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Editorial

Für eine inklusive Solidarität

t Müssen wir radikal solidarisch sein? Mit dieser Frage befasst sich der Sammelband Unbedingte Solidarität von Lea Susemichel und Jens Kastner. Sie sehen Solidarität als für die Gesellschaft unerlässlich und bündeln in ihrem Buch 15 Artikel sowie zwei Interviews, die sich mit theoretischen Konzepten und praktischen Beispielen von Solidarität auseinandersetzen. Die Autor*innen veranschaulichen ihre Argumente durch Bezüge zu historischen und aktuellen politischen Bewegungen und führen Perspektiven aus Politik, Ökonomie und Kunst an.

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Die Beiträge sind ein Plädoyer für eine inklusive Solidarität – im Gegensatz zum exklusiven Solidaritätsbegriff, der in politischen Debatten um die Aufnahme von Geflüchteten oftmals genutzt wird. Sie beschäftigen sich mit Gruppen, die sich füreinander einsetzen, obwohl sie nicht primär die gleichen Ziele verfolgen. Etwa im britischen Bergarbeiterstreik Mitte der 1980erJahre, der von queeren Gruppen unterstützt wurde.

Das kritische Moment liegt in der Frage, wie Bündnisse sich über Differenzen hinweg solidarisieren können. Um politisch wirkmächtig zu sein, müssen Bewegungen viele Unterstützer*innen hinter sich versammeln. Dadurch laufen sie allerdings Gefahr, hierarchische Strukturen zu entwickeln und verschiedene Interessen innerhalb der Gruppe nicht mehr ausreichend zu berücksichtigen. Oft führt das zur Spaltung. Wenn Solidarität aber Konflikte und Dissonanzen aushalten kann, so Susemichel und Kastner, dann stärkt sie langfristig den Demokratisierungsprozess. Die Autor*innen der einzelnen Beiträge sind sich nicht immer einig. So etwa, wenn es um symbolische Solidarität, wie beispielsweise Solidaritätsbekundungen auf Sozialen Medien, geht: Manche kritisieren, dass diese Form einer reinen Selbstinszenierung gleichkomme und folgenlos bliebe. Andere sind hingegen der Meinung, dass auch solche Solidarisierungen niedrigschwellig sind und den Weg für Veränderungen bereiten können. Der Sammelband setzt einen Kontrapunkt zum weltweiten Prozess der Entsolidarisierung. Im Kontext von Abschottung und globalen Krisen lädt er ein, sich der wechselseitigen Abhängigkeiten (wieder) bewusst zu werden, in die wir als Teil der Gesellschaft verwoben sind.

Katharina Forster

t Lea Susemichel und Jens Kastner (Hg.): Unbedingte Solidarität. Unrast-Verlag, Münster 2021. 312 Seiten, 19,80 Euro.

Erste, zweite, dritte Heimat

t Die Beziehung zwischen Aida aus dem Irak und Daniel aus Appenzell bildet den Rahmen für Usama Al Shahmanis Erzählung Im Fallen lernen Federn fliegen. Das Paar lebt in Basel, ist seit neun Jahren zusammen und steht an einem Wendepunkt: Daniel besteht immer vehementer darauf, mehr über Aidas Vergangenheit und Herkunft zu erfahren – Aida selbst wehrt das ab, für sie ist die Erinnerung schmerzlich. Daniel verreist für einige Wochen, Aida bleibt zu Hause.

Sie lässt sich in die Vergangenheit sinken und schreibt diese auf: Aida wird als Tochter irakischer Geflüchteter im Iran geboren und flieht als kleines Mädchen mit ihren Eltern und der älteren Schwester Nosche weiter in die Schweiz. Nach dem Sturz Saddam Husseins kehrt die Familie in den Irak zurück. Die Töchter fühlen sich dort bald so unwohl, dass sie beschließen, ein zweites Mal zu fliehen und die Eltern zurückzulassen. Die Flucht endet tragisch. Zwar schaffen es die Schwestern in die Schweiz, das Asylsystem droht jedoch sie zu trennen. Nosche sucht fieberhaft nach einem Ausweg und stirbt dabei durch einen Verkehrsunfall.

Aida, nun allein in der Schweiz, erkämpft sich ein neues Leben und bricht dabei radikal mit der Muttersprache, der Familie und den Erinnerungen. »Eine Hoffnung leuchtete auf wie ein Weizenfeld unter der irakischen Sonne«, lässt Usama Al Shahmani die schreibende Aida sich an die erste Begegnung mit Daniel erinnern. Die Beziehung mit ihm bedeutet einen großen Schritt in das neue, das zweite Leben in der Schweiz.

Die Versöhnung zwischen Exil und Heimat ist im Roman zentral. Sowohl die Eltern als auch die Töchter sehnen sich nach dem vertrauten Ort – doch stehen Aida und Nosches Heimatverständnis jenem ihrer Eltern diametral entgegen: Die Eltern verklären den Irak und erziehen ihre Töchter gemäß der

Tradition. Sie fühlen sich in der Schweiz zurückgewiesen und geben es auf, sich anzupassen. Aber die Töchter fühlen sich wohl. Spielend finden sie sich in die Sprache und Gesellschaft ein – auch wenn ihnen eine gewisse Distanz anerzogen wird und ihnen durch den Hijab oft Ablehnung entgegenschlägt.

Dieses Spannungsverhältnis entlädt sich bei der Rückkehr in den Irak. Für die Töchter ist sie ein Schock: »Vater hatte uns angelogen. Das war nicht die Heimat, von der er uns erzählt hatte. Alles hatte eine männliche Farbe, eine männliche Stimme und einen männlichen Geschmack.« Al Shahmanis Roman lässt offen, ob die Versöhnung zwischen Vergangenheit und Zukunft, Eltern und Tochter und auch Aida und Daniel gelingt.

Clara Taxis

t Usama Al Shahmani: Im Fallen lernt die Feder fliegen. Limmat Verlag, Zürich 2020. 240 Seiten, 24 Euro.