chilli cultur.zeit

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KULTUR CITY-TOUR MIT

ZUKUNFTSBLICKE BEIM

FREIBURGER FILMFORUM

PETER KALCHTHLER MUSIK INS NACHTLEBEN MIT ELLA STRACCIATELLA LEINWAND

Das MĂŒnster

FAST 40 JAHRE IM DIENST DER MUSEEN: EIN SPAZIERGANG MIT DEM

STADTHISTORIKER PETER KALCHTHALER

W als Lebenszentrum

er mit Peter Kalchthaler durch Freiburgs Innenstadt geht, kommt nur langsam voran. Alle paar Meter spricht ihn jemand an, ihm unbekannte Passanten, Kollegen, Mitarbeiter der Institutionen, mit denen er in seiner Zeit als Leiter des Museums fĂŒr Stadtgeschichte und stellvertretender Direktor des Augustinermuseums zu tun hatte. Eine Ă€ltere Frau will wissen, ob seine nĂ€chste StadtfĂŒhrung in Amsterdam mit Besuch der Vermeer-Ausstellung denn schon ausgebucht sei. Der Malermeister aus den MuseumswerkstĂ€tten erkundigt sich, wie er mit seinem frisch angetretenen Ruhestand zurechtkomme. Und sichtlich gerĂŒhrt versichert ihm kurz darauf ein im kulturellen Sektor tĂ€tiger Mann von der Sparkasse, dass er ihn „jetzt schon vermisse“.

Es ist zu spĂŒren, dass der Historiker sich ĂŒber derlei Begegnungen freut, dass er es genießt, ein integraler Teil dieser Stadt zu sein. Das war er schon immer: Kalchthaler ist gebĂŒrtiger Freiburger, er hat hier stu-

diert, seine Familie gegrĂŒndet – und er arbeitete 39 Jahre lang bei den StĂ€dtischen Museen. Obwohl er ursprĂŒnglich Lehrer werden wollte. Dass er es nicht wurde, hat er „keinen Tag bereut“, sagt er. Im Gegenteil: Als er wĂ€hrend seines Kunstgeschichte-Studiums im Augustinermuseum jobbte, habe ihn diese TĂ€tigkeit bald so fasziniert, dass Museumsarbeit fĂŒr ihn zur Berufung wurde. Das klingt ĂŒberzeugt – und ĂŒberzeugend.

Kein Wunder: Wir verweilen im Innenhof des Wentzingerhauses, das seit 1994 das Museum fĂŒr Stadtgeschichte beherbergt und seither Mittelpunkt seines kunsthistorischen Wirkens war. Einer der Orte also, die fĂŒr ihn „von ganz wesentlicher Bedeutung“ sind. Wentzingers Jahreszeiten-Skulpturen stehen um ihn herum, beschattet von gerade grĂŒnenden BĂ€umen – eine stille Oase mit plĂ€tscherndem Brunnen und Vogelgezwitscher mitten in der Stadt.

Ein „regelrechtes Kleinod“ sei dieses 1761 erbaute Haus „Zum schönen Eck“,

von Erika Weisser
Fotos: © ewei, iStock.com/RossHelen 48 CHILLI CULTUR.ZEIT MAI 2023 KULTUR

findet Kalchthaler, und erinnert sich an die MĂŒhen der Sanierung des Baudenkmals, das „eines der wenigen im Originalzustand erhaltenen KĂŒnstlerhĂ€user des SpĂ€tbarock in Deutschland“ sei.

Von heute aus gesehen, sinniert er, wĂ€hrend der wenigen Schritte hinĂŒber zum MĂŒnster, seien die damaligen Bauarbeiten so etwas „wie eine Vorwegnahme der Probleme gewesen, die wir heute im Augustinermuseum haben“. Denn in historischen GemĂ€uern, die man sanieren mĂŒsse, wenn man sie erhalten wolle, „ist immer mit Überraschungen zu rechnen“.

Museumsmensch und Geschichtsvermittler

Das sei ja auch beim MĂŒnster so, sagt er und betrachtet mit Wohlgefallen den in jahrelanger Arbeit gesicherten filigranen Turm. Schon seit Kindertagen spiele dieses Bauwerk in seinem Leben eine zentrale Rolle, „nicht nur als Katholik“. FĂŒr ihn war deshalb die große Ausstellung „Baustelle Gotik“ im Jahr 2014 nicht nur beruflich, sondern auch ganz persönlich ein besonderes Highlight.

„Ungeheuer wichtig“ sei fĂŒr ihn auch die Ausstellung von 2016 ĂŒber

die NS-Zeit in Freiburg gewesen, erzĂ€hlt er auf dem Weg durch die Franziskanergasse, und bleibt kurz stehen am „wunderbaren Sparkassenbau“ mit der Meckelhalle, wo er auch etliche Ausstellungen organisierte. Er sei froh, dass es ihm zusammen mit Tilman von Stockhausen gelungen sei, „die Stadtverwaltung davon zu ĂŒberzeugen, dass der geeignete Ort fĂŒr das NS-Dokuzentrum das ehemalige Verkehrsamt ist“, sagt er einigermaßen stolz, als wir am Rathaus ankommen, wo sein Vater Alfred Kalchthaler jahrzehntelang als Stadtrat wirkte.

Dessen Engagement habe ihn „sehr geprĂ€gt“, da habe er „mitgekriegt, wie demokratische Entscheidungsprozesse laufen und wie kompliziert sie manchmal sind“. Doch wir gehen nicht die Turmstraße hinunter, zu diesem gerade im Umbau befindlichen Dokuzentrum am Rotteckring, das Kalchthaler als „Meilenstein in der Freiburger Museumslandschaft“ bezeichnet.

Der Weg fĂŒhrt zu einem anderen fĂŒr ihn wichtigen Ort: zur Uni, wo er sich die Grundlagen fĂŒr seinen beruflichen Werdegang als „Museumsmensch“ und Geschichtsvermittler aneignete. Und wo – im riesigen Foyer des KG I – seine allererste Ausstellung ihren Platz hatte.

Um die Runde zu schließen, strebt Kalchthaler nun in Richtung Augustinermuseum – und hat bald an jeder Ecke eine Geschichte zu erzĂ€hlen. Er kennt die Namen der HĂ€user, die ihrer einstigen Besitzer und ihre Bestimmung; es ist wissensvermittelndes VergnĂŒgen, mit ihm durch die Stadt zu gehen, die wohl nur ganz wenige so gut kennen und kaum einer so erklĂ€ren kann wie er.

Beim „Augustiner“ angekommen, ist wieder diese Freude zu spĂŒren, die er an seiner Arbeit hatte und die er auch angesichts des Bauwerks empfindet, das „historische und moderne Elemente harmonisch verbindet“. Wenn das Museum fĂŒr Stadtgeschichte in zwei Jahren hierher umziehe, sagt er, könne er sich „gut vorstellen“, wieder eine Weile hier mitzuarbeiten – mit einem Rentner-Werkvertrag.

KULTURNOTIZEN

IKF wird neu ausgerichtet

Die Internationalen Kulturbörse Freiburg (IKF) wird neu ausgerichtet und wird deswegen erst 2025 wieder an der Messe Freiburg laufen. Die veranstaltende Freiburg Wirtschaft Touristik und Messe GmbH & Co. KG (FWTM) will damit auf die sich wandelnde Kulturbranche und neue Anforderungen an die Fachveranstaltung reagieren und die IKF zukunftsfĂ€hig aufstellen. Die 1989 gegrĂŒndete IKF ist die grĂ¶ĂŸte Fachmesse fĂŒr BĂŒhnenproduktionen, Musik und Events im deutschsprachigen Raum. Im vergangenen Jahr feierte sie ihre 35. Auflage. Die FWTM musste sie aber nach chilli-Informationen jedes Jahr mit einem fĂŒnfstelligen Defizit in der Bilanz buchen.

Carp mit neuer Aufgabe

Der Intendant des Theater Freiburg Peter Carp wurde als neues Mitglied in die Deutsche Akademie der Darstellenden KĂŒnste (DADK) gewĂ€hlt. „Ich freue mich sehr ĂŒber die Aufnahme in die Deutsche Akademie der Darstellenden KĂŒnste und auf die damit verbundenen neuen Aufgaben“, so Carp. Die DADK wurde 1956 in Hamburg als gemeinnĂŒtziger Verein mit dem Ziel gegrĂŒndet, durch Diskussionen, Stellungnahmen und Veranstaltungen zu aktuellen Themen und Entwicklungen Zeichen und MaßstĂ€be fĂŒr das kulturelle Leben zu setzen.

Partizipativ ĂŒber Grenzen

Das Freiburger Aktionstheater Panoptikum hat eine erste Kooperation mit dem Kulturzentrum Art’Rhena auf der Rheininsel zwischen Breisach und Neufbrisach beschlossen. Das Stuttgarter Kunstministerium fördert das partizipative, grenzĂŒberschreitende Tanz- und Theater-Projekt „Empreintes/AbdrĂŒcke“ mit 30.000 Euro. bar

Peter Carp: Intendant des Theaters Foto: © Birgit Hupfeld Unterwegs in den Unruhestand: Peter Kalchthaler im Innenhof des Museums fĂŒr Stadtgeschichte, umgeben von Wentzingers Jahreszeiten-Skulpturen.

Info

Festival of Transcultural Cinema, 12. – 21. Mai 2023, Kommunales Kino Freiburg freiburger-filmforum.de

Blick in die Zukunft

DIE 20. AUSGABE DES FREIBURGER FILMFORUMS: FESTIVAL OF TRANSCULTURAL CINEMA

In diesem Monat jagt im Kommunalen Kino ein Filmfestival das andere: Gerade ist das 30. Cinelatino zu Ende gegangen, da folgt auf dem Fuß die 20. Ausgabe des hauseigenen Freiburger Filmforums, das inzwischen als „Festival of Transcultural Cinema“ gehandelt wird. Am Freitag, 12. Mai geht’s los – heuer wieder vor Ort im Alten Wiehrebahnhof und mit etwa 30 internationalen GĂ€sten. Den Auftakt macht Rafiki Fariala aus der Zentralafrikanischen Republik: Er prĂ€sentiert seine Dokumentation „Nous, Ă©tudiants!“.

Indessen haben die Macher·innen um Kurator Mike Schlömer viel gelernt aus dem jĂŒngsten Filmforum 2021, das wegen pandemischer EinschrĂ€nkungen nur online stattfand: Bei einigen FilmgesprĂ€chen sind die Regisseure oder Autoren zugeschaltet, und bei einem Teil des Programms haben Zuschauer·innen die Möglichkeit, die Filme ĂŒber die Streamingplattform des Kinos zeitgleich mit den im Saal Anwesenden zu sichten.

Zudem entwickelte das fĂŒnfköpfige Kern-Team ein ganz neues Format, das es erlaubt, an verschiedenen analogen Orten synchron den gleichen Dokumentarfilm zu sehen. #Junctions nennen sie dieses Experiment, mit dem neue Rezeptionsformen erprobt werden sollen – „im „außereuropĂ€ischen Austausch“, wie Schlömer betont. Dabei sind Besucher des Unseen-Kinos in der kenianischen Hauptstadt Nairobi sowie GĂ€ste des Conflictoriums im indischen Ahmedabad per Livestream mit dem KoKi-Publikum in Freiburg verbunden; alle sehen den gleichen Film und kommen hernach miteinander ins GesprĂ€ch. An fĂŒnf der insgesamt zehn Festivaltage gibt es VorfĂŒhrungen innerhalb dieses #Junction-Programms.

Mike Schlömer ist gespannt, wie das neue Format ankommt. Ansonsten ist er froh, dass das Filmforum „endlich wieder Bodenhaftung“ hat. Auch wenn der diesjĂ€hrige Themenschwerpunkt eher in den Sternen steht: Um die Zukunft geht es, also „um das, was uns noch erwartet, uns aber heute schon bestimmt, weil wir damit rechnen mĂŒssen, genau das zu erleben, was wir eigentlich verhindern wollen“. Dabei mĂŒsste es eigentlich „ZukĂŒnfte“ heißen, weil die RealitĂ€ten unterschiedlich seien – und damit auch das, was in den verschiedenen Weltgegenden auf die Menschen zukomme.

Dabei könnten Filmbilder der Gegenwart als Schnittstelle zur Zukunft dienen: „Hierzulande dystopisch anmutende Szenarien sind andernorts bereits RealitĂ€t“, wie etwa in „Everything that breathes“ zu sehen sein wird. Dieses Thema sei derzeit so relevant, dass es neben dem Hauptprogramm und der bewĂ€hrten Student’s Platform ein neues Format gibt: „Filming Futures“ heißt es.

Es gibt vier Kurzfilmprogramme, die wagemutig in die Zukunft blicken. Einige dieser Dokus sind beim Outdoor-Programm „Living Walls“ zu sehen, wenn am spĂ€ten Abend des 16. Mai geeignete Freiburger HauswĂ€nde mit bewegten Bildern belebt werden.

Fotos: © Freiburger FilmForum
Paradise Reclamation
TerraMater
50 CHILLI CULTUR.ZEIT MAI 2023 KINO
NeptuneFrost

DIE GESCHICHTE VOM HOLZFÄLLER

Finnland 2022

Regie: Mikko Myllylahti

Mit: Jarkko Lahti, Hannu-Pekka

Björkman u.a.

Verleih: eksystent

Laufzeit: 99 Minuten

Start: 11. Mai 2023

Das Alte stĂŒrzt ein

(ewei). Im Norden Finnlands ist nicht viel los. Auch in der Kleinstadt, in der Pepe mit seiner Familie lebt: Der einzige Treffpunkt ist die Bar, wo sich Groß und Klein, Alt und Jung versammeln und trinken, Billard spielen oder tanzen. Manchmal schweigen sich alle auch an; in dieser Region wird nicht viel geredet.

Pepe ist HolzfĂ€ller; sein Leben ist einfach und sorgenfrei. Er hat seinen besten Freund, auf den er sich hundertprozentig verlassen kann, eine verstĂ€ndnisvolle Frau und einen anhĂ€nglichen Sohn – Thomas, der ihm auf Schritt und Tritt folgt und sein Hobby teilt: Eisangeln.

Doch eines Tages wird unerwartet das SĂ€gewerk geschlossen, in dem Pepe und mit ihm das halbe StĂ€dtchen arbeitet. Alle werden erst einmal arbeitslos. Zudem hĂ€ufen sich bei Pepe private SchicksalsschlĂ€ge. Doch wĂ€hrend das alte Leben um ihn herum in sich zusammenfĂ€llt, macht er einfach stoisch weiter. Egal, was passiert. Schwarzhumorig, ein bisschen schrĂ€g – und auf besondere Art magisch.

DIE NACHBARN VON OBEN

Schweiz/Frankreich 2022

Regie: Ursula Meier

Mit: Stéphanie Blanchoud, Valeria Bruni Tedeschi u.a.

Verleih: Piffl

Laufzeit: 103 Minuten

Start: 18. Mai 2023

Jenseits der Wut

(ewei). Margret neigt zu unkontrollierten WutausbrĂŒchen. Die 35-jĂ€hrige Musikerin hat deshalb sĂ€mtliche Liebes- und Freundesbeziehungen in den Sand gesetzt. Als einzige Bezugspersonen bleiben ihr die als Solo-Pianistin tĂ€tige Mutter Christina und die kleine Schwester Marion. Wobei insbesondere das VerhĂ€ltnis zur Mutter sehr belastet ist.

Als die beiden in einen heftigen Streit geraten, verletzt Margret Christina so schwer, dass diese einen Hörschaden erleidet. Die Polizei rĂŒckt an, Margret wird verhaftet und erhĂ€lt die Auflage, sich wĂ€hrend der nĂ€chsten drei Monate dem Haus der Mutter nicht zu nĂ€hern. Sie muss einen Abstand von mindestens 100 Metern einhalten – eine Grenze, die Marion mit einer Linie markiert, die sie mit blauer Farbe um das ganze Anwesen zieht.

TĂ€glich hĂ€lt sich die labile Margret an dieser Linie auf, sucht Vergebung – und die NĂ€he zu ihrer wenig empathischen Mutter, die ihr nie Liebe und Anerkennung zukommen ließ. Doch deren innere Barriere bleibt.

Schweiz 2023

Regie: Sabine Boss

Mit: Sarah Spale, Max Simonischek, Roeland Wiesnekker, Ursina Lardi

Verleih: Wild Bunch

Laufzeit: 88 Minuten

Start: 1. Juni 2023

Ungeahnte Aussichten

(ewei). Anna und Thomas sind schon lange ein Paar. Schon seit 20 Jahren leben sie in derselben Wohnung im selben Mietshaus – mehr neben- als miteinander. Und die Tatsache, dass sie sich allmĂ€hlich voneinander entfernt haben, hat sie bisher nicht weiter gestört, war ihnen nicht einmal wirklich bewusst.

Das Ă€ndert sich, als im Stockwerk ĂŒber ihnen neue Nachbarn einziehen –ein junges Paar, das ziemlich deutlich hörbar den sexuellen Gefallen aneinander noch nicht verloren hat. Die oft und lautstark ausgelebte Liebesfreude sorgt bei Thomas und Anna fĂŒr schlaflose NĂ€chte und unruhige Wochenenden –und trifft die beiden bis ins Mark: Ihnen wird bewusst, wie sehr sie in ihrer Ehe festgefahren sind – und dass sie auch einmal Zeiten kannten, da sie kaum voneinander lassen konnten.

Doch anstatt darĂŒber zu reden, giften sie sich nur noch an. Bis Anna die Nachbarn auf einen Drink einlĂ€dt –und diese ihr und ihrem Mann ein ĂŒberraschendes Angebot machen. Wortwitzige Komödie.

DIE LINIE
Foto: © eksystent Filmverleih Foto: © Pffl Medien
KINO
Foto: © Wild Bunch

Freiburg schlÀgt New York

DER VEREIN MEHRKLANG MACHT NEUE MUSIK POPULÄR

StĂŒcke zeitgenössischer Komponist·innen stehen nicht im Ruf, hip zu sein. Oft werden sie als kompliziert, verwirrend oder elitĂ€r beschrieben. Solchen Klischees sagt der Freiburger Verein Mehrklang den Kampf an. Mit innovativen Konzepten will das Netzwerk möglichst viele Menschen mit Neuer Musik erreichen. Dieses Jahr etwa mit einem veganen Konzert in der Mensa

Neue Musik: Sind damit die Singles von Apache207 und Udo Lindenberg oder das neue Album von Taylor Swift gemeint? Weit gefehlt, StĂŒcke aus Rock oder Pop fallen nicht in die Kategorie. Stattdessen geht es in der Regel um zeitgenössische Werke, die im Alltagsgebrauch der Kategorie „Klassik“ zugeordnet werden. In Freiburg gibt es dafĂŒr eine rege Szene. „Gemessen an der GrĂ¶ĂŸe der Stadt passiert hier mehr als in MĂŒnchen, Tokio oder New York“, sagt Beate Rieker. Sie ist GeschĂ€ftsfĂŒhrerin von Mehrklang, dem Freiburger Netzwerk fĂŒr Neue Musik. Nicht nur die vielen Ensembles und Institutionen wie die Musikhochschule oder das Experimentalstudio des SWR

machten die Breisgaumetropole zur Musikstadt. „Auch das Publikum ist sehr neugierig und kommt regelmĂ€ĂŸig zu Veranstaltungen“, berichtet Rieker.

Seit der GrĂŒndung vor 15 Jahren ist es das Ziel von Mehrklang, nicht nur das eingefleischte Publikum zu erreichen. Rieker beobachtet, dass sich viele Menschen nicht auf Konzerte der Neuen Musik trauen, vielleicht, weil sie von den ungewohnten KlĂ€ngen abgeschreckt seien. Hier setze Mehrklang als „Manufaktur fĂŒr besondere und innovative Veranstaltungsformate“ an.

Bereits siebenmal hat der Verein den Klangparcours am Waldsee organisiert. Dort wird die Natur mit Klangstationen zum Konzersaal, Musiker·innen spielen etwa auf Tretbooten oder im Pavillon. Schon zur ersten Auflage kamen 2015 mehr als 1000 GÀste.

Eines der Highlights des Vereins war vergangenen Herbst das Glockenkonzert im Herzen Freiburgs. Satte 765 Jahre hat die HosannaGlocke des Freiburger MĂŒnsters auf dem Buckel. Komponist Bernhard Wulff nutzte den Klang der Glocke als Grundakkord fĂŒr ein Konzert mit 50 Musiker·innen. „Das war ein magischer Augenblick“, erinnert sich Rieker. „Der ganze MĂŒnsterplatz war voller Menschen, es kamen Tausende Zuhörer·innen.“ Die

KlÀnge, denen das Publikum damals andÀchtig lauschte, werden wohl nie wieder zu hören sein: Es gibt weder einen Mitschnitt noch werden Noten verkauft.

Im JubilĂ€umsjahr warten neue Highlights. Dazu zĂ€hlen ein Sonnenaufgangskonzert auf der Dreisamwiese an der KartĂ€userstraße (18. Juni), Gute-Nacht-Lieder am Siegesdenkmal auf dem Europaplatz (23. Juni) und Klangtouren durch die Keller der Brauerei Ganter (1. Juli).

Besonders spannend verspricht am 7. Oktober ein veganes Konzert in der Mensa Rempartstraße zu werden. „Es soll ein humorvolles Experiment mit ĂŒberraschender Musik werden“, kĂŒndigt Rieker an. Unter Einbindung des Publikums soll erkundet werden, wie ein klassisches Konzert ohne tierische Produkte aussehen kann: Gibt es Alternativen zum Pferdehaar im Geigenbogen? Wie klingen Instrumente ohne Tierprodukte, zum Beispiel ein KĂŒrbis? Um nicht nur die Ohren anzusprechen, wird dazu eine vegane Suppe gereicht. Vegane Konzerte, Musiker·innen im Tretboot – das ist eigentlich doch recht hip.

Manufaktur fĂŒr Neue Musik: Bernhard Wulff, Beate Rieker und Akiko Okabe (v. l. n. r.) blicken als Vorstand von Mehrklang auf Highlights wie das Glockenkonzert auf dem MĂŒnsterplatz zurĂŒck.

Fast 800 Jahre alte Glocke als prominente Gastmusikerin
Fotos: © Mehrklang
MUSIK

Miss ZuverlÀssig

Wer in Freiburg tanzen geht, kommt an ihr kaum vorbei: DJ Ella Stracciatella ist auf vielen BĂŒhnen prĂ€sent. Ihr Elektrosound mit feministischem Einschlag bringt die Menge in Bewegung. Dabei ist die Frau durch Zufall zum Auflegen gekommen.

TagsĂŒber ackert sie an der Uni, nachts wĂŒhlt sie sich durch Platten oder bringt die PartygĂ€ste zum Bouncen. DJ Ella Stracciatella war zuletzt in Hamburg, Marburg, MĂŒnchen. Ihre Base ist aber Freiburg. Hier lebt die KĂŒnstlerin, die ihren bĂŒrgerlichen Namen und das Alter fĂŒr sich behĂ€lt. Im Sommer ist sie unter anderem beim ZMF und bei der AftershowParty des Sea You am Start. Ella ist KĂŒnstlerin und Aktivistin. Als Teil der Initiative „Locartista“ kĂ€mpft sie fĂŒr mehr Vielfalt auf Freiburgs BĂŒhnen. Was sie auflegt, ist zugleich auch eine Ansage. Den Mix beschreibt sie als „feinste BitchMukke & Indiedance Sound, glitzernden Disco-TrĂ€sh oder auch Acid & Tech House“. Bitch? „Das war lange ein gesellschaftliches Schimpfwort, jetzt ist es fĂŒr mich feministisches Empower-

ment“, erklĂ€rt Ella. Negatives Feedback auf das Wort kennt sie gut, doch da kann sie drĂŒberstehen.

Zwei bis drei Gigs spielt Ella im Monat. „Auflegen ist mehr Passion als Beruf, ein Nebenerwerb“, erzĂ€hlt die KĂŒnstlerin. Wer ihr auf Social Media folgt, sieht schnell: Da steckt Arbeit drin. Wie sie das trotz einer vollen Stelle an der Uni schafft? „Wenig Schlaf ist aktuell die Lösung“, erzĂ€hlt Ella und lacht.

Die Frau, die sich nach ihrem Spitznamen und ihrem Lieblingseis benannt hat, ist seit sieben Jahren aktiv. 2016 moderierte sie eine Musiksendung fĂŒrs PH-Radio. Dann kam die Anfrage, ob sie in zwei Tagen fĂŒr einen DJ einspringen kann. „Ich wusste nicht, wie es geht, aber habe mir das Auflegen in zwei Nachtschichten draufgeschafft“, erinnert sich Ella. „Ich hatte nichts zu verlieren – und es lief nicht schlecht“, erzĂ€hlt sie. Sie war angefixt.

„Ich habe irgendwie ein GespĂŒr fĂŒr Musik, fĂŒhle es“, sagt Ella. Smoothe ÜbergĂ€nge zwischen den Songs seien wichtig, entscheidend findet sie als DJ aber die Trackauswahl. Durchgeplante Sets sind dabei selten: „Ich bin Improvisator, wechsle auch mal spontan das Thema.“ Lange legte sie so im RĂ€ng auf. Auch im Hans-Bunte oder beim CSD sorgt sie fĂŒr Stimmung. Ihre mehr als 7000 Tracks im Reper-

toire sind „alle hier drin“, sagt sie und zeigt auf ihren Kopf. Am Ende ihrer Sets spielt sie als augenzwinkernde Selbstreferenz meist einen Remix von France Galls „Ella elle l’a“ oder von Rihannas „Umbrella“.

Weibliche Vorbilder hat sie lange vermisst: „Ich habe mich gefragt, wo die anderen Girls oder Finta-Personen sind.“ Als Frau musste sie sich beweisen: Kritische Veranstalter fragten ab, was ein Cinch-Kabel ist, „und der mĂ€nnliche Kollege bekommt einen Cuba Libre“. Beurteilt worden sei sie oft nach dem Äußeren. Heute sei das mit einem gewissen Standing leichter.

Einer ihrer Kollegen und Freunde ist Alex „KĂ€ptn“ HĂ€ssler. Der DJ ist unter anderem Organisator des Ahoii Clubs. Er schĂ€tzt Ella als super zuverlĂ€ssig. „Sie macht den Job top professionell und mit Leidenschaft.“ Wie sie das alles nebenberuflich schaffe, gibt HĂ€ssler RĂ€tsel auf. „Wahnsinn“, schwĂ€rmt der DJ.

FĂŒr Ella ist die Musik lĂ€ngst keine Nebensache mehr. Der Wunsch ist, auch international aufzutreten. Und das „Fusion“-Festival am MĂŒritzsee wĂ€re ein Traum. Ihren KĂŒnstlernamen hat sie bereits im Perso stehen.

von Till Neumann Legt auf und kĂ€mpft fĂŒr mehr Vielfalt: DJ Ella Stracciatella aus Freiburg
Vorbilder hat sie lange vermisst MUSIK MAI 2023 CHILLI CULTUR.ZEIT 53
Foto: © Klaus Polkowski
Weibliche

„Bands eine Chance geben“

TAUSENDSASSA

CHAOS (EP)

3 FRAGEN AN RHINO RAINBOW

Konzerte, Jams und experimentelle Kunst: Der Unicorn Music Store in Freiburg hat zwei Veranstaltungsreihen gestartet: Robert Kirch (58) alias Rhino Rainbow erzĂ€hlt im Interview mit chilli-Redakteur Till Neumann, was sich hinter den „Unicorn Sessions“ verbirgt – und wem das helfen soll.

Herr Kirch, was ist mit den Sessions geplant?

Jeden Dienstagabend steigen im Ruefetto Konzerte bei den Unicorn Sessions. Es gibt eine Opening Band, die so lange spielen kann, wie sie möchte. Danach ist eine Jam. Es gibt von allem ein bisschen: Jazz, Pop, Heavy Metal oder Singer-Songwriter. Außerdem gibt es jeden ersten Freitag im Raum der Kreativpioniere die crossmedialen „Unicorn Sessions – Experimental“.

Was verbirgt sich dahinter?

Das ist ein Ă€hnliches Format wie im Ruefetto, aber offener. Auch da gibt’s ein Opening-Konzert: Zum Start hatten wir eine improvisierte Musik- und Tanz-Performance mit Videos. Alle Kunstrichtungen sind willkommen, vielleicht wird auch mal live gemalt. Wer Interesse hat mitzumachen, kann uns anschreiben.

Der Plan ist, ein neues Kulturangebot zu schaffen?

Ja. Wir hatten an unserem ehemaligen Standort an der Belfortstraße eineinhalb Jahre lang Konzerte, Ausstellungen und Tanz-Performances, wollten dort auch ProberĂ€ume einrichten. Aber die Stadt hat das dichtgemacht. Jetzt wollen wir lokalen Bands und KĂŒnstlern in Freiburg eine Chance geben, sich zu zeigen. Leuten, die noch nicht so bekannt sind, es aber draufhaben.

Entspannt und lyrisch

(miwi). Chaos heißt die die neue EP von Tausendsassa. Dahinter verbirgt sich der Freiburger Rapper Ansgar Hufnagel. Acht Songs bieten den Hörer·innen eine Mischung aus positiven und nachdenklichen Songs. Es geht um Liebe, Selbsterkenntnis und die kleinen WiderstĂ€nde des Alltags. Dabei sticht der Song „Plus eins“ klar hervor. Die Kombination aus dem groovigen Rap und der Samtstimme von Lisa Akuah erzeugt eine fast mĂ€rchenhafte AtmosphĂ€re.

Die positiven Vibes ziehen sich selbst durch die kritischeren Songs. Das garantiert gute Laune. Wie schon auf dem Soloalbum „abersowasvon“ zeigt sich Tausendsassa als selbstbewusster, starker Musiker. Entspannte Beats und lyrische Texte sind die StĂ€rken der EP. Weitere Features mit Lisa Akuah wĂ€ren wĂŒnschenswert. Obwohl die Platte „Chaos“ verspricht, ist der rote Faden da: beim Style und bei den Texten. Der Nachteil: Kontrastreiche und musikalisch mutige Tracks fehlen hier.

Tausendsassa ist auch Slammer, Poet, Moderator, Kabarettist und macht Improtheater. Das Multitalent hat sein Rap-Soloalbum „Abersowasvon“ im FrĂŒhjahr 2022 veröffentlicht. Der Sound erinnert an eine moderne und chillige Version des Deutschraps der 90er. Mit einer ordentlichen Portion Selbstironie.

Keine Schubladen

(pl). Sie haben sich Zeit gelassen. Rund zehn Monate nach dem ersten Vorboten ist die EP „Mess in Heaven“ des Freiburger Quintetts Raw Sienna jetzt komplett. Darauf sind sechs Songs mit verschiedenen Spielarten der Rockmusik zu hören.

Die Tracks haben Raw Sienna seit Juli peu Ă  peu veröffentlicht. Als ein zentrales Thema ihrer meist interpretationsoffenen Texte bezeichnet SĂ€nger Fabian Sommerhalter mentale Gesundheit. Deutlich wird das vor allem auf dem emotionalen „Kill the Noise“. Schon vor Release der Single erklĂ€rte die Band ĂŒber Social Media, dass die im Lockdown entstandene Nummer von Depressionen und mentaler Gesundheit handelt.

Musikalisch lĂ€sst sich die Band kaum einordnen. „Firesky“ kommt dĂŒster und hymnisch daher, dagegen geht „Soak up some Lights“ direkt ins Ohr und in die Beine. „Game“ hat ein knallendes Riff und erinnert an klassischen und bluesinspirierten Rock der 1970er-Jahre, „Collapse“ wirft mit einem mehr als zweiminĂŒtigen Intro und dem breiten Soundgewand das Kopfkino an. Manchen dĂŒrfte der rote Faden der EP fehlen. Wer dagegen einfallsreiche Gitarrenmusik abseits des Schubladendenkens schĂ€tzt, dĂŒrfte sich mit „Mess in Heaven“ kaum langweilen.

MUSIK
Deutsch-Rap
Foto: © Privat
latte desMon a st 54 CHILLI CULTUR.ZEIT MAI 2023
RAW SIENNA MESS IN HEAVEN (EP) Alternative-Rock P

Warm gegen kalt

(tln). Der Freiburger Singer-Songwriter Sebastian Hesselmann ist gerade durch die Republik getourt. Mit seiner neu gegrĂŒndeten Band um Alisa Merker (Gitarre), Philipp Nosko (Drums) und Niclas Egerer (Bass) hatten die vier auch die Single „Am Ende jeder Tage“ im GepĂ€ck.

Das Video zum neuen Song ist unter anderem in Berlin entstanden, doch der Track nimmt mit zum Eiffelturm. Hesselmann singt zu einem nervös-treibenden Riff von eisigen Momenten, Schatten und TrĂŒmmern. Und schon verlassen sie Paris am Morgen in aller Eile. Denn die Lichter sind ein Schatten ihrer selbst.

Poetisch ist das, ein Track zum Zuhören und ReinfĂŒhlen. Aber im Chorus auch zum RumhĂŒpfen und Mitsingen. „Ungleiche Gleichheit bleibt“ heißt es da. DĂŒster kommt das daher. Doch da schwingt auch Hoffnung mit, wenn das Ganze in der Mitte aufbricht. Gezupfte Saiten versprĂŒhen Hoffnung, bis Hesselmann mit Gast-SĂ€nger Danny McClelland von Redensart die Schatten bekĂ€mpft und aus den TrĂŒmmern etwas aufbaut.

Fast fĂŒnf Minuten sind lang fĂŒr einen Song. Aber „Am Ende jener Tage“ ist feinsinnig getextet und abwechslungsreich arrangiert. Das Feature gibt dem rockigen Ende extra Drive. Die Band setzt hier kreative WĂ€rme gegen kalte Zeiten. Chapeau.

Beißend ironisch

(pl). Punk und Politik – die Verbindung hat zu vielen Krachern beigetragen: Die Ärzte haben mit „Schrei nach Liebe“ eine Hymne gegen Nazis geschaffen, Green Day die Ära Bush mit „American Idiot“ angeprangert. Auch die Freiburger von Das Aus der Jugend halten mit ihrer politischen Einstellung nicht hinterm Berg – und widmen Finanzminister Christian Lindner eine beißend ironische Single.

Das Aus der Jugend hat sich 2022 im Freiburger Haus der Jugend gegrĂŒndet. Mit ihrem DebĂŒt „Porsche fahrn mit Christian“ formuliert das Trio Kritik an Lindner. Textlich kommt das mal zynisch-humoristisch („Dein bester Freund er ist, wenn du bist ein Lobbyist“), mal gekonnt plakativ („Porsche fahrn mit Christian, ohne Tempolimit, ohne Verstand“) daher. NatĂŒrlich webt das Trio Lindner-Zitate der Marke „Probleme sind nur dornige Chancen“ ein.

Mit Schlagzeug, Gitarre, Bass und Gesang – inklusive Mitgrölpart –peitscht die Nummer im Refrain ordentlich nach vorne. Musikalisch bleibt zwar nicht viel hĂ€ngen, trotzdem macht das DebĂŒt Lust auf die nĂ€chste Single. Die kommt im Juli, ihr Titel ist schon bekannt und nicht weniger konfrontativ als der VorgĂ€nger: „Stehblues im Wasserwerferregen“. Ebenfalls im Juli spielt die Band auf dem ZMF.

... zum Mai

Die Freiburger Geschmackspolizei ermittelt schon seit 20 Jahren gegen Geschmacksverbrechen – nicht nur, aber vor allem in der Musik. FĂŒr die cultur.zeit verhaftet Ralf Welteroth fragwĂŒrdige Werke von KĂŒnstlern, die das geschmackliche SicherheitsgefĂŒhl der Bevölkerung empfindlich beeintrĂ€chtigen.

Wonnemonat Mai – dass wir nicht lachen. Rain in May? Wenn’s unbedingt sein muss, okay, Herr und Frau Mai-er, handelsĂŒblicher Mai-s oder der Mai-n – kann man alles irgendwie noch durchwinken, aber bei Vanessa Mai, da mĂŒssen wir dann doch einschreiten.

Schlagerstampf mit hohem FremdschĂ€mfaktor, eigentlich nichts Besonderes, gerade deswegen aber wohl besonders beunruhigend und besorgniserregend. Um diese Alliteration gebĂŒhrend fortzusetzen, setzen wir mit Backnang noch eins obendrauf. Dort nĂ€mlich ist die Dame einst als Vanessa MandekiĆ geboren und hat sich dann spĂ€ter ihren Geburtsmonat einfach als KĂŒnstlernamen zu eigen gemacht, klingt auf jeden Fall besser als Februar oder November, fĂŒhrt aber völlig in die Irre.

Frau Mai ist schwer beizukommen, obwohl die Beweislast hoch ist, von fragwĂŒrdigen BĂŒhnen-Outfits mal ganz abgesehen. TextauszĂŒge dĂŒrfen wir aus ermittlungstaktischen GrĂŒnden nicht preisgeben, aber komm, was soll’s:

Und wenn ich sterb', ich sterb' fĂŒr dich oh ich sterb' fĂŒr dich heut' Nacht, und wenn ich wein, ich wein um dich, oh ich wein' um dich heut Nacht, und wenn ich denk, ich denk an dich, oh ich denk' an dich heut Nacht, es tut so weh ganz ohne dich!

Totstellen wird wohl nicht helfen. In diesem Sinne, unsterblich grĂŒĂŸt fĂŒr die Geschmackspolizei

Ralf Welteroth

KOLUMNE HESSELMANN
ENDE
Indie-Pop
AM
JEDER TAGE
DAS AUS DER JUGEND PORSCHE FAHRN MIT CHRISTIAN Punk

Feuerrede vom Rektor

NEUERSCHEINUNG: HEIKO WEGMANN ÜBER DIE BÜCHERVERBRENNUNGEN IN FREIBURG

Am Abend des 10. Mai 1933 brannten auf den öffentlichen PlĂ€tzen vieler deutscher StĂ€dte Scheiterhaufen: In einer von oberster Propagandastelle konzertierten Aktion „wider den undeutschen Geist“ verbrannten Studenten und andere Angestachelte in theatralischen Inszenierungen BĂŒcher, Zeitungen und andere Schriften, die die neuen Machthaber als schĂ€dlich erachteten.

Zuvor hatten sie BĂŒchereien und Buchhandlungen gestĂŒrmt, um sie „von Schmutz und Schund zu sĂ€ubern“. Dabei hatten sie sĂ€mtliche Literatur beschlagnahmt, die dem Weltbild des gerade drei Monate vorher errichteten NS-Regimes nicht entsprach. Auch in Freiburg gab es solche Beschlagnahmungen – aber an diesem Abend wohl kein Feuer.

Dunkle Wolken ĂŒber Freiburg von Heiko Wegmann

Nationalsozialistische BĂŒcherverbrennungen, „SĂ€uberungen“ und Enteignungen

Verlag: Regionalkultur, 2023

200 Seiten, broschiert

Preis: 12,90 Euro

PrÀsentation & Lesung:

10. Mai, 19 Uhr, Stadtbibliothek

Stadtrundgang:

12. Mai & 14. Juni, 17 Uhr, Treffpunkt: Rathausplatz

Zumindest kein grĂ¶ĂŸeres, wie der Freiburger Historiker Heiko Wegmann in seiner soeben erschienenen, grĂŒndlich recherchierten Forschungsarbeit „Dunkle Wolken ĂŒber Freiburg – Nationalsozialistische BĂŒcherverbrennungen, ‚SĂ€uberungen‘ und Enteignungen“ schreibt. Zwar sei am 8. Mai in den Lokalzeitungen eine Verbrennung angekĂŒndigt worden – auf dem Platz vor der damaligen UniversitĂ€tsbibliothek. Aufgerufen hatten die Ortsgruppen der Deutschen Studentenschaft und des Kampfbunds fĂŒr deutsche Kultur, die damit „den geistigen Kampf gegen die marxistisch-jĂŒdische Zersetzung des deutschen Volkes bis zur Vernichtung“ propagierten und die Bevölkerung aufforderten, ihren Beitrag zu dieser „deutschen Sitte“ zu leisten.

Doch Berichte ĂŒber den Vollzug der geplanten Aktion fand Wegmann an keiner Stelle. Und die darauf beruhende Annahme, dass zumindest nichts erwĂ€hnenswert SpektakulĂ€res geschehen sei, habe „zu einer Legende gefĂŒhrt“, die sich „bis heute hĂ€lt“: nĂ€mlich, dass es im Unterschied zu anderen UniversitĂ€tsstĂ€dten in Freiburg zu keiner Zeit verbrannte BĂŒcher gegeben habe.

Die BegrĂŒndungen reichten vom Regenwetter ĂŒber die angebliche SchwĂ€che der NSDAP und ihrer AnhĂ€ngsel bis zu der „steilen These“, dass der seinerzeitige Uni-Rektor Martin Heidegger die Verbrennung verboten habe. Das hatte der Philosoph, der am 1. Mai 1933 Parteimitglied wurde, 1966 in einem Interview mit dem „Spiegel“ behauptet. Allerdings konnte er dafĂŒr keine Beweise vorlegen.

Wegmann hat nun herausgefunden, dass es sehr wohl Buchverbrennungen gab und dass die beteiligten Akteure, darunter die StĂ€dtische Kommission gegen Schmutz und Schund sowie die Hitlerjugend, bei der Verfolgung ihrer Ziele „einen starken Willen und ungeheure HartnĂ€ckigkeit zeigten“ und verfemte Schriften sogar mehrmals öffentlichkeitswirksam ins Feuer warfen. Nachweisen kann er mindestens zwei lange ĂŒbersehene BĂŒcher-Feuer: am 17. Juni auf dem nicht weit vom jĂŒdischen Friedhof entfernten, auf dem heutigen MessegelĂ€nde gelegenen damaligen Exerzierplatz – in Anwesenheit von OB Franz Kerber. Eine weitere Verbrennung gab es beim Sonnwendfeuer am 24. Juni im UniversitĂ€tsstadion an der Dreisam, wo Heidegger eine pathetische Rede auf die Flamme hielt, die „uns den Weg weise, von dem es kein ZurĂŒck mehr gibt“.

von Erika Weisser Foto: © Ingo Schneider
56 CHILLI CULTUR.ZEIT MAI 2023
Hat grĂŒndlich recherchiert und rĂ€umt auf mit Legenden: der Freiburger Historiker Heiko Wegmann
LITERATUR

DIE NETANJAHUS

DAS RECHT DER ERDE

DER LETZTE SOMMERTAG

Ingo Herzke

Verlag: Schöffling & Co., 2. Aufl. 2023

288 Seiten, gebunden

Preis: 25 Euro

Wie eine biblische Plage

(ewei). Ende der 1950er-Jahre gehört Ruben Blum als Experte fĂŒr Steuergeschichte zum Lehrkörper der fiktiven Corbin-University im Staat New York. Er stammt aus einer schon lĂ€ngst vor der Flucht in die USA assimilierten jĂŒdischen Familie – und tut alles dafĂŒr, mit Ehefrau Edith und Tochter Judith als „ganz normale amerikanische Kleinfamilie“ zu gelten.

Doch er kommt aus der Ambivalenz „zwischen dem amerikanischen Zustand des WĂ€hlenkönnens und dem jĂŒdischen Zustand des ErwĂ€hltseins“ nicht heraus: Seine noch lebenden, ĂŒberlebenden Vorfahren pochen auf das eine, die ihn umgebende Gesellschaft und die Kollegen lassen das andere nicht zu.

Als sich der Historiker Ben-Zion Netanjahu auf einen freien Lehrstuhl bewirbt, muss er ihn betreuen – der einzige Jude auf dem Campus soll sich um „seinesgleichen“ kĂŒmmern. Zwar sieht Blum das ganz anders: Mit dem „obskuren Zionisten, der jĂŒdische Traumata in israelische Propaganda verwandelt“, verbindet ihn nichts.

Doch er fĂŒgt sich. Und bereut es bald. Denn zum AntrittsgesprĂ€ch bringt Netanjahu „die ganze Mischpoche“ mit: drei ungehobelte Söhne, die gleich einer biblischen Plage lĂ€rmend und marodierend ins Haus einfallen und eine Spur der VerwĂŒstung hinterlassen. Mittemang dabei: der damals zehnjĂ€hrige Benjamin.

von Étienne Davodeau

Verlag: Carlsen, 2023

216 Seiten, Hardcover Preis: 27 Euro

Der Erde so nah

(jp). Die Tropfsteinhöhle Pech Merle im SĂŒdwesten Frankreichs ist fĂŒr ihre Höhlenmalereien berĂŒhmt, die Sapiens vor Tausenden von Jahren angefertigt haben. Im Norden Frankreichs, im Örtchen Bure, planen andere Sapiens, AtommĂŒll unter der Erde zu begraben, der mehr als 100.000 Jahre fĂŒr Mensch und Umwelt gefĂ€hrlich bleiben wird.

Étienne Davodeau sieht einen Zusammenhang zwischen beiden Orten – und wandert kurzerhand von SĂŒd nach Nord. Er will der Frage nach-gehen, wie es um die Beziehung des Menschen zum Planeten und seiner Erde bestellt ist.

Vier Wochen – vom 11. Juni bis 11. Juli 2019 – ist der Autor und Illustrator unterwegs. In Form einer Comicreportage hat er die Tour quer durchs malerische Frankreich festgehalten. Einen Teil der Strecke geht er allein, teils wandert er in Begleitung: Experten aus der Agrarökonomie, der Energiewirtschaft und gar ein Sprachwissenschaftler unterstĂŒtzen ihn in der Beantwortung der Frage, wie das VerhĂ€ltnis des Menschen zu seinem Planeten und dem Boden, auf dem wir alle stehen, eigentlich aussieht.

GesprĂ€che mit Menschen vor Ort und UmweltschĂŒtzern sind ebenfalls festgehalten und lassen eine bilderreiche, multiperspektivische ErzĂ€hlung entstehen, in der die Themen Kultur, Umwelt und Wissenschaft miteinander verzahnt sind.

von Marc Hofmann Verlag: Kirschbuch, 2023

220 Seiten, Hardcover

Preis: 16.50 Euro

Welt in Scherben

(ewei). Die Sommernachtsparty, die alles verĂ€nderte, liegt 30 Jahre zurĂŒck. Niels war damals 19, hatte gerade sein Abi in der Tasche – und das GefĂŒhl, dass ihm die Welt offenstĂŒnde. Doch dann lag sie innerhalb von Sekunden in Scherben.

Kurz darauf verließ er das Dorf, in dem er aufgewachsen war. Er wollte nur noch weg – so weit wie möglich. Und nie wieder heimkommen. Diesen Vorsatz hat Niels, der sich spĂ€ter als Autor und Musiker in Berlin einen wenn auch nicht allzu berĂŒhmten Namen machte, in all den Jahren nie gebrochen. Selbst seinen Vater hat er nach dem ĂŒberstĂŒrzen Aufbruch nur noch einmal getroffen, auf neutralem Terrain. Jedoch vergeblich: zu einer klĂ€renden Aussprache ĂŒber die damaligen Ereignisse kam es nicht.

Doch nun ist der Vater gestorben; Niels kehrt zurĂŒck ins MarkgrĂ€flerland, kĂŒmmert sich um die Beerdigung – und trifft seine alten Freunde. Auch sie scheinen noch in jener Nacht festzustecken, in der sie sich zum letzten Mal sahen. Nach jahrelangem VerdrĂ€ngen lassen sie sich widerwillig auf GesprĂ€che ĂŒber die Party ein – und ĂŒber ihre eigenen Verstrickungen in deren tragische Wende, die der Freiburger Autor Marc Hofmann erst am Ende des Romans benennt.

Lesung: 12. Mai, 19.30 Uhr, Buchladen Rainhofscheune Kirchzarten

FREZI von Joshua Cohen Übersetzung: REZI
MAI 2023 CHILLI CULTUR.ZEIT 57
REZI

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