Behörden Spiegel März 2017

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Kommunalpolitik / Demografie

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ehörden Spiegel: Wie sieht ihre Bilanz nach zwölf Jahren kommunaler Demografie aus? Tatje: Die Bilanz fällt für mich positiv aus. Ich bin mit der Stabsstelle Demografiebeauftragte direkt beim Oberbürgermeister gestartet. Meine Aufgaben waren, ein Demografiekonzept zu entwickeln, das Thema in der Stadt bekannt zu machen und dafür Sorge zu tragen, dass der demografische Wandel in der Verwaltung der Stadt stärker berücksichtigt wird. Das war meine Aufgabenbeschreibung. Diese drei großen Arbeitspakete habe ich umgesetzt. Das Konzept enthält sechs demografiepolitische Handlungsschwerpunkte. Diese Schwerpunkte sind bis heute aktuell und werden weiter sukzessive umgesetzt. Das Konzept wurde damals im Rat einstimmig verabschiedet, ein entscheidendes Erfolgskriterium. Denn ich bin überzeugt, dass solche umfänglichen Änderungsprozesse einen politischen Konsens benötigen. Mit ganz unterschiedlichen Instrumenten habe ich versucht, das Thema in Bielefeld bekannt zu machen. Tagungen, demografische Stadtrundgänge, Veröffentlichung zu unterschiedlichen Themen etc. Das war erfolgreich, war aber nicht nur mein Verdienst, es half ungemein, dass der demografische Wandel 2005/2006 zu einem wichtigen Medienthema wurde. Als ich 2004 angefangen habe, gab es eine Meinungsumfrage, demnach konnten nur sieben Prozent der Deutschen etwas mit dem Begriff demograficher Wandel anfangen. Das sieht heute ganz anders aus.

Über die kommunalen Grenzen gucken! Deutschlands bekannteste kommunale Demografiebeauftragte geht in den Ruhestand (BS) Zwölf Jahre war Susanne Tatje für die Demografiepolitik der Stadt Bielefeld zuständig, zuerst mit einer Stabsstelle beim Oberbürgermeister, dann als Leiterin des deutschlandweit einzigen Amtes für Demografie und Statistik. Nach ihrem Ausscheiden wird die Stadt die Stelle nicht neu besetzen und das Amt auflösen. Tatje machte die kommunale Demografiepolitik deutschlandweit bekannt, ihr Demografiekonzept für die Stadt gilt als eine wichtige Referenz für andere Kommunen. Im Gespräch mit Carsten Köppl zieht sie eine Bilanz ihrer Arbeit und erläutert, welche Handlungsfelder kommunale Demografiepolitik stärker in den Blick nehmen sollte. wieder Entwicklungen nach oben. Vor Kurzem habe ich meinen letzten Demografiebericht 2016 vorgelegt. Darin gehen wir in der mittleren Variante, also bei einer moderaten Zuwanderung, bis zum Jahr 2045 von einem leichten Bevölkerungszuwachs aus. Behörden Spiegel: Kann kommunale Demografiepolitik den demografischen Trend einer Stadt beeinflussen? Tatje: Kommt darauf an, was man darunter versteht: Kommunale Demografiepolitik kann nicht die Geburtenrate einer Stadt beeinflussen. Aber sie kann und sollte, das ist die zentrale Aufgabe, dafür Sorge tragen, dass sich Städte und Gemeinden auf die demografische Entwicklung einstellen. Wie sieht die Bevölkerungsstruktur aus und welche Entwicklungen haben wir möglicherweise

Der Bielefelder Demografie-Stempel hat es sogar schon mal in eine Wanderaustellung geschafft. Foto: BS/Fieseler

Behörden Spiegel: Wo stand Bielefeld 2004 demografisch gesehen? Und wo steht Bielefeld demografisch gesehen heute? Tatje: Bielefeld war damals eine Stadt mit einer ganz normalen, keiner besonders auffälligen Bevölkerungsentwicklung. Erste Untersuchungsergebnisse besagten, dass Bielefeld einen moderaten Bevölkerungsrückgang zu erwarten habe. Das war in den nächsten Jahren dann auch so, aber es gab auch immer

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vor uns? Das sind nicht nur Zahlenmodelle, da hängen viele andere Fragen mit dran. Ein Beispiel ist die starke Alterung. Es steigt nicht nur die Zahl der Älteren, sondern vor allem auch die Zahl der Hochaltrigen, das ist leider ein oft vernachlässigtes Thema. Hochaltrigkeit beginnt ab 80 Jahren. Das ist genau das Alter, in dem auch die Pflegebedürftigkeit und die Anzahl der Demenzerkrankungen sehr stark zunehmen. Die Kommunen müssen

sich überlegen, was sie genau für diese Bevölkerungsgruppe tun können, um den Menschen ein menschenwürdiges Dasein und eine möglichst lange Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. Behörden Spiegel: Was sind die wichtigsten Erfolgsfaktoren für eine wirksame Demografiepolitik? Tatje: Zunächst ist es wichtig, Demografiepolitik als Querschnittsthema anzulegen: Das heißt, es sollte nicht in einem Fachbereich angesiedelt sein, zum Beispiel im Sozialdezernat oder in der Stadtentwicklung. Querschnittssthemen gehören in die Steuerungsfunktion, also in der Kommune, in das Dezernat des Oberbürgermeisters. Dann benötigen Demografiebeauftragte auch Möglichkeiten der Einflussnsahme bei Zukunftsthemen. Ich hatte beispielsweise ein festgeschriebenes Mitzeichnungsrecht bei entsprechenden Konzepten und Planungsvorlagen der Dezernate. Dies muss aber auch mit Leben gefüllt werden, das heißt, um diese Funktion auch wirklich wahrnehmen zu können, wird die Rückendekkung der Stadtspitze gebraucht. Behörden Spiegel: Sie haben den deutschlandweit einzigartigen “Demografiestempel” eingeführt. Was hat es mit diesem Stempel auf sich? Tatje: Den Demografiestempel habe ich eigentlich aus einer kleinen Boshaftigkeit heraus entwickelt: Ich hatte mich geärgert, dass es mit der Mitzeichung nicht richtig geklappt hat. Dann dachte ich: Wenn ich schon in der Verwaltung arbeite, entwickele ich eben einen Stempel. Im Ernst: Der Demografiestempel steht exemplarisch für einen Kriterienkatalog von demografischen Aspekten, die ich für Planungsvorhaben und Projekte entwickelt habe und die berücksichtigt werden sollten. Dazu gibt es noch einen kleinen Frage-

Susanne Tatje, die Leiterin des Amtes für Demografie und Statistik der Stadt Bielefeld: “Bevölkerungsrückgang sollte nicht für kurzfristige Sparmaßnahmen genutzt werden.” Foto: BS/privat

bogen, in dem die Fachdezernate ankreuzen können, ob sie die Kriterien berücksichtigt haben. Der Stempel wurde richtig bekannt, weil er in der Wanderausstellung “Zukunft leben: Die demografische Chance” der Leibniz-Gemeinschaft im Zuge der Demografiestrategie der Bundesregierung ausgestellt wurde. Behörden Spiegel: Haben Sie den Fragebogen dann wirklich abgestempelt? Tatje: Manchmal – aber ich tendiere eher dazu, mit den Kolleginnen und Kollegen konstruktiv zu diskutieren. Behörden Spiegel: Wie muss sich kommunale Demografiepolitik weiterentwickeln? Tatje: Wir müssen uns noch stärker als bisher mit der Bevölkerungsstruktur der Stadt in der Region beschäftigen und dann überlegen, mit welchen Handlungsfeldern wir eine positive Entwicklung schaffen können. Demografiepolitik sollte nicht an kommunalen Grenzen haltmachen. Das ist im Rahmen der Globalisierung schon fast albern, wenn jede Stadt für sich überlegt, wie sie z. B. junge Familien ansie-

deln kann. Das bringt alle letztlich nicht weiter. Wir müssen in größeren Regionen denken. Außerdem finde ich es falsch, den Bevölkerungsrückgang für kurzfristige Sparmaßnahmen zu nutzen. Das zeigt das Beispiel der Schließung von Schulen und Kitas. Ich war von Beginn an eher skeptisch, auf kurzfristige Trends mit dem sofortigen Abbau von Infrastruktur zu reagieren. Jetzt müssen viele Kommunen wieder hektisch neue Schulen und Kitas bauen, weil sich der Trend kurzfristig wieder geändert hat. Besser wäre es gewesen, die gesparten Ressourcen für eine Verbesserung der (früh-) kindlichen Bildung zu nutzen. Behörden Spiegel: Waren die Statistiker und Demografen nicht mit schuld an dieser falschen Politik? Schließlich war bis vor ein zwei Jahren die Diskussion noch von Schrumpfung geprägt und jetzt erleben wir teilweise ein enormes Wachstum in den Städten… Tatje: Weder das eine noch das andere ist richtig: Die “Deutschland-stirbt-aus” und “der-Letzte-macht-das-Licht-aus”-Szenarien halte ich für genauso überzogen wir jetzt von enormem Wachstum zu sprechen. Diese dramatische Schrumpfung war nicht überall festzustellen, auch nicht in Bielefeld. Und in den Re-

gionen, die stark geschrumpft sind, hatte es manchmal auch nichts mit Demografie zu tun, sondern einfach mit fehlenden Arbeitsplätzen für junge Leute, die dann reihenweise abgewandert sind. Bevölkerungsvorausberechnungen basieren auf den letzten fünf Jahren, die dann hochgerechnet werden. Auch kurzfristige Veränderungen schleifen sich so wieder ab. Das sind dann keine Zauberwerte, sondern schlichte Rechenmodelle, die nüchtern und emotionslos betrachtet werden sollten. Viele gesellschaftliche und politische Entwicklungen sind nicht vorhersehbar. Die Öffnung der Grenzen nach Osten hat durch große Migrationsbewegungen unsere Bevölkerungsstruktur stark verändert, ebenso die medizinische Entwicklung. Was wissen wir denn, wie sich Gesellschaft und Politik bis ins Jahr 2045 verändern? Behörden Spiegel: Die Stelle des Demografiebeauftragten hat sich in kommunalen Verwaltungen nicht flächendeckend durchgesetzt. Halten Sie eine solche Stelle dennoch für sinnvoll? Tatje: Sie ist nur sinnvoll, wenn sie mit bestimmten Funktionen und Kompetenzen ausgestattet ist. Ich habe im letzten Jahr eine kleine Untersuchung der kommunalen Demografiebeauftragten in Nordrhein-Westfalen durchgeführt. Die Untersuchung ergab, dass es auf eine fachlich und hierarchisch angemessene Zuordnung innerhalb der Verwaltungsstruktur, geeignete Instrumente zur strategischen Steuerung, wie z. B. Demografie-Checks, und eine angemessene finanzielle Ausstattung ankommt.

MELDUNG

Vereinbarung zu Mehrgenerationenhäusern (BS/ckö) Das Bundesfamilienministerium und das Niedersächsische Sozialministerium haben die bundesweit erste Vereinbarung zur Förderung und Unterstützung der Mehrgenerationenhäuser abgeschlossen. Damit stelle Niedersachsen die Mehrgenerationenhäuser “auf noch stabilere Beine”, sagte die Parlamentarische Staatssekretärin bei der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen

und Jugend (BMFSFJ), Caren Marks. Die niedersächsische Sozialsministerin Cornelia Rundt sagte eine Kofinanzierung der Häuser zu. Insgesamt werden 69 Mehrgenerationenhäuser in Niedersachsen gefördert. Das Bundesprogramm ist am 1. Januar 2017 mit einer Laufzeit von vier Jahren gestartet. Insgesamt können bundesweit rund 550 Mehrgenerationenhäuser teilnehmen.

A u s Demog rafiekongre 1. Zukunfts ss wird kongress S oziale Infra strukturen

THEMEN u.a.: Altersgerechtes Wohnen ▪ Quartiersentwicklung ▪ (frühkindliche) Bildung ▪ Integrationskonzepte ▪ neue Wege in der Pflege ▪ familienfreundliche Kommune ▪ vernetzte Nachbarschaften ▪ medizinische Versorgung ▪ Chancen der Digitalisierung

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