8. September 2024, 18:00 Uhr
Großer Saal
8. September 2024, 18:00 Uhr
Großer Saal
Highlights in der Saison 2024–25
Mi, 13. Nov 2024, 19:30
Mittlerer Saal
Quatuor Mosaïques
Das legendäre Quatuor Mosaïques gastiert mit den meisterhaften letzten Quartettwerken Joseph Haydns und Franz Schuberts sowie dem ›Höllenquartett‹ von Joseph Wölfl im Brucknerhaus Linz.
Sa, 23. Nov 2024, 19:30
Mittlerer Saal
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So, 1. Dez 2024, 11:00
Großer Saal
Radulović & Double Sens
Der serbische Geiger Nemanja Radulović und sein Ensemble Double Sens eröffnen mit ihrer unkonventionellen, frischen Herangehensweise neue Blickwinkel auf Bach und Beethoven.
Das Programm auf einen Blick
Anton Bruckners 7. Sinfonie ins Hier und Jetzt zu holen: Das ist die künstlerische Mission von Stegreif –The Improvising Symphony Orchestra. Das Kollektiv widmet sich mit Freude den großen ›Klassikern‹ der Konzertliteratur, um sie in ihre Einzelteile zu zerlegen, neu zusammenzusetzen und dabei ihren tiefer liegenden Sujets nachzuspüren. Mit seiner 7. Sinfonie gelang Bruckner der internationale Durchbruch, auch heute gehört sie zu seinen beliebtesten Werken. Ausgehend vom Adagio der Sinfonie, das Bruckner dem just verstorbenen Richard Wagner als Trauermusik widmete, beleuchtet das Ensemble das Thema der persönlichen, kollektiven und gesellschaftlichen Trauer in unterschiedlichsten Facetten. Die auswendig spielenden Musiker:innen bewegen sich dabei frei im Raum, die Grenzen zwischen Bühne und Publikum verschwimmen.
Stegreif – The Improvising Symphony Orchestra
Juri de Marco & Lorenz Blaumer | Künstlerische Leitung
Alistair Duncan | Rekomposition & Arrangement
Valerie Leopold | Musikalische Leitung
Franziska Ritter | Regie, Szenografie & Kostüm
Vito Walter | Lichtdesign
Lea Hladka | Choreografische Mitarbeit
Lorina Strange | Geschäftsführerin
Anton Bruckner 1824–1896
Sinfonie Nr. 7 EDur WAB 107 // 1881–83 arrangiert und rekomponiert von
Alistair Duncan *1991 [Uraufführung]
Konzertende ca. 19:30 Uhr
Als Anton Bruckner am 23. September 1881, nur zwanzig Tage nach Vollendung seiner 6. Sinfonie, mit den Entwürfen zur 7. Sinfonie begann, konnte er kaum ahnen, dass ihm dieses Werk drei Jahre später, im Alter von 60 Jahren, zum internationalen Durchbruch als Komponist und zur lang ersehnten Anerkennung als Sinfoniker verhelfen sollte. Während die Sechste durch eine mehrjährige Pause von ihrem Vorgängerwerk getrennt ist, in der Bruckner seine ersten vier nummerierten Sinfonien einer kritischen Durchsicht und formalen Überarbeitung unterzog, spiegelt die mit der Siebten »wiedergewonnene Kontinuität des sinfonischen Schaffens« (HansJoachim Hinrichsen) wohl auch das durch jene Revisionsarbeiten gestärkte Selbstbewusstsein des Komponisten wider. Dennoch oder vielleicht gerade aufgrund des daraus erwachsenen gesteigerten Anspruchs benötigte Bruckner für die Komposition des am 29. Dezember 1882 fertiggestellten Kopfsatzes mehr als ein Jahr, wobei er einige Monate lang zeitgleich am Scherzo arbeitete. Nach der Niederschrift des Adagios zwischen dem 22. Jänner und dem 21. April 1883 konnte er das Finale und damit das gesamte Werk – einzig unterbrochen durch eine Reise zu einer ParsifalAufführung und an das Grab des am 13. Februar unerwartet verstorbenen Richard Wagner in Bayreuth – am 5. September in St. Florian abschließen. Inmitten der Arbeit am Adagio erweiterte Bruckner das Instrumentarium noch um zwei Tenor und Basstuben, die sogenannten Wagnertuben, deren eigentümlichen, sonoren Klang er während seines Besuchs der Uraufführung des Ring des Nibelungen im August 1876 kennengelernt hatte und die er später auch in seiner 8. und 9. Sinfonie verwendete.
Am 28. März 1884 traf sich der Pianist und ehemalige BrucknerSchüler Josef Schalk mit Arthur Nikisch, dem 1. Kapellmeister des Leipziger Stadttheaters, um für eine gemeinsame Aufführung von Bruckners Siebter in einer Version für zwei Klaviere zu proben, bei der Nikisch als Ersatz für
Nr. 7
den Dirigenten Ferdinand Löwe einsprang. »Kaum hatten wir den ersten Satz der 7. Gespielt«, berichtete Schalk seinem Bruder Franz zwei Tage später, »fing der sonst so ruhige und gesetzte Nikisch Feuer und Flamme; […] ›Seit Beethoven [ist] nichts auch nur ähnliches geschrieben worden. Was ist da Schumann! etc. etc.‹ ging es in einem fort. Du kannst Dir denken, wie ich mich auf die Wirkung des 2. Satzes freute und kaum waren wir fertig […] sagte Nikisch: ›Ich werde Ihnen einen ehrlichen Rat geben und zugleich einen Vorschlag machen. Die Sachen sind so ernst und großartig, daß ich mir von einem Klaviervortrag vor den Leipzigern nicht viel verspreche, lassen Sie also in Gottes Namen den Abend fallen. Dafür wird noch heuer im April oder anfangs Mai im Theater unter meiner Leitung ein großes Konzert zu Gunsten des Wagnerdenkmals stattfinden und ich gebe Ihnen hiermit mein heiliges Ehrenwort, daß ich diese Symphonie in sorgfältigster Weise zur Aufführung bringen werde. Ich halte es für mich von nun an für eine Pflicht für Bruckner einzutreten.‹« Für Bruckner ergab sich somit die Möglichkeit, sein neues Werk einem unvoreingenommenen Publikum vorgestellt zu sehen; eine Aussicht, die ihn angesichts der missgünstigen Kritik, der seine Werke in Wien immer wieder ausgesetzt waren, geradezu euphorisch stimmte.
»Sehen Sie, genau so weit war ich gekommen, als die Depesche aus Venedig eintraf im Konservatorium (am Morgen des 14. Februar) und da habe ich geweint – o wie geweint – und dann erst (hier intonierte er wieder auf den Tasten die mit Buchstabe X [...] bezeichnete Bläsermelodie) schrieb ich dem Meister die eigentliche Trauermusik.«
Anton Bruckner nach einem Bericht von Theodor Helm, zitiert nach: August Göllerich und Max Auer
»Hochwohlgeborner, hochverehrter Herr Kapellmeister!« – »Hochwohlgeborner Herr Kapellmeister! Edelster, hochberühmter Künstler!« –»Hochwolgeborner [sic!], hochberühmter größter Dirigent!« – »Edelster Gönner!« Die manierierten Titel, die Bruckner dem mehr als 30 Jahre jüngeren Nikisch in seinen Briefen von nun an angedeihen ließ, verdeutlichen, wie sehr dem Komponisten am Gelingen des Projektes gelegen war. Die Uraufführung, die letztlich auf den 30. Dezember 1884 verschoben werden musste und bei der Nikisch die Wagner tuben in Ermangelung geeigneter Instrumente durch Hörner ersetzte, traf in Bruckners Anwesenheit beim Publikum auf gespaltene Reaktionen, geriet allerdings zumindest medial zu einem
Anton Bruckner Sinfonie Nr. 7
»wahrhaft durchschlagenden Erfolg« (Neues Wiener Tagblatt), von dem die Leipziger Nachrichten schwärmten: »Das Werk selbst fordert die höchste Bewunderung heraus.« Spätestens mit der ebenso enthusiastisch gefeierten Münchner Erstaufführung am 10. März des darauffolgenden Jahres unter Hermann Levi – die auch Anlass für die spätere Widmung der Sinfonie an König Ludwig II. war – trat das Werk seinen Siegeszug an, den auch Eduard Hanslicks Verunglimpfung als »symphonische [...] Riesenschlange« nicht aufhalten konnte. Der überwältigende Erfolg führte schließlich dazu, dass die Siebte und die zu Bruckners Lebzeiten nie vollständig aufgeführte Sechste die einzigen beiden Sinfonien sind, an denen der Komponist keine gravierenden nachträglichen Änderungen vornahm und die deshalb in nur einer Fassung vorliegen.
Andreas Meier
Dramaturgin Paula Schlüter sprach mit Lorenz Blaumer (Künstlerische Leitung), Alistair Duncan (Rekomposition & Arrangement), Franziska Ritter (Regie, Szenografie & Kostüm) und Vito Walter (Lichtdesign)
Paula Schlüter: Wer und was ist Stegreif?
Lorenz Blaumer: Im Kern von Stegreif steht der Versuch, eine Verbindung zu schaffen – zwischen Musiker:innen und Publikum, unter den Musiker:innen und auch zur gespielten Musik. Es geht darum, eine Verbundenheit herzustellen, die vielleicht mittlerweile im klassischen Konzert ein bisschen unüblich geworden ist. Dazu gehört eine besondere Authentizität im Musizieren und dazu gehört Nähe – auch räumlich. Wir wollen berühren und uns berühren lassen. Alles, was uns dabei stört, versuchen wir deshalb von vornherein wegzulassen: Notenpulte, Stühle, Dirigent:in, starre Werktreue. Dafür integrieren wir neue Elemente wie Bewegung im Raum, Bühnenbild, Lichtdesign. Wir wollen uns und das Publikum im Sound baden, wir improvisieren, wir rekomponieren. All diese Entscheidungen fallen als Folge dieses einen zentralen Wunsches nach Verbundenheit.
Alistair Duncan: Unsere Mitglieder sollen nicht anonym bleiben. Ihre Persönlichkeitszüge, was sie gerne an ihrem Instrument machen, wie sie sich musikalisch gerne präsentieren, all das soll auch in unser Werk einfließen. Beim Rekomponieren geht es mir vor allem darum, für die Persönlichkeiten unserer Musizierenden Platz in der Musik zu finden – sei’s durch Improvisation oder in besonderen SoloMomenten.
Schlüter: Euch gibt es ja mittlerweile schon seit neun Jahren. Aus welchem Bedürfnis heraus wurde Stegreif damals gegründet?
Duncan: Ganz konkret stand am Anfang die Freude an der Improvisation, am Spielen ohne Noten.
»Freude mit Freiheit verbinden«
Ein Gespräch mit Stegreif
Schlüter: Das ist für eine:n klassische:n Orchestermusiker:in vielleicht keine Selbstverständlichkeit.
Duncan: Ich bin sowohl in der Jazzwelt als auch in der Welt der klassischen Musik groß geworden. Es sind einige Musiker:innen bei Stegreif dabei, die eine klassische Ausbildung haben und trotzdem gerne improvisieren. Deshalb war es irgendwie nur logisch und hat sich gar nicht fremd angefühlt, so eine Herangehensweise auch mit klassischem Reper toire umzusetzen. Man spürt eine ganz besondere Freude, wenn man so spielt. Und man will diese Freude mit dem Publikum teilen – ich glaube, das ist eine ganz normale Sache und so normal und organisch hat sich das am Anfang auch angefühlt.
Schlüter: Also die Idee kam hauptsächlich aus eurer Musizierpraxis heraus?
Blaumer: Es war – glaube ich – schon auch eine gewisse Unzufriedenheit mit dem klassischen Konzertbetrieb mit im Spiel. Stegreif vereint Grenzgänger:innenpersönlichkeiten, die sich im Status quo des Konzertbetriebs nicht unbedingt wiedergefunden haben, zumindest nicht in der Vielfalt ihres persönlichen Ausdruckswillens. Dann beginnt man, sich nicht nur darüber zu ärgern, sondern zu überlegen: Wie wollen wir es denn selber? Also, es hatte etwas von beidem: einerseits die Kritik an einem Status quo, der einem nicht genügt. Andererseits das gemeinsame Erschaffen von etwas, das einem einfach nur logisch erscheint, selbstverständlich erscheint, was auch eine Direktheit und dieses Kribbeln erzeugt, in der Art und Weise, wie man dann gemeinsam musiziert.
Franziska Ritter: Als neue Szenografin im Kreativteam schätze ich sehr, dass die Musiker:innen von Stegreif so unglaublich spielfreudig sind, Lust aufs Experiment haben und gern an ihre Grenzen gehen. Das ist in einem klassischen Sinfonieorchester nicht selbstverständlich. Die Institution Orchester hat ja per se bestimmte Spielweisen und Hierarchien, die sich über Jahrhunderte etabliert haben und die in bestimmten Kontexten auch ihren Sinn und ihre Daseinsberechtigung haben. Aber es ist natürlich eine große Freude, so selbstbestimmt und frei agieren zu dürfen, wie Stegreif sich das in den letzten zehn Jahren erarbeitet hat. Sicherlich war das
auch nicht immer ein einfacher Weg – da eckt man gerne mal an. Aber diese Kombination aus klassischen Werken, Rekompositionen, Elementen aus anderen Genres, dieses SichFreispielen, dieses authentische SichaufdieSucheBegeben nach dem Kern der musikalischen Aussage in Verbindung mit der Persönlichkeit des:der Musiker:in – das macht dieses Ensemble wirklich besonders!
Schlüter: Eine weitere Besonderheit von Stegreif ist der Einbezug von Szenografie und Lichtdesign. Realisiert ihr mit #freebruckner eine ›Inszenierung‹ von Bruckners 7. Sinfonie? Wie steht ihr zu dem Begriff?
Ritter: Das ist eine super Frage! Was ist es eigentlich, was wir da machen? ›Inszenierung‹ ist so ein großer, allumfassender Begriff. Das Lichtdesign gehört da unbedingt dazu, aber auch die Choreografie auf der Bühne und der Kontakt zum Publikum. Wir wissen alle: Die Musik an sich ist schon stark, sie spricht für sich. Brauchen wir überhaupt noch weitere räumliche Elemente auf der Bühne, brauchen wir Kostüme? Das wird
heftig diskutiert im Orchester. Gleichzeitig braucht es dann in so einem kreativen Prozess auch bestimmte Leitplanken. Insofern ist der Raum ein ganz wichtiger Spielpartner. Ich spreche immer gerne von einem ›Dialograum‹, der neue Perspektiven aufmachen kann und nicht nur das, was in der Musik zu hören ist, nochmal verdoppelt. Bestenfalls gibt der Raum in Kombination mit den Musiker:innen und der Musik neue Denkanstöße. So versuche ich, mit den Elementen auf der Bühne Assoziationsmomente aufzumachen. Bei #freebruckner steht für uns zum Beispiel das Thema Trauer im Vordergrund. Es wird deshalb auf der Bühne ein zehn Meter langes Objekt geben, das zum Beispiel einen Altar oder eine Tischsituation für einen Leichenschmaus darstellen kann – man kann damit also ganz verschiedene Situationen von Freude und von Trauer assoziieren. Wichtig ist dabei, dass die Musiker:innen das Objekt als zentrales Spielelement begreifen. So frei wie mit dem musikalischen Material umgegangen wird, müssen sie auch mit Licht, Stühlen, Stoffen und anderen Elementen umgehen können. Das bedeutet auch, dass jeder Abend ein bisschen anders laufen wird, je nachdem in welchem Konzertsaal wir uns befinden – das ist die DNA von Stegreif.
Vito Walter: Was ich an Stegreif sehr schätze, ist das Arbeiten im Kollektiv und die flachen Hierarchien. Wenn ich als Lichtdesigner Teil einer Produktion bin, heißt das nicht, dass ich alle Entscheidungen fürs Licht alleine treffe. Es ist eine kollektive Arbeit, das heißt, ich bringe mich auch in andere künstlerische Entscheidungsprozesse ein und andere geben mir wiederum Ideen fürs Licht, das ist alles sehr offen. Jede:r bringt einen anderen Hintergrund mit und hat andere Erfahrungen aus unterschiedlichen Gebieten, die immer willkommen sind und den künstlerischen Prozess bereichern können.
Schlüter: Wie genau sieht denn euer Arbeitsprozess im Team bei einem Projekt wie #freebruckner aus?
Walter: Wertvoll ist, dass ich als Lichtdesigner schon früh mit dabei bin. Das hilft sehr, um alle Elemente gleichzeitig zu denken, zu entwickeln und zusammenzuführen. Da wird nicht erst am Schluss alles ausgeleuchtet, sondern es gibt die Möglichkeit, das Licht als Element im Stück zu nutzen und damit zu spielen.
Blaumer: Am Anfang steht eine Idee – in diesem Fall, Bruckners 7. Sinfonie mit dem Thema Trauer in Verbindung zu setzen. In einer Zeit, in der wir sich überlappende Krisen und einschneidende gesellschaftliche Veränderungen erleben und erlebt haben, ist das Thema Trauer für uns besonders relevant. Wir befinden uns auch gesellschaftlich in einem Trauerprozess. Viele Phasen der Trauer – Verleugnung, Wut, Verhandeln, Depression – konnte und kann man im persönlichen Umfeld, aber auch in unserem gesellschaftlichen Umgang mit diesen Krisen beobachten. Dadurch, dasswir keine Zeit und keinen Raum für diese Trauer gefunden haben, entsteht der Eindruck, als würden Teile der Gesellschaft momentan in einer dieser Trauerphasen feststecken. Neben dem großen Thema Trauer war außerdem Bruckners Tätigkeit als Orgelimprovisator ein weiterer Anknüpfungspunkt für uns. Bruckner ist heutzutage vor allem als Sinfoniker bekannt, zu Lebzeiten war er aber als Organist fast noch berühmter. Ihn damals beim Improvisieren an der Orgel erlebt zu haben, muss ’ne echte Show gewesen sein. Da die Verbindung zu uns zu finden, ist natürlich relativ leicht.
»Freude mit Freiheit verbinden«
Ein Gespräch mit Stegreif
Schlüter: Ihr scheint euch mit Vorliebe großen Repertoireklassikern zu widmen. Was für ein Potenzial liegt für euch darin, diese historischen Werke zu ›recyceln‹, statt zu sagen: Wir schaffen jetzt einfach etwas ganz Neues?
Duncan: Wenn man improvisiert, kann es von Vorteil sein, wenn das Basismaterial dem Publikum schon bekannt ist. Dann ist ein gemeinsamer Nenner da. Das ist in der Jazztradition ja genauso. Vor hundert Jahren waren es die zeitgenössischen Popsongs, über die man damals improvisiert hat. Oft haben diese ›Klassiker‹ auch eine persönliche Bedeutung für die Musiker:innen, weil sie sie zum Beispiel früher im Jugendsinfonieorchester schon gespielt haben.
Blaumer: Ich mag die Siebte einfach wahnsinnig gern und habe sie auch schon ein paarmal selbst gespielt. Es hat ja Gründe, dass diese ›Klassiker‹ so beliebt sind: weil sie ganz tolle Melodien, harmonische Verläufe, Aufbauten enthalten, die so packend sind, dass man sie sofort wiedererkennt. So ein starkes musikalisches Ausgangsmaterial kann dem Prozess nur guttun. Wenn man mit Melodien arbeitet, die in sich schon so stark sind, dann kann man sie zerstückeln und neu zusammensetzen und sie werden meistens immer noch große Kraft haben. Bruckners 7. Sinfonie habe ich auch ausgesucht, weil ich die Einstiegsmelodie so sensationell finde. Ich habe jedes Mal Gänsehaut. Manchmal wird ein Titel wie #freebruckner so missverstanden, als müssten wir Bruckner be freien. Das müssen wir überhaupt nicht, der ist da, der funktioniert, der ist gut, der braucht uns nicht. Wir finden aber für uns einen freien Zugang, einen freien Ausdruck. Das soll #freebruckner bedeuten. Ich glaube, das kann in diesem Fall eine ziemliche Dynamik entwickeln.
»Ja, meine Herren, das Adagio habe ich wirklich auf den Tod des Großen, Einzigen geschrieben. Teils in Vorahnung, teils als Trauermusik nach der eingetretenen Katastrophe.«
Anton Bruckner nach einem Bericht von Theodor Helm, zitiert nach: August Göllerich und Max Auer
Schlüter: Wie viel bleibt denn bei eurer Rekomposition noch von Bruckners 7. Sinfonie übrig?
»Freude mit Freiheit verbinden« Ein Gespräch mit Stegreif
Duncan: Diese Frage stellt sich für mich bei jeder Rekomposition von neuem. Jedes Werk bringt seine Stärken mit und man wäre schön blöd, wenn man die rausschmeißen würde. Die sind schon da, warum sollte man sie nicht auch nutzen? Bei Bruckner 7 ist die viersätzige Struktur der Sinfonie in sich total stark, weshalb wir sie auch beibehalten haben. Wir haben allerdings die Reihenfolge vom zweiten und dritten Satz getauscht, weil es dramaturgisch besser gepasst hat. Danach habe ich analysiert: Welche Melodien prägen den jeweiligen Satz vor allem? Die kommen alle auch in der Rekomposition vor, wenn auch manchmal in anderer Reihenfolge. Bei manchen Passagen habe ich mir gedacht: Das muss einfach so nah wie möglich am Original sein. Gleichzeitig merkt man in anderen Momenten auch: Das ist superschöne Musik, aber ich höre hier etwas anderes. Häufig sind das Passagen, in denen Bruckner sein thematisches Material akribisch weiterentwickelt. Es ist eine lange Sinfonie. Wenn wir noch unsere Improvisationen hinzufügen, hätten wir irgendwann das Problem, dass die Leute langsam auf die Uhr schauen. An solchen Stellen schaue ich dann: Wer von unseren Musiker:innen könnte sich hier präsentieren? Welches Duo hat zum Beispiel noch nie zusammengespielt, aber würde an dieser Stelle gut reinpassen? So entsteht nach und nach eine Geschichte, eine Dramaturgie. Man muss dann ein Auge darauf haben, dass eine Passage nicht zu lang oder zu kurz wird, dass die Balance immer noch da ist. So bin ich das ganze Werk durchgegangen. Trotzdem ist eigentlich das gesamte thematische Ausgangsmaterial der Sinfonie auch in irgendeiner Form in die Rekomposition eingeflossen.
»Freude mit Freiheit verbinden« Ein Gespräch mit Stegreif
Schlüter: Ihr bezieht in eure Rekompositionen auch andere Genres mit ein, oder?
Duncan: Was ich vermeiden möchte, ist ein Pastiche. Allein unsere erweiterte Besetzung mit Schlagzeug, EGitarre und Altsaxofon bringt schon gewisse GenreAssoziationen mit sich. GrooveElemente kommen dann zum Beispiel durch die besonderen Kompetenzen der Rhythmusgruppe dazu, während die EGitarre andere Klangatmosphären erzeugen kann. Letztendlich sind wir aber in der klassischen Musik zu Hause, deshalb gibt es auch immer wieder Passagen, die rein klassisch sind.
»Freude mit Freiheit verbinden«
Ein Gespräch mit Stegreif
Schlüter: Der Kritiker Max Kalbeck schrieb 1886 nach der Wiener Erstaufführung der 7. Sinfonie: »Bruckner behandelt das Orchester gleich einem Instrument, auf dem sich nach Laune und Zufall improvisiren und phantasiren läßt. Seine siebente Symphonie ist nichts mehr als eine theils anlockende, theils abstoßende musikalische Stegreifkomödie mit gegebenen Typen; ein in bunten Farben gemaltes Bild nach Motiven von Beethoven und Wagner.« Wenn Kalbeck recht hatte und das Improvisatorische wirklich schon in Bruckners Musik drinsteckt, könnte das für euren Ansatz doch eigentlich ganz praktisch sein, oder?
Blaumer: Ja, aber es ist – vermute ich – anders gedacht als bei uns. Bruckner denkt als kompositorisches Mastermind. Das funktioniert bei uns im Kollektiv natürlich ganz anders. Da geht es darum, diese improvisatorische Interaktion zwischen den Individuen in Gang zu setzen. Alistair hat ja auch schon beschrieben, dass es einige Passagen gibt, wo wir uns sagen: Das müssen wir jetzt nicht nachvoll ziehen und das können wir mit unserem Klangapparat auch gar nicht, aber wir können hier andere Schleifen drehen, die eventuell für das Publikum sogar interessanter sind. Es geht nicht darum, diesen Passagen andere Genres wie Salsa oder Rock überzustülpen, diese Sorte von Crossover ist nicht unser Ding. Aber aus dem Genre rauszugehen und zu schauen, wo es uns hinführt, mit dem musikalischen Material und mit dem Inhalt, den wir da sehen, dafür eignen sich gerade diese Passagen, um dort andere Farben hineinzubringen und sie anders auszugestalten.
Schlüter: Wie greifen Rekomposition und Improvisation denn in eurer Arbeit ineinander?
Blaumer: Du sprichst da etwas ganz Wichtiges an und zwar die Balance zwischen Freiheit und Struktur. Kreativität braucht einen Rahmen, an dem sie sich abarbeiten, den sie umdeuten kann. Das ist bei uns die Komposition und auch die Rekomposition, die bestenfalls Freiheiten zum Spielerischsein bietet. Wir wollen gemeinsam spielerisch mit dem Material umgehen und so zu Lösungen kommen, zu denen man als Einzelne:r nicht käme. Dafür brauchen wir einen Rahmen, damit die Leute den groben Ablauf kennen und verstehen, was wir hier gerade wollen. Wir forschen
»Freude mit Freiheit verbinden« Ein Gespräch mit Stegreif
»Freude mit Freiheit verbinden« Ein Gespräch mit Stegreif
daran seit Jahren: Wie viel Rahmen, wie viel Struktur brauchen wir, damit die Musiker:innen sich sicher fühlen, um dann eben diese ›Schleifchen‹, diese Blüten zu entwickeln, die wahnsinnig schön sind. Wenn es zu viele Freiheiten gibt, entsteht Unsicherheit, dann sind alle am Suchen, gerade in einem Kollektiv ohne klare Hierarchien. Das kann man an einer zentralen Stelle in so einem Werk mal machen: ganz frei lassen und gucken, was passiert. Aber das geht nicht die ganze Zeit, dann entsteht nur Einheitsbrei. Dieses Ausbalancieren, das ist das Kunststück in einem Kollektiv, aber das ist natürlich im Speziellen das Kunststück von Alistair in der Rekomposition.
Da-capo-Arie Hauptarienform des Barocks mit den Formteilen A–B–A'
Duncan: Ich forsche in der rekompositorischen Arbeit nicht nur daran, wie viel Struktur ich wegnehmen kann, sondern auch, wo es eventuell innerhalb der gegebenen Struktur Raum für Freiheiten gibt. Ich interessiere mich sehr für die Frage nach dem Unterschied zwischen Interpretation und Improvisation. In beiden Fällen hat man doch eigentlich die Freiheit, Dinge selbst zu gestalten und auch anders zu machen. Deshalb finde ich gerade die Grenzbereiche spannend: Ist es bereits Improvisation oder noch Interpretation? So kann sich auch jede:r mit ihren:seinen eigenen Kompetenzen einbringen. Manche unserer Musiker:innen haben vielleicht weniger Erfahrung mit Improvisation, aber dafür umso mehr mit Interpretation. Die Musiker:innen haben als Ausgangspunkt die Notenblätter, von denen wir die Rekomposition einstudieren und wenn dann da nur eine Melodie steht, dann fangen sie mit dieser Basis an. Am Ende können sie auch nur diese Melodie interpretieren. Aber sie haben gleichzeitig auch die Freiheit, stattdessen etwas anderes zu spielen oder zu dieser Ausgangsmelodie etwas hinzuzufügen – ähnlich wie bei einer DacapoArie: Bei der Wiederholung machen wir es ein bisschen anders als zuvor. Insofern ist die Rekomposition kein Gegenpol zur Improvisation, sondern vielmehr die Voraussetzung, um einen Raum für improvisatorische Freiheiten zu eröffnen. Es hilft mir auch, dass ich schon so lange bei Stegreif dabei bin. Ich kenne die Leute und kann auf sie eingehen. Zum Beispiel hat mir unsere Flötistin Luca letztens erzählt, dass sie am liebsten Piccoloflöte spielt. Ich kann dann vom Schreibtisch aus dafür sorgen, dass sie in der Rekomposition dementsprechend auch ganz viel Piccolo spielen kann. Dadurch entsteht für die Musiker:innen eine ganz andere Spiel
»Freude mit Freiheit verbinden« Ein Gespräch mit Stegreif
freude. Diese Freude dann mit Momenten der Freiheit zu verbinden, sei es durch Interpretation, sei es durch komplett frei improvisierte Momente, das ist eigentlich das Schönste. Dadurch erkennen die Leute sich selbst in dem Werk wieder.
Blaumer: Ähnliches kann man, glaube ich, auch über die Szenografie sagen: Der spielerische Ansatz ist eigentlich derselbe, oder Franziska?
Ritter: Ja, total. Auch der Prozess des Machens ist total ähnlich. Bis zum Tag der Premiere wird sich alles weiterentwickeln. Das ist sehr ungewöhnlich für die Arbeit einer Bühnenbildnerin, die sonst lange Planungsphasen im Voraus hat. Aber das ist das Aufregende dieser Zusammenarbeit! Ich bin schon ganz neugierig auf das Ergebnis.
Seit der Gründung des Orchesters 2015 hat Stegreif zahlreiche eigene Konzertprogramme entwickelt wie #bfree, #freebrahms, Giovanni – Eine Passion, #bechange oder #freemahler. Stegreif spielte sie auf renommierten Bühnen wie der Berliner Philharmonie, dem Konzerthaus Berlin, der Alten Oper Frankfurt, der Elbphilharmonie in Hamburg, dem Radialsystem in Berlin, dem Beethovenfest Bonn oder dem Prinzregententheater in München sowie bei alternativen Festivals wie Fusion, Detect Classic oder Oranjewoud. Seine Rekompositionen gab Stegreif bei Komponist:innen wie Uri Caine, Mike Conrad, Wolf Kerschek, Claas Krause und Malte Schiller in Auftrag sowie bei Ensemblemitgliedern wie Juri de Marco, Alistair Duncan, Franziska Aller, Julia Biłat und Bertram Burkert. Das Orchester arbeitete mit musikalischen Gästen wie Abel Selaocoe, Carolin Widmann, Nils Landgren, Markus Stockhausen und Rosanne Philippens zusammen.
Künstlerische Leitung
Juri de Marco studierte in Berlin und Leipzig klassisches Horn und Jazztrompete. 2015, im Alter von 22 Jahren, gründete er zusammen mit Kolleg:innen in Berlin Stegreif – The Improvising Symphony Orchestra, in dem er als künstlerischer Leiter und Hornist aktiv ist. Für das Ensemble schrieb Juri de Marco zahlreiche Arrangements und Rekompositionen und leitete etliche Kollaborationen mit namhaften Künstler:innen und Institutionen wie den Berliner Philharmonikern oder dem Starposaunisten Nils Landgren.
Künstlerische Leitung
Lorenz Blaumer ist Geiger, Produzent, Klangkünstler und Musikvermittler. Als freischaffender Musiker spielt er unter anderem bei der Deutschen Radio Philharmonie Saarbrücken Kaiserslautern oder beim Münchener Kammerorchester sowie bei Projekten wie Schaltkreismusik des Vereins Klangkunst, dem Musiktheaterkollektiv tutti d*amore oder der Band Einshoch6. Seit 2022 ist Lorenz Blaumer für Stegreif tätig. Zudem ist er Dozent für fachübergreifende Professionalisierung an der Hochschule für Musik Hanns Eisler Berlin.
Rekomposition & Arrangement
Alistair Duncan studierte Posaune, Jazz und Zeitgenössische Musik bei Mark Kellogg an der Eastman School of Music in Rochester (USA). 2015 schloss er sein Masterstudium in Jazzkomposition am Jazz Institut Berlin ab. Er wirkt in mehreren Jazzformationen mit und trat bereits mit den Big Bands des WDR und hr auf. Außerdem ist er Gründungsmitglied von Stegreif und Teil von dessen Kompositionsteam. Darüber hinaus lehrt Alistair Duncan als Dozent für Jazzposaune an der Hochschule für Musik und Theater München.
Musikalische Leitung
Valerie Leopold studierte Violine und Kammermusik an der Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien und an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Sie hat eine Leidenschaft für Kammermusik und interdisziplinäre Projekte. Während des Studiums entdeckte sie auch ihre Liebe zur Viola. Seit 2018 ist sie Mitglied von Stegreif – The Improvising Symphony Orchestra. Neben der Musik widmet sich Valerie Leopold der Körper und Wahrnehmungsarbeit und ist Bewegungspädagogin der FranklinMethode®
Franziska Ritter ist Szenografin und Musikerin. Sie studierte Architektur an der Technischen Universität Berlin sowie Fotografie und Film an der University of North London. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin des Masterstudiengangs Bühnenbild_Szenischer Raum der TU Berlin, forscht zu Digitalität und Neuen Technologien am Theater und leitete das Forschungsprojekt Im/material Theatre Spaces der Deutschen Theatertechnischen Gesellschaft. Als freiberufliche Flötistin spielt sie in verschiedenen Ensembles und Orchestern.
Lichtdesign
Vito Walter arbeitet als freier Lighting Designer für darstellende Künste mit einem Schwerpunkt bei zeitgenössischem Tanz und Film. Er studierte Stage Lighting Design und Architectural Lighting Design in Hildesheim, Medellín und Lyon. Sein Interesse gilt dem Gestalten von Atmosphären und Räumen sowie dem Einfluss von Licht auf Wahrnehmungen und Emotionen. Er arbeitete mit Künstler:innen wie Hendrik Aerts, Kat Válastur, Jan Martens, Hannah Schillinger, Xenia Koghilaki, Emilie Gregersen, Daina Ashbee, Armin Hokmi und Robyn Orlin zusammen.
Lea Hladka ist Tänzerin, Choreografin, Tanzpädagogin und Kulturmanagerin. Sie tanzte an den Theatern von Eisenach, Meiningen und Gießen sowie an der Deutschen Oper am Rhein, war bei internationalen Tanzfestivals zu Gast und gründete die Ensembles Svea Dance und dancevertise. Ihren Fokus setzt sie mittlerweile auf spartenübergreifendes Arbeiten. Seit ihrer Zusammenarbeit mit Stegreif steht für Lea Hladka das Thema Kollektive Führung als Kulturmanagerin und Künstlerin im Mittelpunkt ihrer Arbeit.
Impressum
Herausgeberin
Linzer Veranstaltungsgesellschaft mbH, Brucknerhaus Linz, Untere Donaulände 7, 4010 Linz
René Esterbauer, BA MBA, Kaufmännischer Geschäftsführer
Redaktion
Paula Schlüter, MA
Biografien & Lektorat
Romana Gillesberger
Gestaltung
Anett Lysann Kraml, Lukas Eckerstorfer
Leiter Programmplanung, Dramaturgie und szenische Projekte
Mag. Jan David Schmitz
Abbildungen
S. Zolak (S. 2), Österreichische Nationalbibliothek (S. 7), N. Neuschl (S. 10–11, 14–15, 21, 22 & 24), Alte Oper Frankfurt/S. Baygan (S. 20), L. Urmersbach (S. 17), A. Krause (S. 23 [o.]), S. Schrader (S. 23 [u.])
Programm, Termin und Besetzungsänderungen vorbehalten
LIVA – Ein Mitglied der Unternehmensgruppe Stadt Linz
Wir danken für Ihren Besuch und wünschen Ihnen ein schönes Konzert!
Mit unserer eigenen Hammerkopfproduktion entfesseln wir das volle tonliche Spektrum unserer Flügel und Klaviere –eine Kunst, die Leidenschaft, Erfahrung und Disziplin erfordert. www.bechstein-linz.de