Silvester Berlin 1989

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Sonnabend, 27. Dezember 2014

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Nach 28 Jahren erster gemeinsamer Jahreswechsel 1989 herrscht grenzenlose Freude bei grandioser Silvesterfeier rund um das Brandenburger Tor in Berlin Von Rainer Müller

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nde 1989: Glasnost, Perestroika und „Wir sind das Volk“ haben dafür gesorgt, dass die Deutschen nach 28 Jahren den Jahreswechsel wieder gemeinsam feiern können. Mit einer riesigen Fete am Brandenburger Tor in der späteren Hauptstadt soll das Ereignis gefeiert werden. Ich will auch dabei sein. Es ist Sonnabend, 30. Dezember 1989: Die internationalen Medien kündigen die sich anbahnende Megafeier rund um das so bekannte Berliner Symbol, das in meinem Geburtsjahr vom SEDStaat errichtet wurde. Eine halbe Million Partygäste werden erwartet. „Da wird Geschichte geschrieben“, denke ich mir und beschließe ganz spontan, den Silvestertag in der nur noch de facto durch die Mauer geteilten Stadt zu verbringen. Bevor ich jedoch meinen schwarzen Peugeot 205 GTi, der mit seinen roten Teppichen zu zwei Dritteln dem morgigen Anlass farblich angepasst ist, auf die Strecke schicke, besorge ich mir am frühen Abend noch Filme für meine Kamera. In einem um diese Uhrzeit schon längst geschlossenen Fotofachgeschäft am Kanalweg in Nordhorn werde ich fündig: 20 Farbfilme mit je 36 Aufnahmen werden eingepackt, um genug Reserve für die erhofften historischen Aufnahmen zu haben. egen 21 Uhr ist es endlich soweit – ich erreiche nach kurzer Fahrt auf der B 403 die Auffahrt zur A 30 Richtung Osnabrück. „Another Day in Paradise“ von Phil Collins dudelt auf NDR 2 aus dem Autoradio. „Das passt“, denke ich unwillkürlich. Einen Tag später ist dieser vor 25 Jahren so bedeutungsschwangere Song Nummer eins in den deutschen Charts. Nach ungefähr dreieinhalb Stunden Fahrt auf der A 2 und einer durchaus noch ernst gemeinten Kontrolle von Reisepass und Fahrzeugpapieren durch DDR-Grenzbeamte in Helmstedt-Marienborn ist Berlin noch knapp 200 Kilometer entfernt. Kalt ist es – die Temperatur liegt in dieser Nacht bei rund minus fünf bis sechs Grad Celsius. Gegen die aufkommende Müdigkeit hilft das monotone Rumpelgeräusch der maroden Betonpiste „Transitautobahn“ nur bedingt. „Fahr hier bloß nicht schneller als 100, die Vopos sind hier bestimmt noch aktiv“, appelliere ich an meinen Verstand und Geldbeutel. nd richtig, die bekannten Ladas und Wartburgs scheinen in der Dunkelheit nur auf mich zu warten. Aber die Fahrt verläuft bis zum Berliner Grenzübergang Dreilinden gut und ohne Zwischenfälle. Noch einmal eine kurzer Check durch DDR-Grenzer, dann bin ich gegen 3 Uhr früh auf der „Automobil-Verkehrs- und Übungs-Straße“, Berlin-Touristen besser bekannt als „Avus“. Und jetzt? Richtig hundemüde geht es ab auf den „Avus“-Rastplatz mit dem

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sich zwischenzeitlich als Ostberlinerin geoutete Ehefrau eines in dieser Nacht diensthabenden Arztes an der Charité wenig Hoffnung auf eine baldige Rückkehr in die Grafschaft. „Kannst bei mir schlafen“, ist ein Angebot, dass ich dankend annehme und kurz danach ohne schlechtes Gewissen den ersten Schluck aus einer mir gereichten Sektflasche nehme. in Journalist der US-amerikanischen Nachrichten- und Presseagentur „Associated Press“ kommt mit mir ins Gespräch und fragt: „Willst du mal nach Hause telefonieren?“ Der Kollege reicht mir doch tatsächlich einen relativ großen Apparat mit langer Antenne. „Ich denk‘, du bist in Berlin“, entfährt es meinem Vater, den ich in Nordhorn natürlich sofort angerufen habe. „Bin sogar mitten drin“, antworte ich und weise ihn auf die bereits begonnenen Live-Übertragungen von der Silvesterfete im Fernsehen hin. Und dann knallt und zischt es nur noch auf beiden Seiten des Brandenburger Tores: Zu mit kräftigem Schalldruck ertönenden Musikvideos des Jugendmagazins „Elf/99“ steigen immer mehr Raketen und Böller in den kalten Berliner Winterhimmel. Die Worthülse „Wildfremde Menschen liegen sich in den Armen“ hat noch nie so gut gepasst wie in dieser Nacht: Überall feiern offensichtlich glückselige Menschen dem Jahreswechsel entgegen. Um 24 Uhr steigt der Lärmpegel in fast unbekannte Höhen und ein in seiner Intensität atemberaubendes Feuerwerk sorgt bis etwa 1 Uhr für Bilder, die sich für immer tief ins Gedächtnis eingraben. egen 1.30 Uhr stürzt dann das Projektionsgerüst, welches immer mehr Menschen erklimmen, um so auf das Brandenburger Tor zu gelangen, zusammen, Unzählige Jugendliche sind schon in den Stunden zuvor über die Konstruktion auf die Nebengebäude des Bauwerks geklettert, um von dort auf das Dach des Wahrzeichens zu gelangen. Der noch gehissten DDR-Fahne sind bereits die Symbole Hammer und Meißel herausgeschnitten und ein Knoten verpasst. Sirenengeheul und flackerndes Blaulicht der Rettungswagen aus dem nahe gelegenen Krankenhaus Charité lassen erahnen, dass es bei dem Einsturz einige Verletzte gegeben haben muss. Doch die Fahrer der Einsatzfahrzeuge haben größte Schwierigkeiten, sich ihren Weg durch die unvermindert feiernde Menge zu bahnen, zum anderen werden die Reifen der Sanitätswagen durch herumliegende Glasflaschen und Scherben aufgeschlitzt. 4 Uhr ist es, die Lage auf dem Pariser Platz spitzt sich zu: Meine Berliner Begleiterin nimmt mich an die Hand und zieht mich in Richtung Invalidenstraße, an deren Ende auch die Charité liegt. Hier statten wir ihrem Ehemann noch einen Neujahrsbesuch ab, um dann gegen 7 Uhr eine wirklich historische Nacht zu beenden.

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Eine halbe Million Menschen feiert in der Silvesternacht 1989 am Berliner Wahrzeichen den ersten gemeinsamen Jahreswechsel seit 1960. Viele Partygäste, vorwiegend Jugendliche, sind weit vor Mitternacht über ein Video-Projektionsgerüst des im DDR-Fernsehen ausgestrahlten Jugendmagazins „Elf/99“ Fotos: Müller auf das Brandenburger Tor geklettert und erklimmen auch die Quadriga, die in dieser Nacht stark beschädigt wird.

Mitte 1989 noch undenkbar: Ein NVA-Soldat nimmt eine Fotokamera für einen Schnappschuss „von oben“ entgegen.

Verträumt wirkt dieser Moment an der Berliner Mauer. Im Hintergrund die DDR-Flagge auf dem Brandenburger Tor.

„Mercedes“-Turm. Zu meinem Glück finde ich nach einiger Kurverei noch einen freien Parkplatz. Halb Europa scheint die gleiche Idee zu haben, den Silvestertag und vor allem die kommende Nacht in Berlin verbringen zu wollen. Knöpfe runter, Sitz runtergekurbelt, und, so gut es geht, hingelegt: „Brrr, ist das kalt.“ Einzig meine Jacke schützt mich vor dem Erfrieren. Gegen 9 Uhr weckt mich das Klappen von Autotüren ringsherum. „Ah ja, du bist tatsächlich in Berlin“ ist der erste Gedanke, dem ein zweiter an ein deftiges Frühstück folgt und von einem dritten an eine heiße Dusche überholt wird. Die zwei Mark teure Benutzung der Fernfahrerduschen im „Avus“-Gebäude wird an diesem Sonntagmorgen zum wahren WellnessErlebnis. Im Restaurant des runden Gebäudes mit der längst vergangenen motor-

sportlichen Geschichte sorgt eine stattliche Portion Rührei mit Speck für Feiertags-Laune. Beste Voraussetzung für einen ausgedehnten Bummel auf den proppevollen „KuDamm“. Knatternde und stinkende bläulich-weiße Abgasfahnen hinter sich herziehende Trabis auf der Berliner Renommier-Meile sind ein allerletzter Beweis für mich, dass der Mauerfall am 9. November tatsächlich stattgefunden hat. Egal – ich genieße diese Mischung aus Dunstwolke und Freiheitsgefühlen einfach und hoffe darauf, diese vielen Eindrücke irgendwann einmal mehr oder weniger komprimiert schildern zu dürfen. Nach einem Kinobesuch am Nachmittag beginnt es im eiskalten Berlin zu dämmern. Bevor ich mich mit dem Auto in Richtung Brandenburger Tor aufmache, lasse ich mir im „Wienerwald“ ein leckeres

Schnitzel als Grundlage für die Silvesternacht schmecken. Nach der Stärkung will ich endlich zu meinem „Objekt der Begierde“, dem Brandenburger Tor. Richtung Charlottenburg, an der Siegessäule und dem markanten illuminierten Weihnachtsbaum vorbei und da steht es auch schon. Das letzte Mal war ich 1987 zur Internationalen Funkausstellung mit Freundin Claudia hier, Die Zeiten ändern sich halt.. ein Auto stelle ich direkt auf der Wiese vor dem Reichstag ab. Um 18 Uhr gibt es immer noch Platz genug für Hunderte von TouristenFahrzeugen. Schnell ein paar Fotos von den vielen aus aller Herren Länder angereisten „Mauerspechten“ gemacht, während aus dem Hintergrund David Hasselhoff sein „Looking for Freedom“ zum Besten gibt – auf der Westseite, für das ZDF. Ich will aber unbedingt die Seite wechseln und möchte auf den Pariser Platz auf der Ostseite des Brandenburger Tores. Gerade heute ist ein weiterer Übergang, natürlich noch mit „echter“ Passkontrolle, eingerichtet worden. Ein freundlich dreinblickender Grenzsoldat hämmert den Stempel „Brandenburger Tor – 31. Dezember 1989“ in meinen Reisepass. „Den behältst du, auch wenn er irgendwann mal abgelaufen sein wird“, denke ich und passiere tatsächlich die ungefähr drei Betonelemente breite Lücke in der noch vor wenigen Monaten so undurchlässigen Mauer. inige Augenblicke später lehne ich doch tatsächlich an der Innenseite eines Pfeilers des Brandenburger Tores, schaue nach oben und bin zutiefst beeindruckt. Zum einen davon, dass ich hier überhaupt stehen kann, zum anderen auch von den Dimensionen des 1788 bis 1791 geschaffenen Werks von Baumeister Carl Gotthard Langhans. Rund 28 Jahre lang war es Mahnmal der deutsch-

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Hammer trifft Beton: Die so genannten „Mauerspechte“ sorgen 1989 in Berlin für ein ganz besonderes Geräusch.

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Auf der Mauer, auf der Lauer: Diese Berlin-Besucherin kann es noch gar nicht fassen, dass sie auf dem „Schutzwall“ sitzt,

deutschen Teilung, jetzt ist es eigentlich zu einem Glückssymbol der Deutschen geworden. Aber so imposant hatte ich es mir nicht vorgestellt – kein Wunder, denn man hatte es ja immer nur aus der Distanz, entweder hinter der Mauer oder hinter den Absperrgittern am Ende des im Ostteil liegenden Boulevards „Unter den Linden“, sehen können. Gegen 19 Uhr ist der Pariser Platz noch recht leer: Mein Blick fällt sofort auf eine kühne Holzkonstruktion in der Mitte des Areals. Mehrere große, mit Planen vor Wetterunbilden geschützte Fernsehkameras, die in Richtung Westen gerichtet sind, lassen die Bedeutung der bevorstehenden Nacht erahnen. Ich stelle mich direkt vor das aus dicken Holzstreben erbaute Gerüst und meine, so relativ sicher vor bald gezündeten Knallkörpern und Raketen zu sein.

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is 22 Uhr füllt sich der Platz zusehends: Eine junge Dame, vom Dialekt her offenkundig Berlinerin, fragt mich, wo ich denn herkomme. Ich erkläre ihr, dass ich in der niedersächsischen Nordhorn wohnhaft bin, „Die Stadt liegt ungefähr auf dem gleichen Breitengrad wie Berlin. Nur ,etwas‘ weiter westlich, direkt an der Grenze zu den Niederlanden“, sage ich der jungen Berlinerin, die jetzt auch noch wissen will, wo ich denn heute Nacht zu schlafen gedenke. Die Antwort „Ich fahre wahrscheinlich gegen 3 Uhr wieder zurück“, löst bei meiner wissbegierigen Gesprächspartnerin nur Kopfschütteln aus. „Wo hast du denn dein Auto geparkt?“, will sie wissen. „Dort drüben am Reichstag“, erkläre ich ihr. „Kannst früh sein, wenn du deinen Wagen morgen einigermaßen heile wiederfindest“, macht mir die


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