auch sichtbar machen, wie jede und jeder mit ihm wachsen kann. Er wächst mit uns, gegen uns. Und wir mit ihm, gegen ihn.

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ESSAYS 9


Nietzsches Jugendlyrik Armin Thomas Müller

Abb. 1 Titelblatt des Manuskripthefts ‹Poesie II›, Mp I 22 (1858)

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Nietzsche verfasste von Kindesbeinen an Gedichte. Aus dem Nachlass der 1850er- und 1860er-Jahre, seiner Schüler- und Studentenzeit, sind über dreihundert lyrische Texte erhalten, die er zu grossen Teilen in eigens angelegten Manuskriptheften niedergeschrieben hat (Abb. 1). Hinzu kommen zahlreiche Verzeichnisse der eigenen Gedichte des Heranwachsenden (Abb. 2), Ferienarbeitspläne, die gesonderte Stunden für «Poesie» vorsehen (vgl. KGW I/2, S. 301 f.), und diverse poetologische Erwägungen in nachgelassenen Prosa-Aufzeichnungen und Briefen (vgl. KGW I/2, S. 116, 135 sowie Brief Nr. 55, KSB 1, S. 47–50), aus denen das Ziel des jungen Nietzsche hervorgeht, «sich zum Dichter auszubilden» (Pestalozzi 1984, S. 103). Rückblickend datiert er den Beginn seiner selbstauferlegten Dichterausbildung auf den « 2ten Februar 1858» («meiner lieben Mutter Geburtstag»); dort nahm er sich vor, zukünftig « jeden Abend ein Gedicht zu machen» (KGW I/1, S. 307), wie es in der autobiografischen Nachlassschrift ‹ Aus meinem Leben› vom Herbst 1858 heisst. Noch 1862/63 betonte Nietzsche in einer poetologisch-auto(r)genealogischen Aufzeichnung den handwerklichen Ausbildungscharakter seines Dichterdaseins, denn es sei keineswegs so, dass «man Dichter ist », als solcher «geboren wird », sondern vielmehr, dass man «Dichter wird », weshalb «aus dem fleißigen Reimschmied bei wachsender geistiger Fähigkeit auch schließlich ein wenig Dichter werden kann» (KGW I/3, S. 24). Mit seinen Jugendfreunden Wilhelm Pinder und Gustav Krug gründete er sogar einen literarischen Verein namens ‹Germania›, der die drei Mitglieder dazu verpflichtete, in regelmässigen Abständen wissenschaftliche oder künstlerische Leistungen zu erbringen, wobei vorzugsweise Gedichte präsentiert und kritisiert wurden. Nietzsches Äusserungen zur eigenen Lyrik werden indes mehrheitlich von einer wechselhaften Selbsteinschätzung geprägt, die mitunter auch Züge einer Selbstinszenierung annimmt (dazu Hödl 2009, S. 132–185): Einerseits bezeugt die intensive theoretische wie praktische poetische Beschäftigung (und deren briefliche Mitteilung ) ein starkes künstlerisches Selbstbewusstsein (vgl. etwa Brief Nr. 55, KSB 1, S. 48 oder Brief Nr. 325, KSB 1, S. 220), andererseits tritt in verschiede-


Abb. 2 Gedichtliste des jungen Nietzsche im Manuskriptheft Mp I 19, S. 18 (1858)

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nen Texten ein ausgeprägter Hang zur Selbstkritik zutage, der in behaupteten Autodafés (vgl. KGW I/4, S. 516) seinen Höhepunkt findet. Das Bedürfnis, sich dichterisch weiterzuentwickeln, aber auch Zweifel, ob und wie dies möglich sei, gehen beim jungen Nietzsche Hand in Hand. Die Nachwelt hat Nietzsches Jugendgedichte wiederholt als epigonale Lyrik abqualifiziert (etwa Meyer 1991, S. 404). Dieser Vorwurf ist durchaus gerechtfertigt, denn die frühen poetischen Gehversuche des Dichters Nietzsche reagieren vielfach auf das breite Spektrum der kanonischen deutschen Dichtung um 1850. Die Abhängigkeit von der Tradition betrifft sowohl den Stoff wie den Stil, die Motivik als auch die Form der Jugendgedichte. Ordnen lässt sich das Korpus des frühen lyrischen Nachlasses topisch in Themenkreise wie antikisierende, romantische oder geistliche Lyrik, gattungspoetologisch in Beiträge zu traditionsreichen Genres wie Busslied, Gespensterballade, Burggedicht, oder nach Strophenform-Adaptionen. So finden sich im Nachlass etwa Sonette, verschiedene Kirchenlied- und Volksliedstrophen, aber auch Distichen. Freilich verlaufen die Grenzen dabei jeweils fliessend. Konkrete Vorlagen für einzelne nachgelassene Gedichte und/oder deren Entwürfe sind häufig schnell zu identifizieren: ‹Der alte Barbarossa ruht ...› (KGW I/1, S. 268 f.) etwa hängt von den Barbarossa-Gedichten Friedrich Rückerts und Emanuel Geibels ab, ‹Hecktors Abschied › (KGW I/1, S. 261 f.) ist der Versuch, Schillers titelgleiches Gedicht formal zu übertreffen (vgl. Ziemann 1994, S. 181–184), und das bekannteste Jugendgedicht, ‹Noch einmal eh ich weiter ziehe ...› (KGW I/3, S. 391), das von Elisabeth Förster-Nietzsche fälschlicherweise mit dem Titel ‹Dem unbekannten Gott › versehen wurde, stellt eine Kontrafaktur von Balthasar Münters Kirchenlied ‹Mein Gott! du bist’s, zu dem ich flehe› aus dem zeitgenössischen Evangelischen Gesangbuch der Stadt Halle dar (Pestalozzi 1984, S. 104–109). Dennoch ist der Vorwurf der Epigonalität zumindest insofern zu relativieren, als ein Epigone auch als «[ l]iterarisch kenntnisreicher Autor » begriffen werden kann, «der seine Leistung, auch kreativ, aus dem literarischen Verfügenkönnen über eine qualitativ, thematisch und formal vielfältige literarische Vergangenheit bezieht » (Harms 2007, S. 457; vgl. auch Ziemann 2011, S. 150). Nicht von der Hand zu weisen ist ausserdem, dass Nietzsches Jugendgedichten vielfach ein Wille zur Eigenständigkeit

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Abb. 3 Unveröffentlichte Vorarbeiten zum nachgelassenen Gedicht ‹Der Geist› in Mp I 19, S. 35 (1858)

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Abb. 4 Unveröffentlichte Vorarbeiten zum nachgelassenen Gedicht ‹Der Geist› in Mp I 19, S. 36–37 (1858)

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anzumerken ist, der sich mit wachsender Erfahrung sukzessive Bahn bricht: beispielsweise in der eigenwilligen Wahl tradierter Motive, in unkonventioneller metrischer Akzentsetzung oder in der experimentellen Mischung von Genreversatzstücken. So zeigt das Gedicht ‹Der Geist › (KGW I/1, S. 241, vgl. dazu Müller 2019) von 1858 exemplarisch, wie der junge Nietzsche mit geistlich-weltlichen Mischformen experimentiert. Vor diesem Hintergrund ist Nietzsches epigonale Jugendlyrik bei aller Abhängigkeit von der Tradition zumal aus literaturgeschichtlicher Perspektive ein lohnender Forschungsgegenstand. Dies gilt für die Editionsphilologie ebenso wie für die historische Quellenforschung und Hermeneutik, denn eine vollständige Ausgabe von Nietzsches frühem Nachlass, die heutigen editionsphilologischen Standards entspräche, liegt noch immer nicht vor. Die erste Abteilung der ‹Kritischen Gesamtausgabe der Werke› folgt weitgehend der


1938 abgebrochenen ‹Historisch-Kritischen Gesamtausgabe› von Hans Joachim Mette und geht hinsichtlich des edierten Manuskriptbestands nur unwesentlich über sie hinaus; die ‹Kritische Gesamtausgabe› löst ferner den ursprünglichen handschriftlichen Zusammenhang der Texte zugunsten einer chronologischen Anordnung auf, verzichtet auf die zahlreichen stark bearbeiteten Entwürfe in den Manuskripten und präsentiert somit nur eine geglättete Auswahl des frühen Nachlasses. Die Möglichkeit, dem selbsternannten « verwegene[n] Dichter-Philosoph[en]» (NL 1886–87, 6[22], KSA 12, S. 240) bei der Aneignung seines dichterischen Handwerks über die Schulter zu schauen, wird deutlich eingeschränkt, indem die Schreibprozesse verhüllt werden, die immer wieder auch die hermeneutisch reizvollen Versuche Nietzsche bezeugen, sich von seinen Vorlagen zu emanzipieren (vgl. Müller 2020). Die Vorarbeiten zum Gedicht ‹Der Geist › auf den Seiten 35 bis 37 des Manuskriptheftes Mp I 19 (Abb. 3–4), die Nietzsche ausweislich der Streichungen, Einfügungen und des Tintenwechsels (S. 35, letztes Drittel) mehrfach überarbeitete, bevor er das fertige Gedicht auf den Seiten 5 bis 6 ins Reine schrieb, geben einen beispielhaften Einblick in die poetische Schreibwerkstatt des jungen Nietzsche, in der es noch viel zu entdecken gibt.

Literatur Müller 2017 Müller, Armin Thomas: Nietzsches Jugendlyrik am Beispiel des Gedichtzyklus In der Ferne. In: Grätz, Katharina/ Kaufmann, Sebastian (Hg.): Nietzsche als Dichter. Lyrik – Poetologie – Rezeption (Nietzsche-Lektüren, Bd. 1). Berlin/ Boston 2017, S. 25–46. Pestalozzi 1984 Pestalozzi, Karl: Nietzsches Gedicht «Noch einmal eh ich weiter ziehe ...» auf dem Hintergrund seiner Jugendlyrik. In: Nietzsche-Studien 13, 1984, S. 101–110. Ziemann 1994 Ziemann, Rüdiger: Abschiede. Zu zwei Jugendgedichten Nietzsches. In: Nietzscheforschung 1, 1994, S. 181–190.

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Nietzsche als Schüler und Student Hans Gerald Hödl Nietzsche, in eine Pastorenfamilie mit langer Tradition hineingeboren, war von Geburt an für das Pastorenamt vorgesehen, wie mehrere Dokumente belegen. Der Ausbildungsweg, der ihn dahin führen sollte, ist im Goethe- und Schiller-Archiv der Stiftung Weimarer Klassik bestens dokumentiert: Belege über Schulgeldzahlungen der Mutter, Zeugnisse und Aufzeichnungen Nietzsches in nachgelassenen Notizheften. Darüber hinaus hat bereits der Schüler auf seinen Bildungsgang reflektiert und für sich ein eigenes ‹Bildungsprogramm› entworfen. Dieses kann man unter anderem seinen Autobiografien entnehmen, die teils anlassbezogen entstanden (als Schulaufsätze), teils offensichtlich aus eigenem Antrieb. Der Dreizehnjährige verfasst 1858 eine Lebensbeschreibung, die im Druck an die dreissig Seiten ergibt (KGW I/1, S. 282–311). Dort nimmt er auch Bezug auf einzelne Stationen seines bisherigen Bildungswegs, der ihn von der Bürgerschule über ein Privatinstitut zur Vorbereitung auf das Gymnasium in die Untertertia des Naumburger Domgymnasiums führte. Die Freunde Gustav Krug und Wilhelm Pinder, mit denen er das begeisterte Interesse für die Ereignisse im Krimkrieg, das Soldatenwesen und für Literatur und Musik teilte, die mit ihm auch kleine selbstgefertigte Theaterstücke aufführten, verbleiben am Naumburger Gymnasium, während Nietzsche im Herbst 1858 nach Schulpforta wechselt. Damit besucht er eine prestigeträchtige Eliteschule, in der künftige höhere Beamte, Pastoren und Universitätsprofessoren ausgebildet werden, zur Zeit Nietzsches etwa Paul Deussen, der bedeutende Indologe. Ein Scherzgedicht Nietzsches auf Deussens Nase aus dem Jahr 1861 ist erhalten (KGW I/2, S. 304 f.). In dem vor Naumburg gelegenen Internat, eine Art ‹Schulstaat ›, in dem auch die Lehrenden – zumeist solche mit wissenschaftlichen Meriten – lebten, sollte neben der theoretischen Ausbildung auch die Charakterformung durch strikte Regelung des Tagesablaufs erreicht werden. Die Strenge der Erziehung hat Nietzsche selbst zu spüren bekommen, als er einmal wegen – harmloser – Witzeleien auf dem

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«Hausinspectionszettel» seiner Würde als «Primus» der Klasse verlustig ging. Ein zweites Mal widerfuhr ihm dieses Schicksal wegen unerlaubten Verlassens des Schulgeländes. In seinem Abiturzeugnis ist vermerkt, er habe sich, «nachdem er in der mittleren Zeit [...] einige Male durch Übertretungen [...] Anstoß erregt [...] in der letzten Zeit [...] frei von Vorwurf erhalten». Man lobt sein «ernstes und verständiges Wesen» und sein gutes Verhältnis zu den Mitschülern. Der Fokus im Unterricht lag auf Latein, Griechisch, Deutsch, Geschichte und Mathematik. Es wurden lateinische Aufsätze als Hausarbeiten verfasst, zu Themen wie ‹Warum ging Cicero ins Exil?›, aus den Briefen des römischen Rhetors gearbeitet (KGW I/2, S. 416–427). Aus der Prima ist ein umfangreicher Aufsatz zum ersten Chorlied im ‹Oedipus Rex› erhalten, lateinisch, deutsch und griechisch abgefasst (KGW I/3, S. 329– 364). Die Genauigkeit des Geschichtsunterrichts dokumentieren noch unveröffentlichte Mitschriften, mit heutigen Vorlesungsmitschriften vergleichbar. Erhalten sind auch Exzerpte aus historischen Werken, wohl teils aus eigenem Antrieb, teils im Rahmen des Unterrichts erstellt. Den Kontakt mit seinen Naumburger Freunden pflegt er über den Freundschaftsbund ‹Germania›, der die drei verpflichtet, einander literarische oder musikalische Werke vorzulegen und die Einsendungen der anderen jeweils zu kritisieren. Letztere Aufgabe scheint vor allem Nietzsche wahrgenommen zu haben (KGW I/3, S. 133–142), 1862/63 war er wohl auch der Einzige, der noch Beiträge lieferte (KGW I/3, S. 143). Er legte der ‹Germania› oft für die Schule verfasste Arbeiten vor. Ausnahmen bilden etwa ein ‹Synodenvortrag› über Byron (KGW I/2, S. 344–350) und die philosophische Reflexion ‹Fatum und Geschichte›, unter dem Eindruck der Lektüre Ralph Waldo Emersons entstanden, in der sich erstaunliche Vorwegnahmen späterer sprachund erkenntniskritischer Ansätze zeigen (KGW I/2, S. 431–437). Dem Freundschaftsbund ‹Germania› hat er in den Basler Bildungsvorträgen ein literarisches Denkmal gesetzt (KGW III/2, S. 145 f.). Nach dem Abitur studiert Nietzsche zuerst in Bonn Theologie und Klassische Philologie, wobei er mehr Interesse an der Philologie zeigt. Das Theologiestudium wird er bald ad acta legen, wohl auch unter dem Eindruck der Lektüre von David Friedrich Strauss’ ‹Das Leben Jesu ›, und sich der Philologie zuwenden. Später hat er diese Abwendung von der Theologie hin zur Philologie nach dem Vorbild des grossen Philologen Friedrich August Wolf, der der biblischen Quellen-

Abb. 1 Nietzsche als Konfirmand, vermutlich am 10. März 1861 Fotograf: Gustav Schultze, Naumburg

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Abb. 2 Kanonier Nietzsche bei der Feldartillerie, Anfang August 1868 Fotograf: Ferdinand Henning, Naumburg

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kritik in der Homerkritik vorgearbeitet hatte, stilisiert. In Bonn hört Nietzsche auch die Vorlesung ‹ Allgemeine Geschichte der Philosophie› bei Carl Schaarschmidt, einem ‹Pfortenser ›, den er auch persönlich besuchte. Hier dürfte er mit Schopenhauers Philosophie bekannt gemacht worden sein, die ihn in seinem Frühwerk stark beeinflusste und in den späteren Werken stets ein wichtiger, wenn auch kritisch kommentierter Bezugspunkt blieb. Die Vorlesungsmitschrift belegt, dass Nietzsche hier mit indischem Denken, insbesondere dem Buddhismus, in Berührung kam (vgl. Figl 1988). Er tritt einer Burschenschaft bei, allerdings verlässt er diese, enttäuscht vom Vereinsleben, noch im ersten Jahr seiner Mitgliedschaft (KGB I/2, S. 88 f.). Im Jahr 1866 wechselt Nietzsche den Studienort und folgt seinem Lehrer Friedrich Ritschl nach Leipzig. Ihm wird er bald die Berufung auf den Lehrstuhl in Basel, ohne eine Dissertation abgeschlossen zu haben, verdanken. Hier studiert er gemeinsam mit Erwin Rohde, der ihm, trotz manch späterer Differenzen, ein Leben lang verbunden bleiben wird. 1866 noch von der Einberufung verschont, leistet Nietzsche von Herbst 1867 bis Herbst 1868 seinen Militärdienst ab, wobei er sich bei einem Sprung auf das Pferd eine Verletzung im Brustbereich zuzieht, die langwierige Komplikationen nach sich ziehen wird (vgl. Janz 1981, S. 223–236). In Leipzig begegnet er auch zum ersten Mal Richard Wagner, am 8. November 1868. Der ‹Zauberer › (wie ihn Nietzsche später charakterisieren wird) zieht den jungen Mann sofort in seinen Bann, und dieser beschäftigt sich intensiv mit dem Œuvre des Meisters ( Janz 1981, S. 248 ff.). In der Leipziger Zeit erarbeitet sich Nietzsche über seine philologischen Studien einen Zugang zur Philosophie, die in der Basler Zeit mehr und mehr die Philologie aus dem Zentrum seiner wissenschaftlichen Interessen verdrängen wird. Zunächst beschäftigt er sich intensiv mit dem Philosophiehistoriker Diogenes Laertios, wobei er sich zunächst text- und quellengeschichtlichen Fragen widmet, welche Thematik er auch am Anfang seiner Professorentätigkeit weiter behandelt. Diese Arbeiten zeigen, dass er das Handwerkszeug der klassischen Philologie seiner Zeit perfekt beherrscht. Er kommt dadurch aber auch zum Studium der antiken Materialisten, insbesondere Demokrits, und neben Platonkritik, die auf seine späteren Invektiven gegen den Platonismus vorausweist, wird für ihn in philosophischer Hinsicht die Frage nach der Teleologie virulent. Wichtig in diesem Zusammenhang wird die Lektüre von Fried-


rich Albert Langes ‹Geschichte des Materialismus›, die Nietzsche dazu bringt, die Metaphysik von der wissenschaftlichen Weltbetrachtung zu sondern. In einem Brief an Paul Deussen führt er aus, dass die Metaphysik, insofern sie einem Gemütsbedürfnis folge, Religion sei, und insofern sie «Begriffsdichtung» darstelle, der Kunst zuzuschlagen sei (KGB I/2, S. 269). Zu diesen Thematiken, die seine spätere Metaphysikkritik ankündigen, kommt das eher philologisch angelegte Projekt einer «Geschichte der litterarischen Studien», das wissenschaftstheoretische Ansätze in Hinblick auf die Philologie aufweist und auch in der Basler Zeit noch von Bedeutung sein wird (Zusammenfassung bei Hödl 2009, S. 133–303).

Literatur Figl 1988 Figl, Johann: Die Buddhismus-Kenntnis des jungen Nietzsche. In: Gössmann, Elisabeth/Zobel, Günter (Hg.): Das Gold im Wachs. Festschrift für Thomas Immoos. München 1988, S. 499–511. Hödl 2009 Hödl, Hans Gerald: Der letzte Jünger des Philosophen Dionysos. Studien zur systematischen Bedeutung von Nietzsches Selbstthematisierungen im Kontext seiner Religionskritik. Berlin/ New York 2009. Janz 1981 Janz, Curt Paul: Friedrich Nietzsche. Biographie. 3 Bde., München 1981.

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Nietzsche und Basel Andrea Bollinger Die zehn Jahre, die Friedrich Nietzsche in Basel verbrachte, waren die längste selbst gewählte Bindung an einen Ort. Allzu oft assoziieren wir mit Nietzsche lediglich den heimatlosen, ewig herumziehenden Philosophen, der erst in der reinen Luft der Alpen sein innovatives Potenzial voll entfalten konnte. Die Basler Jahre als Universitätsdozent für Klassische Philologie und als Oberstufenlehrer am Pädagogium – bloss Um- und Irrweg, vertane Zeit, Leidenszeit zudem, geprägt von physischen Krankheiten und wachsendem Auseinanderklaffen von Brotberuf und gefühlter Berufung? Die Realität war komplexer. Basel bot dem jungen, aus nicht sehr begütertem Haus stammenden Nietzsche Gelegenheit, beruflich Fuss zu fassen und dabei mit intellektuell stimulierenden ‹Querdenkern› – genannt seien Jacob Burckhardt, Franz Overbeck, Johann Jakob Bachofen – Umgang zu pflegen, was wiederum Teil der Basis bildete für seine frühen Werke und seine denkerische Weiterentwicklung. Sehr jung wurde der Pfarrerssohn, der in Bonn und Leipzig Klassische Philologie studiert hatte, auf den Lehrstuhl für griechische Sprache und Literatur an der Universität Basel berufen, noch ehe er promoviert oder habilitiert war. Sein Leipziger Professor Friedrich Ritschl pries Nietzsches Talent, und die Universität Leipzig stellte ihm flugs einen Doktortitel aus, allein aufgrund seiner als Student publizierten Arbeiten. Die unorthodoxe Art der Berufung sagt einiges aus über die feine, kleine, alte, aber durch die Wirren der Kantonstrennung mächtig durchgeschüttelte Universität Basel. Dort war man froh, junge Wissenschaftler wenigstens einige Jahre in der Stadt zu halten, bevor diese dann meist auf prestigeträchtigere Lehrstühle wechselten. Im April 1869 kam Nietzsche in Basel an und bezog eine Wohnung unweit des Spalentors, ausserhalb der 1859 geschleiften Stadtmauern. Im selben Jahr zog er in ein Haus am nahe gelegenen Schützengraben 45, heute 47. Zuvor hatte Nietzsche seine preussische Heimatberechtigung aufgegeben, um bei einem etwaigen Kriegsausbruch nicht eingezogen zu werden (ironischerweise meldete er sich dann ein Jahr später als Freiwilliger zum kurzen Einsatz im Deutsch-Französischen Krieg ). Nietzsche war seither offiziell staatenlos, denn das Basler Bür-

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Abb. 1 Die Rückseite des Reisepasses, welchen die Basler Behörden Nietzsche 1876 für seinen krankheitsbedingten Italienaufenthalt ausstellten und den er fortan für alle seine Reisen benutzte. Das Dokument wurde zweimal verlängert, in Genua am 14. April 1883 und in Nizza am 11. Dezember 1885.

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Abb. 2 ‹Bâle Pont du Rhin›, Ansicht von Grossbasel mit der alten Rheinbrücke, rechts das Hotel Drei Könige, links die Alte Universität am Rheinsprung Foto aus ‹Album von Basel in Photographien›, Varady & Cie. Basel, o. J. (ca. 1880)

gerrecht beantragte er nie. Als er 1876 seine erste längere Auszeit nahm, stellte ihm der Kanton ein Dokument aus, das er fortan auf all seinen Reisen benutzte. Bereits knapp einen Monat nach der Ankunft fuhr er zum ersten Mal nach Tribschen bei Luzern, wo der Komponist Richard Wagner lebte. Nietzsche hatte Wagner in Leipzig kennengelernt und war in den ersten Jahren seiner Basler Zeit ein Bewunderer (und häufiger Besucher) des Mannes, von dem er sich eine Erneuerung der deutschen Kultur erhoffte. Aber auch die Basler bereiteten dem jungen Professor einen freundlichen Empfang. Immer wieder ist in Nietzsches Briefen von Einladungen die Rede, die Häuser des ‹Daig›, der führenden Familien der Stadt, der Vischer, La Roche, Bachofen, Thurneysen oder Sarasin, standen ihm offen, in der Musikstadt Basel nicht zuletzt dank seiner Musikbegeisterung und -begabung. So begleitete er die singende Ehefrau des Wirtschaftswissenschaftlers August von Miaskowski oft am Klavier und die ihm etwa gleichaltrige Gattin des Mutterrechtsforschers Bachofen zu Konzerten. Mit einer Gruppe Professorenkollegen ass Nietzsche zudem regelmässig im Restaurant ‹Goldener Kopf › an der Schifflände zu Mittag. Neben dem gesellschaftlichen Leben hatte Nietzsche ein immenses Arbeitspensum zu bewältigen. In Basel wirkten Universitätsprofessoren zusätzlich am Pädagogium ( heute Gymnasium am Münsterplatz), wo Nietzsche fortan Griechisch unterrichtete. Im Mai schrieb er an seinen Leipziger Lehrer Friedrich Ritschl: «Jeden Morgen die Woche halte ich um 7 Uhr meine Vorlesung [...]. Der Montag bringt das Seminar mit sich, [...] Dienstag und Freitag habe ich am Paedagogium zweimal zu unterrichten, Mittwoch und Donnerstag einmal: dies thue ich bis jetzt mit Vergnügen. Bei der Lektüre des Phaedo habe ich

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Abb. 3 Der offene Birsig vor der Überdeckung, Blick vom Barfüsserplatz talwärts gegen den Marktplatz (ab 1899 Falknerstrasse) Fotograf: Bernhard Wolf, Basel (Entstehungsjahr unbekannt)

Gelegenheit meine Schüler mit Philosophie zu inficieren» (Brief Nr. 3, KSB 3, S. 7). Zudem war es Nietzsche ein immer dringlicheres Anliegen, über die Grenzen seines Fachgebiets hinauszugreifen mit Schriften über kulturphilosophische und gesellschaftskritische Themen. Seine erste grosse Veröffentlichung, ‹Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik› (1872), war weit entfernt von einer trockenen philologischen Abhandlung – und wurde prompt von Nietzsches quellenkritisch-faktenorientierten Berufskollegen an den deutschen Universitäten abgelehnt. In Basel jedoch wurde das Buch «stark begehrt und verkauft », wie der junge Autor in einem Brief vermerkte (Brief Nr. 277, KSB 4, S. 97). Nietzsche beschäftigte sich nun zunehmend mit nicht-philologischen Themen, was sich in der Publikation der vier ‹Unzeitgemässen Betrachtungen› (1873–1876) niederschlug. In Nietzsches Basler Professorenzeit fiel die Bekanntschaft mit zwei jungen deutschen Studenten, die für sein weiteres Schaffen eine wichtige Rolle spielten sollten: Paul Rée machte ihn mit den französischen Moralkritikern wie Montaigne oder Voltaire bekannt; aus diesem «Réealismus», wie es Nietzsche nannte, entstand das Aphorismenbuch ‹Menschliches, Allzumenschliches› (1878). Und Heinrich Köselitz wurde zu Nietzsches unersetzlichem Helfer, da er dem Augenschwachen als Schreiber diente und auch als Einziger Nietzsches Krakelschrift entziffern konnte. Immer stärker verspürte Nietzsche das Bedürfnis, aus der Beamtenexistenz ins Leben eines freien Denkers und Schriftstellers zu wechseln. Der Umgang mit und der Einfluss von Persönlichkeiten wie Jacob Burckhardt, Johann Jakob Bachofen und dem engen Freund, dem Theologieprofessor Franz Overbeck, werden an anderer Stelle in diesem Buch noch eigens abgehandelt. Basel hatte seine Schuldig-

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Abb. 4 «... hätte ich nur nicht die Basileophobie»: Postkarte Nietzsches an Franz Overbeck, Genf, 3. April 1879

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keit getan, hatte Nietzsche neben – oder dank – dem Brotberuf die Möglichkeit gegeben, sich abseits des von ihm oft kritisierten preussischen, auf Nützlichkeitsdenken basierenden Wissenschaftsbetriebs weiterzuentwickeln. «Ich preise Basel, weil es mir erlaubt ruhig, wie auf einem Landgütchen, zu existieren», schrieb er 1872 (Brief Nr. 252, KSB 4, S. 48) an seinen Freund Erwin Rohde. Gestört wurde die Ruhe leider bald durch gesundheitliche Probleme, wie starke Migräne und Magenbeschwerden, die erst zu Zwangspausen, 1878 zum Verzicht auf den Pädagogiumsunterricht und 1879 schliesslich zur Aufgabe der Professorenstelle führten. Kurz vor Ende seiner Tätigkeit in Basel hatte Nietzsche an Overbeck geradezu panikartig von seiner «Basileophobie» geschrieben (Brief Nr. 832, KSB 5, S. 402; Abb. 4) und die schlechte Luft erwähnt, die «Kopfleiden» hervorrufe (Brief Nr. 837, KSB 5, S. 405). Dass die Basler Luft nicht die Reinheit der Hochalpen aufwies, mag ein Bild illustrieren, das den offenen Birsig bei der heutigen


Falknerstrasse zeigt (Abb. 3). Als ihm im Juni 1879 mit Bedauern die Entlassungsurkunde zugeschickt wurde, hatte Nietzsche Basel bereits verlassen und sein Wanderleben als freischaffender Publizist begonnen, ermöglicht nicht zuletzt durch eine grosszügige Rente des Kantons. Basel, die alte Grenz- und Handelsstadt am Rand der Eidgenossenschaft, hat manchem eigenwilligen Denker, so auch Nietzsche, als Refugium und Schaffensstätte gedient. Aber Nietzsche hatte sich Ziele gesteckt, die er innerhalb der beamteten Basler «Landgütchen»-Existenz nicht verwirklichen konnte. Neben Baselkritischem finden sich in seinen Briefen auch manch wohlmeinende Urteile über den Wirkungsort. Selbst als er Anfang 1889 in eine tiefe geistige Umnachtung fiel, blitzten in den letzten Notizen Erinnerungen an Basel auf. Eine wirre, verstörende letzte Nachricht aus Turin an Jacob Burckhardt schloss der Kranke mit dem Postskriptum: «Sie können von diesem Brief jeden Gebrauch machen, der mich in der Achtung der Basler nicht heruntersetzt » (Brief Nr. 1256, KSB 8, S. 579). Nietzsche und Basel – ein ambivalentes, spannungsreiches und spannendes Verhältnis.

Literatur Bollinger 2000 Bollinger, Andrea/Trenkle, Franziska: Nietzsche in Basel. Mit einem Geleitwort von Curt Paul Janz (Beiträge zu Friedrich Nietzsche, Bd. 3). Basel 2000.

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