iz3w Magazin # 387

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Afghanistan

Altbekannte Unterdrückung Was die Talibanherrschaft für die Minderheit der Hazara bedeutet ersten Jahren des Jahrzehnts verwüstete, nahmen die Taliban im September 1996 Kabul ein. Unter der Herrschaft der Taliban durften Frauen weder zur Schule gehen noch studieren. Sie durften nicht arbeiten oder das Haus ohne männliche Begleitung verlassen. Hindus und Sikhs wurden gezwungen, eine Sondersteuer zu zahlen und mussten sich mit gelben Aufnähern auf ihrer Kleidung zu erkennen geben. Ethnische Hazara wurden als ‚Ungläubige‘ bezeichnet. Mullah Niazi, ein Taliban-Gouverneur im Norden des Landes, verkündete, dass Hazara entweder zum sunnitischen Islam von Rabia Latif Khan konvertieren oder das Land verlassen müssten, andernfalls würden sie getötet. tt Lange Zeit konnten die Hazara in Zentralafghanistan in einem als In dieser Zeit kam es auch zu brutalen Massakern an Hazara. Hazaradschad bezeichneten Gebiet leben und ihre Autonomie be1998 wurden mehrere tausend Zivilist*innen in der Stadt Mazare Sharif über Tage hinweg verfolgt und getötet. Auch in der haupten. Dies änderte sich Ende des 19. Jahrhunderts jedoch drastisch, als der damalige afghanische Emir Abdur Rahman Khan in Folge Provinz Bamiyan kam es im Jahr 2001 zu brutalen Morden. Die eines Aufstands in Hazaradschat einen heiligen Krieg gegen die Vereinten Nationen fanden 2002 in Bamiyan Massengräber, die Hazara ausrief, um seine Macht zu konsolidieren. Er begründete den nach Angaben der lokalen Bevölkerung auf eines der letzten MasKrieg Anfang der 1890er-Jahre damit, dass die ­Hazara saker der Taliban im Jahr 2001 zurückzuführen sind, bevor diese entmachtet aufgrund ihres Glaubens als schiitische Muslime in Nach dem Krieg standen einem überwiegend sunnitischen Staat ‚Ungläubige‘ wurden. 2001 war auch das Jahr, in dem Bami­ seien. Es ging jedoch nicht nur um Religion, sondern die Hazara ganz unten in um die machtpolitischen Ansprüche des Emirs, der yan die Aufmerksamkeit der interna­ der sozialen Hierarchie die autonomen Regionen unter seine Kontrolle bringen tionalen Medien auf sich zog, als die Taliban im März zwei historische Budwollte. Dem Krieg gingen bereits seit den späten 1880er-Jahren kämpferische Auseinandersetzungen um die Unabdha-Statuen im Bamiyan-Tal zerstörten. Das Tal wird mehrheitlich von Hazara bewohnt. Die Statuen stammen aus dem 6. Jahrhundert hängigkeit der Region voraus. Im Verlauf des Krieges wurden laut und wurden nicht von den Hazara erbaut, dennoch nehmen sie mündlichen Quellen 65 Prozent der Hazara getötet. Viele HazaraFrauen wurden vergewaltigt; einige von ihnen, die nicht in den eine wichtige Stellung in deren Kultur ein: Den Legenden nach stellen sie das versteinerte Liebespaar Salsal und Schahmama dar. benachbarten Iran oder nach Britisch-Indien fliehen konnten, wurden gefangen genommen und als Sklavinnen gehalten. Nach dem Krieg In den meisten Medienberichten über ihre Zerstörung heißt es, dass die Statuen von den Taliban auf Befehl von Mullah Omar standen die Hazara erstmals ganz unten in der sozialen Hierarchie gesprengt wurden, um dessen islamische Glaubwürdigkeit zu Afghanistans, was zum Teil an ihrer religiösen Überzeugung, aber unterstreichen. Der Meinung vieler Hazara nach war die Zerstörung auch an ihrer ethnischen Zugehörigkeit festgemacht wurde. ethnisch motiviert: Die Statuen waren der Beweis für die historische Der Großteil der verfügbaren Literatur über die Hazara versteht diese als Nachkommen der mongolischen Armee von Dschingis Verbundenheit der Hazara mit dem Land und Zentralafghanistan, unter anderem da die körperlichen Merkmale der Statuen ihren Khan, die im 13. Jahrhundert in die Region kam. Dieser Darstellung eigenen entsprachen. Die Empörung über die mutwillige Zerstörung stimmen jedoch nicht alle Hazaras zu. Einige behaupten, sie seien der Bamiyan-Buddhas durch die Taliban war jedoch nur von kurzer türkisch-mongolischer Abstammung und hätten keine Verbindung Dauer, denn sechs Monate später brachen die Zwillingstürme des zur Armee Dschingis Khans. Andere sagen, die Hazaras seien in Zentralafghanistan beheimatet. Unabhängig von diesen widersprüchWorld Trade Centers in New York in sich zusammen. Das Attentat lichen Thesen unterscheiden sich die Hazara aufgrund ihres Aussehens läutete ein neues Kapitel in der Geschichte Afghanistans ein. von der überwiegenden Mehrheit der afghanischen Gesellschaft, was ihre Diskriminierung im Laufe der Jahrhunderte noch verstärkt Sozialer Aufstieg und politische Teilhabe hat. Die negativen Zuschreibungen spitzten sich im 20. Jahrhundert tt Mit dem Sturz der Talibanregierung in Folge des NATO-Einwiederum bis zur Etablierung eines verinnerlichten Selbsthasses zu. satzes 2001 verbesserte sich die Situation der Hazara erheblich, Einige Hazara gingen dazu über, sich selbst als Tadschik*innen zu sowohl was den Zugang zu Bildung als auch die Einstellung im bezeichnen, um Diskriminierung und Spott zu umgehen. öffentlichen Sektor betrifft. So sind es seit 2001 die Hazara-Jugendlichen, die bei der nationalen Hochschulaufnahmeprüfung, Die ,Ungläubigen’ mussten leiden dem so genannten Kankor, am besten abschneiden. Auch die tt Die 1990er-Jahre markieren eine weitere dunkle Periode in der Sichtbarkeit der Hazara hat politisch und kulturell stark zugenomGeschichte der Hazara. Nach dem Bürgerkrieg, der das Land in den men: Im Jahr 2014 übernahm der Hazara-Politiker Mohammed

Am 15. August überrannten die Taliban Kabul und sicherten sich damit erneut die Macht in Afghanistan. Für viele Afghan*in­ nen ist das eine Katastrophe. Das gilt besonders für die schii­ tische Minderheit der Hazara, die bereits unter dem ersten Taliban-Regime massiver Verfolgung ausgesetzt waren. Die jüngere Geschichte dieser Minderheit ist von Unterdrückung geprägt.

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iz3w • November / Dezember 2021 q 387


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