Daniele Rustioni & Ulster Orchestra | 09.04.2024

Page 1

9. APRIL 2024

DAS GROSSE ABONNEMENT VIII

SAISON 2023/24

caglia Passa-

KOMMENDE HIGHLIGHTS SAISON 2023/24

SO 5 MAI 18:00

GROSSER SAAL

DI 21 MAI 19:30

GROSSER SAAL

JAKOB LEHMANN & EROICA BERLIN

Charles Ives zum 150. Geburtstag, unter anderem mit der 3. Sinfonie sowie den Klassikern Central Park in the Dark und The Unanswered Question

SO 26 MAI 18:00

GROSSER SAAL

PETR POPELKA & RUNDFUNK SINFONIEORCHESTER PRAG

Der 2. Walzer aus Schostakowitschs Suite für Varietéorchester wurde zum Hit. Walzer klingen auch in Brittens Klavierkonzert und in Rachmaninoffs Sinfonischen Tänzen an.

ELISABETH LEONSKAJA UND MARTIN NÖBAUER

Von Schumanns ‚Schmetterlingstänzen ‘ über Brahms’ Ungarische und Dvořáks Slawische Tänze bis Liszts Mephisto-Walzer wird die ganze emotionale Bandbreite des Tanzes ausgelotet.

SO 9 JUN 18:00

MITTLERER SAAL

JONATHAN BERLIN LIEST VASLAV NIJINSKY

Der Schauspieler Jonathan Berlin und das Klavierduo Shalamov begeben sich auf die Spuren des legendären Tänzers und Choreografen Vaslav Nijinsky.

Karten und Infos: +43 (0) 732 77 52 30 | kassa@liva.linz.at | brucknerhaus.at

2
Elisabeth Leonskaja | Klavier Jonathan Berlin | Sprecher Petr Popelka | Dirigent Jakob Lehmann | Dirigent

Passacaglia

Dienstag, 9. April 2024, 19:30 Uhr Großer Saal, Brucknerhaus Linz

Sergey Khachatryan | Violine Ulster Orchestra

Daniele Rustioni | Dirigent

Saison 2023/24 – Das Große Abonnement VIII

8. von 10 Konzerten im Abonnement

Programm

Anton von Webern (1883–1945)

Passacaglia für Orchester op. 1 (1908)

Dmitri Schostakowitsch (1906–1975)

Konzert für Violine und Orchester Nr. 1 a-Moll op. 77 (1947–48, rev. 1957)

I Nocturne. Moderato – Meno mosso – Tempo I

II Scherzo. Allegro – Poco più mosso – Allegro –Poco più mosso

III Passacaglia. Andante –

IV Burlesque. Allegro con brio – Presto

– Pause –

Johannes Brahms (1833–1897)

Sinfonie Nr. 4 e-Moll op. 98 (1884–85)

I Allegro non troppo

II Andante moderato

III Allegro giocoso

IV Allegro energico e passionato

Konzertende ca. 21:45

4

alla breve

Das Programm auf einen Blick

Passacaglia (spr. -kalja, Passacaglio; franz. Passecaille, spr. pass’káj), ein alter spanischer oder italienischer Tanz, der noch im vorigen Jahrhundert in Frankreich getanzt wurde; als Teil von Suiten oder allein stehendes Instrumental-, besonders Orgelund Klavierstück ist die P. kaum von der Chaconne zu unterscheiden. Wie diese, steht sie meist in ungeradem Takt, hat eine gravitätische Bewegung und einen Ostinato; die unterscheidenden Definitionen verschiedener älterer Autoren widersprechen sich einander.

Hugo Riemann: Musik-Lexikon (1882)

Drei Werke des späten 19. und des 20. Jahrhunderts setzen sich mit der Form der Passacaglia auseinander, einer Variationsfolge über einem ostinaten, gleichbleibend wiederholten Bassthema. So komponier te Anton von Webern seine Passacaglia op. 1 als ‚Gesellenstück‘ zum Abschluss seines Unterrichts bei Arnold Schönberg und zeigte hier noch einmal seine Verwurzelung in der (Spät-)Romantik, ehe er zu seinem ganz persönlichen Stil finden sollte. In Dmitri Schostakowitschs 1. Violinkonzert, 1947 komponiert und aufgrund der öffentlichen Diffamierung des Komponisten als „Formalist“ erst 1955 uraufgeführ t, stellt die Passacaglia des dritten Satzes einen elegischen Ruhepol innerhalb eines aufgewühlten, zutiefst persönlichen Werkes dar. Johannes Brahms schließlich schrieb mit dem Finale seiner

4. Sinfonie, bei dessen Thema er sich von Johann Sebastian Bachs Kantate „Nach dir, Herr, verlanget mich“ BWV 150 inspirieren ließ, vielleicht den romantischen Passacaglia-Satz schlechthin!

Die ganze Welt in einem Bassthema

ES ERSCHEINT NICHTS ZUFÄLLIG “

„Wenn ich etwas mitteilen will, dann tritt sofort die Notwendigkeit ein, daß ich mich verständlich mache. – Wie mache ich mich aber verständlich? – Indem ich mich möglichst deutlich ausdrücke. Es muß klar sein, was ich sage. Ich darf nicht umständlich herumreden, um das, worum es handelt. Dafür haben wir ein bestimmtes Wort. Faßlichkeit. – Das oberste Prinzip der Darstellung eines Gedankens ist das Gesetz der Faßlichkeit.“

Anton von Webern, 1933

Anton von Webern gilt als Meister der musikalischen Miniatur. Ehe er jedoch um das Jahr 1910 zu jenem aphoristischen, von höchster formaler Dichte und thematischer Konzentration geprägten Stil fand, in dem er die Entwicklung von der freien Tonalität bis hin zur Zwölftontechnik vollzog, war der ,Neutöner‘ Webern ein Romantiker im wahrsten Wortsinn, der mit Werken wie der 1904 vollendeten Sinfonischen Dichtung Im Sommerwind lyrische, großdimensionierte Orchester werke komponierte. Ein Schlüsselmoment in seiner Entwicklung zum ‚Modernisten‘ ereignete sich im Herbst des Jahres 1904, als der knapp 21-Jährige, der seit 1902 Musikwissenschaft, Philosophie und Kunstgeschichte an der Universität Wien studierte, seinen Unterricht in Harmonielehre und Kontrapunkt an den Schwarzwald’schen Schulanstalten aufnahm, einer von der Reformpädagogin Eugenie Schwarzwald geleiteten Bildungseinrichtung am Wiener Kohlmarkt. Sein Lehrer: Arnold Schönberg.

6

Inspiriert von Schönbergs künstlerischem Sendungsbewusstsein, seinem hohen musiktheoretischen Anspruch ebenso wie seinen kühnen Ideen auf der Suche nach neuen Ausdrucksmitteln, wagte es Webern nach und nach, eigene kompositorische Wege zu beschreiten, wobei er sich, den Anweisungen seines Lehrers folgend, zugleich an Meisterwerken der Vergangenheit wie an den avantgardistischen Strömungen des Schönberg-Kreises orientierte, zu dem bald Künstler wie Alban Berg, Erwin Stein und Egon Wellesz zählten. Über Schönbergs Lehrmethode berichtete Webern im 1912 erschienenen Buch Arnold Schönberg, das Aufsätze von dessen Freunden und Schülern versammelt:

7
Anton von Webern Passacaglia für Orchester Anton von Webern, 1912

Man ist der Meinung, Schönberg lehre seinen Stil und zwinge den Schüler, sich diesen anzueignen. Das ist ganz und gar falsch. Schönberg lehrt überhaupt keinen Stil; er predigt weder die Verwendung alter noch die neuer Kunstmittel. […] Er folgt mit höchster Energie den Spuren der Persönlichkeit des Schülers, sucht sie zu vertiefen, ihr zum Durchbruch zu verhelfen, kurzum dem Schüler „den Mut und die Kraft“ zu geben, „sich so zu den Dingen zu stellen, dass alles, was er ansieht, durch die Art, wie er es ansieht, zum aussergewöhnlichen Fall wird“.

Als ,Gesellenstück‘ zum Abschluss seines Studiums bei Schönberg komponierte Webern 1908 seine Passacaglia op. 1. Inspirieren ließ er sich dabei nicht nur von barocken Vorbildern, sondern allen voran und explizit vom Finale aus Johannes Brahms’ 4. Sinfonie, in der dieser die alte Form der Passacaglia mit den klanglichen Möglichkeiten eines großen Sinfonieorchesters verbunden hatte. Zu Beginn von leisen Pizzicati der Streicher vorgestellt, präsentiert Webern sein Thema in insgesamt 24 Durchläufen in unterschiedlichsten Instrumentierungen, Formen und sogar stilistischen Gewändern. So mutet die erste Variation noch barock an, ehe sich die Musik in den folgenden Abschnitten zu romantischer, spätromantischer und moderner Klangfülle eines Brahms und Gustav Mahler weitet und in der Coda schließlich einen Ausblick auf Weberns spätere, reife Klangsprache bietet.

Über die Uraufführung, die am 4. November 1908 im Rahmen eines Konzerts von Schönberg-Schülern im Wiener Musikverein stattfand und bei der Webern das im Jahr davor gegründete Wiener Tonkünstler-Orchester leitete, schrieb die Kritikerin Elsa Bienenfeld: „Die Technik Weberns ist infolge der eigenartigen melodischen Erfindung, der freien Harmonik, der vielfach verschlungenen Kontrapunktik ungemein kompliziert. Die Komposition, durch Merkwürdigkeiten der Zusammenklänge und deren Fortführung überraschend, überzeugt aber dennoch durch die Tiefe der Stimmungen. Es erscheint nichts zufällig, nichts aus Originalitätssucht herbeigezerrt, am allerwenigsten etwas konventionell nachgeahmt. Die Stimmungen sind empfunden, die Klänge gehört.“

8
Anton von Webern Passacaglia für Orchester

Dmitri Schostakowitsch

Konzert für Violine und Orchester Nr. 1 a-Moll

„DER EINDRUCK WAR ERSCHÜTTERND“

Fast fünf Monate arbeitete Dmitri Schostakowitsch bereits an seiner 4. Sinfonie, als er am 28. Jänner 1936 den Bahnhof im nordrussischen Archangelsk betrat, um sich die aktuelle Ausgabe der Prawda zu kaufen: „Ich durchblätterte sie und fand auf der dritten Seite den Artikel ‚Chaos statt Musik‘“, erinnerte er sich später. „Diesen Tag werde ich nie vergessen. Er ist vielleicht der denkwürdigste in meinem ganzen Leben.“ Die ohne Angabe eines Verfassers veröffentlichte Kritik betraf Schostakowitschs Oper Lady Macbeth von Mzensk, die zu diesem Zeitpunkt bereits zwei Jahre lang erfolgreich auf den Spielplänen in Leningrad und Moskau stand.

Schnell war dem Komponisten klar, dass sich hinter der anonymen Drohung niemand anderer als Stalin persönlich verbarg, der im Jänner 1936 erstmals eine Aufführung der Oper besucht hatte: „Der Artikel auf der dritten ‚Prawda‘-Seite veränderte ein für allemal meine ganze Existenz. Er trug keine Unterschrift, war also als redaktionseigener Artikel gedruckt. Das heißt, er verkündete die Meinung der Partei. In Wirklichkeit die Stalins, und das wog bedeutend mehr.“ Als kurz darauf auch sein Ballett Der helle Bach in einem Prawda-Artikel, der mit „Heuchelei als Ballett“ überschrieben war, kritisiert und beide Kompositionen einige Tage darauf noch einmal unter der Überschrift „Eine klare und einfache Sprache in der Kunst“ verurteilt wurden, wusste Schostakowitsch, dass er in die Mühlen des ,Großen Terrors‘ geraten war. Zwar stellte er seine 4. Sinfonie im Mai 1936 fertig, zog sie jedoch aus ungeklärten Gründen nach wenigen Orchesterproben zurück. Es sollten 25 Jahre vergehen, ehe das Werk am 30. Dezember 1961 erstmals zur Aufführung kam.

Obwohl Schostakowitsch den Verhaftungen und Ermordungen des ,Großen Terrors‘ durch öffentliche Lippenbekenntnisse zum Arbeiterkult des Sozialistischen Realismus entkommen konnte, geriet er bald erneut ins Visier der Partei. So erlies das Zentralkomitee der KPdSU am 20. Februar 1948 einen Beschluss gegen „Formalismus und Volksfremdheit“, in dem einigen Komponisten, unter ihnen neben Schostakowitsch auch Sergei Prokofjew und Aram Chatschaturjan, „forma-

9

Dmitri Schostakowitsch Konzert für Violine und Orchester Nr. 1 a-Moll

listische Verzerrungen und antidemokratische Tendenzen, die dem Sowjetvolk und seinem künstlerischen Geschmack fremd sind“, vorgewor fen wurden. Fortan lebte Schostakowitsch, der daraufhin seine Ämter an den Konservatorien in Leningrad und Moskau verlor und seine neuen Werke vor deren Veröffentlichung dem sowjetischen Komponistenverband vorlegen musste, in ständiger Angst vor der staatlichen Willkür. Wenige Wochen vor Proklamation des Beschlusses hatte er die Arbeit an seinem Konzert für Violine und Orchester Nr. 1 a-Moll op. 77 abgeschlossen. An eine Aufführung war nun nicht mehr zu denken. Erst als David Oistrach, der Widmungsträger des Werkes, 1955 plante, das Konzert bei einem Gastspiel in New York aufzuführen, lenkten die Parteifunktionäre ein. „Am 18. Oktober 1955 kam Schostakowitsch zusammen mit David Oistrach nach Leningrad, um das Konzert [Jewgeni] Mrawinski zu zeigen, der sofort begann, mit dem Orchester zu arbeiten, akribisch und gewissenhaft, wie es diesem bemerkenswerten Dirigenten eigen war“, berichtete der mit Schostakowitsch befreundete Kritiker und Theaterschriftsteller Isaak Glikman. „Am 25. Oktober fand der erste Durchlauf statt. Dmitrij Dmitrijew nahm daran teil. Oistrach spielte einzigartig. Der Eindruck war erschütternd.“

Abwartend, fast vorsichtig beginnt der Kopfsatz mit dem von den tiefen Streichern vorgestellten Hauptthema, das nach wenigen Takten von der Solovioline aufgegriffen und variiert wird. Bereits hier taucht, noch verschleiert von melodischen Umspielungen, die Tonfolge d–es–c–h auf, symbolisch für die Initialen des Komponisten, D–S–C–H. „Den Inhalt dieses Satzes kann man nur im Zusammenhang mit dem ganzen Werk erfassen“, erklärt Oistrach, „wenn man sich über seinen Platz und seine Bedeutung innerhalb des Zyklus klar geworden ist.“ Nach verklärend in die Ferne weisenden Celestaklängen hebt der zweite Satz mit hektischem Scherzo-Gestus an, dessen virtuoser Solopart und komplexe polyphone Begleitung zu Pauken- und Tamburinschlägen das Tanzbein schwingen, nur um sich wenig später zu einer fulminanten Fuge zu verschränken. Auch hier erscheint das D–S–C–H­Motiv in melodisch leicht modifizierter Weise. Ganz anders dagegen der dritte Satz, eine Passacaglia, deren The-

10

ma in den Violoncelli und Kontrabässen, begleitet von majestätischen Fanfaren der Hörner, einherschreitet. Sehnsuchtsvoll stimmt die Violine darüber eine Art Klagelied an, steigt in immer höhere Sphären, versucht, mit kraftvollen Doppelgriffen einen Ausweg zu finden und sinkt letztlich wieder in die kontemplativen Gefilde des Anfangs zurück. Die Überleitung zum Finale bildet anschließend eine ausgedehnte Solokadenz. „Hier leben Nachklänge der Stimmungen und Bilder von Adagio, Scherzo und Passacaglia wieder auf“, so Oistrach. Auch das D–S–C–H-Motiv kehrt wieder und führt in einer zuletzt atemlosen Steigerung in den mit „Burlesque“ überschriebenen Schlusssatz. Vordergründige Heiterkeit steht hier im spannungsvollen Kontrast zu formaler und dramaturgischer ,Gnadenlosigkeit‘, gewürzt mit kühnen instrumentatorischen Mitteln, deren Extreme immer wieder den Charakter des Sarkastischen, zuweilen fast Diabolischen heraufbeschwören.

11
Dmitri Schostakowitsch Konzert für Violine und Orchester Nr. 1 a-Moll Dmitri Schostakowitsch mit Jewgeni Mrawinski (li.) und David Oistrach (re.), dem Dirigenten und dem Solisten seines 1. Violinkonzerts, 1947

EINE SINFONIE VOLL SAURER KIRSCHEN

Im Februar 1874 schickte der Musikwissenschaftler Philipp Spitta die Partitur von Johann Sebastian Bachs Kantate „Nach dir, Herr, verlanget mich“ BWV 150 an Johannes Brahms. Allen voran dem Schlusschor „Meine Tage in dem Leide“ und dessen viertaktigem Bassthema, das sich in Form einer Chaconne beständig wiederholt, galt das Interesse des Komponisten, der – allerdings erst sechs Jahre später –in einem Gespräch mit Hans von Bülow bemerkte: „Was meinst du, wenn man über dasselbe Thema einmal einen Sinfoniesatz schriebe. Aber es ist zu klotzig, zu geradeaus. Man müßte es irgendwie chromatisch verändern.“ Wie sich später zeigen sollte, verbarg sich in dieser Idee der Keim seiner Sinfonie Nr. 4 e-Moll op. 98, mit deren Komposition Brahms allerdings erst weitere vier Jahre später, im Sommer 1884, während eines Aufenthalts im steiermärkischen Mürzzuschlag begann. So berichtet Max Kalbeck in seiner Biografie des Komponisten: „In seinem Notizkalender von 1884 steht ,Lieder op. 95‘, darunter: ,IV. Symphonie. Die ersten Sätze‘ angemerkt, in dem von 1885: ‚IV. Symphonie. Finale und Scherzo‘“. Nach Abschluss des ersten und zweiten Satzes entstanden das Scherzo und der Finalsatz im darauffolgenden Sommer ebenfalls in Mürzzuschlag. Während Brahms selbst gewohnt lakonisch und bewusst Bescheidenheit mimend auftrat – so schrieb er etwa an Bülow, er habe „ein paar entr’actes“ komponier t, „was man so zusammen gewöhnlich eine Sinfonie nennt“; Kalbeck teilte er mit, er habe „nur wieder mal so ’ne Polka- und Walzerpartie zusammenkomponiert“ –, zeigten sich seine Vertrauten von der Komplexität und motivischen Dichte des Werkes zunächst eher abgeschreckt. Die Pianistin und Mäzenin Elisabeth von Herzogenberg, der Brahms am 29. August 1885 den ersten sowie den Beginn des zweiten Satzes zugesandt hatte, hob vor allem die in ihren Augen allzu ,gelehr te‘ Struktur hervor: „Es ist mir, als wenn eben diese Schöpfung zu sehr auf das Auge des Mikroskopikers berechnet wäre, als wenn nicht für jeden einfachen Liebhaber die Schönheiten alle offen dalägen, und als wäre es eine kleine Welt für die Klugen und Wissenden, an der das Volk, das im Dunkeln wandelt, nur einen schwachen Anteil haben könnte. […] Man ist förmlich wie auf der Jagd nach einem Brocken dieses und jenes Themas, ja, wo es auch einmal nicht steckt,

12

wittert man es und wird unruhig. Man möchte einmal die Hände falten, die Augen schließen und dumm sein dürfen, an dem Herzen des Künstlers ruhen, und nicht so rastlos von ihm in die Weite getrieben werden.“ Natürlich war sich auch Brahms der Kompromisslosigkeit seines neuen Werkes bewusst. Waren seine vorangegangenen Sinfonien geprägt von melodiöser Motivik und spannungsvoller formaler

13
Johannes Brahms, Fotografie von Fritz Luckhardt, 1882 Johannes Brahms Sinfonie Nr. 4 e-Moll

Dramatik, stets getragen von vorwärtsdrängenden Rhythmen, so finden sich in der 4. Sinfonie zahlreiche Momente kontemplativer Stille, in denen der Fluss der Musik einer fast statischen Passivität weicht:

„Unterwegs habe ich mir oft mit Vergnügen ausgemalt, wie ich sie bei Euch hübsch u[nd] behaglich probirte, und das thue ich auch heute noch – wobei ich nebenbei denke, ob sie weiteres Publikum kriegen wird“, hatte er im Herbst 1885 vorahnend an Bülow geschrieben. „Ich fürchte nämlich, sie schmeckt nach dem hiesigen Clima – die Kirschen hier werden nicht süß, Du würdest sie nicht essen!“

„BEISPIELLOSE ENERGIE VON A BIS Z“

Das bereits im Kopfsatz – dessen unmittelbar einsetzendem Hauptmotiv Brahms zwischenzeitlich eine dreitaktige Einleitung vorangestellt hatte, die er jedoch vor der Uraufführung wieder tilgte – verständlich werdende Bild der ,sauren Kirsche‘ in Gestalt des melodisch gänzlich unsüßlichen und rhythmisch einförmigen 19-taktigen Hauptthemas setzt sich auch im Andante moderato des zweiten Satzes fort, dessen zu Beginn in der phrygischen Kirchentonart eingefärbtes Hauptmotiv geradezu archaisch wirkt. Auch dem Scherzo – das einzige so bezeichnete in Brahms’ sinfonischem Schaffen – mangelt es in seinem motorischen Drängen an etwaiger tänzerischer Leichtfüßigkeit, wenn es auch mit seinen unerwarteten Modulationen und metrischen Verschiebungen durchaus „als komische Episode in der Tragödie dieser Sinfonie“ (Robert Pascall) gesehen werden kann. Für das Finale griff Brahms auf sein Vorhaben zurück, das Thema aus dem Schlusschor von Bachs Kantate BWV 150 variierend zu verarbeiten. Wie gegenüber Bülow bemerkt – „Man müßte es irgendwie chromatisch verändern“ –, transponierte er die viertaktige, aufsteigende Melodie von h-Moll nach e-Moll, strich die auftaktigen Tonwiederholungen und fügte dem Thema ein leittöniges Ais hinzu. Der in Form einer Passacaglia gehaltene Satz, in dem das achttaktige Motiv immer neuen Variationen unterworfen wird, führt in seiner virtuos konstruier ten kontrapunktischen Struktur und seiner aus den gegensätzlichen Charakteren der Variationen entstehenden Spannung auf eine im Tempo gesteigerte Coda hin, die diese „traurige Symphonie“ (Brahms) in unbarmherzigem e-Moll beschließt.

14

Johannes Brahms Sinfonie Nr. 4 e-Moll

Thema des vierten Satzes von Brahms’ 4. Sinfonie

Bassthema des Schlusschores aus Bachs Kantate BWV 150

Nachdem die erste private Aufführung in einer vierhändigen Fassung für zwei Klaviere im Kreise illustrer Kollegen allenfalls reserviert aufgenommen wurde, geriet die Uraufführung am 25. Oktober 1885 in einem Abonnementkonzert der Herzoglichen Hofkapelle Meiningen unter Brahms’ eigener Leitung zu einem großen Erfolg, über den der Berliner Courier am 1. November vermeldete: „Herzog Georg [II. von Sachsen-Meiningen] gab nach dem Schlusse der Sätze den Meininger Autochthonen [i. e. Einheimischen] das Zeichen für rauschenden Beifall, der sich am Ende des dritten zur ,Wiederholungs-Höhe‘ steiger te. Nach dem letzten erhob sich der Herzog zur Ehre von Brahms und mit ihm das ganze Haus.“ Obwohl die nach einer Tournee der Hofkapelle angesetzte Wiener Erstaufführung durch die Wiener Philharmoniker unter Hans Richter nur verhaltenes Echo hervorrief, in das auch der einflussreiche Kritiker Eduard Hanslick einstimmte, galt die Sinfonie schon bald als Brahms’ orchestrales Meisterwerk. Das anfängliche Unverständnis für die Neuartigkeit der Tonsprache wich mit jeder Aufführung mehr und mehr einer Faszination, die dem Erkunden jener tief empfundenen und doch abstrakten Seelenlandschaft galt, die Brahms in seinem komplexen Werk virtuos kartografierte: „Nr. IV riesig, ganz eigenartig, ganz neu, eherne Individualität. Athmet beispiellose Energie von a bis z“, jubelte auch Hans von Bülow.

15

Sergey Khachatryan

Violine

Der in Jerewan (Armenien) geborene Geiger Sergey Khachatryan gewann im Jahr 2000 den ersten Preis beim Internationalen Jean-Sibelius-Wettbewerb in Helsinki und war damit der jüngste Gewinner in der Geschichte des Wettbewerbs. 2005 erhielt er den ersten Preis beim Königin-Elisabeth-Wettbewerb in Brüssel.

In der Saison 2023/24 wird seine internationale Präsenz durch Auftritte mit der Dresdner Philharmonie, den Bochumer Symphonikern, dem Korean National Symphony Orchestra, dem Belgian National Orchestra, dem Queensland Symphony Orchestra, der Auckland Philharmonia sowie mit zwei großen Tourneen fortgesetzt: einer SpanienTournee mit dem Baskischen Nationalorchester und einer Nordamerika-Tournee mit der Armenischen Nationalphilharmonie, unter anderem in der Roy Thomson Hall in Toronto, der Maison symphonique in Montréal und der Carnegie Hall in New York. In den USA trat er in letzter Zeit mit der Seattle Symphony, dem Cleveland Orchestra und dem National Symphony Orchestra Washington auf. Außerdem war er zu Gast bei der New York Philharmonic, dem Boston Symphony Orchestra, dem Philadelphia Orchestra, der San Francisco Symphony sowie bei bekannten Festivals (Ravinia, Aspen, Blossom, Mostly Mozart). Zu den Höhepunkten der vergangenen Saisonen zählt eine Tournee durch die USA und Europa mit dem Programm Verklärte Nächte zusammen mit Alisa Weilerstein (Violoncello) und Inon Barnatan (Klavier), das Musik von Beethoven, Schönberg und Schostakowitsch enthielt. 2015 spielte Sergey Khachatryan Beethovens Violinkonzert beim Lucerne Festival mit den Wiener Philharmonikern und Gustavo Dudamel und erhielt dafür den Credit Suisse Young Artist Award.

Das Album My Armenia, das er mit seiner Schwester, der Pianistin Lusine Khachatryan aufgenommen hat, wurde mit dem Echo Klassik für Kammermusik des 20. bis 21. Jahrhunderts ausgezeichnet.

16
Biografie
17

Daniele Rustioni

Daniele Rustioni ist seit 2017 Musikdirektor der Opéra National de Lyon und wurde 2022/23 zum Musikdirektor des Ulster Orchestra ernannt, nachdem er ihm drei Saisons als Chefdirigent vorstand. In der Saison 2023/24 wird er mit dem Orchester erneut auf Tournee gehen und in der Ulster Hall Mahlers 2. Sinfonie als Abschluss seiner Amtszeit aufführen, bevor im August ein letzter Auftritt bei den BBC Proms folgt. Seit 2021 ist Daniele Rustioni zudem Erster Gastdirigent an der Bayerischen Staatsoper in München. Von 2014 bis 2020 war er Musikdirektor des Orchestra della Toscana, danach bis Jänner 2023 dessen künstlerischer Leiter. Er wurde von großen internationalen Opernhäusern und Orchestern engagiert, bei den Salzburger Festspielen debütier te er 2022. Er ist regelmäßiger Gast am Metropolitan Opera House, im Februar 2023 gab er sein Debüt in der Carnegie Hall als Dirigent des MET Orchestra.

18
Dirigent Biografie

Ulster Orchestra Biografie

Das 1966 gegründete Ulster Orchestra – das einzige professionelle Sinfonieorchester der Region – steht seit über 50 Jahren an der Spitze des Musiklebens in Nordirland. In der Saison 2019/20 ernannte das Orchester Daniele Rustioni zu seinem Chefdirigenten, 2022/23 wurde er dessen Musikdirektor. Das Ensemble gibt rund 40 Konzerte pro Jahr in seiner Heimat, der Ulster Hall, und der Waterfront Hall in Belfast. Das Orchester hat sich zum Ziel gesetzt, das Leben der Menschen in Nordirland zu bereichern und strebt bei allem, was es unternimmt, nach Exzellenz: sei es bei regelmäßigen Konzertauftritten sowie Radio- und Fernsehaufnahmen, seinen Educationprogrammen oder Kooperationen in allen Bereichen der Kunst. Ein wichtiger Aspekt sind seine jährlichen Tourneen, mit denen es Musik in unterschiedlichen Formationen – von Kammermusik bis hin zur großen sinfonischen Besetzung – in alle Regionen Nordirlands bringt.

19

VOM 4. SEPTEMBER BIS 11. OKTOBER 2024

Highlights

Jérémie Rhorer

DI, 10 SEP, 19:30

GROSSER SAAL

PHILIPPE HERREWEGHE & ORCHESTRE DES CHAMPS­ÉLYSÉES

Übersteigern – Bruckners 8. Sinfonie

DI, 17 SEP, 19:30

GROSSER SAAL

MARC MINKOWSKI & LES MUSICIENS DU LOUVRE

Entgrenzen – Bruckners 6. Sinfonie

SO, 22 SEP, 18:00

STIFTSBASILIKA ST. FLORIAN

THOMAS HENGELBROCK & MÜNCHNER

PHILHARMONIKER

Bruckners f-Moll-Messe

SO, 6 OKT, 18:00

GROSSER SAAL

JÉRÉMIE RHORER & LE CERCLE DE L’HARMONIE

Befreien – Bruckners 7. Sinfonie

Karten und Infos: +43 (0) 732 77 52 30 | kassa@liva.linz.at | brucknerhaus.at

21
Thomas Hengelbrock Marc Minkowski Philippe Herreweghe

Petr Popelka & Rundfunk

Sinfonieorchester Prag (Fast) Alles Walzer

Dienstag, 21. Mai 2024, 19:30 Uhr Großer Saal, Brucknerhaus Linz

Werke von Dmitri Schostakowitsch, Benjamin Britten, Sergei Rachmaninoff

Dmitry Shishkin | Klavier Rundfunk Sinfonieorchester Prag

Petr Popelka | Dirigent

Karten und Info: +43 (0) 732 77 52 30 | kassa@liva.linz.at | brucknerhaus.at

Herausgeberin: Linzer Veranstaltungsgesellschaft mbH, Brucknerhaus Linz, Untere Donaulände 7, 4010 Linz

CEO: René Esterbauer, BA MBA, Kaufmännischer Vorstandsdirektor LIVA

Redaktion & Texte: Andreas Meier | Biografien & Lektorat: Romana Gillesberger

Gestaltung: Anett Lysann Kraml, Lukas Eckerstorfer

Leiter Programmplanung, Dramaturgie und szenische Projekte: Mag. Jan David Schmitz

Abbildungen: N. Gilbert (S. 2 [1. v. o.]), K. Baalbaki (S. 2 [2. v. o.] & 22), M. Borggreve (S. 2 [3. v. o.] & 17), P. Bünning (S. 2 [4. v. o.]), privat (S. 7), Alamy Stock Foto (S. 11), Musikhochschule Lübeck (S. 13), A. Meier (S. 15), D. Cerati (S. 18), B. Ealovega (S. 19), M. Hendryckx (S. 21 [1. v. o.]), B. Chelly (S. 21 [2. v. o.]), F. Grandidier (S. 21 [3. v. o.]), C. Doutre (S. 21 [4. v. o.]), Programm-, Termin- und Besetzungsänderungen vorbehalten

LIVA – Ein Mitglied der Unternehmensgruppe Stadt Linz

VORSCHAU : Das Große Abonnement in der Saison 2023/24
Petr Popelka
Foto: Irène Zandel C.BECHSTEIN KLAVIERABEND VERANSTALTUNGSORT UND KARTEN Brucknerhaus Linz · Untere Donaulände 7 · 4010 Linz +43 (0) 732 77 52 30 · kassa@liva.linz.at 16.Mai 2024 · 19:30 Uhr C.Bechstein Centrum Linz / Klaviersalon Merta GmbH Bethlehemstraße 24 · A-4020 Linz · +43 (0) 732 77 80 05 20 linz@bechstein.de · bechstein-linz.de Alexander Schimpf Werke von Mozart, Beethoven, Skrjabin und Rachmaninoff
HAPPY DIAMONDS
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.