chilli cultur.zeit

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HEFT NR. 8/23 13. JAHRGANG

KULTUR

KUNSTHALLE MESSMER ZEIGT MARC CHAGALL

MUSIK

WIE MUSIKER·INNEN IHR LEBEN FINANZIEREN

LEINWAND

BILDGEWALTIGER THRILLER: DIE THEORIE VON ALLEM


Klassiker mit neuer Energie WEST SIDE STORY GASTIERT IN BASEL

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Fotos: © Johan Persson

er Stoff ist zeitlos: Seit nunmehr fast 70 Jahren begeis­ tert die West Side Story die Welt der Musicals. Im kom­ menden Jahr lockt das Musical T ­ heater in Basel mit einer mitreißenden Neu­ inszenierung des modernen Klassi­ kers um Maria und Tony. „America“, „Maria“, „Tonight“, „Somewhere“ – wenige Töne der weltberühmten Kompositionen rei­ chen aus, um die packenden Bild- und Gefühlswelten der West Side Story wachzurufen. Inspiriert von William Shakespeares Romeo und Julia defi­ nierten Leonard Bernstein, Jerome Robbins, Arthur Laurents und Stephen Sondheim mit der Broad­ way-Premiere 1957 ein ganzes Genre musikalisch und tänzerisch neu. Die Geschichte von der unendli­ chen, aber unmöglichen Liebe, die zunächst alle Grenzen überwindet, dann allerdings an einer gespaltenen Gesellschaft scheitert, hat bis heute nichts an Faszination und Relevanz 48 CHILLI CULTUR.ZEIT OKTOBER 2023

von Pascal Lienhard eingebüßt. Irgendwo zwischen Liebesgeschichte, ­Coming-of-Age-Drama, Action-Krimi und Gesellschaftsstu­ die angesiedelt, bedient sich die West Side Story der gesamten Bandbreite des erzählerischen Repertoires. Das Stück ist die unangefochtene Num­ mer eins des amerikanischen Musik­ theaters. Dass der Stoff auch heute noch begeistert, hat unlängst die neue Kinoversion von Altmeister Steven Spielberg bewiesen. Das Re­ make wurde für sieben Oscars nomi­ niert und erhielt eine der begehrten Trophäen. Das Stück ist in New York angesie­ delt. In den heruntergekommenen Straßen, Hinterhöfen und Lagerhal­ len der Upper West Side kämpfen die „Jets“, Söhne weißer Amerikaner, ge­ gen die puerto-ricanischen Neuan­ kömmlinge der „Sharks“. Dabei geht es nicht nur um die Vorherrschaft im Viertel, sondern auch um Identität und den Platz in der Gesellschaft. Die Atmosphäre ist aufgeladener denn je, als sich Maria, die Schwester des „Sharks“-Anführers, und der „Jet“ Tony unsterblich ineinander verlieben. Die verhärteten Fronten der Gangs dulden keine Annäherung

und so steuert die große Liebe unauf­ haltsam der Katastrophe entgegen. Die Gäste können sich in Basel auf einiges freuen. Mit der Welttour­ nee schlägt das neue i­nternationale Kreativteam um den renommierten Regisseur und Schauspieler Lonny Price das nächste Kapitel in der Er­ folgsgeschichte der West Side Story auf. Die New Yorker Broadway-­ Koryphäe führt den B ­ ühnenklassiker mit frischem Blick in ein n ­eues Zeitalter. Choreograf Julio Monge bringt die unvergleichlichen Tanz­ szenen authentisch und mit neuer Energie auf die Bühne. Mit Anna Louizos ist eine der be­ kanntesten und kreativsten ameri­ kanischen Set-Designerinnen an Bord. Unter der musikalischen Lei­ tung des Dirigenten und ­Komponisten Grant Sturiale wird ein großes Or­ chester die in New York gecasteten jungen Darsteller·innen begleiten.

INFO Das Stück läuft vom 30. Januar bis zum 4. Februar 2024 im Musical Theater Basel. Infos: www.musical.ch/westsidestory


Fantastische Bildsprache

KULTUR

IN DER KUNSTHALLE MESSMER GIBT ES EINE WIEDERBEGEGNUNG MIT MARC CHAGALL

Foto: © Marc Chagall, Die Bucht der Engel, 1961, Lithographie © VG-Bildkunst, Bonn 2023

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ie ein Engel schwebt das anhand der ent­ blößten Brust unzweifelhaft als weiblich einzuordnende Wesen in einer blauen Voll­ mondnacht über einer Meeresbucht. Sie ist sehr weiß und ungeheuer oben – und trägt einen betörend bunten Blumenstrauß in den Händen. Ihre scharlachroten Haare beleuchten das ganze Bild, das gut zum Titel der Chagall-Ausstellung „Geträumte Wel­ ten“ in der Kunsthalle Messmer passt. Die karottenroten Haare sind indessen nicht der einzi­ ge auffällige Blickfang: Auch der Unterleib und die Beine der luftigen Erscheinung schimmern im Mondlicht. Oder besser – schillern: Abwärts der Taille ist sie umhüllt von einem hautengen Fischgewand, das ganz mit glänzenden Schuppen bedeckt ist und dort, wo man Füße erwarten würde, in einem Nixenschwanz endet. Die rätselhafte, 60 x 46 Zentimeter große Lithografie ist vom 20. Oktober an in der Kunsthalle Messmer in Rie­ gel zu bewundern: Sie ist eines der Herzstücke der bereits zweiten Ausstellung mit Werken von Marc Chagall. Und sie gehört zum Zyklus „Bucht der Engel“ die er 1962 schuf. Die Landschaft erinnert tatsächlich an die Baie des Anges an der Côte d’Azur, an der der 1889 im belarussi­ schen Witebsk geborene „Maler-Poet“ von 1950 bis zu seinem Tod im Jahr 1985 in St. Paul de Vence lebte und seine ganz besonderen Werke malte. Ob ihm dort jemals Fabelwesen und Luftgeister wie Engel, Sirenen oder Meerfrauen begegnet sind? In der Realität vielleicht nicht, in seinen Träumen aber ganz be­ stimmt. Und wer mag schon festlegen, wo und wie die Grenzen zwischen Traum und Tag verlaufen? Das Traum-Bild hat möglicherweise zur Namensfin­ dung für die Werkschau beigetragen, die Messmer zehn Jahre nach der ersten, sehr erfolgreichen Chagall-Re­ trospekive nun zeigt. Sie ist bis 25. Februar zu besuchen und umfasst etwa 120 Arbeiten, die von Träumen, Erin­ nerungen und religiösen Symbolen inspiriert sind. Dar­ unter auch Werke, die nach Angaben der Ausstellungs­ macher noch nie in Deutschland gezeigt wurden. Die präsentierten Aquarelle, Monotypien, handkolo­ rierten Radierungen und Farblithografien stammen aus allen wichtigen Schaffensperioden des „Maler-Poeten“, der fast ein Jahrhundert lang eine ganz eigene, außerge­ wöhnliche Kunstgeschichte schrieb – in einer unver­ wechselbar magischen, nuancierten und oft surrealen

von Erika Weisser

Traumbild: Die Sirene mit den scharlachroten Haaren, die in der b­ lauen Vollmondnacht über der Bucht der Engel schwebt, zieht die Blicke der Betrachter sofort auf sich.

Bildsprache, in der Schwerkraft und Logik ihre Bedeu­ tung verlieren. Diese Bildsprache findet sich auch in Chagalls anderen grafischen Zyklen wie „Zirkus“, „Daphne und Chloé“ „Poèmes“, „Arabische Nächte“ und „Lafontaines Fabeln“, die nun in Riegel neu interpretiert werden können. Ein Highlight der Ausstellung werden sicher auch die priva­ ten Atelieraufnahmen in seinem Haus in St. Paul de Ven­ ce von 1973 sein, die „auf eine einzigartige Weise Cha­ galls Charakter porträtieren“ und der Kunsthalle als Leihgabe übergeben wurden.

Marc Chagall – Geträumte Welten 21. Oktober 2023 bis 25. Februar 2024 · Vernissage: Freitag, 20. Oktober, 19 Uhr · Kunsthalle Messmer · Großherzog-­LeopoldPlatz 1, 79359 Riegel · www.kunsthallemessmer.de OKTOBER 2023 CHILLI CULTUR.ZEIT 49


KINO

Falltüren der Realität BILDGEWALTIGER MYSTERY-THRILLER UM DEN ERFINDER EINER RÄTSELHAFTEN MULTIVERSUMS-FORMEL

Die Theorie von allem Deutschland/Schweiz 2022 Regie: Timm Kröger Mit: Jan Bülow, Olivia Ross, Hanns Zischler, Gottfried Breitfuß, David Bennent, Philippe Graber u. a. Verleih: Neue Visionen Laufzeit: 118 Minuten Start: 26. Oktober 2023

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eutsches Kino, wie es nur selten zu sehen ist: Timm Krögers „Theorie von Al­ lem“ ist große Filmkunst. Von Beginn an rätselhaft und im Lauf der Ereignisse zunehmend unheimlich, ist dieser in SchwarzWeiß gehaltene Arthaus-­ Streifen eine stimmungs­ volle Hommage an den Film Noir. Ein bemerkenswerter Genrefilm mit konti­ nuierlich steigender Spannung, den auch die Veranstalter der Filmfestspiele in Ve­ nedig bemerkten: Der zweite in Krögers Regie entstandene Spielfilm wurde als einzige deutsche Produktion für den Wettbewerb um den Goldenen Löwen nominiert. Er feierte in Venedig Welt­ premiere, ging hernach aber leer aus. In Farbe ist nur die Eingangsszene: Eine Fernseh-Talkshow in den 1970erJahren, in der ein mit dem hektischen Geschwätz des Moderators offenbar überforderter älterer Mann versucht, mit ihm über seinen Roman ins Ge­ spräch zu kommen. „Die Theorie von Allem“ lautet sein Titel und der Autor Johannes Leinert entwirft darin eine Vielweltentheorie, nach der es Multi­ versen gibt – also andere Welten, die neben der bekannten Welt existieren. Und während der Moderator die Be­ schreibung einiger rätselhafter Vor­ kommnisse, die sich 1962 in einem Schweizer Bergdorf zugetragen haben sollen, als psychotische Science Ficti­ on abtut, behauptet Leinert, alles selbst erlebt zu haben. Sichtlich ver­ wirrt verlässt er die Runde – nicht ohne eine Nachricht an eine Karin in die Kamera zu sprechen. Kurz darauf – beziehungswiese zwölf Jahre früher – sitzt dieser Johannes Lei­ nert zusammen mit seinem Doktorvater

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von Erika Weisser

Fotos: © Neue Visionen

Julius Strathen in einem Zug, der sie zu einem internationalen Physikerkon­ gress in ein Nobelhotel in den Alpen bringt. Dort soll ein iranischer Quan­ tentheoretiker einen Vortrag zu seiner bahnbrechenden neuen Theorie von Al­ lem halten. Dissertant Leinert glaubt, selbst die Formel für diese Multiver­ sumstheorie gefunden zu haben und fie­ bert dem Austausch mit dem „Meister“ entgegen. Doch der verspätet sich; die geistreiche Gesellschaft vertreibt sich derweil die Zeit mit schicken Dinner­ partys und eleganten Skiausflügen. Dabei begegnet Leinert einer äußerst mysteriösen Frau, die er zu kennen glaubt – und die mehr von ihm weiß als sie wissen kann: Karin. Sie rettet ihn zwar nach einem Skiunfall, verschwin­ det dann aber. Als kurz darauf genau an der Stelle, an der sie ihn rettete, die Leiche eines umstrittenen Kollegen des immer todesnäher wirkenden Strathen gefunden wird, ist er überzeugt, dass er mit seiner Theorie von den Parallel-­ Universen richtig liegt. Zumal der er­ schlagene Professor plötzlich wieder kerngesund herumspaziert. Ein großartiges labyrinthisches Rät­ sel, über das man sich noch lange stau­ nend den Kopf zerbrechen kann.


KINO INGEBORG BACHMANN REISE IN DIE WÜSTE

KILLERS OF THE FLOWER MOON

ANATOMIE EINES FALLS

Fotos: © Alamode

Fotos: © Paramount

Fotos: © Plaion Pictures

A / CH / D / L 2023 Regie: Margarethe von Trotta Mit: Vicky Krieps, Ronald Zehrfeld u. a. Verleih: Alamode Laufzeit: 110 Minuten Start: 19. Oktober 2023

USA 2023 Regie: Martin Scorsese Mit: Lily Gladstone, Leonardo DiCaprio u. a. Verleih: Paramount Laufzeit: 206 Minuten Start: 19. Oktober 2023

Frankreich 2023 Regie: Justine Triet Mit: Sandra Hüller, Swann Arlaut u. a. Verleih: Plaion Pictures Laufzeit: 152 Minuten Start: 2. November 2023

Toxische Beziehung

Enteignung durch Mord

Tod in den Alpen

(ewei). Vor 50 Jahren starb Ingeborg Bachmann unter rätselhaften Um­ ständen. Den Tod hat Margarethe von Trotta im Film jedoch nicht in­ szeniert. Zwar deutet sie ihn in einer kurzen Szene an, doch widmet sie sich hauptsächlich der Vorgeschich­ te einer Trennung, an der die Lyrike­ rin zerbrach: ihrer vier Jahre wäh­ renden Beziehung zu Max Frisch. Schon der Einstieg ist alptraum­ haft: Als das Telefon klingelt, hebt Bachmann ab und fragt den Anrufer, wann er wiederkomme, ob sie zu ihm kommen solle? Einzige Erwiderung ist ein schallendes, sich steigerndes Lachen. Dann entfaltet sich die Ge­ schichte in zwei parallelen Bewe­ gungssträngen zurück – bis zur ers­ ten Begegnung der beiden. Die wesentlichen Ereignisse ihrer toxi­ schen Beziehung kommen ins Bild – im Wechsel mit Szenen von Bach­ manns Reise nach Ägypten, bei der die auch Jahre nach der Trennung noch schwer angeschlagene Dichte­ rin ihrem Begleiter Alfred Opel ihre Sicht der Dinge darlegt.

(ewei). Die Entdeckung großer Erd­ ölvorkommen im Gebiet der Osage in Oklahoma bringt diesem Stamm zu Beginn des 20. Jahrhunderts gro­ ßen Reichtum. Und der weckt unter den Weißen selbstredend viel Neid. Doch an das Territorium ist nicht he­ ranzukommen; die Osage hatten es lange zuvor gekauft – und vertrag­ lich festschreiben lassen, dass ihnen sowohl das Land als auch eventuell zu bergende Bodenschätze gehörten. In seiner Gier nach mehr Reich­ tum ersinnt Rinderbaron William Hale einen perfiden Plan: In Kennt­ nis der Gesetze der Osage, dass beim Tod einer Frau deren Landrechte an den Ehemann übergehen, arrangiert er eine Ehe zwischen seinem Neffen Ernest und der jungen Diabetikerin Mollie Kyle. Mit dem noch unausge­ sprochenen Auftrag, hinterrücks ih­ ren schnellen Tod herbeizuführen. Ernest bleibt nicht der Einzige: Es folgt eine ungeheuerliche Mordserie, die von Rassismus, ungezügeltem Kapitalismus und grenzenloser Aus­ beutung von Minderheiten zeugt.

(ewei). Sandra, eine deutsche Schrift­ stellerin, die seit zwei Jahren mit ih­ rem französischen Ehemann Samuel und dem 11-jährigen Sohn Daniel in einem Dorf in den Alpen lebt, findet sich plötzlich vor Gericht wieder: Ei­ nes strahlenden Wintermorgens wur­ de Samuel vor dem Chalet der Fami­ lie tot im Schnee aufgefunden. Und da die Polizei sowohl Unfall als auch Selbstmord bezweifelte, muss sich Sandra nun des Vorwurfs erwehren, ihn vom Balkon gestoßen zu haben. Es folgt ein aufreibender Indizien­ prozess um die Frage, was in jener Nacht wirklich geschah. Und beim Ringen um die Wahrheit entwickelt sich der Film zu einem packenden Drama, in dem die widersprüchliche Beziehung der beiden im Detail se­ ziert und der harten Realität des Jus­ tizsystems gegenübergestellt wird. Sandra Hüller glänzt in der Rolle der Hauptverdächtigen mit nuan­ ciertem Spiel – in meisterhafter Re­ gie von Justine Triet, die dafür in Cannes mit der Goldenen Palme aus­ gezeichnet wurde.


„Das schwankt ganz schön krass“

WIE FREIBURGER MUSIKER·INNEN ÜBER DIE RUNDEN KOMMEN

Fotos: © ProSieben SAT.1 André Kowalski, Christoph Soederdpa, knipserei berthold

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usik ist ein Traum­ beruf. Aber einer, der meist mit viel Aufwand und über­ schaubarem Ein­ kommen verbun­ den ist. Das zeigt die Studie „Pro­ fessionelles Musi­ zieren in Deutsch­ land“. Ein Ergebnis: Nur 30 Prozent aller Musiker·innen kommen ohne zweites Standbein aus. So geht es auch zwei Freiburger Berufsmusi­ ker·innen. Sie berichten im chilli, wie sie ihr Leben finanzieren. Und war­ um es dazu keine Alternative gibt.

2460 Euro netto im Monat. So viel verdienen freiberufliche Musi­ ker·innen im Schnitt in Deutsch­ land. Jeder Fünfte liegt bei weniger als 1500 Euro. Das zeigt die Studie „Professionelles Musizieren“. Sie bietet erstmals einen genreübergrei­ fenden und bundesweiten Über­ blick zu Tätigkeiten, Einkommen und Ausbildungswegen von Berufs­ musizierenden. Der Deutsche Musikrat sieht die Einkommenslage freiberuflicher Mu­ siker·innen kritisch. Generalsekretär Christian Höppner fordert eine bes­ 52 CHILLI CULTUR.ZEIT OKTOBER 2023

von Till Neumann

Pro Konzert bekommt er eine feste sere Bezahlung. Und mehr Wert­ Gage: „Bei einem Dienstleistungs-­ schätzung. Auch im Vergleich zu Festangestellten: Die verdienen mit Covergig schaue ich, dass ich so mit 2940 Euro im Schnitt 480 Euro mehr 400 bis 500 Euro am Abend rausge­ he.“ Bei Herzblutprojekten auch mal im Monat. Der Freiburger Felix Rehmann weniger, weil da das Geld oft reinves­ kann davon ein Lied singen. Der tiert werde. Warum es Honorare in 42-jährige Gitarrist und Bassist lebt der Höhe braucht? „Weil das Kon­ schon ein Leben lang von der Musik. zert nur die Spitze des zu finanzieren­ Was er verdient? „Das ist gar nicht den Eisbergs ist“, sagt Rehmann. so einfach, es schwankt ganz schön Proben, anreisen, Equipment finan­ krass“, sagt Rehmann. Von 1500 bis 3000 Euro brutto rei­ Rehmann arbeitet „Minimum che das Spektrum. Je nachdem, 60 Stunden die Woche“ wie viele Aufträge reinkommen und was dafür bezahlt wird. „Im Wesentlichen habe ich drei zieren, Songs schreiben und aufneh­ Einkommensquellen“, erklärt Reh­ men, sich vermarkten – all das müsse mann. Er spielt in der Metalband mit kalkuliert werden: „Als Selbst­ „League of Distortion“, ist in acht ständiger bezahlt uns keiner unser weiteren Kombos aktiv und unter­ Arbeitshandy, wir bezahlen alles aus richtet zwei Tage die Woche am der eigenen Tasche.“ Mit all seinen Musiclab in Emmendingen. Mit der Tätigkeiten kommt er auf „Minimum pädagogischen Arbeit verdient 60 Stunden pro Woche“. Rehmann sein Grundgehalt: „Das Der Musiker ist dennoch zufrieden: ist das, womit ich safe meine Miete „Ich habe oft das Gefühl, ich habe es und mein Essen bezahlen kann.“ Al­ geschafft: Ey, krass, ich kann vom les, was drüber hinausgeht, ist ein Musikmachen leben.“ Das gehe zwar Bonus: „Wenn ich mir mehr leisten nicht allein mit eigener Musik („das will als den simplen Lebensstan­ gibt es heute nicht mehr“), aber alles, dard, dann muss ich schon gucken, was er mache, mache er gern. ­Teilweise dass ich ein bisschen Kohle damit bleibt sogar etwas für Rücklagen reinfahr.“ ­übrig. Für Rehmann ein Luxus.


MUSIK Leben für die Musik: Die Freiburger Musiker·innen Nadine Traoré und Felix Rehmann. Musikrat-Generalsekretär Christian Höppner (Mitte) macht sich auch Sorgen um sie.

Ohne Festanstellung kommt auch Nadine Traoré durch. Die 29-jährige Freiburgerin mit Wurzeln in West­ afrika (Elfenbeinküste und Mali) ist genau wie Rehmann beruflich breit aufgestellt: Sie spielt als Bassistin und Sängerin in verschiedenen Combos (etwa The Rehats) und gibt pro Woche 19 Stunden Unterricht an Musikschulen in Emmendingen und Lörrach. Dazu kommen bis zu fünf Stunden Privatunterricht. Wie viel sie im Monat damit ver­ dient? „Zwischen 4000 und 5000 Euro brutto“, sagt Traoré. Der Mu­ sikunterricht ist auch für sie eine Art Grundgehalt: Damit kommt sie auf rund 3500 Euro im Monat. Den Rest

400 Euro für die Künstlersozialkasse verdient sie über Gagen für Konzer­ te. Das schwanke zwischen 1000 und 2000 Euro. „Es kommt immer auf die Saison an: Im Sommer geht immer mehr.“ Dezember bis April sei dafür ruhiger. Von dem, was sie verdient, geht vieles wieder weg: Rund 400 Euro im Monat braucht sie für die Künstler­

sozialkasse, über die sie renten-, kran­ ken- und pflegeversichert ist. Zudem sind die Steuerabgaben hoch. Reh­ mann schätzt sie bei sich auf rund 20 Prozent. Dazu kommen Spritkosten, Ausgaben für Technik oder Musik­ produktionen. Dennoch findet Traoré, dass es „krass gut läuft“. Das führt sie auch auf ihr Profil zurück: „Bassisten sind rare Ware, das ist ein bisschen mein Glück.“ Als Gitarristin oder Sängerin hätte sie es wohl schwerer. 2022 machte sie bei der TV-Castingshow „The Voice of Germany“ mit – und schaffte es ins Team Mark Forster. Auch das hat ihr geholfen, sich einen Namen zu machen. Ein Selbstläufer ist die Karriere deshalb nicht: „Ich arbeite eigent­ lich jeden Tag so acht bis neun Stun­ den“, erzählt Traoré. Nur sonntags versuche sie, nichts zu machen – was nicht immer klappe. Traoré kommt demnach auf mindestens 50 Wo­ chenstunden. Eine Erkenntnis der Studie ist zudem ein „Gender Pay Gap“: Musi­ kerinnen in Deutschland verdienen im Schnitt 24 Prozent weniger als ihre männlichen Kollegen. Nadine Traoré überrascht das nicht. In den vergangenen Jahren hatte sie oft das Gefühl, sich als Frau stärker bewei­ sen zu müssen als ein Mann. „Es war sehr hart. Ich musste viel die Ellen­ bogen rausfahren.“ Ein Beispiel? „Wenn ein Veranstalter mich sieht mit dem Bass, wie ich mein Zeugs aufbaue, dann ist so ‚das kleine Mä­ del, ach wie süß‘.“ Bei Gagen hat sie die Vermutung, in Bands auch schon schlechter be­ zahlt worden zu sein als Männer. Das war vor einigen Jahren, als sie sich noch nicht traute nachzufragen. Mittlerweile setzt sie auf offene An­ sprache und Mindestforderungen. Pro Gig bekommt sie zwischen 200 und 350 Euro. Es bleibt die Forderung des Musikrats nach einer besseren Bezahlung. Und die Frage, wie das gelingen soll,

wenn auch Veranstalter·innen zu kämpfen haben? „Die Forderung nach höheren Honoraren kann die Branche auch nicht stemmen“, sagt Musikrat-Generalsekretär Christian Höppner. Der 1956 Geborene ver­ weist daher an die Politik: „Es muss von der Rahmengesetzgebung her etwas geschehen.“ Das heißt für ihn, „dass man hier mit ermäßigten Steu­ ersätzen arbeitet“. Spätestens bei den Haushaltsberatungen zur Bun­ destagswahl 2025 hofft er auf einen Durchbruch. Seine Befürchtung, wenn das nicht klappt: „Deutschland droht zu verstummen.“ Viele Freiberufler hätten zu knapsen. „Die kommen auf einen Jahresbruttoverdienst von 13.000 Euro.“ Davon könne man nicht leben. Eine Absicherung durch Musikunterricht wie bei Felix Reh­ mann und Nadine Traoré ist daher der Klassiker. Die beiden haben Glück: Sie unter­ richten gern. Nicht allen geht das so. Was dafür so ziemlich alle Musi­ ker·innen verbindet: Ihr Job ist Beru­ fung statt Beruf. „Ich habe mich be­

„Ohne würde ich depressiv werden“ wusst für den musikalischen Weg entschieden, weil mein Seelenglück über dem Geld steht“, sagt Traoré. Musik macht sie, seit sie neun ist. „Ich glaube, ohne würde ich ­depressiv werden.“ Auch Rehmann geht es so: „Im Grunde habe ich keine andere Wahl beim Beruf: Ich muss Musik machen, weil ich das kann und liebe.“ Wenn er sich etwas wünschen dürfte, wäre es mehr Wertschätzung für seinen Job. Das teilt auch Chris­ tian Höppner vom Musikrat: „Mein Eindruck aus vielen Jahren ist: In Deutschland herrscht eine Dienst­ leistungsmentalität nach dem Mot­ to: Spiel er mal auf.“ Das spiegle sich in der Bereitschaft wider, auskömm­ liche Honorare zu zahlen. Viele wür­ den auf Spitzengagen der Weltstars schauen. Das verzerre das Bild. „Die große Anzahl der Musiker·innen muss sich mit ganz a­ nderen Themen befassen.“ OKTOBER 2023 CHILLI CULTUR.ZEIT 53


MUSIK Single | Experimental

Single | Alternative-Rock

Futuristische Flöte

Gewohnt hymnisch

(tln). Johann Sundermeier ist ein sel­ tenes Exemplar. Der Freiburger stu­ diert Flöte und interpretiert sein In­ strument mit Wow-Effekt. Er spielt zu Elektrobeats oder beatboxt wäh­ rend er flötet. Der Sound klingt ur­ ban, effektbeladen, wabernd. Das zeigt sich auch auf seinem ers­ ten Release: Die Single „Was bleibt“ entführt in einen psychedelischen Kosmos. Das Intro könnte auch vom Klangkünstler Nils Frahm sein. Da fliegen futuristische Klänge durch den Raum, die klingen, als sei man gerade im Raumschiff unterwegs zu einem fremden Planeten. Dazu mischen sich Flötenflächen, die Melancholie versprühen. Aber auch Aufbruch. „Der Song erzählt von Verlust und Vergänglichkeit“, erzählt Sundermeier dem chilli. Nach einer Minute dann ein kurzes Break, die Drums setzen ein. Im Slowmoti­ on-Tempo schiebt der Beat nach vor­ ne. Entspannt ist das, aber druckvoll. Sundermeier hat den Song alleine komponiert. In seinem Homestudio in Freiburg-Kappel bastelt er an Tracks. „Es folgen noch mehr Songs“, verrät er. Live ist Sundermeier regelmäßig zu sehen. Und überrascht mit seinem Spiel. Ihn selbst wundert das nicht: „Mit einer Flöte lässt sich virtuoser spielen als mit einer Geige. Die BPMZahl ist einfach höher.“

(pl). Ein starkes Debüt-Album, ein Treffen mit Udo Lindenberg, mehr als eine Million Streams für „Schwarz Schwarz Weiß“ – für Von Welt ging es in den vergangenen Jahren steil bergauf. Ende 2022 ist Bassist Nico­ lai Hoch ausgestiegen. Die erste Single als Trio macht wie gewohnt Druck: „Adrenalin“ ist hymnisch, in Lyrics und Musikvideo der Lokal­ matadore geht es düster zu. Laut Statement der Band stieg Hoch aus, weil die gemeinsame Vision von Zukunft und Ausrich­ ­ tung in den vorausgegangenen bei­ den Jahren immer weniger zusam­ mengepasst habe. Die Band werde ihrem Stil treu bleiben. Tatsächlich stehen mit „Adrenalin“ keine großen Veränderungen ins Haus. Zwar reicht der Song nicht an Banger wie „Raus“ oder „Verschwende deine Ju­ gend“ ran. Dennoch geht vor allem der Refrain super ins Ohr. Mit Zeilen wie „Ich hab' Nächte gegen Tage getauscht weil mir das Neonlicht die Zweifel raubt“ oder „Mein Privileg ist mein Untergang weil ich alles tun oder lassen kann“ geht’s um Themen wie Orientie­ rungslosigkeit und Eskapismus. Im Musikvideo wird Nicolas Kuri in ei­ nen Krankenwagen verfrachtet, wo er trotz allem an Laptop und Smart­ phone hängen muss – eine starke Metapher.

ADRENALIN

Foto: © Jojo Schwitzkowski

WAS BLEIBT

Plat

VON WELT

3 FRAGEN AN LUKAS MEISTER Vor zehn Jahren hat der Ex-Breisgauer Lukas Meister sein Debüt-Album mit einer Release-­ Show in Freiburg veröffentlicht. Inzwischen nach Berlin gezogen, präsentiert der Singer-­ Songwriter nun seine fünfte Platte „Schneeflocken im Sommer“. Mit chilli-Volontär Pascal Lienhard spricht der 37-Jährige über Gesellschaftskritik und Songwriting. Herr Meister, was hat sich in den vergangenen zehn Jahren musikalisch für Sie getan? Ich habe viel ausprobiert, mein Gitarrenspiel weiterentwickelt, an der Gesangstechnik gefeilt. Inzwischen habe ich so etwas wie einen eigenen Sound gefunden und eine Art zu texten, die mir genug Spielraum lässt, Neues auszuprobieren und trotzdem die Songs untereinander verbindet. Ihre Songs sind oft auf ironische Weise gesellschaftskritisch. Sind Sie ein politischer Musiker? Irgendwie ist alles politisch. Ich schreibe meine Songs aber nicht, um eine bestimmte Linie zu verfolgen. In den vergangenen Jahren sind bestimmte Themen wie die Klimakrise für mich wichtiger geworden. Da ich das aber nicht programmatisch vorantreibe, sondern verarbeite, was mich beschäftigt, würde ich sagen: Ich bin kein politischer Musiker, aber meine Texte sind in letzter Zeit gerne mal gesellschaftskritisch. Haben Sie die Platte solo eingespielt und aufgenommen? Ja, das hat gut zu den Songs gepasst. Natürlich musste ich ein paar Sachen neu anfangen, mich rantasten, Änderungen vornehmen und auch ein bisschen Frust schieben. Am Ende ist es aber genauso geworden, wie ich es mir vorgestellt habe. 54 CHILLI CULTUR.ZEIT OKTOBER 2023

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„Irgendwie ist alles politisch“

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JOHANN SUNDERMEIER


KOLUMNE AGUS GARCÍA

HEIRS TO THE WILD

Single | Rockabilly

Single | Poetic Indie

PARTING WAYS

ELUSIVE MOMENTS

... Zur KI Die Freiburger Geschmackspolizei ermittelt schon seit 20 Jahren gegen Geschmacksverbrechen – nicht nur, aber vor allem in der Musik. Für die cultur.zeit verhaftet Ralf Welteroth fragwürdige Werke von Künstlern, die das geschmackliche Sicherheitsgefühl der Bevölkerung empfindlich beeinträchtigen.

Angenehm altmodisch

Spannender Sound

(pl). Agus García hat was übrig für Musik, die viele Jahre auf dem Bu­ ckel hat. Als Straßenmusiker etwa covert er häufig Songs der Beatles. Der Blick in die Vergangenheit drückt auch seiner ersten Solo-­ Single „Parting Ways“ einen dicken Stempel auf. García stammt ursprünglich aus dem spanischen Puertollano, seit vie­ len Jahren musiziert er im Breisgau. Seine Single „Parting Ways“ groovt und entführt in eine Zeit, in der man Musik via Vinyl statt Stream konsu­ mierte. Auf der Rockabilly-Nummer setzt neben dem Gesang Garcías nicht nur Oliver Fallowfield-Cooper am Kontrabass Akzente, sondern vor allem David Dueñas an der E-Gitar­ re. Wer sich mit der lokalen Szene ein wenig auskennt, hat „Parting Ways“ vielleicht schon in einer anderen Ver­ sion gehört: Der Song stand auf der Setlist von Garcías früherer Band „Handsome Apes“. Zugegeben: Innovativ ist der Track nicht. Wer aber auf Musik von Künstlern aus den 50ern oder 60ern steht, sollte ein Ohr riskieren. In die gleiche Kerbe dürfte das Al­ bum „Blue Bridge“ schlagen: Auf dem Cover schreitet García über die Blaue Fahrradbrücke am Freibur­ ger Hauptbahnhof – so wie einst John, Paul, George und Ringo über die Londoner Abbey Road.

(pl). Poetic Indie – so bezeichnet das Freiburger Trio „Heirs to the Wild“ seinen Stil. Dahinter steckt eine Mi­ schung aus Pop, Soul, Jazz und Sin­ ger-Songwriter. Eine gelungene Kostprobe des spannenden Sounds der Band gibt’s mit der neuen Single „Elusive Moments“. Wer in der Freiburger Musikszene unterwegs ist, kennt die Multiinstru­ mentalisten Micha Scheiffele und Jan Klementz von der Rap ’n’ Roll-For­ mation Qult. Im Verbund mit Sänge­ rin Rabea Hussain lassen es die bei­ den entspannter angehen. Schon das Debüt-Album „The Promise“ über­ zeugte mit seinem zurückgenomme­ nen und melancholischen sowie gleichzeitig komplexen Klang. Auch mit dem Musikvideo zu „Universe of Fireflies“ setzte die Kombo ein Ausru­ fezeichen: Die Zusammenarbeit mit der Straßenzeitung FREIeBÜRGER sollte auf die Lage obdachloser Men­ schen aufmerksam machen. „Elusive Moments“ umschmeichelt das Ohr, lullt angenehm ein. Im Mit­ telpunkt steht wieder die gefühlvolle und soulige Stimme von Hussain. Wer genau hinhört, erkennt auch die Klas­ se der beiden Instrumentalisten: Kle­ mentz sorgt mit seiner Bassline für Groove, Gitarrist Scheiffele setzt Ak­ zente. Im Video ist zudem die Freibur­ ger Tänzerin Miriam Cheema zu se­ hen. So darf’s weitergehen.

Oh, I cannot explain / Every time it's the same / Oh, I feel that it's real / Take my heart Cheri, cheri lady / Goin' through a motion / Love is where you find it / Listen to your heart. Kommt Ihnen das bekannt vor? Genau, menschliche „Intelligenz“ des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Wer künstliche Intelligenz verteufelt, sollte sich nicht so künstlich aufregen. Wir kennen uns aus mit Künstlern, vor allem musizierenden. Auch die sogenannten schönen Künste sind uns nicht fremd, aber doch fremd geblieben. Welche Form auch immer, Kunst schützt vor Kacke nicht, Stichwort Kunstkacke. Wir fürchten uns nicht vor dem Tag, an dem der erste Song einer KI die Charts unsicher oder doch sicherer macht. Es kann eigentlich nur besser werden. Oder stirbt die Hoffnung auch hier einfach nur zuletzt. Diese Wahrheit ist höchst wahrscheinlich unwahr: Alle Ballermann- und Wiesnhits der letzten Jahre wurden bereits von einer künstlichen Intelligenz geschrieben, ein Prosit auf den Algorithmus, hier fliegen gleich, nein, jetzt die Löcher aus dem KIse. Kennen Sie den König von MallorKI, schöne Maid hast du heut für mich KeI-Zeit, komm mit ins Abenteuerland, der Eintritt kostet den KI-Verstand, verdammt KI ich lieb dich, lieb dich nicht. Was ist grün und hört mit EI auf? Ihre Geschmackspolizei 110101010100 PS: Dieser Text wurde mit Chat-GPT verfasst. Fast.


LITERATUR

Freuen sich auf die Buchmesse in der Gewerbehalle: die Kreativpioniere Arne Bicker (r.) und Georg Schwarzkopf

FreiBuch im Kultur-Schopf ARNE BICKER UND DIE KREATIVPIONIERE ORGANISIEREN DIE ERSTE FREIBURGER BUCHMESSE

Fotos: © Annemarie Matzakow, ewei

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as wurde aber auch Zeit: Endlich wird es auch in Freiburg eine Buchmesse geben. FreiBuch wird sie hei­ ßen und soll vom 3. bis 5. Mai 2024 stattfin­ den. Erst mal als Popup-Event. Dann viel­ leicht regelmäßig. Der Ort für die erste Auflage ist der „Schopf 2“ im Quartier Schildacker, das die Stadt zur künftigen Krea­ tivspange erklärt hat. Dort bespielt der Verein Kreativpioniere seit einem Jahr die 400 Quadratmeter großen Hallen eines ehemaligen Elektro­ handels mit ganz unterschiedlichen Kulturveranstaltungen. In einer Stadt mit solch einer le­ bendigen Literaturszene, sagt der Journalist Arne Bicker, „fehlt eine eigene kleine Buchmesse schon lan­ ge“. Der freie Redaktionsleiter des Saisonvorschau-Fußballmagazins „Anpfiff“ und PR-Mann der Kreativ­ pioniere hegt die Idee denn auch schon seit geraumer Zeit. Noch vor Beginn der Corona-Kunstpause habe er dem für Kultur zuständigen

56 CHILLI CULTUR.ZEIT OKTOBER 2023

von Erika Weisser

Ersten Bürgermeister U ­ lrich von Kirchbach in einem informellen Ge­ spräch sein Vorhaben angetragen. Der sei sofort begeistert gewesen und habe bereits seine Schirmherr­ schaft vereinbart. Auch die Teams des Literaturhauses und der Stadtbi­ bliothek hätten ihre Unterstützung und Mitwirkung schon zugesagt. Bicker steckt derzeit mitten in der Umsetzung seiner Vorstellung von der Messe, bei der es weder ein Mot­ to noch einen Buchpreis gebe. Es gehe ihm „vor allem darum, die örtli­ che Buchbranche mit all ihren Ak­ teuren untereinander zu vernetzen“ – und sie dem Publikum bei freiem Eintritt zu präsentieren. Hier haben sowohl die vielen Freiburger Au­ tor·innen und Übersetzer·innen als auch regionale Verlage die Gelegen­ heit, „sichtbar zu werden und mit ih­ ren Leser·innen ins Gespräch zu kommen“: an den Info- und Ver­ kaufsständen in den beiden größe­ ren Hallen, aber auch bei Lesungen in einem der Ateliers und bei ver­ schiedenen Foren in der dritten Halle, in der es eine Bühne und eine Cafeteria gibt.

Dabei ist Arne Bicker, der selbst auch Buchautor ist, „ziemlich guter Dinge“: Er hat ein „prima Vorberei­ tungsteam aus 22 ehrenamtlichen Mitarbeitern“, zu dem Fachleute wie der Verleger Derk Janssen, der frühere SWR-Redakteur Rainer Suchan und Autor·innen wie Simone Harre, Anne Grießer und Sascha Berst-Frediani ge­ hören. Die verschiedenen Aufgaben seien auf Kleingruppen verteilt wor­ den, die sich jeweils um das Bühnen­ programm, die Lesungen und um die begleitende Kunstausstellung küm­ mern. Und um die Workshops für Kin­ der, die im zweiten Atelier stattfinden und die Bicker „besonders am Herzen liegen“. Als Sohn einer Buchhändlerin und eines Verlegers habe er erfahren, wie gut und wichtig frühe Leseför­ derung ist – er zehre bis heute davon. Ein weiterer Grund für seine Zu­ versicht, dass es gelingen werde: Von den 20 Ständen, die zu vergeben sind, seien 16 schon gebucht. Darunter sei­ en die beiden großen Freiburger Ver­ lage, Herder und Rombach. Bei der Ortsbesichtigung „waren sie vom Charme der schnörkellosen Gewer­ behallen ganz besonders angetan“.


FREZI

KEIN KIND VON NICHTS UND NIEMAND

REGEN

von Ferdinand von Schirach Verlag: Luchterhand, 2023 112 Seiten, gebunden Preis: 20 Euro

von Aya Cissoko Verlag: Wunderhorn 2023 112 Seiten, gebunden Preis: 22 Euro

SOKO DREISAM

von Anne Grießer Verlag: Hansanord 2023 320 Seiten, Broschur Preis: 16 Euro

Drift ins Existenzielle

Hautfarbe: zu schwarz

Die Prozessbeobachterin

(bar). Ferdinand von Schirachs Büchlein „Regen“ schaffte es quasi aus dem Stand an den Sonnenplatz der „Spiegel“-Bestsellerliste. Wer es gelesen hat, dem kommt die Frage in den Sinn: Warum? Auf 50 Seiten führt ein vom Regen durchnässter Mensch in einer Bar ein Selbstgespräch. Er ist Schriftsteller a. D., einer, der seit 17 Jahren nichts mehr geschrieben hat. Seinen Ge­ dichtband „Statt Gedichte“ hatte der Drucker ebenso eigenmächtig wie einfältig in „Stadtgedichte“ umge­ tauft. Das ist lange her. Hängt ihm aber immer noch nach. Doch das ist eine andere Geschichte. Nun jedenfalls wurde er zum Schöffen in diesem Strafverfahren berufen (Frau sagt Mann, er hat einen zu kleinen Penis, Mann dreht durch, Frau tot). Gedank­ lich noch gefangen vom Prozessauf­ takt, sitzt er da – der Mord geschah auf der anderen Straßenseite – und sin­ niert über die großen Fragen in seinem eigenen Leben. Und über die der Ge­ sellschaft. Über Schuld und Trauer, über Depression und Sinn, über Ruck­ sackträger in Fußgängerzonen, über das Schreiben („Das Schreiben ist kein demokratischer Prozess. Es ist das Gegenteil.“) Zuweilen driftet der Text ins Existenzielle, sozusagen das Wohnzimmer des Autors Gedanken­ welt. Geschrieben ist „Regen“ für die Bühne. Dort mag es Kraft entfalten. Dem Text folgt ein ebenso fünfzig­ seitiges (!) Interview, das von Schirach der Süddeutschen gegeben hat.

(ewei). Als die Mutter ihres Freun­ des bei der ersten Begegnung be­ merkt, dass Ayas Haut „aber sehr schwarz“ ist, entgegnet sie ihr – nichts. Obwohl sie verstanden hatte, dass „zu schwarz“ gemeint war. Doch ihre Mutter Massiré Dansira hatte sie gut erzogen: „Wenn dir nichts Nettes über die Lippen kommen würde, halt lieber den Mund!“ Das hatte ihr die Frau eingebläut, die mit 30 Witwe wurde: Ihr Mann und eine Tochter starben bei einem Brandanschlag auf ihre Wohnung in Paris. „Ihr Leben lang“, schreibt Aya in ihrem Briefroman an ihre Tochter, habe Massiré sich abgerackert, um ihre drei überlebenden Kinder allein durchzubringen – und sie zu „an­ ständigen Menschen“ mit Würde und Charakterstärke zu erziehen. Dieser Tochter stammt nicht aus der Beziehung zu dem Sohn der res­ pektlosen „Dame mit dem scharfen Blick“. In diesem Mädchen vereinen sich zwei Geschichten von Gewalt und Schmerz: die ihrer Malischen Vorfahren, die den Kolonialismus bekämpften, und die ihrer jüdischen Vaterfamilie, die Auschwitz überlebt hatte. Aya gibt ihr die doppelte Un­ rechtserfahrung mit auf den Weg. Und die solidarische Kampfkraft, die daraus entstehen kann. Am 18. Oktober ab 19.30 Uhr bringt die Freiburger Übersetzerin Beate Thill das aufrüttelnde Buch zur Lesung beim Freiburger An­ druck im Literaturhaus.

(ewei). „Ich verstehe den ganzen Auf­ wand nicht. Es ist doch nur eine Frau“ . Die Sätze stammen aus einem Verhörprotokoll von 2013; gesagt hat sie Hussein K., als er in Griechen­ land verurteilt wurde – wegen schwe­ rer Körperverletzung mit Tötungsab­ sicht. Das mag der Afghane, der nach sei­ ner Amnestierung 2015 nach Deutsch­ land kam, auch während seines Ver­ fahrens vor dem Landgericht Freiburg über sein zweites Opfer gedacht ha­ ben. Jedenfalls legte die herablassende Gleichgültigkeit, die er im Laufe der 25 Verhandlungstage zeigte, für die Prozessbeobachterin Anne Grießer diesen Schluss nahe. Die Freiburger Krimiautorin lie­ fert eine gute Zusammenfassung der Ermittlungen gegen Hussein K., der nach eigenem Eingeständnis am 16. Oktober 2016 an der Dreisam die 19-jährige Studentin Maria Laden­ burger ermordet hatte. Sie lässt dabei auch ihre eigenen Überlegungen nicht aus. Über anma­ ßende Vorverurteilungen etwa, den gefährlichen Ruf nach Selbstjustiz und die Bedeutung unabhängiger Gerichte. Über den Menschen, der zum Opfer wurde. Aber auch über den Menschen, der zum Täter wurde. Und zum Lügner: Um nur jugend­ strafrechtlich belangt zu werden, gab er an, erst 17 zu sein. Anhand einer Zahnanalyse ließ sich indes feststel­ len, dass er zum Zeitpunkt der Tat etwa 24 gewesen war. OKTOBER 2023 CHILLI CULTUR.ZEIT 57



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