iz3w Magazin # 387

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»It’s a man’s world« Männlichkeit

iz3w t informationszentrum 3. welt

Außerdem t Hazara in Afghanistan t Historikerstreit 2.0 t Zwangsinternate in Kanada

Nov. / Dez. 2021 Ausgabe q 387 Einzelheft 6 6,– Abo 6 36,–


In dies er Aus gabe . . . . . . . . .

Clementine Biniakoulou, Sapeuse aus Brazzaville Foto: Tariq Zaidi

Schwerpunkt: Männlichkeit 20 Editorial 21

3 Editorial

Politik und Ökonomie

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Afghanistan: Altbekannte Unterdrückung

Libanon: Hausgemachte Katastrophen Zur gegenwärtigen Lage im Land von Jan Altaner

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»Ich werde mit Aufmerksamkeit überschüttet, weil ich eine Ausnahme bin« Interview mit dem Podcaster Soufiane Hennani

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Allianzen mit Feministinnen Männer als Akteure der Veränderung in Brasilien von Gary Barker

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Erbe der Kolonialisierung Indigene Männlichkeiten in Kanada von Kim Anderson und Robert Alexander Innes

Kanada: »... wie ein Gefängnis für Kinder« Deutscher Kolonialismus: Gewalt im Schutzgebiet

Wettkampf im Männerbund Männlichkeit und Sport in Südafrika von Maja Kurz

Manuel Menrath über das Residential School-System

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»Männer von Männlichkeitsvorstellungen befreien« Interview mit dem südafrikanischen Forscher Dean Peacock

Guatemala: Die Strafe Gottes? Covid-19 und evangelikale Megakirchen von Andrea Althoff

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Zentralamerika: Keine Win-Win-Situation Die Massenflucht und ihre Folgen von Dirk Bornschein

Toxische Männlichkeit Ein kritischer Begriff für das Patriarchat? von Markus Textor

Tunesien: Demokratie am seidenen Faden Tunesiens Präsident greift nach der Macht von Tarek Ben Hiba

»Männlichkeit ist ein gesellschaftlicher Skandal« Kim Posster über Intimität und Männlichkeit

Die Taliban und die Minderheit der Hazara von Rabia Latif Khan

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Nichts ohne ‚das Andere‘ Was ist eigentlich Männlichkeit? von Larissa Schober

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Was ist das »Männliche« an Flucht? Gender und Migration in Deutschland von Marisa Raiser

Die ,Deutsche Südsee’ war kein Idyll von Oliver Schulten

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Flower Boys und Rachefeldzüge Männerbilder im K-Pop und dem südkoreanischen Kino von Sebastian Milpetz

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»Die weiße puritanische Gesellschaft braucht ­ ihren Sündenbock« Brontez Purnell über Schwarze Homosexualität

Kultur und Debatte 42

Fotografie: »Meine Bilder sollen die Menschen ermächtigen« Interview mit der chilenischen Fotografin Nicole Kramm

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Debatte: Gegenläufig statt multidirektional Zur Debatte um postkoloniale Geschichtsbilder und Shoa von Jörg Später

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47 Rezensionen 50 Szene / Impressum


Editorial

Die Nummernschildernummer Serbische Kampfjets brausen über das kosovarische Grenzgebiet und Panzer rollen. Auf der anderen Seite der Grenze patrouillieren kosovarische Sonderpolizeieinheiten mit schweren Waffen. Es ist eine weitere Eskalationsstufe in einem bizarren Streit um die gegenseitige Anerkennung von KfzKennzeichen. Der latente Konflikt zwischen Serbien und dem Kosovo spitzte sich in diesem Herbst gefährlich zu. Worum geht es? Die kosovarische Regierung hat eine neue Verordnung erlassen. Demnach müssen Autofahrer*in­ nen mit serbischen Kennzeichen bei der Fahrt in den K ­ osovo kosovarische Nummernschilder anbringen. Was etwas irre klingt, hat eine ebensolche Vorgeschichte: Auch S­ erbien erkennt kosovarische Kennzeichen nicht an. Dies wiederum hängt damit zusammen, dass die Republik Kosovo zumindest für Serbien weiterhin eine serbische Provinz ist. Hier liegt die Konfliktursache. Seit dem Kosovokrieg 1999 streiten sich Serbien und Kosovo um die nationale Souveränität. 2008 erklärte das kosovarische Parlament die Unabhängigkeit des Territoriums. Die Faustregel bei sezessionistischen Konflikten ist, dass nichts Vernünftiges herauskommt. Nun ruft ein ausufernder Konflikt um Nummernschilder internationale Akteur*innen auf die Bühne, die schlichten sollen.

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s ist nicht so, dass es im Kosovo oder in Serbien keine anderen Probleme gäbe. Die Arbeitslosigkeit ist klar zweistellig, viele Straßen sind in einem elenden Zustand. Keine einfache Situation für Albin Kurti, den neuen Premierminister des Kosovo. Für den aktivistischen, populären Anführer der jüngsten Wahlsiegerpartei Vetëvendosje! (VV, Selbstbestimmung!) war die wiederkehrende Apathie seiner Bevölkerung schwer auszuhalten. Nun hat er mit dem Kfz-Streit ein Thema gefunden, über das wirklich alle in der Region redeten. Die Leidtragenden sind viele Einwohner*innen des Nordkosovo. Dort wohnen zahlreiche Angehörige der serbischen Minderheit. Für ihre Autos nutzen sie gern serbische Nummernschilder, die die Republik Serbien freundlich verteilt. Nicht wenige Kosovo-Serb*innen wollen sich übrigens erneut abspalten: Das wäre dann eine Abspaltung vom Kosovo, welcher ohnehin eine Abspaltung von S­ erbien ist, welches wiederrum ein Spaltungsprodukt Jugoslawiens ist. Welches Nummernschild hätten die dann? Die anderen Leidtragenden sind serbische Autofahrer*innen, weil auch sie die neuen Kennzeichen anbringen müssen, wenn sie im Kosovo fahren wollen. Das Nachsehen im großen Streit um die Nummernschilder haben natürlich auch alle fortschrittlichen und sozialen Belange. Für den serbischen Ministerpräsidenten Aleksandar Vučić, ebenfalls ein Draufgänger, konnte das so nicht stehen

bleiben. Er bezeichnete die kosovarische Verordnung als »kriminelle Handlung«. Die Auseinandersetzung nahm an Schärfe zu. Die kosovarische Zulassungsstelle in Zubin Potok brannte. In einer Zulassungsstelle im Zvecan wurden sogar zwei Handgranaten durch ein Fenster geworfen, die jedoch nicht explodierten. Daraufhin hob Vučić seine schützende Hand über die serbische Minderheit: Belgrad werde ein »Pogrom« an ihr nicht zulassen und auch eine »Erniedrigung Serbiens und seiner Bürger« nicht hinnehmen. Derweil hatten Kosovo-Serb*innen im Nordkosovo Straßenblockaden an der Grenze errichtet. Die kosova­ rische Regierung entsandte die Sonderpolizei Rosu zur Unterstützung ihrer Nummernschildermaßnahmen. Die Spezialeinheit trug Kampfuniformen und schwere Waffen zur Schau. Vučić versetzte das Militär in Kampfbereitschaft. Nun schrillten in der internationalen Politik die Alarmglocken. Der russische Botschafter in Serbien d ­ emonstrierte seine Sorge mit einem Truppenbesuch. EU- und US-Bot­ schafter*innen appellierten um Mäßigung, der Westbalkan-Beauftragte der EU Miroslav Leajcak, der EU Außenbeauftragte Josep Borell und die EU-Kommissionsprä­ sidentin Ursula von der Leyen warfen sich ins Zeug. Jens Stoltenberg, der Generalsekretär der NATO, riet: »Belgrad und Pristina sollten Zurückhaltung üben und den Dialog wiederaufnehmen.« Nach zähen Verhandlungen wurde der Streit eingestellt. Für die Nummernschilder gibt es eine provisorische Aufkleberlösung. Eine Arbeitsgruppe unter Beteiligung der EU soll innerhalb von sechs Monaten eine dauerhafte Lösung finden.

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etztlich stammen die kosovarischen und serbischen Kennzeichen aus derselben Blechnerei: der Föderativen Volksrepublik Jugoslawien. Deren Schilder hatten einen weißen Hintergrund und einen roten Stern. Die KfzKennzeichen des Kosovo sind weiß mit schwarzer Aufschrift. Die Schilder enthalten in Anlehnung an die EuroKennzeichen einen blauen Streifen am linken Rand mit dem Länderkürzel RKS. Die Nummernschilder Serbiens haben am linken Rand einen blauen Balken mit dem Länderkürzel SRB. Der blaue Rand kann gegebenenfalls durch die zwölf europäischen Sterne erweitert werden, falls Serbien EU-Mitglied wird. Die blaue Nummernschilderlösung liegt jedoch in weiter Ferne. Auf dem jüngsten Westbalkan-Gipfel machten die EU-Regierungschefs den Ländern des Westbalkans einmal wieder eine Absage hinsichtlich eines Beitritts in die EU. Letztlich haben die doch alle ein Schild ab. die redaktion

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Afghanistan

Altbekannte Unterdrückung Was die Talibanherrschaft für die Minderheit der Hazara bedeutet ersten Jahren des Jahrzehnts verwüstete, nahmen die Taliban im September 1996 Kabul ein. Unter der Herrschaft der Taliban durften Frauen weder zur Schule gehen noch studieren. Sie durften nicht arbeiten oder das Haus ohne männliche Begleitung verlassen. Hindus und Sikhs wurden gezwungen, eine Sondersteuer zu zahlen und mussten sich mit gelben Aufnähern auf ihrer Kleidung zu erkennen geben. Ethnische Hazara wurden als ‚Ungläubige‘ bezeichnet. Mullah Niazi, ein Taliban-Gouverneur im Norden des Landes, verkündete, dass Hazara entweder zum sunnitischen Islam von Rabia Latif Khan konvertieren oder das Land verlassen müssten, andernfalls würden sie getötet. tt Lange Zeit konnten die Hazara in Zentralafghanistan in einem als In dieser Zeit kam es auch zu brutalen Massakern an Hazara. Hazaradschad bezeichneten Gebiet leben und ihre Autonomie be1998 wurden mehrere tausend Zivilist*innen in der Stadt Mazare Sharif über Tage hinweg verfolgt und getötet. Auch in der haupten. Dies änderte sich Ende des 19. Jahrhunderts jedoch drastisch, als der damalige afghanische Emir Abdur Rahman Khan in Folge Provinz Bamiyan kam es im Jahr 2001 zu brutalen Morden. Die eines Aufstands in Hazaradschat einen heiligen Krieg gegen die Vereinten Nationen fanden 2002 in Bamiyan Massengräber, die Hazara ausrief, um seine Macht zu konsolidieren. Er begründete den nach Angaben der lokalen Bevölkerung auf eines der letzten MasKrieg Anfang der 1890er-Jahre damit, dass die ­Hazara saker der Taliban im Jahr 2001 zurückzuführen sind, bevor diese entmachtet aufgrund ihres Glaubens als schiitische Muslime in Nach dem Krieg standen einem überwiegend sunnitischen Staat ‚Ungläubige‘ wurden. 2001 war auch das Jahr, in dem Bami­ seien. Es ging jedoch nicht nur um Religion, sondern die Hazara ganz unten in um die machtpolitischen Ansprüche des Emirs, der yan die Aufmerksamkeit der interna­ der sozialen Hierarchie die autonomen Regionen unter seine Kontrolle bringen tionalen Medien auf sich zog, als die Taliban im März zwei historische Budwollte. Dem Krieg gingen bereits seit den späten 1880er-Jahren kämpferische Auseinandersetzungen um die Unabdha-Statuen im Bamiyan-Tal zerstörten. Das Tal wird mehrheitlich von Hazara bewohnt. Die Statuen stammen aus dem 6. Jahrhundert hängigkeit der Region voraus. Im Verlauf des Krieges wurden laut und wurden nicht von den Hazara erbaut, dennoch nehmen sie mündlichen Quellen 65 Prozent der Hazara getötet. Viele HazaraFrauen wurden vergewaltigt; einige von ihnen, die nicht in den eine wichtige Stellung in deren Kultur ein: Den Legenden nach stellen sie das versteinerte Liebespaar Salsal und Schahmama dar. benachbarten Iran oder nach Britisch-Indien fliehen konnten, wurden gefangen genommen und als Sklavinnen gehalten. Nach dem Krieg In den meisten Medienberichten über ihre Zerstörung heißt es, dass die Statuen von den Taliban auf Befehl von Mullah Omar standen die Hazara erstmals ganz unten in der sozialen Hierarchie gesprengt wurden, um dessen islamische Glaubwürdigkeit zu Afghanistans, was zum Teil an ihrer religiösen Überzeugung, aber unterstreichen. Der Meinung vieler Hazara nach war die Zerstörung auch an ihrer ethnischen Zugehörigkeit festgemacht wurde. ethnisch motiviert: Die Statuen waren der Beweis für die historische Der Großteil der verfügbaren Literatur über die Hazara versteht diese als Nachkommen der mongolischen Armee von Dschingis Verbundenheit der Hazara mit dem Land und Zentralafghanistan, unter anderem da die körperlichen Merkmale der Statuen ihren Khan, die im 13. Jahrhundert in die Region kam. Dieser Darstellung eigenen entsprachen. Die Empörung über die mutwillige Zerstörung stimmen jedoch nicht alle Hazaras zu. Einige behaupten, sie seien der Bamiyan-Buddhas durch die Taliban war jedoch nur von kurzer türkisch-mongolischer Abstammung und hätten keine Verbindung Dauer, denn sechs Monate später brachen die Zwillingstürme des zur Armee Dschingis Khans. Andere sagen, die Hazaras seien in Zentralafghanistan beheimatet. Unabhängig von diesen widersprüchWorld Trade Centers in New York in sich zusammen. Das Attentat lichen Thesen unterscheiden sich die Hazara aufgrund ihres Aussehens läutete ein neues Kapitel in der Geschichte Afghanistans ein. von der überwiegenden Mehrheit der afghanischen Gesellschaft, was ihre Diskriminierung im Laufe der Jahrhunderte noch verstärkt Sozialer Aufstieg und politische Teilhabe hat. Die negativen Zuschreibungen spitzten sich im 20. Jahrhundert tt Mit dem Sturz der Talibanregierung in Folge des NATO-Einwiederum bis zur Etablierung eines verinnerlichten Selbsthasses zu. satzes 2001 verbesserte sich die Situation der Hazara erheblich, Einige Hazara gingen dazu über, sich selbst als Tadschik*innen zu sowohl was den Zugang zu Bildung als auch die Einstellung im bezeichnen, um Diskriminierung und Spott zu umgehen. öffentlichen Sektor betrifft. So sind es seit 2001 die Hazara-Jugendlichen, die bei der nationalen Hochschulaufnahmeprüfung, Die ,Ungläubigen’ mussten leiden dem so genannten Kankor, am besten abschneiden. Auch die tt Die 1990er-Jahre markieren eine weitere dunkle Periode in der Sichtbarkeit der Hazara hat politisch und kulturell stark zugenomGeschichte der Hazara. Nach dem Bürgerkrieg, der das Land in den men: Im Jahr 2014 übernahm der Hazara-Politiker Mohammed

Am 15. August überrannten die Taliban Kabul und sicherten sich damit erneut die Macht in Afghanistan. Für viele Afghan*in­ nen ist das eine Katastrophe. Das gilt besonders für die schii­ tische Minderheit der Hazara, die bereits unter dem ersten Taliban-Regime massiver Verfolgung ausgesetzt waren. Die jüngere Geschichte dieser Minderheit ist von Unterdrückung geprägt.

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Die leere Nische der Buddhas von Bamiyan, 2005 | Foto: Tracy Hunter CC BY 2.0

Mohaqiq in einer Einheitsregierung als zweiter Stellvertreter des Katar. Der Dialog führte 2020 zum Doha-Abkommen, in welchem Regierungschefs eine führende Rolle. Die Unabhängige Menschensich die USA zum Rückzug ihrer Truppen aus dem Land ver­ rechtskommission Afghanistans wird seit März 2019 mit Sima pflichteten. Das war nicht nur für die Hazara eine verheerende Samar von einer H ­ azara geleitet. Für Jubel im Land sorgte 2008 Ent­scheidung. der Taekwondoin Rohullah Nikpai, der bei den Olympischen SpieMit der gewaltsamen Machtergreifung durch die Taliban und len in Peking die erste olym­pi­sche Medaille des Landes gewann. der Ausrufung des Islamischen Emirat Afghanistan am 16. August Im März 2019 schaffte die 14-jährige Sänge2021 verschlechtert sich die Situation der rin Zahra Elham eine doppelte Sensation: Sie Hazara noch einmal immens. Kurz vor der Die Buddha-Statuen hatten Einnahme Kabuls im Juli dieses Jahres maswar nicht nur die erste Hazara, die die beliebte TV-Talentshow A ­ fghan Star gewann, sonsakrierten die Taliban laut Amnesty Intereine wichtige Stellung in der dern auch die erste Frau. national in der Provinz Ghazni HazaraHazara-Kultur Trotz der besseren Bildungschancen und Männer. Nur drei Tage nach dem Fall von des besseren sozioökonomischen Status der Kabul zerstörten die Taliban die Statue von Hazara, vor allem in den städtischen Zentren, haben auch die Abdul Ali Mazari, einem bedeutenden politischen Führer der HazAngriffe auf Hazara in Afghanistan in den letzten Jahren wieder ara, der 1995 von den Taliban ermordet worden war. Ende August zugenommen. In den im August 2018 veröffentlichten Richtlinien töteten die Taliban über ein Dutzend Hazara in der Provinz Daikundi. In der neuen Taliban-Regierung gibt es keinen einzigen des UNHCR für die Beurteilung des internationalen Schutzbedarfs von Asyl­bewer­ber*­innen aus Afghanistan wird festgestellt, dass Hazara-Minister, was bedeutet, dass weder Vertreter*innen der Hazara durch die Taliban, aber auch durch den Islamischen Staat Hazara noch andere Schiit*innen beteiligt wurden. Die Rückkehr (IS) und andere Rebellengruppen getötet wurden. zur Taliban-Herrschaft in Afghanistan untergräbt nicht nur die Errungenschaften der Hazara in den letzten zwanzig Jahren, sondern markiert auch den Beginn einer weiteren Welle der Unterdrückung Die Absicht der Taliban ist eindeutig gegen eine historisch marginalisierte Gemeinschaft. Das United tt Im Jahr 2016 wurden mehr als hundert Hazara bei Anschlägen States Holocaust Memorial Museum in Washington hat im August getötet, zu denen sich der IS bekannte. 2017 gab es mehrere eine Erklärung veröffentlicht, in der es heißt, dass die Hazara »der Angriffe auf schiitische Moscheen und religiöse Prozessionen sowie Gefahr von Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder sogar von zunehmend auch Anschläge im Viertel Dasht-e Barchi im Westen Völkermord ausgesetzt sind«. Kabuls, einem überwiegend von Hazara bewohnten Bezirk. Dazu kamen zahlreiche weitere Angriffe auf Hazara, unter anderem auf Unterrichtszentren, Sportstätten, Hochzeitssäle, Krankenhäuser tt Rabia Latif Khan hat kürzlich ihre Promotion an der SOAS in und Moscheen. Nur ein Jahr später trafen sich US-Vertreter*innen London abgeschlossen. Sie untersuchte das ethnische Bewusstsein der britischen Hazara. im Sommer 2018 mit den Taliban zu geheimen Verhandlungen in iz3w • November / Dezember 2021 q 387

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Editorial

Wer vom Patriarchat nicht reden will …

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Sich mit Männlichkeit auseinanderzusetzen führt unweigerlich zu Diskussionen, häufig unschönen. Wieso ist das so? Geschlechterverhältnisse sind wirkmächtig und betreffen alle. Ihr Geschlecht tragen alle mit sich herum, ganz gleich wie man sich dazu verhält. So ist das Patriarchat als Herrschaftsverhältnis uns allen im wahren Sinn in den Körper eingeschrieben. Der Mann und seine Männlichkeit stehen in diesem Verhältnis auf der profitierenden Seite – was nicht heißt, dass Männer nicht auch unter dem Patriarchat leiden. Dies macht es nicht unbedingt einfacher, das Herrschaftsverhältnis und die Verteilung von Macht darin anzuerkennen. Gleichzeitig ist der Ausweg schwieriger: Man(n) kann nicht umstandslos aufhören Mann zu sein und sich auf die Seite der Unterdrückten schlagen. Das ist gerade für Linke schwer aushaltbar und auch dort wird die Diskussion dann häufig unschön. In diesem Themenschwerpunkt wollen wir uns nicht damit beschäftigen, wie es Männern überall auf der Welt geht. Das überlassen wir den Männer-Lifestylemagazinen. Stattdessen interessiert uns der kritische Blick auf und hinter die herrschenden Verhältnisse. In diesem Fall das Patriarchat. Welche Rolle spielt Männlichkeit darin? Und wenn das Patri­ ar­chat global (geworden) ist, gilt das dann auch für Männlich­ keit? Oder ist diese, wie so vieles, ein westliches Konzept? Wie sieht es mit Männlichkeitsvorstellungen im Globalen Süden aus? Es hat sich auch bei der Diskussion um den Titel des Schwerpunktes gezeigt – geht Männlichkeit im Singular? Müssen wir nicht von Männlichkeiten sprechen?

von Geschlecht in den Kolonien gewaltsam durchgesetzt wurden (Seite 34). Bei allen Unterschieden lässt sich festhalten, dass heute global von einer hegemonialen Männlichkeit gesprochen werden kann, die mit dem Kolonialismus verbreitet wurde und in Überschneidung mit Rassismus nicht zuletzt der Herrschaftssicherung weißer Siedler*innen diente. Über die Jahrhunderte wurde Männlichkeit zu der unsichtbaren Norm, die nun langsam hinterfragt wird (Seite 21). Das bedeutet nicht, dass sich Männlichkeit überall exakt gleich ausprägt und dass es keine gegenläufigen Tendenzen gibt. Aber gewisse Grundstrukturen sind ähnlich und sie alle vereint eins: der privilegierte Zugang zu Macht im Patriarchat. Deshalb kann Männlichkeit auch nur eingeschränkt auf der individuellen Ebene angegangen werden. Natürlich soll der konkrete Mann unbedingt mehr Care-Arbeit machen, weniger selbstverständlich Redezeit einfordern und dringend mehr über seine Gefühle sprechen – vor allem auch mit anderen Männern! Forderungen nach einer vermeintlich gesünderen Männlichkeit greifen jedoch zu kurz und laufen Gefahr, dem Patriarchat ein »politisch korrektes Facelift« zu verpassen (Seite 24). Männlichkeit bleibt ein politisches und gesellschaftliches Problem. Es muss entsprechend politisch organisiert bekämpft werden – und dafür ist die Einsicht in das Herrschaftsverhältnis notwendig, auch wenn sie für Männer bitter ist und sein muss.

Wir haben uns für den Singular entschieden. Die F­ ragen,

Machtverhältnissen spielen auch die Sapeurs, eine Subkultur aus dem Kongo. Sie hat ihre Ursprünge in den 1920er-Jahren, als Einheimische elegante Mode als eine Form des Widerstands entdeckten: Man kleidet sich besser als die Kolonialherren. Auch heute drückt diese schrille Subkultur Widerstand gegen Armut und Perspektivlosigkeit aus. Sie ist traditionell männlich geprägt, doch gibt es immer mehr Frauen, die zu Sapeusen wer­den. Indem sie so die kongolesische patriarchale Gesellschaft herausfordern und die Machtdynamik umkehren, kehren sie zum Anfang der Bewegung zurück. So auch Clementine Biniakoulou auf unserem Titelbild – sie ist Hausfrau in Brazzaville und seit 36 Jahren Sapeuse. Ihr Porträt stammt, wie die Mini-Bildstrecke zu Beginn des Themenschwerpunkts, aus dem Buch »Sapeurs: Ladies and Gentlemen of the Congo« von Tariq Saidi. Wir danken ihm für die wunderbaren Fotos.

die hinter der Grammatik stehen, beantworten die Artikel des Themenschwerpunks unterschiedlich. Der südafrika­ nische Geschlechterforscher Dean Peacock (Seite 26) will lieber Männer von Männlichkeitsvorstellungen befreien als Männlichkeit multiplizieren. Kim Posster sieht das ähnlich, für ihn ist Männlichkeit ein gesellschaftlicher Skandal, gegen den es aufzubegehren gilt (Seite 22). Der Podcaster ­Soufiane Hennani aus Marokko ist hingegen auf der Suche nach positiven Aspekten von Männlichkeit und macht gleichzeitig deutlich, dass Queerness kein westlicher Import ist (­Seite 30). Das betonen auch Kim Anderson und Robert Alexander Innes: Sie schreiben von Indigenen Männlichkeiten im Plural und zeigen auf, dass die westlichen Vorstellungen

Apropos Widerständigkeit: Mit Geschlechterrollen und

die redaktion Der Themenschwerpunkt Männlichkeit entstand in Kooperation mit dem Gunda Werner Institut der Heinrich Böll Stiftung e.V.

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Männlichkeit

Nichts ohne ‚das Andere‘ Was ist eigentlich Männlichkeit? von Larissa Schober tt Männlichkeit war lange vor allem eines – unsichtbar. Das Männliche ist der Standard, die normale menschliche Natur. Zumindest stellt es sich so dar. Deshalb ist »It’s a man’s world« nicht nur ein Song von James Brown und ein daher gesagter Satz, sondern noch immer zu viel Zustandsbeschreibung. Das hat Konsequenzen für den Alltag all jener, die nicht dieser Männlichkeit entsprechen. Dabei geht es nicht nur um gesellschaftliche Teilhabe und um die elendige Sprachdiskussion, in der sich Frauen und alle anderen Geschlechter beim generischen Maskulinum bitteschön mitgemeint fühlen sollen. Die Welt ist auf Männer ausgerichtet – und das kann gefährlich sein: Etwa, weil Crash Test Dummies für Autounfälle männlichen Körpern nachempfunden sind. Dadurch sind die Schutzsysteme weniger effektiv für Körper, die dieser Norm nicht entsprechen und es sterben mehr Frauen als Männer bei Unfällen. Die Journalistin Rebekka Endler sammelt in ihrem Buch ‚Das Patriarchat der Dinge‘ dieses und viele weitere Beispiele. Sie zeigt auf, wie die Ausrichtung der Dinge auf Männer einerseits gefährlich ist und andererseits wieder auf Geschlechterklischees zurückwirkt. So orientiert sich die als ideal geltende Temperatur in Großraumbüros an männlichen Körpern. Diese ist aber oft zu niedrig für den weiblichen Körper, der einen höheren Fettanteil besitzt. Im sozialen Konstrukt um Geschlecht wird dann daraus, dass Frauen ‚Frostbeulen‘ seien.

Die Konzeption von Männlichkeit als autonomes Subjekt geht aber nicht auf. Menschen sind soziale Wesen und niemals komplett autonom. Männer stecken in einem grundsätzlichen AutonomieAbhängigkeitskonflikt. Sie müssen autonom sein, gleichzeitig bestehen aber Abhängigkeiten, die sich nicht auflösen können. Die grundsätzlichste ist vielleicht diese: Männer schulden ihr Dasein der Frau, sie wurden geboren. Initiationsriten, die es weltweit für den Übergang von der Kindheit zum ‚Mann sein‘ gibt, versuchen, durch eine rituelle zweite Geburt diesen Makel zu beseitigen. Darin drückt sich laut Pohl der Wunsch nach einer Welt ohne Frauen aus. Seine offenste Verkörperung findet dieser im Männerbund.

… frau fühlt sie schon

Für heterosexuelle cis-Männer spitzt sich dieser Konflikt noch zu – sie sind zur Befriedigung ihrer sexuellen Bedürfnisse von Frauen abhängig. Frauen ‚zu nehmen‘ ist zudem wichtiger Teil der Konstruktion vom ‚Mann sein‘. Dadurch wird aber die Autonomie, die zentral für das männliche Subjekt ist, untergraben. Männlichkeit ist deshalb von einer mehr oder weniger paranoiden, im Notfall gewaltbereiten Abwehrhaltung geprägt. Ihr unbewusster Kern ist eine von Angst, Lust und Hass gekennzeichnete Einstellung zu allem für die Männlichkeit Bedrohlichen, das mit Weiblichkeit assoziiert wird. Kurz: Männer hassen Frauen dafür, Man sieht sie nicht … dass sie sie begehren. Dieser Autonomie-Abhängigkeitskonflikt ist tt Und was genau ist Männlichkeit jenseits des ‚Unsichtbaren‘ und die wichtigste Quelle von sexueller und nichtsexueller Gewalt ‚Normalen‘? Männlichkeit ist keine Eigenschaft, sondern, mit dem gegen Frauen. Gewalt ist ein Versuch, eine durch die Abhängigkeit aus den Fugen geratene Männlichkeit wiederherzustellen (Seite Sozialpsychologen Rolf Pohl gesprochen, ein kulturelles und psychosoziales Konstrukt. Zudem ist sie die privilegierte Position im 22). So sind extreme Bewegungen wie etwa jene der Incels oder die Taliban nicht nur eine irgendwie entgleiste Männlichkeit, globalen Herrschaftsverhältnis Patriachat. Dabei gilt noch immer das von Simone de Beauvoir aufgestellte Diktum, dass die Frau sondern deren logische Folge. Und ihre Gewalt ist ein Mittel, um (und alle anderen Geschlechter, die eben nicht der Mann sind) ‚das die Männerherrschaft aufrechtzuerhalten. andere Geschlecht‘ ist. Dabei sind zwei Männlichkeit bedeutet Leid in alle As­pekte für Männlichkeit zentral: Sie stellt Richtungen – für Frauen und andere Männlichkeit ist keine Eigenschaft, das autonome, unabhängige Subjekt dar, Geschlechter, die im besten Fall für das (im Gegensatz zu dem ‚Anderen‘) sich männliche Projektionen herhalten sondern ein Konstrukt selbst gehört. Dieses Subjekt muss gleichmüssen, im schlimmsten Fall Gewalt zeitig das überlegene Geschlecht sein. bis zum Mord erfahren, damit eine Daher konstituiert sich Männlichkeit stets durch die Abwertung des verletzte Männlichkeit wiederhergestellt werden kann. Und für Weiblichen und anderer Geschlechter. Diese Abwertung ist also Männer, die an der unerfüllbaren Erwartung, die den Kern von eine Grundbedingung von Männlichkeit und genau der Grund, Männlichkeit ausmacht, scheitern müssen. warum es keine ‚gute‘ Männlichkeit geben kann. Deshalb kann es nicht darum gehen, ‚toxische‘ Anteile von Sowohl Überlegenheit als auch Autonomie sind aber nicht Männlichkeit zu verlernen (Seite 24) oder eine angeblich gute einfach vorhanden, sie (und damit die Männlichkeit) müssen immer und ‚kritische‘ Männlichkeit herauszuarbeiten. Eine emanzipierte wieder neu hergestellt werden. Diese Herstellung kann auch missMenschlichkeit macht die Männlichkeit nicht ‚unsichtbar‘. Sie lingen, weshalb Männlichkeit ein stets fragiler und bedrohter Zuschafft sie ab. stand ist. Und das bedrohlichste für diesen Zustand ist wiederum ‚das Andere‘. Ein ‚Mädchen‘, ‚schwul‘, eine ‚Transe‘ zu sein ist die tt Larissa Schober ist Redakteurin im iz3w . tief sitzende Angst eines jeden ‚richtigen Mannes‘. tt

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Elie Fontaine Nsassoni, 45-jähriger Taxibesitzer und Sapeur seit 35 Jahren | Foto: Tariq Zaidi, Sapeurs: Ladies and Gentlemen of the Congo

»Männlichkeit ist ein gesellschaftlicher Skandal« Ein Gespräch mit Kim Posster Intimität und Männlichkeit stehen häufig in einem schwierigen Verhältnis zueinander. Das hat strukturelle Ursachen, die in der Konstruktion von Männlichkeit liegen, meint Kim Posster. Er war an mehreren Versuchen der organisierten (Selbst-) Reflex­ion von Männlichkeit beteiligt, die er mittlerweile als gescheitert bewertet und publiziert zu Profeminismus und Männlichkeitskritik.

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iz3w: Trotz aller Veränderung gilt immer noch der Satz »Boys don’t cry«. Kannst du dir erklären wieso? Kim Posster: Es gibt ja durchaus Kontexte, in denen Männer weinen dürfen. Dabei muss es dann aber schon um vermeintlich dramatische, große Dinge gehen, die nicht direkt mit inneren Prozessen und schon gar nicht mit zwischenmenschlichen Beziehungen zu tun haben. Männer weinen, wenn Deutschland beim Männerfußball verliert. Aber doch nicht, weil ihr bester Freund ihnen eine Überraschung zu ihrem Geburtstag macht oder weil sie von einer vertrauten Person stark enttäuscht werden. Man darf keine Schwäche zeigen, weil das in den allermeisten Fällen Angreifbarkeit bedeutet. Zudem gibt es ein enormes Abhängigkeitstabu. Sich gegenüber anderen Menschen Emotionen hinzugeben würde diese Abhängigkeit unterstreichen. Gerade Trauer bedeutet auch ein Innehalten sowie Verletzlichkeit und Loslassen. Das sind Zustände, von denen

Männer gelernt haben, dass sie sie vermeiden müssen. In Momenten, in denen sie ihnen ‚drohen‘, versuchen sie besonders stark die Kontrolle zu behalten. Das führt dann tatsächlich auch dazu, dass man verlernt zu weinen – wie ich aus eigener Erfahrung sagen kann. Ich finde es aufschlussreich zu schauen, wann Männer dann doch verletzlich sein können: in der Männergemeinschaft, unter der Bedingung, dass Frauen und Homosexuelle ausgeschlossen sind. Männer können dort wieder Nähe zulassen, in dem gemeinsam gehaltenen Raum, dass man die eigene Verletzlichkeit betrauert, ohne dabei aber angreifbar zu werden – vor allem durch Frauen. Man(n) möchte also eine intime Beziehung führen, fühlt sich aber genau dadurch die ganze Zeit angegriffen. Wie soll das denn funktionieren? tt Erfahrungsgemäß mehr schlecht als recht. Gerade heterosexuelle Männer stecken in einem ständigen Autonomie-Abhängigkeitskonflikt. Er rührt daher, dass Männer Frauen ganz zentral brauchen, etwa um stark zu sein, aber auch um Emotionen ausdrücken zu können und um überhaupt in der Welt zurecht zu kommen. Gleichzeitig merken sie aber ständig, wie sie durch diese geschlechtliche Arbeitsteilung und ihre Zuneigung zu Frauen von diesen abhängig sind. Das wiederum soll verhindert werden. Man möchte Zuneigung und Bestätigung von Frauen und dabei gleichzeitig verhindern, dass sie zu einem wirklichen Gegenüber werden, das ein eigenes

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Männlichkeit Urteil und eigene Bedürfnisse setzen kann. Das produziert Ambivalenz und ist mit der zentrale Grund für Beziehungsgewalt und sexuelle Gewalt, weil gerade in intimen und sexuellen Beziehungen diese Ambivalenz besonders stark hervortritt. Männer versuchen, sie mit Kontrolle und Dominanz aufzulösen.

Spitze getriebene Angst von Männern, dass das Einen-Penis-haben ihre Männlichkeit nicht garantieren kann.

Wieso fällt es Männern so schwer, an ihrer eigenen Befreiung zu arbeiten, wenn sie selbst unter Männlichkeit leiden? tt Männer haben ein starkes Unbehagen und eine Unlust, in eine Das klingt sehr schmerzhaft und einsam. Konfrontation zu gehen. Etwas Grundlegendes, was Männer und tt Ja, das ist es auch. Nur schließen Männer daraus ganz selten: Ich gerade linke Männer lernen müssen, ist, dass Kritik auch etwas Intimes ist. Etwas, das sie und ihre männlichen Freunde direkt habe ein Problem und das wird auch ständig zum Problem für andere. Lieber empfinden sich Männer als tragische Figuren und entbetrifft. Viel zu oft überlassen sie Frauen die Konfrontation. Männer wickeln ganz viel Selbstmitleid. Aber auch aus der Position des gehen ihre Probleme oft nur in ihren romantischen Beziehungen Selbstmitleids kommt es zur Aggression. In meiner ersten sexuellen durch, wodurch es wieder Probleme von Frauen werden. Das sollte eigentlich nicht sein. Weil aber der Respekt zwischen Männern Beziehung mit einer Frau war ich beispielsweise unglaublich stark auf der Grundlage beruht, dass man sich nicht zu nahekommt, mit eigenen Unsicherheiten beschäftigt. Ich hatte das Gefühl, ich sind Männer keine guten Ansprechpartner füreinander. Es gibt mache das nicht gut genug. Irgendwann habe ich sie dann gefragt, Bereiche in denen das passiert, etwa in der Kritischen Männlichkeit. wie es denn für sie sei. Davon war sie irritiert. Ich müsse doch eigentlich spüren, dass es ihr gefällt. Da ist mir ein Aber die Erfahrung zeigt, dass Männer solche Gedanke durch den Kopf geschossen, der mich Runden oft nutzen, um sich selbst in jenen »Männer meiden das erschreckt hat: ‚Was weißt denn du schon?‘ Punkten, die sie unglücklich machen, ein bisschen auszubessern. Und es schnell wieder Männer leben oft unter dem Eindruck, dass sie Thema sexuelle Gewalt« sich dem Urteil von Frauen unterwerfen. Doch was lassen und so feministische Kritik für sich nutsie eigentlich tun, ist ihre eigenen Männlichkeitszen, aber nur an der Oberfläche verbleiben. anforderungen in der Frau zu spiegeln. Wenn der Spiegel dann Es muss also auch immer um feministische Ziele gehen: etwa die spricht und eine eigene Meinung hat, wird das zum Problem. Und Rolle von Männlichkeit in Beziehungsgewalt besser zu verstehen da muss das Mitleid aufhören. Ohne das Leiden, das dahintersteckt, und sich selbst darin auch zu sehen. Es sollte auch darum gehen, in Abrede stellen zu wollen aber wenn ich nicht bereit bin, mein wie man gegen die Verhältnisse vorgeht, die so etwas immer wieGegenüber wirklich anzuerkennen, ist das reaktionär. der hervorbringen. Da finde ich es relativ unbefriedigend, all den Männern nur zu sagen, sie sollen mal über ihre Gefühle und SexuReden über Gefühle ist zwischen Männern vor allem dann möglich, alität reden. Das ist eine Basisnotwendigkeit und sollte nicht als wenn Frauen und Homosexuelle ausgeschlossen sind. Was ist der profeministische Praxis geadelt werden. Von ihr ausgehend lassen Grund dafür? sich dann entsprechende Kämpfe führen. tt Männer begeben sich dann nicht mehr in Gefahr. Auch Männer Auch das Thema sexuelle Gewalt meiden Männer. Sie treten zu leiden ja ganz stark unter anderen Männern. Durch die immer fast allen Themen gerne als Experten auf, die wissen was zu tun wiederkehrende Abweisung entsteht aber auch ein Wunsch nach ist. Wenn es aber um Kritik an Männlichkeit und besonders um Männernähe – danach, mit Männern anders zusammensein zu sexuelle Gewalt geht, dann ist das nicht so. Man schaut plötzlich können. Wenn man sich klassische Männerbünde ansieht, ist die Feministinnen mit ganz großen Augen an. Dabei käme es genau Bedingung für Männernähe, dass es einen Ausschluss von Weiblichda darauf an, mal die Klappe aufzumachen, wo man das doch sonst keit gibt. So können Männer ihre Verletzlichkeit betrauern, weil sie ständig ungefragt tut. Das ist kein Zufall. sich nicht mehr beweisen müssen. Gleichzeitig schwingt bei Intimität und körperlicher Nähe zwischen Männern Homoerotik mit. Was war deine persönliche Motivation, dich mit dem Thema Männlichkeit zu befassen? Diese verliert nur dann ihre Bedrohlichkeit, wenn man Homosexualität ausschließt. tt Für mich war es ein ehrliches Erschrecken über mich selbst und patriarchale Zustände. Und ein ehrliches Interesse an feministischer Wieso ist Homosexualität so bedrohlich? Solidarität. Aber da waren auch reformistische Bedürfnisse, wie die tt Weil es Männlichkeit dem Anspruch nach fundamental widerNähe zu anderen Männern, oder die Möglichkeit über meine eigespricht, Objekt für anderes zu sein. Das ist in der patriarchalen nen Unsicherheiten und über Gefühle und Sexualität sprechen zu Ideologie Aufgabe der Frauen. Hinter der Angst vor Homosexualität können. Die persönlichen und vor allem politischen Enttäuschungen, steht die Angst, dass andere Männer einen so sehen könnten, wie die ich daraufhin in ‚Selbsterfahrungsgruppen‘ gemacht habe, man selbst Frauen sieht. Dass andere Männer einen zum Objekt haben bei mir zur Erkenntnis geführt: Männlichkeit ist ein gesellmachen und sexuell dominieren könnten. Die eigenen Anteile, die schaftlicher und für mich persönlich auch ein biografischer Skandal und gegen diesen begehre ich auf. Aus einem Erschrecken und sich wünschen zum Beispiel auch mal gefickt zu werden, also passive Triebziele, müssen, um die männliche Subjektivität zu erhalten, Leiden daran, aber eben auch aus feministischer Notwendigkeit. verdrängt und abgespalten werden. Das Positive, welches daraus für mich und andere Männer entsteht, ist ein erfreuliches Nebenprodukt der beständigen Kritik an mir, an Dass gerade Transfrauen so viel Gewalt erleben, hat auch damit zu tun, dass sie in den Augen von cis-Männern gleichzeitig die Männlichkeit, an den patriarchalen Verhältnissen. Das ist heute schlimmsten Frauen und die schlimmsten Schwulen sind. Oft wermeine Motivation und damit bin ich eigentlich ganz zufrieden. den sie dafür gewalttätig angegriffen, dass Männer ihnen vorwerfen, sie seien auf sie reingefallen. Sie schämen sich so sehr für ihr Begehren und müssen das so stark zurückweisen, dass sie ihr Gegenüber tt Das Gespräch führte Larissa Schober (iz3w). Eine Langversion des vernichten wollen. Gleichzeitig verkörpert eine Transfrau die auf die Interviews findet sich online unter www.iz3w.org. iz3w • November / Dezember 2021 q 387

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Ntsimba Marie Jeanne, Geschäftsfrau und Sapeuse seit 20 Jahren, Okili Nkoressa, Schülerin und Sapeuse für fünf Jahre, Judith Nkoressa, Polizistin und Sapeuse seit 18 Jahren (v.l.) | Foto: Tariq Zaidi, Sapeurs: Ladies and Gentlemen of the Congo.

Toxische Männlichkeit Ein kritischer Begriff für das Patriarchat? Mit dem Begriff der toxischen Männlichkeit diskutiert inzwi­ schen eine breite Öffentlichkeit über destruktive männliche Verhaltensweisen. Das Konzept bleibt jedoch individualistisch und es fehlt ihm an gesellschaftspolitischer Schärfe. Bieten sich dennoch Anknüpfungspunkte für die feministische Bewegung?

anderen schaden. Wie sich das genau äußert und wem es schadet, bleibt allerdings oft uneindeutig. Ebenso unklar ist, wie sich der unpräzise Begriff für politische Veränderung heranziehen lässt.

Toxisch oder gesund?

In Deutschland arbeitet der Pädagoge Sebastian Tippe zu diesem Thema. In seinem Buch »Toxische Männlichkeit« schreibt er, diese »beschreibt problematische Einstellungen, Denk- und Verhaltenstt Manchmal sorgt bereits eine kleine Broschüre für großen Wirbel. weisen, die […] an die traditionelle Männerrolle gekoppelt und Als die American Psychological Association 2019 einen Ratgeber eng mit patriarchalen Strukturen und hegemonialer Männlichkeit über die »Psychologische Arbeit mit Jungen und Männern« veröfverknüpft sind und mit denen Jungen und Männer anderen und/ fentlichte, in dem sie vor den negativen psychioder sich selbst […] schaden«. Mit dem Fokus auf schen Folgen »traditioneller Männlichkeit« warndestruktives Verhalten tritt dabei jedoch ein entMänner profitieren te, ging ein Aufschrei durch die konservative scheidender Aspekt in den Hintergrund: Männer Presselandschaft. Ohne männliche Aggression und profitieren von patriarchalen Verhältnissen. Auch vom Patriarchat Mut, meinte etwa ein Kommentator des US-Fernder australische Geschlechterforscher Michael Flood sehsenders Fox News, würde die Menschheit noch betont die Schwächen des Begriffs: »Männlichkeit in Höhlen leben. Allen Abwehrreaktionen zu trotz zeigt die Diskusmag für Männer ‚toxisch‘ sein, aber sie lohnt sich, indem sie Mänsion, dass es das Thema toxische Männlichkeit in die breite Öffentnern ungerechte und unverdiente Privilegien verschafft.« Die Kritik lichkeit geschafft hat. Es geht um gefährliche, gewalttätige oder an toxischer Männlichkeit als destruktive Ausprägung männlichen eben traditionelle Verhaltensweisen, mit denen Männer sich und Verhaltens beinhaltet zudem immer auch den impliziten Verweis tt

von Markus Textor

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Männlichkeit

auf eine vermeintlich gesunde Männlichkeit, die dieser gegenüberwerden kann, unter welchen Bedingungen gesellschaftliche Disgestellt wird. Dass Männlichkeit an sich etwas Erstrebenswertes sei, kurse zu politischer Veränderung führen können. In ihrem einflussreichen Werk »Hegemonie und radikale Demokratie« analybleibt also vorausgesetzt. sieren Laclau und Mouffe, wie die feministische Bewegung die War man da nicht schon einmal weiter? Feministische Theorien patriarchale Hegemonie herausgefordert hat. Sie schreiben, dass zum Thema Männlichkeit haben stets versucht, das Systematische am Patriarchat zu beschreiben: Die wirtschaftlichen Vorteile, der dies erst gelingen konnte, nachdem es im demokratischen Diskurs bevorzugte Zugang zu gesellschaftlichen und beruflichen Positionen, möglich war zu artikulieren, dass es eine Frauenunterdrückung die ungerechte Arbeitsverteilung im Haushalt oder bei der Sorge gibt. Nachdem die feministischen Positionen artikuliert werden für Andere – und eben auch die systematische Abwertung alles nicht konnten, war es der Bewegung auch möglich, konkrete widerMännlichen (Seite 21). Die Debatten um toxische Männständige Forderungen zu stellen. Diese bekamen ihre Durchlichkeit scheinen oft hinter diese Erkenntnisse zurückzufalDas Gesellschaftliche wird schlagskraft vor allem durch die len. Weiter führt da ein kritischer Forschungsansatz der zunehmende Popularität. Aber Soziologin Raewyn Connell, die von »hegemonialer Männnur am Rande verhandelt auch, weil sie sich inhaltlich lichkeit« spricht. Im Vergleich zur toxischen Männlichkeit derart verdichtet haben, dass kann unter Bezug auf Connells Theorie eine klare Aussage für die gesellschaftlichen Subjekte nachvollziehbar war, warum gemacht werden, wann eine Männlichkeit als hegemonial, also vorherrschend, bezeichnet werden kann: Wenn sie sich in einer es sinnvoll ist, gegen das Patriarchat aufzubegehren. Landläufig ist dieser Kampf um die Hegemonie auch als Diskursverschiebung Gesellschaft erfolgreich durchgesetzt hat und breite Akzeptanz bekannt. genießt. Ob das heute bei einer traditionellen oder gar gewalttätigen Männlichkeit der Fall ist, muss in Frage gestellt werden. Ist hier Lässt sich mit dem Konzept toxische Männlichkeit also auch die patriarchale Hegemonie herausfordern? Um den patriarchalen ‚die‘ Männlichkeit gemeint? Letztlich schöpft das Konzept der toDiskurs nachhaltig zu verschieben, müsste sich die Diskussion xischen Männlichkeit aus einer Vielzahl verschiedener kritischer ebenfalls verdichten, so dass erkennbar würde, warum, wann, für Ansätze. Um eine ausgearbeitete Theorie handelt es sich jedoch wen und inwiefern manche männlichen Handlungsweisen schädnicht, diesbezüglich fehlt es dem Begriff an notwendiger Schärfe. lich sind, aber auch, welche Rolle sie im Patriarchat einnehmen. Das gelingt in den Debatten um toxische Männlichkeit bisher Männlichkeit verlernen unzureichend. Es fehlt die gesellschaftliche Dimension und eine tt So wird das Gesellschaftliche bei der toxischen Männlichkeit nur klare Benennung der Profiteure patriarchaler Verhältnisse. Weiter führt uns hier der oben genannte Begriff der hegemonialen am Rande behandelt. Die Debatten sind stark pädagogisch geprägt: Männlichkeit von Connell, in dem verschiedene Erkenntnisse der Toxische Männlichkeit werde erlernt und könne folglich auch wieder Männlichkeitsforschung zusammenlaufen. Mit ihm lassen sich verlernt werden. Auch in Sebastian Tippes Buch geht es zentral um Aussagen darüber treffen, wann eine Männlichkeit als hegemodas Thema Sozialisation und um Strategien, mit denen die toxische nial erachtet werden kann und warum dies so ist. Aufgrund Männlichkeit verlernt werden soll. Nun führt aber eine solche päddessen wird das Konzept auch international herangezogen, um agogische Herangehensweise nicht unmittelbar zur Veränderung der patriarchalen Verhältnisse. Tippe geht zwar davon aus, dass sich Männlichkeiten zu analysieren, was es prinzipiell anschlussfähig macht, um damit antipatriarchale Politik zu betreiben. Andererseits die Verhältnisse verändern könnten, würden mehr Männer für femi­ ist dem akademischen Thema der hegemonialen Männlichkeit nistische Themen sensibilisiert werden und er bietet Workshops für bisher nicht dieselbe mediale Aufmerksamkeit zuteil geworden Männer an. Führt der Weg zu einer nicht-patriarchalen Gesellschaft wie dem popularisierten Konzept der toxischen Männlichkeit. also allein über Selbstreflektion und Therapien? Dass die ÜberwinPopularisierungen und Modebegriffe können durchaus für polidung des Patriarchats auf diesem Weg lange dauern dürfte, weiß tische Zwecke eingesetzt werden. Dies ist aber nur erfolgreich, auch Tippe. Andererseits scheint mit der Debatte um toxische Männlichkeit wenn die Ziele und Forderungen politisch präzise sind. Die feministische Bewegung etwa konnte auf klare Forderungen wie gesellschaftlich etwas in Bewegung geraten zu sein. So sieht M ­ ichael Frauenwahlrecht, ökonomische Gleichstellung oder körperliche Flood, trotz aller Kritik, auch die Stärken des Konzepts toxischer Männ­lichkeit: In einer breiten Öffentlichkeit wird Männlichkeit erstmals Selbstbestimmung verweisen. Ließen sich ausgehend von dem Konzept der toxischen Männlichkeit vergleichbare politische als etwas Soziales und Erlerntes verhandelt, das folglich auch veränForderungen formulieren, wäre das ein wichtiger Schritt für eine derbar ist. Zudem sei das Konzept gerade wegen seiner Einfachheit antipatriarchale Bewegung. Ansonsten aber wird toxische Männanschlussfähig, um feministische Kritiken und Politiken zu popularilichkeit ein unpräzises Konzept bleiben, das im schlimmsten Fall sieren. Oftmals sind damit verbundene Theorien komplex und schwer zugänglich. Etwas zu popularisieren kann vor diesem Hintergrund dem Patriarchat ein politisch korrekteres Facelift verpasst, statt es hilfreich sein und politische Veränderungen fördern. Doch wie genau nachhaltig zu bekämpfen. dies umgesetzt werden kann, beschreibt auch Flood nicht.

Der Kampf um die Hegemonie

Markus Textor ist Doktorand und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Erziehungswissenschaft der Pädagogischen Hochschule Freiburg. tt

Diesbezüglich lohnt es sich, die Politik- und Diskurstheorie von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe heranzuziehen, da mit ihr gezeigt tt

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Männlichkeit

»Männer von Männlichkeitsvorstellungen befreien« Interview mit dem südafrikanischen Maskulinitätsforscher Dean Peacock Dean Peacock arbeitet für die Women’s International League for Peace and Freedom in Kapstadt. Er war Kriegsdienstver­ weigerer im Apartheidstaat, wirkte in der antimilitaristischen End Conscription Campaign mit, hat im Exil profeministische Männerorganisationen unterstützt und in Südafrika gemeinsam mit anderen Aktivist*innen das Sonke Gender Justice Network aufgebaut.

iz3w: Im Zentrum deiner Arbeit und Forschungen steht die Überwindung

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geschlechtsspezifischer Gewalt und martialischer Männlichkeit. An welchen Theorien und Konzepten orientierst du dich? Dean Peacock: Hier in Südafrika sind die Schriften von Kopano Ratele wegweisend. Er zeigt, wie wichtig es ist, Männlichkeit nicht isoliert zu betrachten, sondern koloniale Auswirkungen und länder­ spezifische Kontexte zu untersuchen. Internationale Männlichkeitsforschung, vor allem diejenige in den USA, ignoriert oft historische Prägungen von Maskulinität, beispielsweise durch die Kolonial­ geschichte sowie den antikolonialen Widerstand in afrikanischen Ländern. Ein intersektionaler Ansatz verhindert ahistorische und kontextlose Einschätzungen von Männlichkeit sowie Verallgemeinerungen auf den ganzen Kontinent. Für die Analyse martialischer Männlichkeit in Südafrika bedeutet das zum Beispiel, genauer und kritischer zu erforschen, wie Shaka Zulu als erfolgreicher Anführer im Kampf gegen britische Eroberer im 19. Jahrhundert zum Held und zur mythischen Figur wurde. Auch die Mythologisierung von Umkhonto we Siswe, des bewaffne­ ten Arms des African National Congress (ANC) ab den 1960erJahren, bedarf einer kritischen Analyse. Diese Untergrundgruppe wird in manchen historischen Rückblicken verklärt, indem sie als bedeutendste Organisation für die Überwindung der Apartheid dargestellt wird. Dabei waren andere Bewegungen und Faktoren viel wichtiger, um das rassistische Regime zu Fall zu bringen. Eine Beschränkung auf militante Männer in Umkhonto we Siswe verkürzt also die Geschichte des Widerstands gegen den Apartheidapparat. Damit müssen wir uns intensiver auseinandersetzen. Ein weiteres wichtiges Thema sind die Überschneidungen von Rassismus und Männlichkeit: Im Apartheidstaat war ein jahrelanger Militärdienst für weiße junge Männer verpflichtend. Dieser prägte ihre martialische Männlichkeit. Mit Militär- und Polizeigewalt wurde die gesellschaftliche Hierarchie aufrechterhalten. Gleichzeitig wurden Schwarze Männer dem rassistischen System unterworfen. Mit der erniedrigenden Bezeichnung »boys« sprach man ihnen die Menschlichkeit und Männlichkeit ab. Wegen der wirtschaftlichen Ausbeutung blieben Männlichkeitsideale für sie unerreichbar, was viele verzweifeln ließ und bei manchen zu Überkompensation führte. Um diesen Rassismus zu überwinden, brauchen wir weiterhin gesellschaftliche Prozesse, die auf Gerechtigkeit ausgerichtet sind. Neben martialischer Männlichkeit ist Vaterschaft in Südafrika ein wichtiges Forschungsthema. Worum geht es dabei? tt Unser heutiges Verständnis von Vaterschaft und die Probleme von Männern, ihre väterlichen Pflichten zu erfüllen, erfordern iz3w • November / Dezember 2021 q 387

­ enauere Analysen historischer Hintergründe. Zu den Problem­ g ursachen zählen Landgesetze und massive Landenteignungen Anfang des 20. Jahrhunderts. In der Folgezeit wurden Männer der Schwarzen Bevölkerungsmehrheit gezwungen, Wanderarbeiter zu werden. Mit dem wenigen Geld, das sie beispielsweise als Minenarbeiter verdienten, konnten sie ihre Familien aber nicht so versorgen, wie die Gesellschaft das von Vätern erwartete. Daran hat sich bis ­heute nicht viel geändert. Sehr geringes Einkommen und strukturelle Arbeitslosigkeit sind weiterhin verbreitet. Männer tragen zwar etwas zum familiären Unterhalt bei, das reicht jedoch nicht. Die Norm des männlichen familiären Versorgers ist für Männer ohne Jobs und Langzeitarbeitslose unerreichbar. Wir müssen diese ökonomischen Bedingungen und Zusammenhänge viel stärker beachten, wenn wir über die soziale Verantwortung von Vätern sprechen. Vergleichende Studien zur Vaterrolle in verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen in Südafrika haben gezeigt, dass Väter indischer Herkunft genauso viel Zeit mit ihren Kindern verbringen wie Väter der weißen Minderheit, falls sie über ausreichende Einkommen verfügen. Es geht also weniger um individuelle psychische Aspekte oder starre Rollenmuster, sondern um komplexe Zusammenhänge, insbesondere mit der Ökonomie. Wenn wir Ungleichheiten erfassen und über die Vielzahl von Männlichkeiten reflektieren, sind die konzeptionellen AuseinanderDemonstration des Men As Partners-Netzwerkes in Soweto 2005


setzungen mit hegemonialer Männlichkeit von Raewyn Connell aus Australien nützlich. Das Land war wie Südafrika eine rassistisch geprägte britische Siedlerkolonie. Connells Überlegungen ermöglichen Männern, eine Bandbreite von Männlichkeiten zu erkennen. Wie die Forschung uns herausfordert, wird klar, sobald wir zusätzlich die Arbeiten des britischen Soziologen und profeministischen Männerforschers Jeff Hearn diskutieren. Er kritisiert, der Fokus auf multiple Männlichkeiten überdecke Machtbeziehungen. Der Drehund Angelpunkt ist also, Männer zu ändern und Gewalt zu stoppen, nicht Männlichkeit zu multiplizieren. Das dokumentieren auch empirische Studien zu geschlechtsspezifischer Gewalt in Südafrika.

war, betonte, dass unsere Arbeit eine Fortsetzung des Kampfes für eine antirassistische und gerechte Gesellschaft der 1980er-Jahre sei. Der Einsatz für Geschlechtergerechtigkeit ist somit nicht an eine bestimmte Maskulinitätstheorie gebunden, vielmehr resultiert er aus intersektionalen Unterdrückungs- und Diskriminierungserfahrungen während der Apartheid, zu denen auch ungerechte Geschlech­ terbeziehungen zählten. Mit Blick darauf ist es mir inzwischen wichtig, nicht nur bestehende Männlichkeiten zu problematisieren, sondern überhaupt neue Wege des Mannseins zu beschreiten und plurale Identitäten von Menschen zu erkennen. Gleichzeitig weiß ich, wie paradox das ist, zumal damit essentielle Vorstellungen von Unterschieden Wie wirkte sich die Theoriereflexion auf deine praktische Arbeit mit zwischen Männern und Frauen verbunden sind. Deshalb wäre es Männern aus? besser, Männer von Männlichkeitsvorstellungen zu befreien und tt Das Sonke Gender Justice Network, das ich 2006 gemeinsam eine größere Mitmenschlichkeit aufzubauen. mit anderen Aktivist*innen gegründet habe, war von diesen Theorie­ Das ist jedoch kompliziert, zumal sich Männer und Frauen in debatten beeinflusst, wenngleich sie nicht ganz oben auf unserer der südafrikanischen Gesellschaft über ihre Genderidentität definieren. Bereits Begrüßungen und resAgenda standen. Wir hatten das Ziel, Männer zu befähigen, allen Formen von Gewalt Einhalt pektvolle Anreden wie Vater oder Mutter »Eine Beschränkung auf zu gebieten – insbesondere der geschlechts­ betonen immer das Geschlecht. Genderspezifischen Gewalt. Uns ging es darum, dass Zuschreibungen bieten Orientierung für militante Männer verkürzt die Individuen und ihre soziale Umgebung. Männer deren negative Folgen wahrnehmen. Geschichte des Widerstands« Wir wollten Empathie mit Frauen vermitteln Rituale sind allerdings nicht statisch. So und Männer zum Nachdenken darüber anrewurden Jungeninitiationen, also der gen, wie Gewalt und patriarchale Normen auch sie selbst beeinrituali­sierte Übergang zum Status des erwach­senen Mannes, komträchtigen. Mit Reflexionen über Geschlechterbeziehungen wollten merzialisiert. Zudem findet finanzieller Missbrauch statt. Jungen wir an deren Wandel mitwirken. werden erpresst, an Initiationsgruppen teilzunehmen und skrupellose Gruppenleiter verlangen Gebühren von den Müttern. Um Geld Diese Veränderungen verstanden wir von Anfang an als Beitrag geht es auch bei hohen Brautpreisforderungen, die junge arbeitszu mehr Demokratie und Freiheit. Vor allem mein Kollege Patrick Godana, ein früherer Antiapartheid-Aktivist, der lange inhaftiert lose Männer nicht aufbringen können. Deshalb ist die Heiratsrate in Südafrika im kontinentalen Vergleich sehr niedrig. Mannsein ist also Teil einer veränderten sozialen Identität. Für Foto: Louise Gupp neue Dynamiken sorgen junge Leute, die sich über geschlechtsspezifische Kleiderordnungen und sozial konstruierte Genderzuschreibungen hinwegsetzen. Wenn Gender auf den Prüfstand kommt, dürfen wir Perspektiven von Trans-Menschen nicht vergessen, denn sie gehen einen sehr langen Weg, um einer bestimmten Gender-Identität zu entsprechen. Welche Schlussfolgerungen für die Zukunft ziehst du aus diesen Ambivalenzen in der Forschung und Praxis? tt Man muss Männlichkeit als in gesellschaftliche Prozesse ein­ gebettet betrachten und strukturelle Faktoren beachten, die diese prägen. Das betrifft vor allem den politisch-ökonomischen Rahmen, insbesondere die kommerziellen Beschleuniger militarisierter Männlichkeit: Waffenindustrie, illegaler Waffenhandel, militarisierte staatliche Sicherheitsapparate und korrupte Autoritäten, die Männern ihre Existenzgrundlagen rauben. Wir müssen die Wirkungen dieser Triebkräfte analysieren. Zudem sind Reformen der Sozial- und Hausbaupolitik sowie der Bedingungen in den Gefängnissen notwendig. Es muss multisektorale Gewaltpräventionsprogramme geben. Dazu müssen wir mit sozialen Bewegungen kooperieren, etwa mit Gewerkschaften und Umweltgruppen. Der Ansatz, Männer sollen unabhängig von ihren Wohn- und Lebensbedingungen in Eigenregie ihre Einstellungen ändern, ist neoliberal – und zwar nicht nur in Südafrika.

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Das Interview führte und übersetzte Rita Schäfer.

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»Die weiße puritanische Gesellschaft braucht ­ihren Sündenbock« Interview mit Brontez Purnell Rassismus ist keine geschlechtslose Ideologie. Was bedeutet das aber für die gelebten Realitäten Schwarzer Männer in den USA? Wo stehen homosexuelle Männer in dieser Gleichung? Und was hat das alles mit Punk zu tun? Brontez Purnell kennt all das aus erster Hand. Er ist Musiker bei der Band The Young Lovers, Tänzer, Filmemacher und Autor mehrerer Romane. Er lebt in Oakland, Kalifornien und gibt das Zine Fag School heraus.

iz3w: Du bist in Triana aufgewachsen, einem Örtchen im Norden

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Alabamas an den Ufern des Tennessee River. Triana zählt 458 Seelen und hat einen Schwarzen Bevölkerungsanteil von 86 Prozent. Wie ist dir Männlichkeit dort begegnet? Brontez Purnell: Meine Familie war ziemlich matriarchal. Meine Mutter hatte zehn Geschwister und nur vier von ihnen waren Jungs. Die Frauen waren also in der Mehrheit. Ich wuchs mit dieser Doppelnatur auf: Männer beherrschen die Welt, aber in meiner Familie saßen die Frauen am Ruder. Und ich denke das gilt für viele soziale Zusammenhänge. Viele Menschen wachsen mit einer Mutter auf, die die Hosen anhat in der Familie. Neben all den äußerlichen Faktoren wie männlicher Gewalt und Privilegien waren die Frauen dennoch der Kopf meiner Familie. Im Guten wie im Schlechten, denn Frauen können auch sehr grausam sein. Für die Männer, mit denen ich aufwuchs, hatte Männlichkeit oft etwas Infantilisierendes. Für meinen Großvater etwa, dessen einzige Aufgabe war, das Geld nach Hause zu bringen. Meine Großmutter gab zuhause die Anweisungen und er musste in der Ecke sitzen und warten, bis er aufgefordert wurde. Für alles gab es Regeln. Wir sehen unsere Väter als Oberhaupt des Haushalts, aber ihre Rollen sind vorgeschrieben. Ich glaube meine Großeltern waren gelangweilt und frustriert von diesen verfestigten Rollen.

Brontez Purnell | Foto: Paul Mpagi Sepuya

Daher kam der Überdruss, die Grausamkeit, die sich an den Kindern entlud – sie konnten sich nicht ausdrücken, durften sich nicht ausleben wie wir das heute tun. Wie ist der Umgang der US-Gesellschaft mit Schwarzer Homosexualität? Wie wirken Rassismus und Homophobie zusammen? tt Ich habe mich oft gefragt, wie wir damit umgehen, mit diesem übersexualisierten Bild von uns. Mit meiner Band Gravy Train!!! (2001 – 2010) tanzte ich die meiste Zeit in Unterwäsche herum, aber sehr verspielt. Wir machten uns über Sex lustig, versuchten gar nicht erst

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Männlichkeit

sexy zu sein. Wenn Leute darin ein rassistisches Klischee sehen auch für mich darum, dem Süden zu entfliehen, und allem was wollen, sagt es mehr über sie aus als über dich. Die weiße puritadamit zusammenhängt – woanders anzukommen und etwas komnische Gesellschaft mit ihrer sexuellen Frustration hat schon immer plett Neues zu erleben. Es steckt auch in der Geschichte der Westeinen Sündenbock gebraucht. küste, ganz generell: Menschen kamen aus dem ganzen Land In der Sklavenhaltergesellschaft dachten die privilegierten hierher, um ihr Leben im Osten hinter sich zu lassen, um sich neu ­Weißen, dass Sklav*innen ihre sexuelle Freiheit auslebten, weil sie zu erfinden, ein neues Leben anzufangen. Wie der Bruder meiner keine arrangierten Ehen hatten. Diese Vorstellung führte zu großer Großmutter, der in den 1960ern hier nach Oakland kam, und als Gewalt. Sie wurde als Vorwand genommen, ungestraft zu missBluesmusiker einen Club eröffnete, gerade hier die Straße hoch. Er handeln und vergewaltigen, indem eben diese Vorkam zu Besuch nach Alabama und hatte stellung von sexueller Freiheit auf Schwarze Mendiese verrückte weiße Hippiefreundin. »Männlichkeit hatte oft schen projiziert wurde. Insbesondere wenn man über Sie wussten nicht, dass ich schwul war, diese Menschen als Besitz verfügte. aber weil ich der einzige seiner Neffen etwas Infantilisierendes« Es gibt eine seltsame Obsession mit Schwarzer war, der Gitarre spielen konnte, meinten männlicher Homosexualität. Schau dir mal Little sie: »Du musst nach Kalifornien, wenn du Richard an, und wie viele weiße Rock’n’Roller ihn zum Vorbild groß bist.« Als ich also 19 war, sprang ich in diesen Van von Leuten nahmen. Little Richard sagte immer, dass die Beatles von ihm aus West-Arkansas, die ich selbst kaum kannte. Ich war vorher nie besessen seien. Auch Elvis hat bei ihm geklaut. Aber in der Gesellin Kalifornien gewesen. Inzwischen sind es 19 Jahre. Kalifornien schaft galt er als der seltsame Außenseiter. repräsentierte definitiv etwas Neues. Die Westküste ist auch die letzte Frontier, das Grenzland. Weiter kommst du nicht, außer du Ich glaube auch, dass deshalb das Leben von Michael Jackson so kompliziert, tragisch und heftig war. Er bewegte sich weit außer­ fängst an zu schwimmen. halb traditioneller Männlichkeit, aber es gab trotzdem dieses übersexualisierte Bild von ihm. Als Tänzer, Musiker, Dichter, Aktivist und Filmemacher bist du tief verwurzelt in der DIY-Kultur des Punks. Punk wurde ja oft dafür kritisiert, Mein Kumpel Channing Joseph schreibt gerade ein Buch über dass er nicht so offen und divers ist, wie er gerne tut. Was ist deine William Dorsey Swan. Das war ein Mann, der Drag-Bälle schmiss, Erfahrung? in der Straße vom Weißen Haus in Washington D.C. Bei einem gab es dann eine Razzia, das war 1888. tt Definitiv leidet die ganze Sache darunter. Aber ich muss auch Die ersten schwulen Schwarzen Männer, an die ich eine popsagen, so wie Punk sich uns in den 1990ern eröffnete, schien es kulturelle Erinnerung habe, waren Lamar Latrelle in »Revenge of wirklich als dieses große Ding, auf das jede*r aufspringen konnte. Ich habe auch meine Querelen mit Punkrock. Aber ein Großteil der the Nerds« (1984) und Hollywood Montrose aus dem Film »Mannequin« (1987). Und die waren nicht nur Schwarze schwule MänDinge, die ich hier gelernt habe, haben mich durchs Leben gebracht. ner – das waren Schwarze schwule New-Wave-Typen! Sie wurden In meiner Kariere war es definitiv der Fall, dass meine Band nicht nicht auf schlimme Weise dargestellt, sondern als Protagonisten so oft gebucht wurde, weil ich schwul und Schwarz bin. Ich hatte der Geschichte. nicht dieselben Zugänge, die Möglichkeiten, das war schon manchIn den 1980ern waren Darstellungen queerer Sexualität und mal hart. Aber alles in allem habe ich es trotzdem geschafft. auch Schwarzer queerer Sexualität gefühlt überall, und in großer Zahl. Doch dann erfolgte ein Rollback in eine heftige, harte Sexua­ Welche Rolle spielen Männlichkeit und Homosexualität in deinem lität, die oft homophob ist, bis wir dann bei Gangsta Rap angeneuen Buch »100 Boyfriends«? kommen sind. Es gibt auch Theorien, dass es an AIDS lag, dass wir tt »100 Boyfriends« ist ein Roman über Lebensgeschichten vervon diesen vielfältigen Repräsentationen von Sexualität wieder schiedener Männer, die miteinander verbunden sind. Ich versuche zurück bei der harten Männlichkeit ankamen. Aber ich sehe, wie dabei darzustellen, wie Gefühle Verhalten beeinflussen und wie Verhalten Gefühle formt. Es gibt natürlich eine Menge Sex im Buch. wir uns wieder davon wegbewegen, mit dem Erfolg von Lil‘ Nas X und all den queeren Möglichkeiten – es scheint, dass es Licht am Aber vor allem geht es um die Charaktere, die sich fragen »Wie bin Ende des Tunnels gibt. ich hier schon wieder gelandet?« Ich sage voraus, dass das unser Zeitalter wird, passiere was Es geht um das Älterwerden, und darum, sich immer in den­ wolle. Ich erinnere mich daran, wie glücklich ich war, als ich Lil‘ selben Mustern wiederzufinden und wie man aus diesen wieder Nas X das erste Mal sah. Es gab eine Zeit, da waren die schwulen herausfindet. Ich weiß nicht, ob die Charaktere immer Antworten parat haben, aber ich finde es interessanter, wenn Leute anfangen, Rapper eine ganz kleine Gruppe. House of LaDosha in New York, sich tiefergehende Fragen über ihr Leben zu stellen. Das ist oft Mykki Blanco in Oakland, Le1f. Es gab noch einen kleineren Kreis wichtiger als die Antwort. von Schwarzen schwulen Indie-Rock-Jungs, wir kannten uns alle. Als wir dann aber Lil‘ Nas X sahen, dachten wir: Woher kam der Literatur von Brontez Purnell jetzt? Und wir waren uns plötzlich im Klaren, dass unsere Arbeit nicht umsonst war. Das war aufregend. –– Since I Laid My Burden Down. CUNY Feminist Press, 2017, ca. 18 Euro Zurück nach Oakland: War es ein Exodus für dich, dorthin zu ziehen, fort von den Normen und Idealen, die du nicht erfüllen wolltest? tt Ich fühle mich wie das letzte Kind der Great Migration, jener großen Wanderungsbewegung, bei der im 20. Jahrhundert Millionen Schwarze in die Industriestädte des Nordens zogen. Es ging

–– Die deutsche Übersetzung von Peter Peschke: Alabama. Albino-Verlag, 2019, 18 Euro –– 100 Boyfriends. MCD X Fsg Originals, 2021, ca. 13 Euro

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Das Interview führte und übersetzte Kathi King.

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Gegenläufig statt multidirektional Zur Debatte um postkoloniale Geschichtsbilder und die Shoa von Jörg Später Ursprünglich wollte ich Michael Rothbergs Buch Multidirektionale Erinnerung. Holocaustgedenken im Zeitalter der Dekolonisierung (siehe iz3w 385) und den Sammelband Die Untiefen des Postkolonialismus rezensieren. Beide Bücher seien empfohlen, im letzteren besonders die Beiträge von Jan Gerber, Philipp Lenhard und Steffen Klävers. Doch meine Erinnerung an ähnliche Debatten vor zehn Jahren und meine Verärgerung über A. Dirk Moses Schmähschrift über den angeblichen deutschen Holocaust-Katechismus (auf geschichtedergegenwart.ch) ließen mich abschweifen – und so ist aus Undiszipliniertheit ein Debattenbeitrag entstanden. Menschen regen sich über Meinungen meistens mehr auf als über die Dinge, die geschehen. tt

Singularität und Kolonialismus Aktivisten und Forscherinnen, die sich mit dem Kolonialismus und der Erinnerung an ihn beschäftigen, befinden sich oft im Widerstreit mit einem Geschichtsbild, das die Shoa als die historische Zäsur des 20. Jahrhunderts versteht. Nimmt man die Schärfe des Tonfalls als Symptom, scheint es sich gegenwärtig um einen regelrechten Aufstand zu handeln, der sich vor allem an der These der Singularität von Auschwitz entzündet. Von einem zweiten Historikerstreit ist gar die Rede. Der erste war 1986, als der rechte Philosoph und Historiker Ernst Nolte behauptete, Auschwitz sei eine bloße Reaktion auf die Massenverbrechen im sowjetischen GULAG gewesen. Die These von der Einzigartigkeit ist in diesem Kontext aufgestellt worden, um einer drohenden »Entsorgung der Vergangenheit« (Jürgen Habermas in der Zeit) durch die Relativierung der Vernichtungspolitik vorzubeugen. Der Singularitätsbefund hatte gleichzeitig auch eine epistemische Funktion und zielte auf die Erschütterung von vertrauten Weltbildern. Das betraf auch linke Grundannahmen über Geschichte und Gesellschaft: Die Anerkennung der paranoiden Logik, nach der die Vernichtung ‚der Juden‘ als Drahtzieher hinter Kapitalismus, Kommunismus und der modernen Welt eine Erlösungstat und ein Selbstzweck gewesen war, bedeutet gleichzeitig ein Eingeständnis. Man gibt zu, dass Gesellschaftstheorien, die auf einer Kritik der tt

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politischen Ökonomie oder einer Analyse von materiellen Interessen aufbauen, an Grenzen stoßen. Sie kommen an den Kern des »Zivilisationsbruch« (Dan Diner) von Auschwitz ebenso wenig heran wie Ansätze, die allein über Herrschafts- und Machtkritik das soziale Leben zu erfassen meinen. Dazu gehören zweifelsohne die Postkolonialen Theorien. Diese können mit dem Befund eines Zivilisationsbruchs schon deshalb nichts anfangen, weil sie die westliche Zivilisation selbst als mörderische Barbarei ansehen – warum sollte dann Auschwitz ein Bruch gewesen sein? Aimé Césaire beispielsweise hatte die Idee, dass mit der Shoa die im Kolonialismus ‚erworbenen‘ Erfahrungen bloß nach Europa zurückgekehrt seien. Die These vom Zivilisationsbruch bedeutet aber etwas Anderes: Dan Diner drückte damit Ende der 1980er-Jahre aus, dass die Shoa einer Logik gefolgt sei, die den Herrschaftsinteressen der Täter­seite (anders als beispielsweise in Kolonialregimen) direkt entgegenstand. Wer organisiert schon Deportationen von Kreta nach Ostmittel­ europa, während alle Kapazitäten für den Weltkrieg gebraucht werden, es sei denn, man fantasiert sich ‚die Juden‘ zum eigentlichen Gegner? Der Begriff ist also nicht moralisch gemeint, im Sinne von ‚besonders schlimm‘. Er besagt vielmehr, dass etwas für die Opfer völlig Unvorhersehbares verwirklicht wurde. Solche Einsichten in die Dialektik der Zivilisation, die in Deutschland wesentlich von jüdischen Linken aus der Frankfurter »Jüdischen Gruppe« in den 1980er-Jahren angeregt wurden, waren für traditionelle Linke schwer zu verdauen. Sie setzten sich zunächst eher im linksliberalen Mainstream durch. Aber auch in der radikalen Linken veränderte sich in den 1990er-Jahren die Haltung zum Nationalsozialismus, der vorher bloß Faschismus hieß. Antisemitismus wurde als gefährliche Weltanschauung ernstgenommen und nicht einfach unter die Kategorie »antijüdischer Rassismus« oder »Antikapitalismus der dummen Kerle« (August Bebel) subsumiert.

Auschwitz als Staatsräson In den 1990ern entstanden in diesem Prozess als eine übertriebene Reaktion auf die ‚Auschwitz-Lektion‘ die ‚Antideutschen‘, die neben jenem Zivilisationsbruch die Wertformanalyse als Grundlage tt

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Debatte

Denkmal für die ermodeten Juden Europas, Berlin | Foto: Peter Kuley CC BY-SA 3.0

ihrer Kritik der kapitalistischen und strukturell antisemitischen Gesell­ land lange unterbelichteten Kolonialismus. Und Linke, die das offischaft heranziehen. Dieser Ableitungsdogmatismus hatte geschichtszielle »Gedächtnistheater« (Michal Bodemann) oder den Gedächtpolitische Konsequenzen: Wer damals etwa die Shoa einem Vergleich niskitsch der politischen Klasse dieses Staates verdächtig finden, mit anderen Genoziden unterzog, geriet, selbst wenn es explizit begrüßen die Herausforderung des etablierten Erinnerungsregimes. darum ging, die Unterschiede herauszuarbeiten, unter Apolo­gie­ver­ dacht. Wer vergleiche, so hieß es, habe schon relativiert, denn der Gegenläufige Erinnerung Vergleich sei die ideologische Denkform des Warentausches. Das sieht die gegenwärtige Generation, die aus dieser Strömung enttt Die Aufarbeitung des (deutschen) Kolonialismus und das Interstanden ist, offenbar nicht mehr so eng, wie man dem sehr umsichesse an »multidirektionaler Erinnerung« (Michael Rothberg) ist für tigen und vernünftigen Band Untiefen des Postkolonialismus entnehdie Selbstartikulation und -ermächtigung von Gruppen und Commen kann, wo sogar zu lesen ist: »Ohne die kognitive Operation des munities, für die der Rassismus die zentrale gesellschaftliche ErfahVergleichens würde die Orientierung in der Welt deutlich schwerer rung ist, eine geschichtspolitische Angelegenheit von höchster Bedeutung und mit identitätspolitischer Dimension. Eine Konkurfallen, wenn nicht sogar unmöglich sein.« Die These vom Zivilisationsbruch, so umstritten ihre Genese war, renzsituation zwischen Opfergruppen müsste dabei nicht zwangsbekam großes Gewicht. In den 1990er-Jahren wurde das Gedenken läufig entstehen. Diese zu überwinden, ist gerade die Idee von an den Holocaust nach Ende des Kalten Kriegs zunächst amerikaRothbergs Begriff. Dass sie aber doch regelmäßig eintritt, hat nicht nisiert: 1993 entstand das United States Holocaust Memorial Munur mit misslungener Kommunikation zu tun, sondern einen handseum in Washington D.C. als nationale Gedenkstätte mit weltweifesten Grund: Irgendwann geht es in geschichtspolitischen Debattem Symbolcharakter. Gegen Ende des Jahrzehnts setzte nach der ten immer um Israel. Nicht zufällig begründet A. Dirk Moses seinen Stockholmer Erklärung, die den Holocaust Angriff auf den »Katechismus der Deutzum Zivilisationsbruch und die »Kritik am schen« damit, dass das staatliche Gedenken Erinnerung birgt immer Antisemitismus« zum Element des euroan die Shoa dazu diene, die Unterdrückung päischen Erbes erklärte, ein regelrechter der Palästinenser*innen zu legitimieren. Gefahren und Nebenwirkungen Memory-Boom ein. In Deutschland entDan Diners Begriff der »gegenläufigen Erwickelte sich dieses Geschichtsbild in der innerung« trifft die Konfliktgemengelage Zeit der rot-grünen Koalition und während der Ära Merkel zur daher besser als die »multidirektionale Erinnerung«, denn gegenbundesdeutschen Staatsräson. Bundespräsident Gauck resümierte: läufige Existenzerfahrungen ziehen gegenläufige Gedächtnisse nach »Es gibt keine deutsche Identität ohne Auschwitz«. Das gegenwärsich. Für die Kolonisierten war der Weltkrieg eben sehr anders als tige Staatsoberhaupt Steinmeier ist das Gesicht solcher Zeremonifür die Alliierten – »Unsere Opfer zählen nicht« heißt treffend ein en, in denen pastorale Pathosformeln der Betroffenheit gesprochen Buch über die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg. Diners Begriff ist werden. Die Bundeskanzlerin wurde zur Personifizierung der fast freilich älter als der von Rothberg – und das ist durchaus bezeichnend. Denn die Diskussion um das Verhältnis von kolonialer Gewalt bedingungslosen Israel-Loyalität und das Amt des Antisemitismusbeauftragten die Institutionalisierung des Geschichtsbildes, dass und Shoa ist keineswegs neu. Schon Hannah Arendt hat es themasich »Auschwitz nie wiederholen dürfe«. tisiert, und natürlich die Postkoloniale Theorie, beginnend mit Aimé Da aber auch schon Kriege mit dieser Losung geführt wurden – Césaire. Die historische Forschung hat die Frage in der Genozidman erinnere sich an die Begründungen des Jugoslawien-Krieges Forschung oder im Fall des Völkermords an den Herero und Nama von Joschka Fischer – ist sie manchen Linken fragwürdig geworden. aufgegriffen. Das Niveau und die Differenziertheit der Debatte Mit der Zeit stoßen sich auch immer mehr nicht-jüdische Betroffene waren vor zehn Jahren wesentlich höher, vor allem in der Frage, aktueller Diskriminierungsarten und historischer Gewaltexzesse an wie viel Kolonialismus im Nationalsozialismus steckt. Geschichte ist hochgradig politisiert, denn die Narrative von der Exponierung jüdischer Leiderfahrungen. Das Erinnerungsnarrativ des »Nie wieder Auschwitz« wird herausgefordert durch viele Opfergemeinschaften wie von Nationen insgesamt dienen der andere Narrative. Gerade in einer diversen Einwanderungsgesellschaft sogenannten Identitätsbildung. Es war vor allem der Streit um die artikulieren sich mit Recht und guten Gründen Erinnerungen an Ein- und Ausladung des postkolonialen, antirassistischen und israandere kollektive Gewalterfahrungen, vor allem jene des in Deutschelunfreundlichen Theoretikers Achille Mbembe zur Ruhrtriennale iz3w • November / Dezember 2021 q 387

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Debatte

den »Katechismus um das N-Wort« angreifen und von einem neuen »Memory Regime« reden, wenn nicht von der »Erinnerungsdiktatur«. Andere Opfer von Krieg und Gewalt werden fragen, warum Genozidopfer überhaupt privilegiert werden – es sei doch egal, aus welchen Gründen gemordet worden sei. Und dieses Unbehagen über die offizielle und ‚korrekte‘ Erinnerung wird auch mit einigen nachvollziehbaren Punkten begründet werden.

Zurück zur Sache Pforte ohne Wiederkehr – Denkmal in Ouidah, Benin, in Erinnerung an die Sklav*innen, die von hier aus in die USA verschleppt wurden Foto: Rachad Sanoussi CC BY-SA 4.0

2020, der gezeigt hat, wie die »gegenläufigen Erinnerungen« von Kolonialismus und Shoa aufeinanderprallen können. Schnell wurde Mbembe vom »Beauftragten der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus«, Felix Klein, bezichtigt, sich antisemitischer Denkmuster zu bedienen. Klein wurde anschließend unter Rassismusverdacht gestellt. Seitdem ist die Büchse der Pandora geöffnet. Erinnerung ist zu einer Kampfarena zwischen der negativ-symbiotischen deutsch-jüdischen Geschichtsperspektive einerseits und postkolonialen Anerkennungsforderungen andererseits geworden.

Immer wieder Israel An der Schnittstelle der konkurrierenden Gedächtnisse steht der Israel-Palästina-Konflikt. Wenn die Singularitätsthese angegriffen wird, wenn die Befangenheit der Deutschen angesichts des Judenmords als »Judenknax« (so 1969/70 Dieter Kunzelmann von den Tupamaros West-Berlin) oder als »Katechismus« (A. Dirk Moses) der Deutschen verhöhnt wird, geht es in der Regel darum, die Legitimität des Staates Israel anzugreifen, der sich als jüdische Antwort auf die Vernichtungserfahrung versteht (aber natürlich auch anderes verkörpert). Für große Teile der arabischen Bevölkerung Palästinas wiederum hatte der Krieg von 1948 und die Staatsgründung Flucht und Vertreibung zur Folge. Bis heute kämpfen die Palästinenser*innen für nationale Selbstbestimmung. Das Narrativ der Nakba ist negativ symbiotisch mit dem der Shoa verbunden. Israel wird aus postkolonialer Perspektive als koloniales weißes europäisches Projekt betrachtet. Der Holocaust stört darin und ist gleichzeitig doch das Vorbild, um das eigene Leiden in der Geschichte hervorzuheben. Dazu kommt: Es geht bei Erinnerung immer auch um einen Kampf um Anerkennung kollektiven Leids; mithin um Respekt (iz3w 373). Und immer birgt dieser Kampf Gefahren und Nebenwir­ kungen: Opferkonkurrenz auf dem Weg zur Anerkennung; das beschriebene »Gedächtnistheater« samt politischer Instrumentalisierungen und, wenn richtig erfolgreich, die staatliche Einverleibung der Erinnerungskultur, was die Wut der Noch-nicht-Anerkannten reizt. Es entsteht oft ein Diskurs des »moralischen Maximalismus« (Ijoma Mangold in der taz). Wer jetzt das Holocaust-Gedenken angreift, um anderen Opfernarrativen Raum zu schaffen, sollte bedenken: In zehn Jahren wird es in Deutschland vermutlich eine Beauftragte für den Kampf gegen Rassismus geben, und irgendein scheinmutiger Ketzer wird dann tt

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Aber welche Alternative gibt es zum Pochen auf politische und soziale Anerkennung, die auch immer die Basis für materielle Entschädigungen sind? Die Aufarbeitung historischen Unrechts kann ein Ritual werden oder sogar Aufarbeitungsstolz hervorbringen. Aber keine Aufarbeitung geht erst recht nicht. Es gibt keine Wiedergutmachung, denn ein Verbrechen wie der Judenmord kann nicht »wiedergutgemacht« werden – aber keine Wiedergutmachung (Anerkennung, Restitution, Entschädigung) ist noch schlechter. Und worin soll die historische und sozialwissenschaftliche Beschäftigung mit Verbrechen bestehen, wenn nicht in der genauen Betrachtung der Ursachen von Taten, den Motiven der Täter*innen, und den Folgen für die Opfer? Sie hindert niemanden daran, über die zufälligen und ‚versehentlichen‘ Opfer etwa des »Krieges gegen den Terror« zu forschen oder die Politik Israels zu kritisieren. Das Problem ist nicht, dass Massenmorde, Gewaltexzesse, Diskri­ minierungen mit der Shoa historisch in Bezug gesetzt und verglichen werden. Wer vergleicht, gewinnt Orientierung und sieht manche Dinge klarer, als wenn nur das einzelne Geschehen betrachtet wird. Es ist völlig legitim, zu fragen, was der Holocaust mit einem genozi­ dalen Massaker im Kontext des Kolonialismus zu tun hat, wenn nah an der Sache diskutiert wird. Das Problem der gegenwärtigen Debatten ist doch, dass sie sich von der jeweiligen Sache losgelöst und verselbstständigt haben. Die Meinungen über die Dinge erregen die Menschen eben mehr als die Dinge selbst, auch wenn es um Verbrechen wie Massenmord geht. Vor zehn Jahren hat man noch über Geschichte debattiert, heute geht es bloß noch um Erinnerung. In seinem Katechismus-Text stellt Moses die vorgeblichen Erinnerungsgebote vor, ohne zu begründen, warum diese falsch sein sollen. Es reicht ihm aus zu behaupten, das »Narrativ« von der Singularität und vom Zivilisationsbruch sei autoritär und im Weltmaßstab provinziell. Der Diskurs über die Sprechweisen und Gedenk­ formen hat sich von dem ihm zugrundeliegenden Problem und Inhalt verselbstständigt und ist schon daher ideologisch. tt

Literatur –– Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt a.M. 1955 –– Y. Michal Bodemann: Gedächtnistheater. Die jüdische Gemeinschaft und ihre deutsche Erfindung, Hamburg 1996 –– Aimé Césaire: Über den Kolonialismus, Berlin 2017 –– Dan Diner: Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz, Frankfurt a. M. 1988 –– Jan Gerber (Hg.): Die Untiefen des Postkolonialismus, Berlin 2021 –– Michael Rothberg: Multidirektionale Erinnerung. Holocaustgedenken im Zeitalter der Dekolonisierung, Berlin 2021

Jörg Später war von 1990 bis 2005 Mitarbeiter im iz3w und hat 2008 einen Artikel zum selben Problem geschrieben (iz3w 308). tt

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...Rezensionen Kämpfe um Selbstbestimmung Die Rechte sexueller Minderheiten sind auch im Globalen Süden umkämpft. Einerseits schaffen immer mehr Staaten homophobe Gesetze aus der Kolonialzeit ab. Andererseits verschärfen ­autoritäre Regime die Strafverfolgung von Homosexuellen, oft im Interesse religiöser Hassprediger. Der südafrikanische Journalist Mark Gevisser widmet sich in Die Pinke Linie den derzeitigen Kontroversen um die Stellung sexueller Minderheiten. Er belegt die politische Brisanz des Themas an etlichen Länderbeispielen. So benennt er die gezielten Interventionen US-amerikanischer Pfingstkirchen in Uganda. Sie fördern lokale homophobe Politik, welche die Verschärfung der Strafgesetze vorantreibt. Nicht nur in Uganda befeuern Regierende in Krisenzeiten homophobe Vorurteile und lenken damit vom eigenen Versagen ab. Auch in Russland gelten solche Gesetze als Kampfansage gegen zivilgesellschaftliche Vielfalt und als Seitenhieb gegen westeuropäische Länder. Konzeptionell verbindet der Autor Analysen mit anschaulichen Reportagen, beispielsweise über Lebensgeschichten von Homo- und Transsexuellen in verschiedenen Ländern. Seine Recherche basiert auf persönlichen Begegnungen im Rahmen wiederholter Reisen. Lebensnah portraitiert er lesbische Paare mit und ohne Kinder in Kairo sowie in US-amerikanischen und mexikanischen Städten. Es geht um Liebe und Familienalltag, Verortung in unterschiedlichen Milieus und bürokratische Hürden. Queere Elternschaft im Kontext tt

staatlicher Anfeindung thematisiert der Publizist unter anderem am Beispiel eines russischen Trans-Vaters. Bei aller Sympathie mit den Paaren hütet sich Gevisser davor, diese zu idealisieren. Vielmehr benennt er Konflikte und Trennungen, die aufgrund des sozialen oder politischen Drucks erfolgen und aus unterschiedlichen Lebensvorstellungen resultieren. Partiell kommt queerer Aktivismus zur Sprache, ohne die Aktiven als neue Revolutionär*­innen zu zelebrieren. Dem digitalen Austausch wird große Bedeutung beigemessen; gleichzeitig ist er ein Fallstrick, da Geheimdienste Dating-Apps nutzen, um queere Personen zu identifizieren. Auch die Situation von Angehörigen sexueller Minderheiten, die geflüchtet sind, wird thematisiert: Fliehen Verfolgte etwa nach Kanada oder in die Niederlande, erschweren Einsamkeit und subtile Formen von Homophobie und Rassismus ihren dortigen Alltag. Weil das gut lesbare Buch solche Ambivalenzen auf dem Weg zu mehr Selbstbestimmung konkret benennt und keine moralisierenden Bewertungen vorgibt, ist es eine lohnende Lektüre. Rita Schäfer Mark Gevisser: Die pinke Linie. Weltweite Kämpfe um sexuelle Selbstbestimmung und Geschlechtsidentität, Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 656 Seiten, 28 Euro. tt

Fairer Handel als Prozess »Kein Verkauf ohne Information«, so lautete das Motto der Weltläden in den 1970er-Jahren, wo der Faire Handel seinen Anfang nahm. Gerd und Katharina Nickoleit bemühen sich seit langem, die Regeln für den internationalen Handel gerechter zu gestalten. Ihr Buch Fair For Future. Ein ge­­ rechter Handel ist möglich enthält eine scharfe Analyse der gegenwärtigen Lage des Fairen Handels und zeigt dessen Entwicklung auf, geschmückt mit persönlichen Erfahrungen. Ziel des Fairen Handels ist es, gerechte Arbeitsund Produktionsverhältnisse zu schaffen, die Menschen im Globalen Süden zu Gute kommen. Um dies nachhaltig zu erreichen, ist es wichtig, den Globalen Norden aufzuklären und »Verknüpfungen zwischen der Ersten und Dritten Welt zu schaffen.« Ein »Grabenkampf«, der sich im Fairen Handel bis heute hält, ist der zwischen Bewusstseinsbildung und Verkaufszahlen. Der Balanceakt scheint schwierig. Im Buch wird dies am Beispiel der GEPA aufgezeigt: Deren Gesellschafter*innen fordern nicht nur, rentabel zu wirtschaften, sondern auch Rücklagen für neue Projekte zu bilden. Der Druck, Gewinn zu generieren, steigt auch durch den Wettbewerb mit konventionellem Handel. Der Faire Handel ist neben ökonomischen Dilemmata auch mit tt

ökologischen konfrontiert, zum Beispiel in der Transportfrage. Da viele Waren lange Strecken über Luft und Wasser zurücklegen, stellt sich die Frage nach der Verhältnismäßigkeit der Umweltkosten. Die Autor*innen diskutieren des Weiteren das Lieferketten­ problem bei Artikeln, die aus verschiedenen Ressourcen bestehen. Bei diesen ist es schwierig, den fairen Ursprung des Gesamtprodukts zu gewährleisten. Unzählige Siegel für faire Herstellungsbedingungen zeigen, dass der Faire Handel keine Nische mehr, sondern im Mainstream angekommen ist. Viele Konzerne benutzen sie jedoch, um das eigene Image zu polieren. Für Kritik sorgen bürokratische Hürden und Umweltkriterien, die für kleine Kooperativen schwer zu stemmen sind. All diese Herausforderungen zeigen eines: »Fairer Handel ist kein Zustand, sondern ein Prozess.« Das Buch schafft es, diesen nachvollziehbar darzustellen und bietet Ideen, wie die vielen Spannungsfelder aufgelöst werden könnten. Alexander Schmidt Gerd und Katharina Nickoleit: Fair for Future. Ein gerechter Handel ist möglich, Ch. Links Verlag, Berlin 2021. 224 Seiten, 18 Euro.

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Rezensionen ... Für eine inklusive Solidarität Müssen wir radikal solidarisch sein? Mit dieser Frage befasst sich der Sammelband Unbedingte Solidarität von Lea Susemichel und Jens Kastner. Sie sehen Solidarität als für die Gesellschaft unerlässlich und bündeln in ihrem Buch 15 Artikel sowie zwei Interviews, die sich mit theoretischen Konzepten und praktischen Beispielen von Solidarität auseinandersetzen. Die Autor*in­nen veranschaulichen ihre Argumente durch Bezüge zu historischen und aktuellen politischen Bewegungen und führen Perspektiven aus Politik, Ökonomie und Kunst an. Die Beiträge sind ein Plädoyer für eine inklusive Solidarität – im Gegensatz zum exklusiven Solidaritätsbegriff, der in politischen Debatten um die Aufnahme von Geflüchteten oftmals genutzt wird. Sie beschäftigen sich mit Gruppen, die sich füreinander einsetzen, obwohl sie nicht primär die gleichen Ziele verfolgen. Etwa im britischen Bergarbeiterstreik Mitte der 1980erJahre, der von queeren Gruppen unterstützt wurde. Das kritische Moment liegt in der Frage, wie Bündnisse sich über Differenzen hinweg solidarisieren können. Um politisch wirkmächtig zu sein, müssen Bewegungen viele Unterstützer*innen hinter sich versammeln. Dadurch laufen sie allerdings Gefahr, hierarchische Strukturen zu entwickeln und verschiedene Interessen innerhalb tt

der Gruppe nicht mehr ausreichend zu berücksichtigen. Oft führt das zur Spaltung. Wenn Solidarität aber Konflikte und Dissonanzen aushalten kann, so Susemichel und Kastner, dann stärkt sie langfristig den Demokratisierungsprozess. Die Autor*innen der einzelnen Beiträge sind sich nicht immer einig. So etwa, wenn es um symbolische Solidarität, wie beispielsweise Solidaritätsbekundungen auf Sozialen Medien, geht: Manche kritisieren, dass diese Form einer reinen Selbstinszenierung gleichkomme und folgenlos bliebe. Andere sind hingegen der Meinung, dass auch solche Solidarisierungen niedrigschwellig sind und den Weg für Veränderungen bereiten können. Der Sammelband setzt einen Kontrapunkt zum weltweiten Prozess der Entsolidarisierung. Im Kontext von Abschottung und globalen Krisen lädt er ein, sich der wechselseitigen Abhängigkeiten (wieder) bewusst zu werden, in die wir als Teil der Gesellschaft verwoben sind. Katharina Forster Lea Susemichel und Jens Kastner (Hg.): Unbedingte Solidarität. Unrast-Verlag, Münster 2021. 312 Seiten, 19,80 Euro. tt

Erste, zweite, dritte Heimat Die Beziehung zwischen Aida aus dem Irak und Daniel aus Appenzell bildet den Rahmen für Usama Al Shahmanis Erzählung Im Fallen lernen Federn fliegen. Das Paar lebt in Basel, ist seit neun Jahren zusammen und steht an einem Wendepunkt: Daniel besteht immer vehementer darauf, mehr über Aidas Vergangenheit und Herkunft zu erfahren – Aida selbst wehrt das ab, für sie ist die Erinnerung schmerzlich. Daniel verreist für einige Wochen, Aida bleibt zu Hause. Sie lässt sich in die Vergangenheit sinken und schreibt diese auf: Aida wird als Tochter irakischer Geflüchteter im Iran geboren und flieht als kleines Mädchen mit ihren Eltern und der älteren Schwester Nosche weiter in die Schweiz. Nach dem Sturz Saddam Husseins kehrt die Familie in den Irak zurück. Die Töchter fühlen sich dort bald so unwohl, dass sie beschließen, ein zweites Mal zu fliehen und die Eltern zurückzulassen. Die Flucht endet tragisch. Zwar schaffen es die Schwestern in die Schweiz, das Asylsystem droht jedoch sie zu trennen. Nosche sucht fieberhaft nach einem Ausweg und stirbt dabei durch einen Verkehrsunfall. Aida, nun allein in der Schweiz, erkämpft sich ein neues Leben und bricht dabei radikal mit der Muttersprache, der Familie und den Erinnerungen. »Eine Hoffnung leuchtete auf wie ein Weizenfeld tt

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unter der irakischen Sonne«, lässt Usama Al Shahmani die schreibende Aida sich an die erste Begegnung mit Daniel erinnern. Die Beziehung mit ihm bedeutet einen großen Schritt in das neue, das zweite Leben in der Schweiz. Die Versöhnung zwischen Exil und Heimat ist im Roman zentral. Sowohl die Eltern als auch die Töchter sehnen sich nach dem vertrauten Ort – doch stehen Aida und Nosches Heimatverständnis jenem ihrer Eltern diametral entgegen: Die Eltern verklären den Irak und erziehen ihre Töchter gemäß der Tradition. Sie fühlen sich in der Schweiz zurückgewiesen und geben es auf, sich anzupassen. Aber die Töchter fühlen sich wohl. Spielend finden sie sich in die Sprache und Gesellschaft ein – auch wenn ihnen eine gewisse Distanz anerzogen wird und ihnen durch den Hijab oft Ablehnung entgegenschlägt. Dieses Spannungsverhältnis entlädt sich bei der Rückkehr in den Irak. Für die Töchter ist sie ein Schock: »Vater hatte uns angelogen. Das war nicht die Heimat, von der er uns erzählt hatte. Alles hatte eine männliche Farbe, eine männliche Stimme und einen männlichen Geschmack.« Al Shahmanis Roman lässt offen, ob die Versöhnung zwischen Vergangenheit und Zukunft, Eltern und Tochter und auch Aida und Daniel gelingt. Clara Taxis Usama Al Shahmani: Im Fallen lernt die Feder fliegen. Limmat Verlag, Zürich 2020. 240 Seiten, 24 Euro. tt

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Spirale der Gewalt Die Situation minderjähriger Geflüchteter und Ghettoisierung auf den Komoren im indischen Ozean – diese Themen werden selten poetisch verhandelt. Natacha Appanah jedoch gelingt dies ausgezeichnet. Ihr Roman Das grüne Auge spielt auf der Insel Mayotte, dem 101. Französischen Département, und ist eine gnadenlose, aber doch feinsinnige Abrechnung mit dem internationalen Hilfsbusiness und Rassismus. In einem kraftvollen, lyrischen Auftakt erzählt Appanah von einem Frankreich, das weit entfernt liegt von Kontinentaleuropa. Es ist die Geschichte von Marie, einer französischen Krankenschwester, der eine minderjährige Migrantin von einer benachbarten Insel (also nicht Frankreich!) ein Baby mit einem grünen und einem schwarzen Auge in die Hand drückt. Marie nennt ihn Moïse. Sein »zweifarbiger Blick« erinnert sie an das Grün des Mangobaumes, andere erkennen darin ein Unglück bringendes »Baby vom Dschinn«. Das Leben von Marie und Moïse scheint so lange perfekt, bis Marie plötzlich stirbt und Moïse, das dunkelhäutige Kind einer weißen Mutter, in der Hoffnung, sich nicht mehr fremd zu fühlen im eigenen Leben der Straßengang von »Gaza« anschließt. »Gaza« – so nennen die Einheimischen Kaweni, das Elendsviertel von Mamoudzou, der Hauptstadt von Mayotte. »Gaza« ist das Brennglas, an dem sich die wirtschaftlichen und sozialen Probleme entzünden. Anführer der Gang der Illegalisierten ist Bruce. Seine unbändige Wut richtet der »Chef von Gaza« auf alle, die sich ihm nicht untertt

ordnen wollen – letztendlich auch auf Moïse, der fortan »Mo die Narbe« heißt. Mo gleitet ab und findet sich am Ende als Mörder von Bruce in einer Gefängniszelle wieder. Wie es zu dieser menschlichen Misere kommt, erzählt Appanah in zärtlicher Intensität und in Form eines fünfstimmigen, inneren Monologs. Eine dieser Stimmen gehört Stéphane, einem französischen Sozialarbeiter, der für eine NGO einen Jugendtreff in Kaweni eröffnet. »Wir waren nur zwei Freiwillige, die hierherkommen wollten. Mayotte, das ist Frankreich, das interessiert keinen. Die anderen wollten (…) das ‚echte‘ Elend.« Kaweni stellt sich als Elendsviertel par Excellence heraus – mit Dreck, Leid, Gewalt und Hunger. Stéphane macht seine Arbeit gut, nebenbei genießt er »die Fremde« in vollen Zügen. In ein paar Jahren wird er »Gaza« verlassen, eine Durchgangsstation in seiner Karriere. Anhand der Figur Stéphane verhandelt die Autorin die Absurdität des westlichen Helfersyndroms genauso pointiert wie den kolonial-rassistischen Blick auf die Welt der Illegalisierten. Rosaly Magg Natacha Appanah: Das grüne Auge. Aus dem Französischen von Yla M. von Dach. Lenos Verlag, Basel 2021. 213 Seiten, 22 Euro.

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Lateinamerikas Refeudalisierung Die globale Krise des Kapitalismus bildet den Ausgangspunkt der These des Buches Refeudalisierung und Rechtsruck in Latein­ amerika von Olaf Kaltmeier. Der vieldiskutierte Ansatz steht im Kontext einer »breiter angelegten Perspektive gesellschaftlichen Wandels« und soll den »gängigen ‚post‘-Konzepten« den »implizierten fortschrittsoptimistischen Zahn« ziehen. Kaltmeier zeigt die Besonderheiten auf, in denen sich die globale Krise im lateinamerikanischen Raum ausdrückt. Die Gründe verortet er in der spezifischen Form der Kolonialisierung und der Entwicklung der republikanischen Staaten. Der Autor konstatiert dort einen konservativen Backlash. Ein »neuer Autoritarismus« steht der Demokratisierung der letzten Dekaden entgegen. Begleitet werde die Entwicklung durch eine soziale Polarisierung, eine durch das extraktivistische Wirtschaftsmodell bedingte ökologische Krise und die Konzentration von Finanzkapital und Land in den Händen einer »Geldaristokratie«. Diese akkumuliere in Gestalt reicher Präsidenten politische Macht und untergrabe damit demokratische Institutionen. Die politische Debatte sieht er von einer rassistisch und kolonialistisch geprägten »weißen Überlegenheit« geprägt. In der sehr dichten Einleitung beschäftigt sich der Autor mit Theorien zur Entwicklung Lateinamerikas im Kontext von Feudalistt

mus, Kapitalismus und Kolonialismus. Er gibt einen interessanten Überblick und guten Einstieg in die Thematik. Leider stellt Kaltmeier keine eigenständige Theorie der Refeudalisierung vor, setzt aber dennoch viele ihrer Aspekte implizit voraus. Im letzten Teil, der eindeutig zu kurz kommt, reiht der Autor verschiedene Ideen und Konzepte für eine »Überwindung der gegenwärtigen Konjunktur der Refeudalisierung« und Perspektiven eines »neuen Kommunismus« aneinander. Interessant wäre eine Tauglichkeitsprüfung im Kontext der enormen zwischenstaatlichen und regionalen Unterschiede Lateinamerikas. Kaltmeier diskutiert Refeudalisierung hauptsächlich auf der Ebene von Politik, Ökonomie und sozialer Phänomene. Systemkritik wird dabei auf das Thema ökonomische Ungleichheit beschränkt. Eine präzisere Herausarbeitung der Merkmale von Feudalismus und eine tiefergehende Befassung mit der warenförmigen Vergesellschaftung hätte eine treffendere Interpretation der Krise ermöglicht. Zahlreiche seiner Beispiele belegen eher die krisenhafte Durchsetzung der Geld- und Warenform denn eine feudalistisch geprägte Entwicklung. Andreas Baumgart Olaf Kaltmeier: Refeudalisierung und Rechtsruck. Soziale Ungleichheit und politische Kultur in Lateinamerika, Bielefeld University Press, 2020. 160 Seiten, 20 Euro. tt

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ISSN 1614-0095

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