chilli cultur.zeit

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FONDATION BEYELER

29. 1.–21. 5. 2023

RIEHEN / BASEL

LEINWAND

KÖSTLICHE KINO-KOMÖDIE MIT WELTSTAR DEPARDIEU

MUSIK

BÜHNEN FÜR ALLE –ALLES IM EIMER?

LITERATUR

FREIBURG-STORYS VON DEN SCHREIBWILDEN

HEFT NR. 1/23 13. JAHRGANG

Begeisterte Netzwerkerin

ach mehr als 15 Jahren als Leitender Direktor der StĂ€dtischen Museen hat Tilmann von Stockhausen im Oktober 2022 Freiburg in Richtung LĂŒbeck verlassen. Im November beschloss der Gemeinderat, die promovierte Kunsthistorikerin Jutta Götzmann zu seiner Nachfolgerin zu berufen. Die bisherige GrĂŒndungsdirektorin des Potsdam Museum – Forum fĂŒr Kunst und Geschichte beginnt am 15. MĂ€rz mit ihrer Arbeit in Freiburg. Mit der cultur.zeit sprach die 57-JĂ€hrige ĂŒber ihre kĂŒnftigen Aufgaben.

cultur.zeit: Frau Götzmann, um mit der ersten in der Stellenausschreibung formulierten Anforderung fĂŒr Ihre neue TĂ€tigkeit zu beginnen: Ist Kunst und Kultur Ihre Leidenschaft und brennen Sie fĂŒr Ihre Themen?

Götzmann: Das kann ich eindeutig

mit Ja beantworten. Auch wenn ich es nicht in der Stellenausschreibung gelesen hĂ€tte. Ich bin seit 1993 im Museumswesen tĂ€tig, habe wĂ€hrend des Studiums in der Dokumentation des Landesmuseums in MĂŒnster begonnen und mir so auch mein Studium mitfinanziert. Auch nach 14 Jahren in leitender Funktion ist bei mir noch immer eine große Begeisterung fĂŒr den Beruf vorhanden. Ich brenne fĂŒr die Kunst und Kultur, aber auch fĂŒr das Museum als wichtigen und zentralen Arbeitsort fĂŒr kĂŒnstlerische und gesellschaftliche Debatten.

cz: Wie soll dieser Ort aussehen?

Götzmann: Es sollte ein Ort sein, der nahe am Puls der Zeit ist. Ich bin an einer Vielstimmigkeit interessiert, sowohl im kulturellen Angebot als auch in den Zielgruppen. Museen sollten, und das können sie besonders in einem Verbund wie in Freiburg, ein möglichst breites Spektrum abdecken und viele Menschen erreichen. Ich habe den gesellschaftlichen Auftrag

mal als Formel so definiert: Ein Museum sollte ein niedrigschwelliges, weltoffenes Haus fĂŒr die diverse Gesellschaft sein. Das ist fĂŒr mich zentral bei der Überlegung, wie wir Begegnungsorte schaffen, an denen passive Besucher zu aktiven Nutzern werden können, die sich und ihre Interessen in das Programm einbringen.

cz: Sie haben in Potsdam schon einige niedrigschwellige Angebote erarbeitet, haben dafĂŒr 2016 den Wilhelm-Foerster-Preis „fĂŒr besondere Verdienste in der Popularisierung wissenschaftlicher Erkenntnisse“ erhalten. Sie waren dort gut vernetzt. Was hat Sie dennoch zu diesem Neustart bewogen?

Götzmann: Ich hatte dort meine Ziele erreicht und habe mich bewusst fĂŒr eine Neuorientierung entschieden und einen Ort gesucht, der mir einen grĂ¶ĂŸeren Gestaltungsrahmen in einer attraktiven, kulturbewussten Region bietet. Da kam das Angebot in Freiburg gerade zum richtigen Zeitpunkt. Die Entwicklungen der StĂ€dtischen

MÄRZ WIRD DIE KUNSTHISTORIKERIN JUTTA GÖTZMANN LEITENDE DIREKTORIN DER STÄDTISCHEN MUSEEN FREIBURG
IM
von Erika Weisser
N
Will viele Menschen erreichen: Jutta Götzmann setzt auf niedrigschwellige Angebote.
38 CHILLI CULTUR.ZEIT FEBRUAR 2023
Foto: © Michael LĂŒder

Museen Freiburg habe ich mit Interesse viele Jahre zuvor verfolgt.

cz: Bisher waren Sie fĂŒr ein Museum zustĂ€ndig, jetzt sind es plötzlich sechs: das Augustinermuseum, die vier anderen Museen sowie das Dokumentationszentrum Nationalsozialismus. Worin genau besteht denn Ihre Aufgabe als Leitende Direktorin?

Götzmann: Als Direktorin des Augustinermuseums obliegt mir die inhaltlich-fachliche Leitung und damit die Ausstellungs- und Programmplanung fĂŒr dieses Museum sowie die Begleitung des dritten Bauabschnitts. Die anderen HĂ€user haben auf der fachlichen Ebene ihre eigenen zustĂ€ndigen Leiterinnen. Die Leitende Direktion ist eine Art ĂŒbergeordnete amtliche Instanz, die stĂ€rker auf Koordination, Zukunftsorientierung und eine gemeinsame strategische Ausrichtung aller Einrichtungen im Verbund zielt. Das setzt eine gute Kommunikation und Zusammenarbeit voraus, wovon ich nach meinem bisherigen Wissen ĂŒber die gut aufgestellten Freiburger Museen aber ausgehe. Ich finde es auch positiv, dass es inzwischen im Kulturbereich mehr Frauen in FĂŒhrungspositionen gibt.

cz: Was erwarten Sie von Ihren kĂŒnftigen Kolleg·innen – und was können diese von Ihnen erwarten?

Götzmann: Ich arbeite sehr gerne als Netzwerkerin, sowohl außer- als auch innerhalb der Museumslandschaft, und setze auf persönlichen Kontakt und Kommunikation. Noch vor meinem Arbeitsbeginn werde ich mich mit den Leitungskolleginnen zu ersten GesprĂ€chen treffen. ZuverlĂ€ssigkeit und LoyalitĂ€t sind fĂŒr mich wichtige Eigenschaften, zumal ich fest davon ĂŒberzeugt bin, dass ein Museum nur im Team gut aufgestellt ist. Ich glaube an die Systemrelevanz der Kultur und setze mich engagiert fĂŒr die HĂ€user in meiner Verantwortung ein. Schon jetzt freue ich mich auf die Zusammenarbeit. Und natĂŒrlich auch auf die reizvolle Stadt, die ich schon mehrmals besucht habe.

cz: Frau Götzmann, wir danken Ihnen fĂŒr das GesprĂ€ch.

Kampf gegen Klimakiller

Wie Museen und Theater die Nachhaltigkeitsdeklaration mit Leben fĂŒllen

Bundesweit wollen Kulturbetriebe nachhaltiger werden. Auch in Freiburg: Im November haben Kulturamt, Theater Freiburg, Stadtbibliothek und stÀdtische Museen die Nachhaltigkeitsdeklaration culture4climate unterzeichnet. Was Àndert die Selbstverpflichtung? Das chilli hat beim Theater und den Museen nachgefragt.

„Wir schreiben uns das gerne auf die Fahnen“, sagt Christine Litz. Die 55-JĂ€hrige ist kommissarische Leiterin der stĂ€dtischen Museen Freiburg. Sie sieht die Deklaration als ersten Schritt. Jetzt mĂŒsse sie mit Leben gefĂŒllt werden. Dazu schaue sich das Team an: „Was sind die grĂ¶ĂŸten Klimakiller?“ Ein konkreter Vorschlag steht im Raum: sogenannte Klimakorridore einzurichten. Bei Museen ist der wohl grĂ¶ĂŸte CO ÂČ-Verursacher der Energieverbrauch fĂŒr konstante Temperaturen und Luftfeuchtigkeit. „Kunst braucht ein spezifisches Klima“, erklĂ€rt Litz. Sonst wĂŒrden beispielsweise alte GemĂ€lde Risse bekommen.

Permanente 20 Grad Raumtemperatur sind zum Schutz der Exponate vorgegeben. Zudem 50 bis 55 Prozent Luftfeuchtigkeit. Mit den Klimakorridoren sollen die Werte breiter werden: „Wir können so auf 40 bis 60 Prozent Luftfeuchtigkeit öffnen – und auf 19 bis 25 Grad“, erklĂ€rt Litz. Doch die Werte dĂŒrften sich pro Stunde nur um 0,5 Prozent oder 0,5 Grad Ă€ndern. Im Zentralen Kunstdepot seien solche Korridore seit zehn Jahren Standard. Im Raum steht nun, das auch fĂŒr die Museen zu ĂŒbernehmen.

Litz findet Nachhaltigkeit wahnsinnig wichtig und sagt: „Es geht nur, wenn man alle mitnimmt.“ Durch die Unterzeichnung habe das Team das Thema noch mehr auf dem Schirm. Die Maßnahmen wĂŒrden nun strategisch zu-

Wiederverwertet: Bei den KostĂŒmen des StĂŒcks „Die Schneekönigin“ war keine Neuware dabei.

sammengetragen – und neue VorschlĂ€ge eingebracht. Beispiele sind die Wiedernutzung von Vitrinen oder der Bau von Sockeln, die nach einer Ausstellung als Regal weiterverwendet werden könnten.

Im Theater Freiburg wird Nachhaltigkeit ebenfalls großgeschrieben. „Viele Anstrengungen unternehmen wir schon seit Jahren“, sagt die kaufmĂ€nnische Direktorin Tessa Beecken. Der Fokus werde durch die Selbstverpflichtung verstetigt. Das grĂ¶ĂŸte Thema im Theater? „GebĂ€ude, GebĂ€ude, GebĂ€ude“, sagt die 56-JĂ€hrige. Zugesagte 13,4 Millionen Euro Bundesförderung fĂŒr die Sanierung sieht sie daher als GlĂŒcksfall.

Zu den bisherigen Maßnahmen zĂ€hlt das Umstellen auf LED-Beleuchtung im GebĂ€ude. Zur effizienteren Steuerung von Heizung und LĂŒftung seien Sensoren installiert worden. Die Zahl der Drucker im Haus soll von 70 auf 20 reduziert werden. „Wir schaffen spĂŒrbare SprĂŒnge in der Vermeidung“, sagt Beecken. KĂŒrzlich habe sich ein interner Umweltausschuss im Theater gegrĂŒndet. Er soll helfen, noch mehr in Bewegung zu setzen.

Ein weiterer Punkt: Das Nutzen des riesigen Theaterfundus. „Muss es immer etwas Neues sein fĂŒr ein StĂŒck?“, fragt Beecken. JĂŒngst hat die KostĂŒmbildnerin Su BĂŒhler fĂŒr eine Produktion ausschließlich auf KostĂŒme aus dem Theaterfundus und auf SecondHand-Ware gesetzt. Bis 2035 will das Theater Freiburg klimaneutral sein. Beecken ist ĂŒberzeugt, es zu schaffen. Die Deklaration helfe –als Push fĂŒr Kommunikation, Vernetzung und Verstetigung.

Till Neumann Wollen was Àndern: Christine Litz (links, stÀdtische Museen) und Tessa Beecken (Stadttheater) Foto: © Theater Freiburg Foto: © Patrick Seeger Foto: © Britt Schilling
FEBRUAR 2023 CHILLI CULTUR.ZEIT 39 KULTUR

Betörende Pastelltöne

DES US-AMERIKANISCHEN KÜNSTLERS WAYNE THIEBAUD

Wayne Thiebaud? Wer ist denn Wayne Thiebaud? Diese Frage, die selbst unter kunstaffinen Menschen in Europa bisher mit einiger Berechtigung gestellt werden konnte, ist seit Ende Januar zumindest im euroregionalen DreilĂ€ndereck Schweiz/ Frankreich/Deutschland leicht zu beantworten: In der Fondation Beyeler in Riehen ist bis zum 21. Mai eine Werkschau dieses außerhalb der USA weitgehend unbekannten KĂŒnstlers zu sehen. Und wer sie besucht, wird ihn und sein Werk bestimmt nicht so schnell wieder vergessen.

Bei der Retrospektive mit 65 GemĂ€lden und Zeichnungen dieses Malers handelt es sich um die erste Thiebaud-Einzelausstellung im deutschsprachigen Raum. Bisher war hier lediglich eine kleine Auswahl seiner Bilder zu sehen, zusammen mit Werken anderer Kunstschaffender – und das

vor 50 Jahren: 1972 bei der Documenta 5 in Kassel und 1975 im Wallraf-Richartz-Museum in Köln. Und anders als in den USA sind sie in Europa auch in öffentlichen Sammlungen und Dauerausstellungen nur sehr spĂ€rlich vertreten. Kein Wunder also, dass Thiebaud, der in der figurativen Tradition von Edward Hopper und Georgia O’Keeffe steht, immerhin 101 Jahre alt wurde und bis an sein Lebensende (2021) malte, hierzulande kaum bekannt ist.

Dank der Pionierleistung des Teams um Beyeler-Chefkurator Ulf KĂŒster kann sich dies jetzt Ă€ndern. Ob bei der Entscheidung, Thiebaud nun ins DreilĂ€ndereck zu holen, ein in blassen Blautönen gehaltenes ÖlgemĂ€lde auf Leinwand den Anstoß gab? „35 Cent Masterworks“ heißt das 1970 entstandene Bild, und es zeigt zwölf bedeutende, sehr teuer gehandelte Werke der Welt-Kunstgeschichte,

DIE FONDATION BEYELER ZEIGT EINE GROSSE WERKSCHAU Wayne Thiebauds „Two Paint Cans“ (oben) ziehen den Blick der Betrachter in die Tiefe des nuancenreichen Farbspektrums seiner figurativen Malerei. von Erika Weisser Wayne Thiebaud, Two Paint Cans, 1987, Öl auf Papier auf Karton aufgezogen, 34,9 x 50,5 cm, Sammlung der
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Wayne Thiebaud Foundation © Wayne Thiebaud Foundation/2022, ProLitteris, Zurich, Foto: Matthew Kroening

Wayne Thiebaud: Eating Figures (Quick Snack) 1963 (u.l.), Öl auf Leinwand, 181,6 x 120,7 cm, Privatsammlung, Courtesy Acquavella Galleries

die zugleich als seine kĂŒnstlerischen Vorbilder gelesen werden können. Fein sĂ€uberlich hat er sie arrangiert in einem Zeitschriftenregal, das vor jedem Kiosk stehen könnte. Drei dieser hier im Miniaturformat dargestellten Werke gehören zur Sammlung der Fondation Beyeler: Piet Mondrians Tableau No. IV, Claude Monets Seerosen und Pablo Picassos Stillleben mit Gitarre.

Cent Masterworks, 1970−72 (o.r.), Öl auf Leinwand, 91,4 x 61 cm, Sammlung der Wayne Thiebaud Foundation, beide: © Wayne Thiebaud Foundation/2022, ProLitteris, Zurich

Dieses Bild, das gewissermaßen die Verbindung zwischen Beyeler und Wayne Thiebaud manifestiert und das in jedem einzelnen, bis ins kleinste Detail wiedergegebenen Werk trotz PostkartengrĂ¶ĂŸe ein breites und differenziertes, das jeweilige Original nie verfĂ€lschendes Farbspektrum aufweist, macht den Auftakt zu der Ausstellung. Zusammen mit dem 1968 entstandenen PortrĂ€t „A Student“, dessen farbliche Tiefe, Vielfalt und Strahlkraft sich erst beim zweiten Blick offenbart – und Bewegung und Leichtigkeit in die strenge, sehr statisch scheinende Figur bringt.

Diese Bilder, sagt Kurator KĂŒster, können als SchlĂŒsselwerke fĂŒr die Ausstellung gelten, die nach seinen wichtigsten Werkgruppen sortiert ist: Stillleben, PortrĂ€ts, Stadtansichten und (Fluss-)Landschaften. Zu

den SchlĂŒsselwerken gehört auch das Bildnis einer Figur, die allen vertraut ist: Mickey Mouse. So, wie man diesen liebenswerten Superstar der Comic- und Popkultur kennt – mit gelben Latschen, roter Hose und frechem, vorwitzigem Gesichtsausdruck. Und beim Anblick dieser rĂ€umlich dargestellten Gestalt mit dem merkwĂŒrdigen blauen Schatten hat man das GefĂŒhl, Wayne Thiebaud doch gekannt zu haben, ohne seinen Namen zu kennen – allein durch dieses ikonische Werk.

Außer den erwĂ€hnten Miniaturen gehört auch Mickey zu den Sujets, die Thiebauds kĂŒnstlerischen Werdegang geprĂ€gt haben: WĂ€hrend seiner Studentenzeit verdiente sich der talentierte Zeichner seinen Lebensunterhalt in den Walt-Disney-Studios. Und womöglich hat er sich seinen ironischen Blick auf die Verheißungen des konsumorientierten American Way of Life, die er auf einem Großteil der ausgestellten Bilder in betörenden Pastelltönen beschwört und zugleich entlarvt, von dieser cleveren Maus abgeschaut.

INFO

Wayne Thiebaud

Ausstellung mit umfangreichem Rahmenprogramm

29. Januar bis 21. Mai 2023

Fondation Beyeler

KULTURNOTIZEN

100.000 mehr in Freiburgs Museen

Die fĂŒnf stĂ€dtischen Museen Freiburg zĂ€hlten im vergangenen Jahr 240.672 GĂ€ste, ĂŒber 100.000 mehr als im Vorjahr. Ins Augustinermuseum mit dem Haus der Graphischen Sammlung strömten knapp 108.000 Kunstbegeisterte – trotz baubedingter Teilschließungen. Publikumsmagnet war mit mehr als 40.000 Besuchern die Ausstellung „Freiburg und Kolonialismus: Gestern? Heute!“, die noch bis zum 25. Juni lĂ€uft. Im Haus der Graphischen Sammlung wollten 3443 Menschen die Schau „Christoph Meckel – Mensch-Sein, KindSein, Ich-Sein“ (siehe Foto) sehen.

Im Museum Natur und Mensch sorgten 55.200 kleine und große GĂ€ste fĂŒr regen Betrieb, das Museum fĂŒr Neue Kunst erzielte mit 33.023 Besucher·innen ein deutliches Plus von fast 50 Prozent im Vergleich zum Vorjahr (16.948), mehr als 10.000 allein, um „Freundschaftsspiel. Horst und Gabriele Siedle-Kunststiftung: Museum fĂŒr Neue Kunst“ zu erleben.

Skeptischer Blick: Die „Eating Figures“ scheinen nicht begeistert vom „Quick Snack“

Baselstrasse 77, CH-4125 Riehen www.fondationbeyeler.ch

Das ArchĂ€ologische Museum Colombischlössle verkaufte 31.190 Tickets, sogar mehr als im Vor-Corona-Jahr 2019 (23.119). Der dritte Teil der Trilogie zum StadtjubilĂ€um, „freiburg.archĂ€ologie – Leben vor der Stadt“ zĂ€hlte insgesamt 18.154 GĂ€ste. Bei „Habalukke – SchĂ€tze einer vergessenen Zivilisation“ hinterfragten 13.860 Personen Erkenntnistheorien der ArchĂ€ologie, die Museumspraxis und die Geschichte ausgestellter Objekte der vermeintlichen MittelmeerZivilisation „Habalukke“.

Das Museum fĂŒr Stadtgeschichte hatte 13.366 Interessierte, mehr als doppelt so viel wie 2021. Die Website der StĂ€dtischen Museen Freiburg wurde im vergangenen Jahr fast 200.000 Mal aufgerufen. bar

Figur mit Maske ist das Bild betitelt, das Christoph Meckel 1962 gemalt hat. Foto: © Axel Killian Bezug zu Beyeler: Drei dieser Meisterwerke sind Bestandteil der Museumssammlung.
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Eine Spur von Umami

SCHWERGEWICHT DEPARDIEU SUCHT NACH DEM TIEFEREN SINN VON ESSEN UND LEBEN

Der Geschmack der kleinen Dinge

Frankreich/Japan 2022

Start: 9. Februar 2023

EEigentlich mĂŒsste Gabriel Carvin ĂŒberglĂŒcklich sein: Als allererster KĂŒchenchef Frankreichs erhĂ€lt er fĂŒr seine außergewöhnlichen Kreationen das dritte Exemplar des in der kulinarischen Welt sehr begehrten Kristallsterns. Doch der Meisterkoch und Inhaber des exquisiten Pariser Nobelrestaurants „Monsieur Quelqu’un“ lĂ€sst die Verleihungszeremonie ungerĂŒhrt und missmutig ĂŒber sich ergehen – und antwortet auf die entsprechende Frage, dass er sich nur ĂŒber seinen Töpfen glĂŒcklich fĂŒhle.

Kein Wunder: Von seiner Familie hat sich der einst leidenschaftliche Sternekoch, der nur fĂŒr sein Metier lebte, lĂ€ngst entfremdet. Dem Ă€lteren, zum Nachfolger bestimmten Sohn Jean spricht er jegliches kulinarisches Talent ab, zum jĂŒngeren Nino findet er keinen Zugang – und Ehefrau Louise betrĂŒgt ihn. Ausgerechnet mit dem smarten Restaurant-Kritiker, der den prestigetrĂ€chtigen Stern vergibt. Schon seit geraumer Zeit flĂŒchtet sich der schwergewichtige und von sich selbst frustrierte MaĂźtre nicht nur in ĂŒbermĂ€ĂŸiges Essen, sondern auch in ausgiebigen Alkoholkonsum. So auch am Abend nach der Preisverleihung: WĂ€hrend Louise auf dem Weg zu ihrem Liebhaber ist, Jean sich in der RestaurantkĂŒche abmĂŒht und Nino mit seinen Freunden auf Skateboard-Tour ist, greift Gabriel zur Flasche – und erleidet einen lebensbedrohlichen Herzinfarkt. Das alarmiert nicht nur die Familie, sondern auch ihn selbst. Allerdings weiß er nicht, was er Ă€ndern könnte. Bis sein alter Freund und kulinarischer Wegbegleiter Rufus ihn ĂŒberredet, sich auf ein Hypnose-Experiment einzulassen. Frei

nach dem Motto: Wenn man den eigenen Körper nicht mehr bewegt bekommt, dann muss eben der Geist reisen. Das Experiment gelingt, Gabriel erwacht mit einem lĂ€ngst vergessenen Geschmack auf der Zunge. Und erinnert sich an den einzigen Kochwettbewerb, den er je verloren hat – gegen einen japanischen Kontrahenten, dessen Nudelsuppe damals die Jury in VerzĂŒckung versetzte.

Gabriel beschließt, diesen Tetsuichi Morita zu suchen – und dem Geheimnis der mysteriösen, zwischen salzig, sauer, sĂŒĂŸ und bitter angesiedelten, vollkommenen Geschmacksnote dieser Suppe auf die Spur zu kommen – dem Aroma von Umami, das er nie ergrĂŒnden konnte. Er reist nach Japan, macht Erfahrungen mit Kapselhotels, SuppenkĂŒchen und Thermen, trifft auf merkwĂŒrdig weise Gestalten – und schließlich auf den meisterhaften Umami-KĂŒnstler, der ein einfaches Straßenlokal fĂŒhrt.

Nach anfĂ€nglichen AnimositĂ€ten –und einem weiteren Vollsuff Gabriels – kommen die beiden ehemaligen Rivalen sich nĂ€her und gehen auf eine nicht nur kulinarische Reise zu den wesentlichen Geheimnissen eines guten Essens – und eines gelingenden Lebens. Köstliches und angenehm mysteriöses WohlfĂŒhlkino.

Regie: Slony Sow Mit: Gérard Depardieu, Akira Emoto, Pierre Richard, Sandrine Bonnaire, Kyozo Nagatsuka, Rod Paradot, Bastien Bouillon u. a. Verleih: Neue Visionen Laufzeit: 105 Minuten
42 CHILLI CULTUR.ZEIT FEBURAR 2023 KINO
Fotos: © Neue Visionen

BIGGER THAN US

WANN WIRD ES ENDLICH WIEDER SO, WIE ES NIE WAR

Frankreich 2021

Regie: Flore Vasseur

Dokumentarfilm mit: Melati Wijsen u.a.

Verleih: Plaion Pictures

Laufzeit: 95 Minuten

Start: 16. Februar 2023

Recht auf Zukunft

(ewei). Seit Jahren kĂ€mpft Melati Wijsen gegen die Plastikverschmutzung in ihrem Land. Die 18-jĂ€hrige Indonesierin hatte damit zwar schon einigen Erfolg; der MĂŒll, der ihre Insel und das Meer ĂŒberschwemmte, darf nicht mehr einfach so in die Gegend gekippt werden.

Doch das ist ihr nicht genug. Sie sucht Kontakt zu Gleichgesinnten, um sich mit ihnen zu vernetzen und gemeinsam fĂŒr eine bessere Welt zu kĂ€mpfen. Im Libanon und in Griechenland, in Malawi und Uganda, in Brasilien und den USA wird sie fĂŒndig; sechs junge Menschen zeigen Melati ihre ganz eigene, von Mut und Engagement geprĂ€gte Welt. Sie kĂ€mpfen fĂŒr Menschenrechte, fĂŒr das Klima, fĂŒr Meinungsfreiheit, soziale Gerechtigkeit und den Zugang zu Bildung oder Nahrung. Und sie sind in der Lage, alles zu verĂ€ndern. Getragen von einem ĂŒberzeugten Humanismus, von Mut und Hoffnung, verstehen sie sich als Teil eines Ganzen, das grĂ¶ĂŸer ist als sie selbst: das Recht auf eine lebenswerte Zukunft.

Deutschland 2022

Regie: Sonja Heiss

Mit: Devid Striesow, Laura Tonke u.a.

Verleih: Warner

Laufzeit: 116 Minuten

Start: 23. Februar 2023

Klinik als Spielplatz

(ewei). Joachim ist der jĂŒngste Spross der Familie Meyerhoff. Und er hat – wie viele NachzĂŒgler – unter seinen beiden Ă€lteren BrĂŒdern zu leiden. Ihnen ist es ein VergnĂŒgen, den Kleinen in hilflose WutanfĂ€lle zu treiben.

Ganz hilflos ist er indessen nicht: Zum GlĂŒck hat er Menschen, bei denen er zumindest VerstĂ€ndnis findet. Weniger bei der Mutter, die zwar anwesend ist, aber stĂ€ndig wie entrĂŒckt Aquarelle malt und von italienischen SommernĂ€chten trĂ€umt. Auch nicht beim meist abwesenden Vater, der auch ĂŒber seine Arbeit als Direktor einer Kinder- und Jugendpsychiatrie hinaus ziemlich viel zu tun hat – auf privaten Abwegen.

Zuflucht findet der Junge bei den Patienten der Klinik, die sich mit schrĂ€gen GefĂŒhlen und AusnahmezustĂ€nden auskennen, freundlich zu ihm sind und schließlich seine Freunde werden – in vielen Lebenslagen. Die skurrile Geschichte eines Aufwachsens unter besonderen UmstĂ€nden –irrsinnig komisch und tief berĂŒhrend erzĂ€hlt und gut gelaunt gespielt.

USA 2022

Regie: Todd Field

Mit: Cate Blanchett, Nina Hoss u.a.

Verleih: Universal

Laufzeit: 158 Minuten

Start: 2. MĂ€rz 2023

Schein und Sein

(ewei). Lydia TĂĄr ist Dirigentin und Komponistin, weltberĂŒhmt und viel beschĂ€ftigt, eine leidenschaftliche KĂŒnstlerin, die weiß, was sie kann und will. Sie steht auf dem Höhepunkt ihrer Karriere und gönnt sich nur selten ein wenig Privatleben, das sie mit ihrer Lebenspartnerin und Konzertmeisterin Sharon und der gemeinsamen Adoptivtochter Petra teilt.

Zur Krönung ihrer kĂŒnstlerischen Laufbahn fehlt der Chefdirigentin der Berliner Philharmoniker nur noch eines: Das Dirigat der 5. Sinfonie von Gustav Mahler. Sie will damit den kompletten Mahler-Zyklus vollenden, was bisher noch kein Maestro geschafft hat. Immer wieder musste sie das Projekt aufschieben, doch nun haben die Proben begonnen.

Doch plötzlich schleichen sich einzelne kleine Irritationen in ihr Leben – und weiten sich zu massiven Störungen aus. Ihre demonstrative SouverĂ€nitĂ€t bröckelt, sie wird misstrauisch und unberechenbar. Cate Blanchett glĂ€nzt als fiktive Diva im Haifischbecken des Kulturbetriebs.

TÁR
Foto: © Plaion Pictures Foto: © Warner Bros
KINO
Foto: © Universal

Die Letzten ihrer Art

KÜNSTLER UND VERANSTALTER WÜNSCHEN SICH MEHR OPEN STAGES

Der Geruch von Rauch und Bier liegt in der Luft. Auf der kleinen BĂŒhne in der Ecke des dunklen Raums spielen drei Musiker. An mehreren im Saal verteilten Tischen hören manche interessiert zu, andere lassen sich nicht in ihren GesprĂ€chen stören. Nach einigen Minuten tritt der SĂ€nger mit einer Ansage ans Mikro. „Wer ist der nĂ€chste“, will er wissen. „Du, oder?“, sagt er und zeigt auf einen Besucher. „Gut, okay“, erwidert der, wenig spĂ€ter steht er mit Gitarre auf der BĂŒhne.

die Abende mit einem kurzen Set, gibt bei Bedarf den LĂŒckenfĂŒller. „Zu uns können alle kommen, auch AnfĂ€nger“, erklĂ€rt der 36-JĂ€hrige.

Als die Open Stage in der Metal- und Rockkneipe startete, war sie eine unter

Das „White Rabbit“ hat eine Leerstelle hinerlassen

Seit Anfang an dabei: Host und Moderator Markus Schillberg auf der Open Stage im Eimer.

Eine Szene, die sich so Ă€hnlich jede Woche im „Eimer“ in der Freiburger Innenstadt abspielt. Seit fast dreizehn Jahren steigt hier eine Open Stage, zu Beginn vierzehntĂ€gig, bald dann wöchentlich. Schon immer mit dabei ist Host und Moderator Markus Schillberg. Er eröffnet

vielen. Heute ist das anders. „Es gibt in Freiburg keine BĂŒhne mehr, die so offen ist wie diese“, sagt Schillberg. Als Verlust sieht er das Aus des „White Rabbit“ am Leopoldring. Über Jahre war die dortige wöchentliche Open Stage zur festen Instanz geworden.

Im Gegensatz zum kleinen Raum im „Eimer“ konnten Bands dort bis zur Schließung 2019 ordentlich Krach machen.

von Pascal Lienhard und Till Neumann Foto: © Pascal Lienhard
44 CHILLI CULTUR.ZEIT FEBRUAR 2023 MUSIK

Zwar gibt es in Freiburg Formate, die dem im „Eimer“ oder „White Rabbit“ Ă€hneln. Im „KuCa“ an der Freiburger PH steigen die Open Stages aber nur gelegentlich. Die „Jazzsessions“ im Ruefetto sind musikalisch festgelegt. Bei der „New Constellation Kitchen“ der Freiburger Blues Association stehen monatlich festgelegte StĂŒcke im Mittelpunkt. Die „MyStage“ von Jugendbildungswerk und Jazz- & Rockschulen zielt auf angemeldete Bands mit Musiker·innen zwischen 16 und 25 Jahren.

Auch Cristian „Kata“ Carrasco findet, dass es zu wenige offene BĂŒhnen in Freiburg gibt. Der SĂ€nger und Trompeter der Freiburger Gruppe El Flecha Negra organisierte von Juni bis August eine Open Stage im „Mamita“. „Am Anfang kamen 15 Leute, am Ende 50“, erzĂ€hlt der 38-JĂ€hrige. Nach dem Auftakt musste er wegen eigener Konzerte pausieren. Bei einer Session im Winter kamen dann wenig Besucher·innen, inzwischen fehle ihm die Zeit fĂŒr weitere Events.

Sechs verrucht aussehende Typen aus Freiburg wollen der Musikwelt ihren Stempel aufdrĂŒcken. Mit der EP „Dawgs“ möchten Cosmic Mints durchstarten. Um ihren „Psychedelic Fuzz & Roll“ auf mehr BĂŒhnen zu bringen, fehlt derzeit aber eine VerstĂ€rkung.

Auch der Popbeauftragte sieht Handlungsbedarf

Einer, der seine ersten Freiburger Konzerte auf Open Stages gespielt hat, ist Sebastian Hesselmann. Der Musiker, der mittlerweile unter seinem Nachnamen mit Band Konzerte spielt, hĂ€lt viel von dem Konzept. „Open Stages sind eine super Möglichkeit, relativ einfach und unkompliziert aufzutreten“, sagt der 30-JĂ€hrige. Gerade zu Beginn einer Karriere sei ein solches Angebot richtig gut, um sich auszuprobieren und eigene Songs live zu testen. Vor allem fĂŒr junge Bands fehle dieses Angebot nach dem Ende des „White Rabbit“ definitiv. „Dort war es toll, es war immer viel los, es gab eine große musikalische Bandbreite und die Möglichkeit, sich zu vernetzen.“

Auch Tilo Buchholz, Popbeauftragter der Stadt Freiburg, sieht Handlungsbedarf. Gerade der niederschwellige Zugang auf eine BĂŒhne fĂŒr neue, unbekannte Bands, den das „White Rabbit“ geboten habe, fehle. Angebote in bestehenden Venues könnten punktuell helfen. Daher habe er im November begonnen, sich mit Akteuren auszutauschen, die aktuell oder frĂŒher in verschiedenen Locations Abende oder Reihen im Format einer offenen BĂŒhne veranstaltet oder organisiert haben.

„Aktuell sammele ich deren Ideen und BedĂŒrfnisse, um zu schauen, ob sich das irgendwie sinnvoll bĂŒndeln lĂ€sst“, erklĂ€rt er. Eine finanzielle UnterstĂŒtzung durchs Kulturamt wĂ€re zwar wĂŒnschenswert. Zurzeit sei der Fördertopf fĂŒr Rock, Pop und Jazz aber mit etwa 14.000 Euro pro Jahr eher klein und von vielen Einzelprojekten umworben oder in Beschlag genommen.

Ob es in Freiburg bald mehr Angebote geben wird, bleibt unklar. Im „Eimer“ wird in jedem Fall weiter musiziert. Der Gitarrist, den Schillberg auf die BĂŒhne geholt hat, jammt nach dem Host mit zwei Mitmusikern. Kurz darauf gibt es den nĂ€chsten Wechsel: Ein weiterer KĂŒnstler hat sich angekĂŒndigt.

Auf dem Foto sind die Musiker umrandet von roten Blumen. Doch rosig war die Lage zuletzt nicht: Ihr DebĂŒtalbum veröffentlichten sie kurz vor der Corona-Krise. Vieles ging den Bach runter. Doch aufgeben war kein Weg. Es entstanden fĂŒnf Songs, die am 17. Februar als „Dawgs“-EP erscheinen. Im Sommer soll eine LP folgen. Das lĂ€ssige Piano-Intro im EP-Opener „Nighttime“ wird nach 16 Sekunden von einem wilden Soundgewitter unterbrochen. „Der Krach geht von einer unmelodiösen in eine melodiöse Richtung“, erklĂ€rt Gitarrist Attilio „Atti“ Ferrarese. Nach acht Sekunden löst er sich in einer melancholischen Melodie auf. Der Knoten scheint geplatzt fĂŒr neue Wege. „Der Sound klingt vibyer, melancholischer als frĂŒher“, sagt Bassist Joey Ssymank. Das DebĂŒtalbum sei jumpy gewesen, jetzt seien mehr Hintergrundgedanken dabei. „Es liegt an der Zeit“, erklĂ€rt Ferrarese. Die vergangenen Jahre haben die Band mitgenommen. Jetzt wollen sie wieder von sich reden machen. Zur ersten Single Nighttunes haben sie ein Video gedreht. Es erzĂ€hlt von kreativen Momenten in der Nacht. Wie aus dem Nichts ist der Song entstanden. Bei einer Rooftop-Session kam Ferrarese die Idee zum Lick: „Ich habe einfach etwas gespielt, Axel hat dazu gesungen.“ FĂŒr ihn und Ssymank ist es der Lieblingstrack der EP. „Wir haben ihn im Sommer in einem One Take aufgenommen – es war so perfekt“, erzĂ€hlt der Bassist. Es habe einfach Klick gemacht. „Das macht den Song ein bisschen magisch.“ Mit fĂŒnf erdigen Tracks zeigt die Band erneut ihr GespĂŒr fĂŒr Groove – serviert in einem wilden Stilmix: Alexander Emmert singt gewohnt leidenschaftlich, die Band mag es experimentell. „Coffee Later“ mischt Blues und Funk, „Don’t Move“ kommt als rotzige Gitarrenballade daher, „Black Dogg“ hat Country-Elemente, und „Defeaning Storm“ schickt Reggae durch die Boxen. An einer Releasetournee arbeitet die Band. Doch dafĂŒr brĂ€uchte es eine Person mehr: „Gigs zu kriegen ist schwierig ohne Booker“, sagt Ferrarese. Umso wichtiger ist es ihnen, mit guter Musik auf sich aufmerksam zu machen. Und zwar im DIY-Style. Alles außer dem Mastering haben die Musiker selbst gemacht. Till Neumann

MUSIK
„Bisschen magisch“
Foto: © CM
COSMIC MINTS VERÖFFENTLICHEN DIE EP „DAWGS“

Blues made in Black Forest

(pt). Vor einem Jahr erschien die erste LP. Nun legt das Freiburger Psychedelic-, Soul- &-BluesrockQuartett Sound of Smoke mit „Phases“ nach. Berliner Produktion sei Dank, klingen die elf neuen Songs geschliffener, kommen aber nicht ohne musikalische Ecken und Kanten daher.

Aufgenommen wurden sie immerhin mit Tonband-Technik aus den 60er- und 70er-Jahren. Der Sound ist klar und warm, die erklĂ€rten und großen Vorbilder Grace Slick (Jefferson Airplane), Lemmy Kilmister (Motörhead), John Bonham (Led Zeppelin) oder Ritchie Blackmore (Deep Purple) sind trotz Albumtitel in Versalien allerdings weit weg. Oft muss Isabelle BaptĂ©s helle Stimme gegen die Instrumente ihrer Bandkollegen Jens Stover, Florian Kiefer und Johannes Braunstein kĂ€mpfen. Nicht immer gewinnt die Frontfrau gegen markante Gitarrenriffs, verspielte Drums und grollenden Bass.

Smoke auf Sound setzen mit ihrem neuen Werk nicht nur auf BewĂ€hrtes: Das psychedelische Phases fusioniert spielerisch Orgel mit orientalischen, sphĂ€rischen Synthies und kurzweiligen Krautrock-KlĂ€ngen. Da ist fĂŒr jeden Geschmack etwas dabei, manchmal fehlt leider die geheime Zutat.

Nichts fĂŒr Eilige

(pl). Das DebĂŒt der Freiburger Formation Cydonia ist angenehm aus der Zeit gefallen. Die fĂŒnf Musiker zelebrieren Progressive Rock, der direkt aus den 70ern kommen könnte. Das Ergebnis ist spannend, langatmig wird’s trotz langer Songs selten.

Die AnfĂ€nge von Cydonia gehen zurĂŒck ins Jahr 2007, in der aktuellen Besetzung sind sie seit Ende 2019 unterwegs. Auf „Stations“ warten drei Studiosongs sowie zwei Liveaufnahmen aus dem Freiburger Slow Club. Der Opener „Way to Cydonia“ liefert einen super Einstieg. Der Song zieht die Hörer·innen direkt in den Sound des Quintetts. Über fast eine Minute dominieren Gitarre und Keyboard, bevor es etwas ruhiger wird und schließlich auch SĂ€nger Michael Bernauer einsetzt. Klar, dass auf der Nummer mehrere Gitarrensolos nicht fehlen. Mit knapp unter acht Minuten ist der Song einer der kĂŒrzesten des Albums. Auf mehr als vierzehn Minuten bringt es „Union of Souls“.

Die hohe musikalische Klasse hört man etwa dem gelungenen Livetrack „Caravan of Slaves“ an: Auf der instrumentalen Nummer stehen – mit Ausnahme des SĂ€ngers – alle Musiker zeitweilig im Mittelpunkt. Zwar hat sich auf die Platte die eine oder andere LĂ€nge eingeschlichen, die die Spannung etwas mindert. Aber das ist Meckern auf hohem Niveau.

Typische Melancholie

(pl). Sie sind aktuell vermutlich die am wenigsten deutsch klingende Folkband – zumindest nach eigenem Bekunden. Wer die aktuelle Single der Freiburger Band Lambs & Wolves hört, denkt wirklich nicht an eine Combo aus dem deutschsprachigen Raum, sondern trĂ€umt sich eher in amerikanische Weiten.

Mit „Not a Party at all“ hat die Band 2021 ihr DebĂŒt veröffentlicht, Ende MĂ€rz folgt „Devil in the Orchard“. Die zweite Vorabsingle kommt mit Country-Anleihen und – verhĂ€ltnismĂ€ĂŸig – beschwingt daher. Aus der Stimme von SĂ€nger und Texter Julian Tröndle klingt dennoch die typische Melancholie, die den Sound der Formation prĂ€gt. Die Lyrics von „More Clouds“ sind verschlĂŒsselt, Zeilen wie „I know you can’t bear the Moon tonight, I send in Clouds, let Angels cry till Rivers flow the Corners of your Mind“ bieten Interpretationsspielraum. Wer geĂŒbte Ohren hat, hört im Hintergrund die Stimme der Gastmusikerin Maggie Belm von der Freiburger Combo Catastrophe Waitress.

Die Nummer entfaltet zwar nicht die Dichte und den Sog des tollen VorgĂ€ngersongs „Devil in the Orchard“. Lust auf das gesamte in Freiburg und Augsburg aufgenommene Album macht sie aber allemal. Vorgestellt wird das Werk am 30. MĂ€rz mit einer Release-Show im Jazzhaus.

MUSIK Platte desMon a st
SOUND OF SMOKE
Blues / Rock
CYDONIA STATIONS (ALBUM) Progressive Rock
PHASES
46 CHILLI CULTUR.ZEIT FEBRUAR 2023
LAMBS & WOLVES MORE CLOUDS Single – Indie-Folk

SCHEISSEDIEBULLEN SIMULATION EINES GUTEN LEBENS

Geschrammelte Kritik

(pl). Dass eine Band namens scheissediebullen ungehobelten Deutschpunk spielt, dĂŒrfte keinen wundern. Rund sechs Jahre nach „Anwohner raus!“ hat das Freiburger Quartett mit „Simulation eines guten Lebens“ seine dritte Platte vorgelegt. In den 14 Songs ĂŒben die Musiker grĂ¶ĂŸtenteils Gesellschaftskritik – mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg.

Zwei Gitarren, Bass, Schlagzeug, roher Gesang – so zelebrieren scheissediebullen ihren Sound. Inhaltlich geht’s etwa um die Ablehnung der Leistungsgesellschaft („Fördern & Fordern“) oder VerschwörungsglĂ€ubige und Faktenverdreher („Ein Telegramm“). Im Ohr bleibt vor allem der Song „Mittelmeer“, der im Refrain musikalisch an Die Ärzte erinnert. Mit anklagenden Zeilen wie „Wenn ĂŒber einem Kopf das Mittelmeer zusammenschlĂ€gt, dann ist das europĂ€ische Gewalt“ thematisieren scheissediebullen den Umgang mit Menschen auf der Flucht.

Auf „Kleinstadt“ arbeitet sich die Band an Themen ab, die ihr an Deutschland nicht behagen. Kritik an Spießertum oder Intoleranz geht klar. Doch mit Lyrics wie „Jede Zeitung eine Dorfgazette, ĂŒberall die gleiche Hetze drin“ macht es sich die Gruppe zu einfach. Und der Disstrack gegen UniFM („88,4“) wird wohl wenige gegen den Freiburger Sender aufbringen.

Liebe und Schmerz

(tln). Die Freiburger SĂ€ngerin Fofo meldet sich mit ihrer zweiten EP zurĂŒck: Einsamer Sonntag heißt das FĂŒnf-Track-Release. Es dreht sich vor allem um die Schattenseiten der Liebe: Sehnsucht, EnttĂ€uschung, LĂŒgen. Fofos Stimme ist unverkennbar: Zerbrechlich-sanft bis durchdringend-klar in den höheren Lagen singt Florine Puluj ihre deutschen Texte. Das ist mutig: Der emotionale Stoff klingt auf Englisch oft lĂ€ssiger. Doch poetisch und feinfĂŒhlig arbeitet sie sich durch GefĂŒhlswelten.

Im Intro „Einsamer Sonntag“ geht’s zu einer Akustik-Gitarre um das Warten auf den Liebling. Die vier Maintracks liefern mit elektronischen Beats und reduzierten Vocaleffekten modernen Pop-Sound. Im Ohr bleibt vor allem „Fata Morgana“ mit einem minimalistischen PingPong-Beat und einem LaidbackFlow, der zum Kopfnicken einlĂ€dt. Orchestral wird es bei „Mir den Atem raubst“. Streicher und ein Piano sind das Herz einer Ballade mit sphĂ€rischen Momenten.

Die KĂŒnstlerin zĂ€hlt zu den markantesten Stimmen der Stadt. Das zeigt sie auch bei der Jazzband Triaz. Das Spektrum ihrer Stimme beeindruckt. Die AusflĂŒge in hohe Lagen dĂŒrften dennoch nicht jedermanns Sache sein. FĂŒr die jazzaffine Freiburgerin ist es ein Markenzeichen.

... zum neuen Jahr

Die Freiburger Geschmackspolizei ermittelt schon seit 20 Jahren gegen Geschmacksverbrechen – nicht nur, aber vor allem in der Musik. FĂŒr die cultur.zeit verhaftet Ralf Welteroth fragwĂŒrdige Werke von KĂŒnstlern, die das geschmackliche SicherheitsgefĂŒhl der Bevölkerung empfindlich beeintrĂ€chtigen.

Neues Jahr, alter Dreck oder neuer Dreck in alten SchlĂ€uchen? Egal, was immer auch kommen mag, es wird nicht besser. FrĂŒher, ja, da war noch alles besser. Außer das Schlechte. Bevor es jetzt zu philosophisch wird, biegen wir hier ab und beschĂ€ftigen uns wieder mit dem harten Alltag eines Geschmackspolizisten und dem gemeinen Audioverbrechen. Der Thrill und die Herausforderung sind weiter allgegenwĂ€rtig. Ein Beispiel?

Wincent Weiss, Popbarde der seichten Sorte, mit einem dringlichen Statement (zum Berliner Silvester-Feuerwerk?), seinem „Feuerwerk“. Wir hören da mal rein, so rein textlich:

Lass uns leben wie ein Feuerwerk, Feuerwerk, oh oh Als wenn es nur fĂŒr heute wĂ€r', oh oh Denn dieser Augenblick kommt nie zurĂŒck Lass uns leben wie ein Feuerwerk, Feuerwerk, oh oh Die ganze Welt kann uns gehör'n, oh oh Verbrenn'n wie Raketen StĂŒck fĂŒr StĂŒck

Und leben wie ein Feuerwerk, Feuerwerk, Feuerwerk

Die Augen brenn'n, doch ich hör' auf mein GefĂŒhl Geh' noch nicht heim, weil ich nichts verpassen will Du weiß auch genau, wir hab'n das alles nur einmal

Das Lied ist schon etwas Ă€lter, aber unfreiwillig brandaktuell. Musikalisch so aufregend wie ein nasser Knallfrosch, zĂŒndet es textlich gewaltig, aber letztlich doch fehl. Einweg-Metaphern treffen auf Bilder, die sich ins GedĂ€chtnis brennen und dort schwere SchĂ€den anrichten. Berlin lĂ€sst grĂŒĂŸen.

Ergo: Finger weg von nicht von amtlichen Stellen zertifiziertem Feuerwerk als auch Liedgut.

Feurig grĂŒĂŸt, Ralf Welteroth

KOLUMNE
FOFO EINSAMER SONNTAG Deutschpop
Deutsch-Punk

Fußball im StehcafĂ©

SECHS SCHREIBWILDE FRAUEN THEMATISIEREN FREIBURG UND SEINE BESONDERHEITEN IN 58 GESCHICHTEN UND GEDICHTEN

Sie sind zwischen Ende 40 und Anfang 80, sie sind in ganz unterschiedlichen beruflichen Bereichen tĂ€tig –oder waren es, vor der Rente. Was die sechs Frauen aus Freiburg und Umgebung verbindet, ist ihre Liebe zum Schreiben. Oder besser: dass sie ganz wild darauf sind, sich Geschichten auszudenken und zu Papier zu bringen. „Die Schreibwilden“ nennen sie sich – und das mit dem Papier ist wörtlich gemeint: Soeben erschienen ist ihr richtiges, gedrucktes, papiernes Buch.

„Chikiding!“ lautet der neugierig machende Titel, den Alex Devesper, Ellen Göppl, Claudia Hellstern, Sabine Lauffer, Uta Neumann und Ilse Reichinger als Überschrift ĂŒber ihre 58 Geschichten und Gedichte gewĂ€hlt haben, in denen sich alles um Freiburg dreht. Die Stadt, die ihnen laut Prolog Heimatstadt oder Wahlheimat ist, die Stadt, die viele lieben, die manche auch nervt und die jedenfalls „niemanden kaltlĂ€sst“.

Was es mit „Chikiding“ auf sich hat? Das sei der „energetische Ausruf“ ihres frĂŒheren Salsalehrers gewesen, um die Leute auf Trab zu halten,

Chikiding!

58 x Freiburg von Die Schreibwilden

Verlag:

tredition, 2022

260 Seiten, broschiert

Preis: 9,99 Euro

sagt Ellen Göppl, die Autorin der gleichnamigen Kurzgeschichte. Darin geht es um eine sehr beleibte Ă€ltere Dame, die regelmĂ€ĂŸig zu den „in den Nuller-Jahren legendĂ€ren Salsapartys im Hauptbahnhof“ geht und dort zu einem leichtfĂŒĂŸigen Vögelchen wird, das schließlich einfach davonfliegt. Und als Titel fĂŒr das Buch hĂ€tten sie diesen Kunstnamen gewĂ€hlt, „weil wir alle etwas chikiding sind“.

Das bestĂ€tigt nicht nur der von Claudia Hellstern verfasste Text „Der beste Kaffee in ganz Freiburg“. Darin nimmt eine Ă€ußerst gestresste Frau, die tĂ€glich zwischen zwei Arbeitsstellen pendeln muss, eine Auszeit aus ihrer Routine, entknĂ€ult sich aus dem GedrĂ€nge und gönnt sich einen Espresso in einem StehcafĂ© in der Eisenbahnstraße. Sie lĂ€sst sich von einem Alemannisch-Sprecher in elegant tailliertem weißem Hemd in ein GesprĂ€ch verwickeln, in dem es auch um ihr Lieblings-Hass-Thema Fußball geht. Zwar kommt ihr die Stimme bekannt vor, auch sein Gesicht und die „wahrscheinlich gefĂ€rbte“ schwarze

Ponyfransenfrisur. Doch sie kommt erst viel spÀter drauf, mit wem sie sich da stundenlang unterhalten hat.

Auf die Idee, eben diese Stadt aus unterschiedlichen Perspektiven und Erfahrungen in ihren vielen Facetten sichtbar zu machen, kamen die Schreibwilden, die sich in Workshops am privaten Institut fĂŒr kreatives Schreiben kennenlernten und seit 2016 regelmĂ€ĂŸig austauschen, „durch das FreiburgjubilĂ€um“: Sie hatten sich damals mit Erfolg fĂŒr die Ende 2018 ausgeschriebenen stĂ€dtischen Projektförderungen beworben und „wurden ein bisschen gesponsert“.

Zehn Monate hatten sie, um ihre StĂŒcke zu schreiben – und schafften es. Die geplante PrĂ€sentation ihrer teils verrĂŒckten, teils kriminalistischen und manchmal auch schrĂ€gen und abgefahrenen Geschichten ĂŒber Aktuelles und Vergangenes wĂ€hrend einer 2020 geplanten Rundfahrt in einer historischen Straßenbahn „hat dann allerdings Corona vermasselt“. Lesungen sind fĂŒr dieses Jahr geplant. Und ein neues Projekt.

Die Schreibwilden: Sechs Frauen begeben sich auf Spurensuche in ihrer Heimatstadt oder Wahlheimat – mit beachtlichen Ergebnissen. von Erika Weisser Foto: © Die Schreibw!lden
48 CHILLI CULTUR.ZEIT FEBRUAR 2023
LITERATUR

WARUM ICH MEINE BESTE FREUNDIN TÖTETE

DIE SCHMUTZIGE FRAU PUTIN IM WARTEZIMMER

von Amanda Michalopoulou

Übersetzung:

Michaela Prinzinger

Verlag:

Bahoe Books, 2022

300 Seiten, gebunden

Preis: 24 Euro

Toxische AbhÀngigkeit

(ewei). Maria ist neun, als sie 1976 von Ikeja nach Athen kommt. Und sich fremd fĂŒhlt. Vor allem in der Schule stĂ¶ĂŸt die Tochter griechischer, von der Regierung beauftragter „Entwicklungshelfer“ bei der RĂŒckkehr aus Nigeria auf Misstrauen und Ablehnung; sie wird nicht nur von MitschĂŒlern gehĂ€nselt und ausgegrenzt.

Auch in der großen neuen Wohnung fĂŒhlt sie sich beengt: Sie vermisst die kolonialen Ausmaße des Hauses in Afrika und die stets freundlichen Bediensteten. Untröstlich ist sie. Bis Anfang 1977 eine andere Außenseiterin ihre Schulbank teilt: Anna. Sie ist stolze Tochter von WiderstandskĂ€mpfern, die nun, nach dem Ende der MilitĂ€rjunta, aus ihrem Pariser Exil zurĂŒckkehren. Trotz aller politischen Unterschiede im familiĂ€ren Hintergrund werden die beiden zu besten Freundinnen – allerdings in einer toxischen Beziehung, in der Anna die Bestimmende ist. Bis Maria sich emanzipiert und nach Jahren gemeinsamen Engagements in den aufblĂŒhenden sozialen Bewegungen eigene Wege geht.

Am 23. Februar, bringt Amanda Michalopoulou ihren autobiografisch inspirierten Roman nach Freiburg – zum TischgesprĂ€ch an der Langen Tafel bei Suppe und Brot im Literaturhaus. Aus ihren Texten liest die Freiburger Dramatikerin Theresia Walser.

von Lou Bihl

Verlag:

Unken, 2023

260 Seiten, gebunden

Preis: 20 Euro

Panzer im Matsch

(ewei). Unter den sechs Personen, die sich im Wartezimmer einer Ärztinnenpraxis eingefunden haben, ist kein Wladimir. Auch kein Wolodymyr. Hier sitzen drei Ă€ltere Menschen – Frau Luxner, Frau Glueck und Herr Wissmer – und drei ganz junge: Kevin, Kira und Amira.

Und doch sind Wladimir und Wolodymyr an diesem 3. MĂ€rz, dem achten Tag nach dem russischen Angriff auf die Ukraine, mit im Raum. Nicht nur, weil auf dem stummgeschalteten Fernsehbildschirm „Putins Panzer tonlos durch den Matsch rollen“. Auch das Gruppen-Geplauder dreht sich um den Krieg, die Zeitenwende und Putins Psyche, um Waffenlieferungen, Sanktionen und Diplomatie, um IrrtĂŒmer, Fehler, StĂ€rken und SchwĂ€chen von Politikern – im Allgemeinen und im Besonderen.

Dabei kamen die sechs Patienten nur zusammen, weil alle mit ihrem Gewicht kĂ€mpfen und unter Anleitung der Ärztin diverse Pfunde loswerden wollen. Doch das Seminar fĂŒr gesunde ErnĂ€hrung mutiert im Laufe der zehn Sitzungen zusehends zu einem Diskussionsforum ĂŒber das aktuelle politische Geschehen, wobei unterschiedliche Weltsichten diametral aufeinanderprallen. FĂŒr den scharfsinnigen Roman, der am 24. Februar erscheint, hat die Freiburger Autorin Lou Bihl grĂŒndlich recherchiert – und eine dramatischunterhaltsame LektĂŒre mit vielen Einsichten geschaffen.

von Annette Pehnt

Verlag:

Piper, 2023

176 Seiten, Hardcover

Preis: 22 Euro

In der selbst gewÀhlten Falle

(ewei). Beim Blick aus dem Fenster ihres schicken Lofts sieht die namenlose Frau ĂŒber die DĂ€cher einer namenlosen Stadt. Sie steht oft dort. Denn sie hat nichts zu tun, sie langweilt sich, sie verlĂ€sst nicht einmal die Wohnung.

Auch nicht zum Einkaufen oder Haareschneiden: Das besorgt ihr gleichfalls namenloser Gatte, den sie durchgĂ€ngig Meinmann nennt. Er ist im einst gemeinsamen Haus geblieben, als er ihr das Apartment besorgte, wo sie „endlich und ohne Alltagsbelastung ihre literarische Seite verwirklichen“ sollte. Fast tĂ€glich kommt er vorbei, fĂŒllt den KĂŒhlschrank auf, putzt, kocht und leistet ihr nach dem Essen gelegentlich Gesellschaft im Bett.

Das klingt nach Komfortzone –wissend, dass die Autorin Annette Pehnt in Freiburg lebt, drĂ€ngt sich beim Lesen die Vorstellung von HĂ€usern in Herdermer Hanglage auf. Ist es aber nicht: Meinmann, der sie mit ihrer erschlichenen Zustimmung hierher verfrachtete, um ihr vorgeblich zur Freiheit zu verhelfen, spielt ein perfides Spiel mit Verachtung und AbhĂ€ngigkeit.

Sichtbar werden ihre dadurch ausgelösten inneren AbgrĂŒnde in den Episoden, die sie ĂŒber eine freundliche, aber „schmutzige“ Frau schreibt, die in beklemmende Situationen gerĂ€t.

Lesung: 17. Februar, 19.30 Uhr, Literaturhaus Freiburg

REZI
FREZI FREZI
FEBRUAR 2023 CHILLI CULTUR.ZEIT 49

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