re.vision 2009

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Text: Alexandra Werdes. Foto: Thies Ibold.

Helene war wenige Wochen alt, als die Ärzte einen aggressiven Blutkrebs bei ihr feststellten. Sie brauchte dringend eine Knochenmarktransplantation, doch in der Deutschen Knochenmarkspenderdatei (DKMS) gab es keinen passenden Spender. Zu diesem Zeitpunkt arbeitete Helenes Mutter als Juniorprofessorin an der Bucerius Law School, und auch ihr Onkel, Jan-Philip Wilde, promovierte dort. Als er seinen Freunden aus demselben LawSchool-Jahrgang von der Not seiner kleinen Nichte erzählte, ließen sie alle ihre Promotionsarbeiten liegen. Stattdessen bereiteten Sebastian Fontaine, Nikolaus Föbus, Elisabeth Kreuzer, Philip Liebenow und Neele Christiansen zusammen mit Wilde zwei Monate lang eine der bislang größten Typisierungsaktionen für die DKMS vor: Mithilfe des Law-School-Netzwerkes fanden sie nicht nur Unterstützung von Sponsoren und Hamburger Medien, sondern warben auch 120 Blutabnehmer und 150 freiwillige Helfer an. „Als ich dann morgens aus dem Fenster sah, hätte ich heulen können“, erzählt Nikolaus Föbus. Wenn es regne, würden erfahrungsgemäß nur halb so viele kommen, hatten die DKMS-Leute gesagt. Am 13. Februar stürmte und schneite es in Hamburg. Was dann passierte, fällt selbst jenen schwer zu beschreiben, die die Abläufe vorher bis ins Detail durchgespielt hatten: Nach kurzer Zeit standen die Wartenden bis auf die Straße, doch niemand drehte um; alle stellten sich zwei Stunden an, selbst als es schon dunkel wurde. „Als wir mit dem Registrieren nicht mehr nachkamen“, erinnert sich Philip Liebenow, „sind viele, die ihre Blutprobe abgegeben hatten, einfach dageblieben, um zu helfen.“ Und tatsächlich wurde zunächst das Unwahrscheinliche wahr: Helene fand einen Spender. Doch die Folgen der Behandlung schwächten die Abwehrkräfte des Babys: Helene bekam eine Lungenentzündung, die sie nicht überlebte. Sie wurde zehn Monate alt. Es war nicht die einzige traurige Nachricht, die die Bucerius Law School in diesem Jahr erreichte. In dem Air-France-Flugzeug, das am 1. Juni über dem Atlantik abstürzte, kamen auch zwei Alumni des Bucerius/WHU-Masterprogramms ums Leben: Júlia Chaves de Miranda Schmidt und Alexander Crolow, beide 27 Jahre alt. Die Brasilianerin und ihr deutscher Freund hatten gemeinsam eine Hochzeit besucht und sich auf dieser Reise verlobt. Nur zwei Monate später erschütterte ein weiterer Trauerfall: Law-School-Absolventin Eva-Lotta Rohde

verunglückte kurz nach dem Examen bei einem Ausflug mit dem Motorrad. Die 25-Jährige wollte im November als wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Professor Karsten Thorn anfangen und genoss gerade ihre freie Zeit. „Das ist so eine Ungerechtigkeit.“ Justus Linz spricht aus, was viele Law-School-Studenten in diesem Moment dachten. „Man ist hier an der Uni, lernt die ganze Zeit, um ins Leben entlassen zu werden – und dann wird das so gekappt.“ Hilflosigkeit und Wut – darüber, dass Leben nicht zu Ende gelebt werden durften: Dieses Gefühl teilen alle. Hinzu kommen Gedanken, die von der eigenen Lebenssituation abhängen. „Ich kannte bisher niemanden, der in jungen Jahren gestorben ist“, sagt Daniel Wernicke. Der 23-Jährige ist zur Trauerfeier für Eva-Lotta Rohde gegangen – eine spontane und improvisierte Andacht in der Rotunde. Dass dafür auch die Vorlesungen unterbrochen wurden, hatte „was Schönes“, meint er: „Weil man denken konnte, die Uni würde das für einen selbst auch so tun – einmal die Zeit anhalten.“ Sich plötzlich bewusst werden, dass es einen selbst hätte treffen können… Im Moment des Innehaltens tauchen Fragen auf, Fragen an das eigene Leben. Daniel Wernicke sitzt mit Ingmar Krohm im Arbeitsraum ganz hinten in der Bibliothek. Die beiden lernen für ihr Examen, zurzeit gibt es nichts anderes für sie. Sein Vater, erzählt Ingmar Krohm, habe gesagt, er solle nicht vergessen, jetzt zu leben, nicht immer alles nur für die Zukunft tun. „Aber man wischt das wieder weg“, sagt der 24-Jährige. Was könnte man auch anderes tun als weitermachen? „Gerade weil das Leben so schnell vorbei sein kann, sollte man schauen, dass man das Beste daraus macht“, sagt Franca Biallas, und damit meint die 19-Jährige ihr Studium an der Law School. „Ich habe gerade im Praktikum wieder gemerkt, wie sehr mir das alles Spaß macht – ich könnte mir nichts vorstellen, womit ich lieber meine Zeit verbringen würde.“ Sich die Zeit nehmen, um das Richtige zu tun: Das haben auch Jan-Philip Wilde, seine Freunde und alle Helfer bei der DKMS-Aktion für Helene getan. Vielen an der Law School geht es jetzt noch so wie Ingmar Krohm: Der Flugzeugabsturz, sagt der Student, mache ihm Angst. „Mit Helene, das war anders. Da hat man um das Leben gekämpft. Und da hat man immer noch den Eindruck, dass man helfen kann.“ Die Knochenmarkspenderdatei wurde durch die bundesweiten Aktionen für Helene um mehr als 20 000 Einträge bereichert.

BUCERIUS LAW SCHOOL MAGAZIN

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