Die Troubadourin

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Der Ort wirkt wie aus der Zeit gefallen: Mauern und Gebäudefassaden aus hellem, verwittertem Naturstein, die schon hunderte Male dem Wechsel der Jahreszeiten getrotzt haben, schirmen die rund fünfhundert Bewohner zur Straße ab – vor neugierigen Blicken und, ein wenig scheint es so, auch vor dem Lauf der Welt. An der Durchfahrtsstraße ein Denkmal für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs und die Kirche, dahinter ein alter Friedhof, von hohen Steinmauern eingefasst, die Gräber von hohen Bäumen beschattet. Am Ortsrand ein liebevoll restauriertes altes Schloss, umgeben von sattgrünen Wiesen und Wäldern. Hierher, ins malerische Örtchen Verderonne, knapp achtzig Kilometer von Paris entfernt, führt Google Maps jeden, der die Suchbegriffe „Paris“ und „Juliette Gréco“ eingibt. Vor den elektronischen Datensammlern, so scheint es, kann man sich nicht einmal hinter Jahrhunderte alten Steinmauern verbergen. Zumal als Ikone und französisches Nationalheiligtum. Juliette Gréco, Tochter einer Widerstandskämpferin, Aktivistin, Schauspielerin und Musikerin, als „Grand Dame de la Chanson“, „Königin der Existenzialisten“, „Muse von Saint-Germain-des-Prés“ oder „Schwarze Sonne von Paris“ verehrt, wohnt nahe der Kirche auf einem ehemaligen Bauernhof. Das Wohnhaus war vor rund zweihundert Jahren eine Scheune, der hintere Teil der Geräteschuppen, der vordere, das heutige Wohnzimmer, ein Pferdestall: Hohe Decken, Holzbalken, eine Feuerstelle. Juliette Gréco sitzt auf einem großen, gemütlichen Sofa. Sie ist zierlich und blass, das Alter hat tiefe Spuren in ihr Gesicht gegraben, aber sie ist wach und aufmerksam, charmant und witzig und

Fotografie Ola Rindal

Sie hat das ­französische Chanson in die Welt getragen. Sie hat während des Pinochet-­ Regimes in ­ Chile gegen Unterdrückung angesungen. ­Inspiriert von Giuseppe Verdis Troubadour-­ Figur besuchte MAX JOSEPHAutor Jörg ­Böckem die große Juliette Gréco.

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Die Troubadourin so lebendig, als könnten ihr die Jahre kaum etwas anhaben. Wie aus der Zeit gefallen wirkt auch sie: Ihre schulterlangen Haare sind nachtschwarz gefärbt, ihre Stimme klingt tief und volltönend, ihr langes schwarzes Kleid ist elegant und schlicht. Ihre feingliedrigen Hände, „meine zwei Tänzerinnen“, wie sie sagt, sind immer in Bewegung, untermalen ihre Worte. So hat sie sich in das Gedächtnis von Generationen von Bewunderern eingegraben. Kaum jemand ist so sehr mit der Ideen- und Kulturgeschichte der Nachkriegszeit verbunden wie Juliette Gréco, Weggefährtin, Freundin, Partnerin, Ehefrau, Kolloborateurin von Jean-Paul Sartre, Albert Camus, Simone de Beauvoir, Boris Vian, Françoise Sagan, Pablo Picasso, Jean Cocteau, Serge Gainsbourg, Miles Davis, Marlon Brando und Michel Piccoli, um nur einige zu nennen. Seit beinahe siebzig Jahren steht sie auf den Bühnen dieser Welt, bis heute. Sie hat das französische Chanson in die Fremde getragen, nach China, Brasilien und in die USA, sie ist nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Ende der Besatzung als eine der ersten französischen Künstler in Deutschland aufgetreten, sie hat im von der Militärjunta regierten Chile von Freiheit und gegen Unterdrückung gesungen und als erste westliche Künstlerin nach dem Tsunami und der Katastrophe von Fukushima in Japan. Den Anschluss an die Moderne hat sie nie verloren, auch nicht musikalisch – sie hat mit dem Chanson-Erneuerer Benjamin Biolay zusammengearbeitet und dem Rapper Abd Al Malik. Die perfekte Partnerin also für ein Gespräch über das Singen und das Reisen, die Kraft der Musik, das Erzählen in Liedern und ein Leben voller aufregender Begegnungen.


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