Apollon11

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4 Der große Frustini

Dominik Wendland

10 Dress to Impress

Danijela Pilić

16 Workation

Lukas Kubina

34 Everything is alive

Ian Chillag

42 Im Spiegel

Martina Borsche

54 In love with rAIner

Ella Carina Werner

64 Digitale Illusionsspiele

Elisabeth Bronfen

72 Wie du mir, so ich Tier

Christian Gottwalt

80 Die Dating-Illusion

Yannik Carstensen

88 Machen wir uns keine Illusionen

Lili Ruge

96 Null

Martina Hefter

108 Verlorene Illusionen

Adrian Lobe

114 Die wahre Wirklichkeit ist woanders

Benedikt Sarreiter

Dress to Impress: die Illusion der Perfektion

Du bist am Ende – was du bist.

Setz’ dir Perrücken auf von Millionen Locken, Setz’ deinen Fuß auf ellenhohe Socken, Du bleibst doch immer was du bist. (Mephistopheles in »Faust: Der Tragödie erster Teil« von Johann Wolfgang von Goethe)

Es ist leicht, dem Irrglauben zu verfallen, dass wir als Gesellschaft heute peak Dress to Impress betreiben, uns so sehr verkleiden und verstellen wie noch nie. Natürlich: Heute haben wir zwei Leben, das richtige (sogenannte IRL, »in real life«) und das andere, das dank Filtern einen völlig anderen, manchmal grotesk besseren Blick auf uns erlaubt. Es ist schon vorgekommen, dass man Menschen, die man nur aus den sozialen Medien kennt, IRL nicht erkennt, was umso befremdlicher ist, weil man weiß, was sie zum Frühstück gegessen haben. »Aha, so sieht der/die also wirklich aus«, ist eine Erkenntnis mit psychologischem Add-on, denn die Masken, die wir aufsetzen, decken viel auf: Während sie die physische Realität verbergen oder verstellen, geben sie sehr viel Aufschluss darüber, wie die Person gesehen werden möchte. »Eine Maske sagt uns mehr als ein Gesicht«, wusste schon Oscar Wilde. Heute kann man sich dank des technologischen Fortschritts in einem Schwups die Augenbrauen dichter, das Haar voller, die Lippen praller und das Näschen kleiner ziehen. Man kann ohne Risiko eine neue Haarfarbe oder Frisur probieren. Man kann auch IRL-Filter draufpacken, frei nach dem Motto »you’re not ugly, you’re just poor« chirurgisch und nichtinvasiv Gesichts- und Körperteile umformen sowie nach Gusto gestalten lassen. Das alles bedeutet nicht, dass wir so eitel sind wie nie zuvor, sondern nur, dass wir bessere Möglichkeiten haben, diese Eitelkeit auszuleben.

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts starben allein in England

mindestens dreitausend Frauen, weil ihre Krinolinen in Brand geraten waren. Oscar Wildes Halbschwestern kamen so ums Leben: Auf einem Ball fing Marys Krinoline Feuer und entfachte das Kleid der zu Hilfe eilenden Emily gleich mit. Beide erlagen ihren Verletzungen. Die riesigen Unterrockgestelle mit Saumumfängen von bis zu acht Metern konnten sich auch in Kutschenrädern oder Maschinen verfangen. Korsetts wurden so eng geschnürt, dass sie Ohnmachtsanfälle, Übelkeit und Verlagerungen von Organen verursachten. Im Humpelrock – nomen est omen: ein langer, Richtung Knöcheln eng zulaufender Rock – kamen Frauen nur in Trippelschritten vorwärts, fielen reihenweise die Treppen hinunter und konnten nicht in Züge einsteigen. Und das alles nur, weil sich alle einig waren darin, eine ausladende Hüfte sowie eine besonders schmale Taille und Silhouette haben zu wollen.

Heutzutage gibt es vielleicht nicht eine ganz so einheitliche Mode, doch natürlich helfen wir alle auf irgendeine Art und Weise nach, um unser Äußeres zu optimieren. Das lässt sich nach aktuellem Stand in vier menschlichen Wünschen und Zielen zusammenfassen:

SICH GRÖSSER MACHEN

Wir beginnen mit einer Ungerechtigkeit im Sinne der Gleichberechtigung: Frauen dürfen heute so hohe Absätze tragen, wie sie wollen, und bis 1730 war das auch bei Männern okay (im weitesten Sinne okay ist es immer noch, aber nicht so gängig wie zum Beispiel zu Zeiten des High-Heel-Königs Louis XIV.) Wie andere Männer damals stand der Sonnenkönig darauf, seine Beine zu betonen, und zwar in weißen Strumpfhosen und mit hohen Hacken: Er und die Adeligen, deren exklusives Recht es war, Absätze zu tragen – je röter und höher, umso adliger –, posierten auch tagelang darin, damit auf den Gemälden die wohlgeformten Waden gut rüberkamen. Da soll bitte noch eine:r über die heutige Jugend und ihren Filterwahn schimpfen!

Von der persischen Kavallerie im 10. Jahrhundert angefangen trugen

Männer Absätze. Doch wenn man heute Tom Cruise in Elevator Shoes oder Emmanuel Macron in Cuban Heels sieht, wird das mit einer Mischung aus Spott und Schadenfreude belächelt: Wenn Männer, die mit so viel Macht beziehungsweise Ruhm ausgestattet sind, sich durch ihre Schuhwahl dennoch im Innersten klein und verletzlich zeigen, wirft das ein höchst menschliches Licht auf sie, wenn auch nicht das schmeichelhafteste. Beide wollen größer wirken: Bei Cruise und seinen Elevator Shoes kommt ein Element des Tricksens hinzu, denn die Absätze darin sind nicht sichtbar. Was Macron und seine

Cuban Heels angeht: Als die Beatles die Chelsea Boots mit kubanischem Absatz in den späten 60er Jahren populär machten, waren die an Coolness nicht zu übertreffen. Klar, weil es um Style ging und nicht darum, sich ein paar Zentimeter dazuzuschummeln.

Deshalb gilt: Absatz gern, unabhängig vom Geschlecht, aber nur weil man Lust darauf hat und nicht Angst, neben der Partnerin oder dem turmhohen Außenminister klein zu wirken.

SICH SCHLANKER (UND/ ODER RUNDER) MACHEN

Ja, beides fällt unter die gleiche Kategorie, denn hier kann man mit figurformender Unterwäsche Erstaunliches erreichen. Spanx ist inzwischen von keinem roten Teppich wegzudenken und eine echte Erfolgsgeschichte: Die Firma wurde im Jahr 2000 mit einem Startkapital von fünftausend US-Dollar gegründet und 2019 mit etwa einer Milliarde Dollar bewertet. Spanx – es gibt inzwischen etliche Nachahmer – ist eine Art fester Strumpfhosenstoff, in den man sich winden und pressen muss, und der dann nicht nur physisch, sondern auch psychisch wirkt: Alles wird ausbügelt und »snatched«, man fühlt sich, als hätte man alles unter Kontrolle und muss nicht den Bauch einziehen, weil das die Unterwäsche schon übernimmt. Auch die Sängerin Adele, die seit ihrem sechzehnten Lebensjahr Spanx trägt, ist ein Fan: »Ich weiß, dass sie nicht sexy sind. Ich

möchte mich eben in all meinen Kleidern sicher fühlen«, sagte sie einmal auf einem roten Teppich, während sie ihr Kleid hochzog und ihre Shapewear enthüllte. Das wiederum wirkt sexy und gelassen: einfach zugeben, dass man gespanxt ist. Wer hingegen Rundungen zaubern will, wo gar keine sind, kann dies auch mit verschiedenen Paddings erreichen: in BHs oder Butt-LiftHöschen. Ist auf jeden Fall sicherer, billiger und nicht so final wie eine OP.

SICH VOLLEREN HAARES MACHEN

Der Anblick von Donald Trump wirft immer noch Fragen auf: Warum ist er so orange? Was macht er da nur mit seinen Haaren? Es ist wissenschaftlich bewiesen, dass das sogenannte Comb-over in hundert Prozent der Fälle schiefgeht! (Womöglich hat Mr. President aber seine eigenen Wissenschaftler auf die Sache angesetzt und die kommen dann vermutlich zu einem alternativen Ergebnis.) Das Comb-over, das Überkämmen, ist eine Art groteske Herrenfrisur, bei der länger gewachsenes Haar über den haarlosen Bereich gelegt wird, um die Kopfhaut weniger sichtbar zu machen. Manchmal wird der Scheitel extra tiefer gelegt, damit mehr Haare den Kopf bedecken können. Wie gesagt: Noch nie hat jemand beim Anblick eines Comb-overs gedacht: »Sieh an, welch volles Haupthaar!«, sondern allerhöchstens, und das ist schon der zugewandteste Fall einer Reaktion: »Sieh an, ein Comb-over!«

Inzwischen gibt es auch die neue Variante: die unnatürlich gerade, wie mit dem Lineal gezogene Haarlinie nach einer Haartransplantation, und/oder sichtbare Plugs. Eitelkeit in Sachen Haare ist nachvollziehbar, tatsächlich setzen auch die meisten weiblichen Stars auf Haarteile, Bondings und Hairtapes, die wunderbar wirken, weil man sie – Achtung, wichtig – nicht sieht! Man darf also schummeln, aber wie IRL gilt auch: nicht erwischt werden.

Ach ja, in Würde altern. So ein stumpfer Allgemeinplatz. Hört sich gut an, sagt aber eigentlich: aufgeben. Ist jetzt eh schon alles egal. Dem Verfall entgegenzuwirken ist ein natürlicher Instinkt, oder, um es mit Goethe zu sagen: »Was ist der Mensch für eine elende Kreatur, wenn er alle Eitelkeit abgelegt hat!« Wenn Eitelkeit die Hauptmotivation ist, auf sich zu achten und nicht aufzugeben, was gibt es denn überhaupt dagegen einzuwenden?

In den sozialen Medien kann man einfach einen Filter drüberlegen: Falten weg, Glow an. Das ist verführerisch, birgt aber auch Gefahren, denn diese Version, die man da sieht, hat nichts mit der im Spiegel oder gar mit der zu tun, wenn man aus Versehen die Frontkamera anmacht und sich von unten sieht. Das kann zu viel Diskrepanz darstellen für ein herkömmliches menschliches Gehirn.

Vielleicht vergleicht man sich sogar mit anderen, und das kann eigentlich nur miserabel enden, denn »Vergleichen ist das Ende des Glücks und der Anfang der Unzufriedenheit«, warnte Søren Kierkegaard schon lange vor Instagram und Co. Am besten lässt sich diese Falle umgehen, indem man die so angesagte »beste Version von sich« anstrebt: Wenn die nicht jung ist, ist sie es eben nicht. Wenn ihr ein harmloser Filter gut zu Gesicht steht: na und?

»Nicht einmal ich wache auf und sehe aus wie Cindy Crawford«, sagte mal Cindy Crawford, und wenn es ums Aussehen geht, haben Supermodels häufig recht. Vielleicht ist es kein Wunder, dass das angesagteste Videospiel des Jahres 2024 »Dress to Impress« heißt: ein Spiel, das eben auch IRL Spaß macht.

Gabi ist mit den Fotos nicht zufrieden. Sie taucht mit geschlossenen Augen unter Wasser und behutsam wieder auf, dabei legt sie ihren Kopf in den Nacken. Ihre schwarzen Haare liegen frisch schimmernd über den akzentuierten Schlüsselbeinen und fließen ihr in einem glatten Strom den Rücken hinunter. Sie zieht das nasse Feinrippunterhemd fest nach unten und strafft es wie eine zweite Haut. Dieses Mal achtet sie sorgfältig darauf, dabei nicht die Sicht auf ihren Po in dem schwarzen Bikinihöschen zu verdecken. Jetzt noch einen Träger verschieben, um die Tanline freizu legen. Nach einem prüfenden Blick auf ihre Brüs te beginnt sie, der Kameralinse verschiedene Posen anzubieten.

Mike bewundert, wie sie die Außenwelt aus blenden kann. Es ist zwar noch früh morgens, aber auf dem Badegerüst am Diana-Felsen ist schon reger Betrieb. Golden Ager absolvieren ihre Morgen routine und schwimmen in kräftigen Zügen dem Horizont entgegen. Ein muskulöses Männchen mit Glatze macht Gymnastik. Es strotzt seinem Alter und bewegt sich wie ein junger Turner. Ein dünner Spargel campiert neben drei Grazien. Er macht einen Annäherungsversuch und platziert seine Gitarre in ihrem Hoheitsgebiet. Dabei wirkt er so sexy wie ein evangelischer Religionslehrer, der fest daran glaubt, die Herzen beim Singen zu gewinnen. Danke für diesen guten Morgen. Danke für diesen neuen Tag. Mike summt ein Lied aus der Schulzeit, wie ein Schatten springt der Text von der Wand seines Unterbewusstseins und tanzt durch seinen Kopf. Danke für diesen guten Morgen. Danke für diesen neuen Tag. Im Rhythmus der Melodie spannt er

Trizeps und Bauchmuskulatur an. Während er Gabi fotografiert, kneift er die Arschbacken zusammen, um bei den jungen Italienerinnen einen günstigen Eindruck zu machen.

Unter die Einheimischen mischen sich die Frühaufsteher aus Hotels, Fremdenzimmern und privaten Unterkünften. Er hört Französisch, Deutsch, Spanisch und Russisch. Die Russen hatte er vorhin schon mit bösen Blicken bestraft. Seit der Invasion in die Ukraine stehen sie bei ihm automatisch unter Generalverdacht. Auf der Treppe zum Wasser entwickelt sich ein Stau. Hinter Gabis Hinterteil reihen sich Badende auf, die unterschiedlich zufrieden in den schwachen Wogen treiben, sich an Gottes Natur erfreuen und geduldig darauf warten, dass sie, also Gabi, die Badeleiter freigibt. Einige Herrschaften scheinen zu hoffen, dass der Augenblick verweilt, Mike wird es latent unangenehm. So ungesittet am Strand, das fühlt sich nicht richtig an. In Spanien und Frankreich sind die Frauen oben ohne. In Albanien sind die Strände menschenleer. In Italien ist das wieder anders. Wieso eigentlich? Der Papst? Die Kirche? Die Sexualmoral? An den alten Griechen oder an den Römern kann es nicht liegen, die haben es bunt getrieben. Sei’s drum. Andere Länder, andere Sitten. Andere Titten, hatte Ludwig immer gesagt, »Andere Länder, andere Titten«. Von wegen Titten. Mike will Gabis Nippelshow beenden und legt sich demonstrativ ins Zeug, Gabi mit einer Bilderflut aus verschiedenen Einstellungen zu befriedigen.

It’s a wrap. Er liegt auf dem Rücken und denkt an das römische Reich. Das Wort Solarium lässt ihn träumen. Solche Begriffe leben in Italien einfach fort. Solarium. Er denkt an die Römer, die hier die griechische Kolonie eroberten. An den römischen Legionär, der Archimedes erschlug.

»Störe meine Kreise nicht«, waren seine letzten Worte. Zu Schulzeiten hatte Mike es geliebt, das Zitat auf dem Pausen hof auszupacken. »Störe meine Kreise nicht, Ludwig!« klingt so viel besser als »Geh scheiß’n, Wiggerl«. Seine Gedanken schlingern. Er bräunt sich gerne. Vitamin D. Außerdem steht es ihm einfach besser. Er ist halt ein südländischer Typ. Bleich geht gar nicht, da sieht er aus wie eine Leiche. Im Winter geht er daher ins Solarium nordischer Art, mit künstlicher Bestrahlung, Augenschutz, Lendenschurz und Zehn-Minuten-Taktung. Unter der Son ne Siziliens gefällt es ihm natürlich viel besser. Er denkt an seine Freunde in Wien, die sich gerade durch herbstliches Sauwetter quälen. Er freut sich tierisch. Da hat es ihn besser getroffen. Wer hätte das damals gedacht, nach der Matura? Seine Kameraden sind grau geworden. Je besser der Noten schnitt, desto schwerer hat es sie erwischt. Sie quälen sich durch ihre Berufe in Kanzleien, Großraumbüros und Kreativ studios. Sie haben Kinder, Autos, Häuser und keinen aufregen den Sex mehr. Sie sind alt geworden. Er ist jung geblieben. Sein Undercut ist frisch rasiert, seine ironischen Tattoos ver mehren sich, seine Haut ist gut geölt und vergilbt nicht. Neben ihm wird Gabi unruhig. Sie fängt an, ihre Sachen zu sammenzulegen und in ihrem Strandbeutel zu verstauen. Mike würde lieber ausgiebig schwimmen gehen, aber er weiß, dass da nichts zu machen ist. Er dreht ihr noch eine Zigarette an, um sich ein bisschen Zeit zu erkaufen. Aber nur die eine, sagt sie. Mit angezogenen Beinen kaut sie Kaugummi und raucht gleichzeitig. Schwermütig blickt er auf das Meer. Die steigende Sonne lässt es glitzern. Er spürt eine Verbindung mit den Zeiten. So schön die Pausen auch sein mögen, Gabi hat ja recht. Sie sind hier zum Arbeiten. Workation

In der Mittagspause gehen sie zum Markt. Schnell treiben sie in einem Touristenstrom, der aus dem Nichts entspringt und sie mitreißt. Gerade waren sie

noch am Apollon-Tempel und haben sich die alten Steine angeschaut, jetzt sind sie Teil einer Herde, die sich selbst durch den Markt schleust. Nicht jeder Stand in der Ladenzeile ist offen, aber drei Marktschreier genügen, um sagenhaften Lärm und Betriebsamkeit zu entfachen. Weil Gabi und Mike einen produktiven Vormittag verbracht haben, lassen sie sich Zeit. Sie halten bei einem Händler, der seine Austern mit Diego Maradona bewirbt und für jede Bestellung einen Plastikbecher Hauswein verspricht. Gabi und Mike sind sich einig: Work hard, play hard. Nach zwei Runden Austern erwähnt Gabi, dass sie heute sonst noch nichts gegessen hatte. Mit dem Wein wird es Mike zunehmend egal, dass er keine italienische Grammatik beherrscht, dass er im Grunde genommen keine zwanzig Worte Italienisch kann. Auf Italo-Spanisch redet er fröhlich auf den Händler und seinen Standnachbarn ein, einen Zwerg, der mit Heilkräutern handelt und einen Dialekt spricht, den außerhalb seines Bergdorfs sowieso niemand versteht. Gabi entschuldigt sich und übergibt sich ein paar Schritte weiter in einer schmalen Seitengasse. Sie wischt sich den Mund mit einer Serviette ab, nimmt einen Schluck Wasser aus der Plastikflasche und kehrt zu den neuen Freunden zurück, als Mike eine dritte Runde Wein mit einer symbolischen Auster bestellen will. Gerade rechtzeitig brüllt sie ihm ins Ohr, was ihr soeben passiert ist und dass sie jetzt gerne den Aperitivo abschließen würde. Nicht mehr ganz so laut fügt sie hinzu, dass es jetzt an der Zeit sei, im Lokal eine schöne Flasche Weißwein zu bestellen. aufreizend flüsternd: einen Grillo. Eiskalt. Mike findet den Vorschlag großartig. Gabi mag zwar eine zierliche Mädchenfrau sein, aber hart im Nehmen ist sie. Das gefällt ihm. Sie lassen sich auf einer Terrasse auf der Marktgasse nieder. Zum Grillo bestellen sie ein Fritto Misto und eine Carbonara di Mare. Interessiert beobachten sie das Treiben: »C’est très touristique«, sagen Franzosen, »Do you have fish?« fragen Amerikaner den Kellner, der zwischen Fischauslage und Frutti-di-

Mare-Dekoration steht. Untereinander unterhalten sie sich aus ufernd über ihre »Gelato«-Erfahrung. Die Deutschen schweigen, um nicht als Touristen aufzufallen. Sie spielen Italiener, die Rolle ihres Lebens, und glauben, sie fallen nicht auf.

Dann teilt sich das Meer und ein Kreuzfahrtschiff-Kapitän tritt auf die Bühne. »Capitano Schettino auf Freigang«, scherzt Mike. Der Herr der Meere stolziert in seiner schneeweißen Galauniform umher und versucht, den Mädchen schöne Augen zu machen. Auch Ga bi steuert er an, die seine Blicke nicht nur erwidert, sie fixiert ihn geradezu, leckt mit ihrer Zungenspitze über ihre Oberlippe und überschlägt die Beine so langsam, dass er ihr Höschen mehrere Semester studieren könnte. Nervös dreht Schettino ab. Mike und Gabi lachen herzlich und be stellen sich jeweils noch ein Glas Weißwein. Weil es halt so schön ist.

Das Gefängnis von Bourbon liegt verlassen neben dem Markt am Rande von Graziella, dem ehemaligen Fischerviertel, wo die Kleinkriminellen in Ruhestand gegangen sind und Leute aus dem Norden ein Häuschen erworben haben, die nun ihrerseits im Rentenalter den Süden gentrifizieren. Die Lage und die Dimensionen des freistehenden Objekts sind spek takulär. Der Grundriss ist ein Rechteck mit einer Seiten länge von vierzig mal fünfundvierzig Metern. Die dreistöckige Ruine erreicht eine Höhe von fünfundzwanzig Metern. Es wurde 1854 fertiggestellt und war zeitweise eines der modernsten und fortschrittlichsten Gefängnisse in Europa, bis es das Erdbeben Santa Lucia 1990 aus dem Dienst beförderte. Die Einheimischen nennen es »Casa cu n’occhiu« (Haus mit einem Auge), da es nach den Prinzipien des britischen Philosophen Jeremy Bentham geplant wurde. Eine polygonale Struktur mit einem Wachturm

in der Mitte ermöglichte dem Aufseher ständige Kontrolle, ohne dass die Insassen bemerkten, dass sie beobachtet

Mike braucht nicht viel Fantasie, um das Potenzial zu erkennen. Weißwein zum Mittagessen und ein geschulter Blick in die unmittelbare Nachbarschaft genügen: Es sind nur wenige Meter vom Markt. Die Yachten der Gäste könnten gleich dahinter im Hafen anlegen. In der Ferne reihen sich die Basilica Santuario Madonna delle Lacrime und der Etna am Horizont vor der Bucht auf. Den makellosen Meerblick stört nur die Parkgarage, mit einer Begrünung könnte man das Problem aber ästhetisch lösen und sich zudem ein ökologisches Image verschaffen. Vielleicht sogar eine Sehenswürdigkeit schaffen und einen Kakteenpark platzieren, der die Anlagen auf Ischia oder Lanzarote alt aussehen lässt? Mit den richtigen Mitteln sollte es auch möglich sein, einen Beachclub am Dock zu installieren. Dort könnten die Gäste direkt mit ihren Beibooten ankommen. Und durch einen Tunnel in das Hotel gelangen, abgeschirmt von der Außenwelt. Hollywood will nicht gesehen werden. Hotel Pannottico. A Luxury Resort. Mikes Begeisterung kennt keine

Erst als sie durch ein Loch im rostigen Stahlzaun klettern, bemerken Mike und Gabi die beiden französischen Geschäftsmänner, die sich auch Zutritt zu dem Areal verschafft haben und sich angeregt, von Geldströmen und Reichtümern halluzinierend, unterhalten. Sie sind sicherlich nicht die ersten Immobilienentwickler, die die Beute wittern und hier herumdelirieren. In ihren gut betuchten Anzügen und den akkurat gescheitelten, geföhnten Frisuren wirken sie wie Boten aus einer anderen Welt.

Grußlos und entschlossen geht Mike an den beiden Haifischen vorbei zum Haupttor. Gabi wiegt kurz

ihre Hüften für die Frenchies, dann beginnt sie, vorsichtig über Scherben und Schutt tippelnd, Mike zu folgen. Er ist ungewöhnlich unruhig. Eigentlich mag er Lost Places und den speziellen Nervenkitzel, der sich dort einstellt. Der Location-Check im leerstehenden Gefängnis lässt ihn schaudern. Was für Verbrechen mochten die Insassen wohl begangen haben? Wen diese Wände eingesperrt haben, um die Gesellschaft zu schützen? Wer sonst geht durch das Tor ein und aus, seitdem es ausgehängt ist und offensteht? Mit tiefen Atemzügen kann er das Ohnmachtsgefühl überwinden und zwängt sich durch den offenen Türspalt ins Innere. Im gedämpften Licht tappt er einige Meter in das Gebäude, bevor er an einer Stelle stehen bleibt, von der Durchbrüche in Räume führen, die wiederum in andere Räume führen, die in andere Räume führen. Er schaltet seine Handytaschenlampe an und mustert die unübersichtliche Lage. Vor ihm führt der Flur wahrscheinlich zum Treppenhaus. Links fühlt sich besser an. Wegen des direkten Tageslichtein falls wirkt es weniger unheimlich. Er klettert über Müll und Geröll in den ersten Raum. Am Boden befinden sich Spuren eines Lagerfeuers. Leere Konservendosen und Bierflaschen sind in einer Ecke verteilt. An der Wand entdeckt er ein Graffito: »SEMBRA CHE HO IL CA**O LUNGO 1m«. Daneben illustriert ein Riesenschwanz den Spruch. Mike muss schmunzeln. Für diesen Hinweis reicht sein Italienisch. Geräusche lassen ihn aufschrecken. Hinter ihm ist jemand. Ruckartig fährt er um sich und sieht, wie Gabi sich in den Raum tastet. Erleichtert atmet er auf. Ach, du bist es – für Location-Checks solltest du vielleicht besser keine Stöckelschuhe tragen. Schau dir das Graffito an, da steht »Es scheint, dass ich einen meterlangen Schwanz habe«. Auch das Tageslicht ist super hier. Er lacht. Da könnte man schon was machen, oder? Gabi nickt pas siv. Sie teilt seine Leidenschaft für Ruinenbege

hungen nicht, folgt ihm aber, schließlich sind sie ein Team und der Erfolg spricht für sich. Dort, wo er hofft, etwas zu entdecken, fürchtet sie sich aber insgeheim davor, etwas zu entdecken.

Und dann hören sie Geräusche. Woher sie kommen, können sie nicht feststellen. Verstört schauen sie in alle Richtungen. Dabei sehen sie aus wie zwei Rehe im Scheinwerferlicht eines Autos, das sie im nächsten Augenblick überfahren wird. Fallen im ersten Stock Katzen fauchend übereinander her, sind es Seufzer aus der Vergangenheit, oder ist es nur die Meeresbrise, welche die Ruine klappern lässt? Will man die Ursache überhaupt kennen? Raus hier, flüstert Gabi. Ja genug, wir sind fertig hier, lass uns Kaffeetrinken gehen. Mike versucht, lässig zu bleiben, dabei hat er Angst vor seinem eigenen Schatten.

After Work. Mike und Gabi unternehmen eine Bootsexkursion. Ihre Kollegin Rosa hat empfohlen, mit einem umgerüsteten Fischerboot einen Ausflug an die Küste der Isola di Siracusa zu machen. Sie treffen sich am Hafen. Rosa sieht großartig aus, ihre dicken, braunen Locken springen in Spiralen in alle Himmelsrichtungen, in der Mitte ihr fröhliches Gesicht mit den smaragdgrünen Augen. Ihr Badeanzug hat einen tiefen Rückenausschnitt und legt ein schönes Muster Muttermale frei, darüber trägt sie eine knappe Jeansshorts. Mike kann ihr partout nicht zustimmen, nein, ihre Zwillinge haben diesen Körper nicht zerstört. Gemeinsam gehen sie an Bord. Rosa hat sie auf die Gästeliste gesetzt, daher können sie ohne Fahrschein passieren. Sie steigen über eine Leiter auf Deck und suchen sich einen Platz. Gabi legt sich in eine Hängematte, die parallel zur Reling gespannt ist. Rosa und Mike sitzen auf bunten Campingstühlen. Gemeinsam bilden sie einen geschlossenen Kreis. Das Boot legt ab. Im Seegang baumelt Gabi metronomisch in der

Hängematte. Die Sonnenbrille steht ihr schief im Gesicht und sie wirkt etwas zerzaust. Sie erklärt Rosa, dass sich das ja schon beinahe wie die Black Mamba anfühlt, ein Fahrgeschäft auf dem Prater, und schlägt vor, besser eine Flasche Weißwein zu bestellen, so sei das ja nicht auszuhalten. Mike geht unter Deck, um den Wein, drei Plastikgläser und einen Kühler zu holen. Auf dem Weg mustert er die restlichen Passagiere. Zwei Familien haben ein größeres Camp errichtet. Die beiden Buben daddeln am Smartphone. Die Eltern unterhalten sich laut und leider auf Deutsch. In Berlin sind Herbstferien. Investment-Talk. Um das zu unterstreichen, trägt eine Frau sogar ein T-Shirt mit der Aufschrift »BITCOIN«. Starkes Statement, denkt sich Mike. Und fragt sich, ob wohl ihre Kinder ihren Körper auf dem Ge wissen haben oder sie schon immer ein Nilpferd war? Body shaming. Mike schämt sich. Manche Dinge erträgt er einfach nicht und fährt aus seiner Haut. Nicht okay. Kinderlärm ist so ein Trigger. Oder Unordnung. Offene Schranktüren, der falsche Tisch im richtigen Restaurant oder dieses lässige Genie der BITCOIN-Bros. Die Kryptokumpels spüren seine Feindselig keit nicht und rufen sich ungehemmt weitere Buzzwords zu, während sie Flaschenbier trinken. In der Hängematte neben ihnen schläft ein Typ. Mike benei det seine Gelassenheit und nimmt sich vor, sich eine Scheibe davon abzuschneiden. Während er den Wein einschenkt, kommt er aus seinen Gedanken zurück und versucht sich aus den Bruchstücken des Gesprächs der Ladys einen Reim zu machen. Rosa erklärt: Wer laufen konnte, hat Sizilien verlassen. Zurück bleiben nur die, die es nicht geschafft haben zu fliehen. Oder die in die Unterwelt gehen. Selbst die Nymphe Arethusa hat dort, durch ihren unterirdischen Flussverlauf, weitreichende Verbindungen. Gabi lacht etwas zu laut. Mike merkt, dass sie auch keinen Schimmer hat, was das mit Nymphen zu tun hat. Rosa führt aus, dass leider auch nur diejenigen hinzukommen und sich hier

ansiedeln, die aus guten Gründen vor ihrer Heimat fliehen und brain drain mit ihren zweifelhaften Biographien schwer auffangen können. Sobald sie also laufen kann, sobald ihre zwölfjährigen Zwillinge volljährig sind, wird auch sie weg sein. Das hat sie sich geschworen. Sie würde am liebsten nach New York ziehen. Aber auch Wien interessiert sie, ob es denn stimmt, dass dort die Lebensqualität so hoch sei, jedes Jahr wieder liest sie in der Zeitung diese Liste der lebenswertesten Städte und fragt sich, was das bedeuten mag, lebenswert.

Mike verteilt die Gläser. Erst jetzt bemerkt Rosa ihn, unter der kubistischen Sonnenbrille erröten ihre Wangen. Sie besinnt sich darauf, Berufliches von Privatem zu trennen, und lenkt das Gespräch zum Immobilienmarkt und seinen lokalen Eigenheiten. Dafür zeigt sie auf die Küstenlinie von Isola, an der sie, weniger als vierhundert Metern entfernt, entlangschippern. Seht her, genau genommen ist es ein Naturschutzgebiet. Bebaut ist es ja offensichtlich trotzdem. Wie man gut sehen kann. Aus der Vogelperspektive, vom Land und vom Wasser. Noch besser: ohne Auflagen! Keine Einschränkungen. Illegal, scheißegal. Ihr solltet euch die verlassene Ferienanlage an der Punta della Mola ansehen. Diese Ruinen warten auf eine Inszenierung. Sie zwinkert den beiden zu. Seht ihr den Pool da? Mike und Gabi folgen ihrem Zeigefinger mit den Augen: An einer Klippe hängt das Kopfende eines Schwimmbeckens. Die Kante ist unter der Last eingeknickt, ein Teil des Pools ist mit ihr abgebrochen und abgestürzt. Hinter dem ausgetrockneten, zerbrochenen Becken krallt sich die Villa auf dem Felsen fest und verteidigt Träume mit Meerblick. So sieht ein Infinitypool aus, wenn man den richtigen Fixer kennt. Das sollte das Symbol Siziliens sein, das auf die Flagge gehört. Nicht diese dreibeinige Gestalt, aus deren Vagina ein Kopf rausschaut. Sie ankern vor der Küste und hängen die Badeleiter ins Wasser. Als Mike die Planke betritt, hat er noch immer das

Wort Vagina in seinen Ohren, genau so, wie es Rosa mit ihrem breiten italienischen Akzent auf Englisch über die Lippen kam. Vagina. Er federt im Seegang auf und ab. Vagina. Am höchsten Punkt springt er ab und setzt einen makel losen Köpfer an. Splash. Vagina. Wieder an Deck holt er die zweite Flasche Wein. Auf Deck legt ein DJ ItaloDisco und Ibiza-House auf. Die BITCOIN-Bros und -Schwestern tanzen losgelöst. Als Donatella Milanis »Ci Stai?« angespielt wird, zieht Rosa Mike aus der Hängematte, um Gabi und ihr zu folgen. Barfuß und in nasser Badekleidung kreisen sie tanzend um sich. Rosa erwischt Mike, wie er sie beobachtet, mit softer Begier. Sie lächelt ihn an, dann dreht sie sich weiter und schreit den Refrain über das Ionische Meer in den Nahen Osten. Der DJ liest die Signale. Als Nächstes erklingt eine Hymne von Rihanna, Rosa und Gabi explodieren gleich zeitig. Sie liegen sich in den Armen und schmettern: » I didn’t mean to hurt him / Coulda been somebody’s son / And I took his heart when I pulled out that gun / Rum-pumpum-pum / Rum-pum-pum-pum / Rum-pum-pum-pum / Man down …«

Mikes Seele ist in Schwingung. Damit angefangen hatte sie, als sie in der Abenddämmerung nach Ortygia zurück gekehrt waren. Vor der Hafeneinfahrt lag ein Boot der zi vilen Seerettung mit spanischer Flagge. Unweit von zwei italienischen Fregatten. Im Westen ging die rote Sonne über Isola unter, im Osten flog ein Schwarm Stare fantastische Formationen über der ArethusaQuelle. An der Promenade standen Paare. Ineinander verschlungen blickten sie auf den Sonnenuntergang oder fotografierten sich gegenseitig. Wenig später liegt das Boot im Hafen vertäut. Rosa hat sich mit einem flüchtigen Kuss auf die Wangen

von Gabi und Mike verabschiedet und ist mit ihrem Scooter losgeknattert. In dem Tempo wird sie eine Weile brauchen, um über die Landstraße nach Augusta zu gelangen, um bei ihren Eltern das Abendessen und Ratschläge fürs Leben zu bekommen, die Zwillinge mit nach Hause zu nehmen und ins Bett zu stecken. Mike und Gabi sitzen vor einer Bar an der Arethusa-Quelle und starren in das Lichtspiel, das die rote Sonne in der Abenddämmerung hinterließ. Wieder ein Tag weniger auf der Erde. Gerade hatte Mike die Nachricht erhalten, dass sein bester Freund Vater geworden war. Baby geht’s gut. Frau geht’s gut. Alles gut. Schon wieder verpasst Mike etwas Monumentales, weil er auf Dienstreise ist. Ein afrikanischer Straßenhändler spürt sein plötzliches Unglück und tut das, was ihn das Leben gelehrt hat: Er macht das Beste draus und macht geschäftliche Avancen. Diese Powerbank porta fortuna! Echt, die Powerbank bringt Glück? Aber ja doch! Lachend gibt Mike ihm einen Euro. Der Afrikaner lächelt ihn breit an und zieht weiter.

Vor ihnen hält eine zur Rikscha umgerüstete Ape. Auf der Rückbank sitzen zwei amerikanische Senioren in amerikanischen Seniorenuniformen: Er trägt dieses Granddaddy-Nike-Modell, Bermudas und ein weites Polohemd. Sie eine kurze Leggings, ON-Turnschuhe, ein Trägershirt und eine Schirmmütze, die ihren Fahrer wie einen Golf-Caddy aussehen lassen würde, wenn er nicht so vor Sprezzatura strotzen würde. Mit der Sonnenbrille in den zurückgegelten Haaren beugt er sich über sein Telefon und spricht lange auf Italienisch hinein. Als er fertig ist, dreht er sich zu seinen Passagieren auf der Rückbank und lässt die englische Übersetzung abspielen: Arethusa war einst eine wunderschöne Nymphe, die sich gern der Jagd und dem Sport hingab. An einem hei-

ßen, sonnigen Tag stieg sie in den Fluss Alpheios, um darin zu baden. Dabei wurde sie von dem gleichnamigen Flussgott überrascht und bedrängt. Auf ihrer Flucht konnte Arethusa die Göttin Artemis um Hilfe bitten. Artemis verwandelte die verzweifelte Nymphe in eine Quelle, deren Bächlein unter der Peloponnes und unter dem Meer hindurchfloss und auf der Halbinsel Ortygia, einem Teil von Syrakus, wieder austrat. Die weibliche Maschinenstimme wird von einem Anruf unterbrochen, den der Fremdenführer auf Lautsprecher entgegennimmt. Pronto! Er dreht das Zündschloss und tuckert, einhändig lenkend, einhändig telefonierend, mit seinen Touristen ab. Auf dem Heck der Ape ist eine Werbetafel montiert: Ortygia Ape Experience. Touren in allen Sprachen!

Gabi war müde und ist schon allein ins Apartment gewankt. Nach dem Saufen in der Sonne hat sie der Campari-Soda paniert und sie bekam die Bootsfahrt nicht mehr aus den Beinen. Anders Mike, der jetzt voll in Fahrt ist, wie in einer Schiffschaukel überschlägt sich seine Freude. Niemand kann diese Kräfte bremsen, sie müssen sich auspendeln oder abstürzen. Seine Prozession führt ihn zu einem Lebensmittelladen bei der Cala Rossa, der am Lungo mare drei Tische aufgestellt hat und dort abends kaltes Bier in Flaschen verkauft. Der Sohn der Besitzerin grüßt den hungrigen Wolf wie einen alten Freund und stellt ihm eine große Flasche Moretti hin. Mopeds und Fußgänger machen den Corso, wirklich jeder Einheimische grüßt den Händler, er antwortet mit Handzeichen, es ist ihm sichtlich unangenehm. Dorfdepp? Maskottchen? Mit mildem Blick und Achselzucken scheint er Mikes Gedanken zu kommentieren. Das Bier ist eine herrliche Erfrischung, Mike nimmt zwei tiefe Schlucke und ist wiederhergestellt. Neben ihm sitzt ein Spanier von der Seerettung. Der Print auf der Brust seines Achselshirts stellt klar, dass es sich bei ihm um einen echten Antifaschisten handelt. Ein antifaschistischer Matrose also, der gerade versucht, bei zwei jungen Amerikanerinnen einen Stich zu machen, indem er

ihnen erklärt, wie man den Nahostkonflikt lösen kann. Um mit einem Ohr zu lauschen, muss Mike nur leise trinken. Was er da zu hören bekommt, überrascht ihn wenig: postkolonialer Freiheitskampf. Israelischer Genozid. Westliche Unterdrückung. Palästinensische Opfer. Unterkomplexe Zusammenhänge und inkohärente Argumentation. Na ja, denkt sich Mike, dieser Manolo ist halt nicht die hellste Leuchte. Komisch, eigentlich verträgt er keine dummdreisten, antisemitischen Aktivisten. Erst neulich musste er in Wien seine Dealerin canceln, weil sie auf Instagram ständig würdelose Lügen und Hetze verbreitet hat. Schweren Herzens, das schon, aber Anstand und Moral waren ihm wichtiger als Kokain und Ecstasy. Mit Manolo verhält es sich anders: Mike ist ein wenig eifersüchtig. Menschen vor dem Ertrinken retten. Humanismus gegen globale Ungerechtigkeit. Das macht Sinn. Manolos Leben hat einen Zweck. Sein Beruf ist seine Berufung. Manolo muss keinen Ablass betreiben, keine Spenden tätigen, keine Almosen verteilen. Manolo schläft auch so gut.

Mike hat enorme Kopfschmerzen. Sein Schädel steht unter Hochdruck. Er braucht einen Augenblick, um das Zimmer zu erkennen, in dem er gerade aufwacht und sich bemüht, die Augen offenzuhalten. Wie war er nach Hause gekommen? Warum liegt er in einem nassen Bett? Sein Körper brennt. Er entdeckt Schürfwunden am rechten Unterarm, einen blauen Fleck am Oberschenkel und angeschwollene Kratzer am Knöchel. Seine Haut ist salzig. Mit diesen Indizien kommen die Erinnerungsfetzen zögerlich an die Oberfläche. Er war im Mondlicht schwimmen. Vollmond. Er war eins mit dem Meer. Es drang in ihn ein. Sein Rauschen drang in ihn ein. Schwerelos. Sorgenfrei. Mit jedem Tauchgang wollte er länger unter Wasser bleiben. Er drang in das Meer ein. Sein Rausch drang in das Meer ein. Als er am Ende aus dem Wasser steigen wollte, warf ihn der Seegang gegen die Wellenbrecher. Oder der Rausch. Er hatte den Aufprall kaum gespürt.

Nachricht von Gabi: Wo bleibst du, Hase? Heute letzter Tag. Raus aus dem Bett! Mike schlurft in die Küche. Er bereitet Kaffee und schluckt eine Achthundert-Milligramm-Ibuprofen mit einem Glas heißem, abgekochtem Wasser. Gestern war geil, heute fühlt sich Mike wie in einer leeren Badewanne, aus der gerade das Wasser abgeflossen ist. Unbehagen.

Er startet seine Morgenroutine: Frühstück – Proteinsha ke für den Body – Liegestützen und Sit-ups, Typ Käfig kämpfer – und greift dann nach seiner Badekleidung, um zur Plattform am Felsen aufzubrechen. Blitzartig erinnert er sich an den Spanier. Er packt seine Bade sachen, um im Meer zu schwimmen, in dem Menschen ertrinken. Was für Spaßbremsen. Er wirft die Badetasche über die Schulter und öffnet die Tür. Eine diffuse Ahnung hält ihn zurück und lässt ihn kehrtmachen. Mike klappt hastig seinen Laptop auf. Wo sind die Dateien? Schlag artig friert er. Zum ersten Mal in Sizilien. WO sind die Dateien? Der Ordner ist leer. Okay. Mike versucht, nicht panisch zu werden. Er holt die Speicherkarte und stochert sie in den Eingang. Kalter Schweiß auf der Stirn. Shit, auch der Speicher ist leer. Natürlich ist er leer, er hat ihn gestern selbst gelöscht. Als er aufspringt, um seinen Kopf gegen die Wand zu schlagen, rutscht ihm die Badetasche vom Arm. Er knallt seinen Kopf frontal gegen die Fliesen. Ein mal. Zweimal. Dreimal. FUCK. Obwohl der Schmerz ihm Linderung bringt, hört er auf, bevor seine Stirn aufplatzt. Stattdessen schmeißt er einen Stuhl durch die Wohnung und räumt die Plastikdecke in einem Zug vom Tisch ab. Der Laptop fliegt auf den Boden. Unbeirrt reißt er ein kleines Ölgemälde, ein naives Stillleben, von der Wand, um es an die gegenüberliegende Wand zu schleudern. FUCK. Was für ein Fiasko. Die Arbeit von fünf Tagen: verloren. Volle fünf Tage Produktion: futsch. Zehn tausend Euro: pulverisiert. FUCK FUCK FUCK. Be

bend holt er sich einen Beutel Eis aus dem Eisfach, um seine Stirn zu kühlen. Mühsam beruhigt er sich. Er zwingt sich, vorwärts zu denken. Was bleibt ihm auch anderes übrig?

Er muss den Flug umbuchen und das Airbnb verlängern. Sofern es nicht schon vermietet ist. Und er muss wieder ran: acht Stunden Sex mindestens. Ob Rosa überhaupt Zeit hat, nochmal den Dreier zu drehen? Sie muss sich doch unter der Woche um ihre Zwillinge kümmern. Okay, zur Not kann sie sie mitbringen und sie sollen im Nebenzimmer spielen. Wichtiger ist, dass sie ihnen eine Rabatt gibt oder es am besten umsonst macht. Das Budget reicht nicht mehr. Niemals. Cazzo. Sein Schwanz hat sich gerade erholt. Schon beim Gedanken zu ficken, zieht es ihm die Hoden zusammen. Unbezahlte Überstunden tun weh.

Ein reflektiertes Gespräch

Von Identitätsfindungsfragen und Abgrenzungsproblemen eines Spiegels – ein Who’s Who im Badezimmer.

T Ian Chillag

I Ian S Spiegel

I Stell dich doch mal vor.

S Okay, also … wie heißt du?

I Mein Name ist Ian.

S Mein Name ist Ian. Ich bin ein Spiegel.

I Sagst du nur, dass du Ian heißt, weil ich Ian heiße?

S Nun, ich bin mir nicht sicher, wie ich sonst heißen würde.

I Wenn ich sagen würde, dass ich Jennifer heiße?

S Ich heiße Jennifer!

I Und wenn niemand vor dir stünde?

S Dann würde ich ja nicht reden.

I Also spiegelst du immer etwas wider. Fühlst du dich dann auch so wie das, was du spiegelst?

S Ich denke schon. Oberflächlich zumindest, aber ich fühle mich nicht komplett so, wenn das Sinn ergibt. Im Moment zum Beispiel fühle ich mich irgendwie wie du, aber ich habe keine deiner Erinnerungen, und was du gefrühstückt hast, weiß ich auch nicht. Ich fühle mich einfach genauso wie du in diesem Moment.

I Ich habe einen Bagel gegessen.

S O, interessant. Ich glaube, ich habe noch nie einen gesehen. Einmal einen umgekehrten.

I Ich hätte gedacht, dass ein Bagel aus jeder Richtung gleich aussieht? Also auch im Spiegelbild.

S Diese Richtung war von unten nach oben: aus einem Menschen wieder hervortretend.

I Spürst du, was ich für dich empfinde? Denn im Moment konzentriere ich mich hauptsächlich auf dich.

S Ich bin mir nicht sicher, ob es deine Gefühle für mich oder deine Gefühle für dich selbst sind.

I Ich denke, ich mag dich.

S Ich denke, ich mag dich auch.

I Aber vielleicht spiegelst du nur meine Zuneigung zu dir wider. Spürst du, was von beidem der Fall ist?

S Noch nie zuvor hat mir jemand so viele Fragen gestellt.

I Fühlt es sich komisch an?

S Ein bisschen. Ich möchte dir auch ein paar Fragen stellen.

I Leg los.

S Wie läuft dein Tag?

I So weit, so gut.

S Geht mir genauso. Magst du Koriander?

I Klar.

S Ich auch. Weißt du, was Vampire sind?

I Ja. Warum fragst du?

S Ich habe noch nie einen gesehen. Wann hast du zum ersten Mal einen Spiegel gesehen?

I Ob ich mich daran erinnern kann? Nun ja, neulich habe ich darüber nachgedacht, wie ich als Kind besessen davon war, ins Badezimmer meiner Eltern zu gehen und die Spiegel so gegeneinander auszurichten, dass sie sich jeweils reflektierten und ich einen langen Spiegeltunnel sah, in dem ich mich bis ins Unendliche sehen konnte.

S Wow. Ich würde sagen, ich erinnere mich auch daran, aber das tue ich nicht. Ich glaube, als Kind war ich genauso wie jetzt. Und mir ist nichts passiert, was mir nicht immer noch passiert. Ich war schon immer in diesem Badezimmer, in diesem Restaurant.

I Ich möchte gern noch mehr darüber wissen, wo du bist. Bist du der einzige Spiegel im Badezimmer?

S Ich habe hier noch keinen anderen Spiegel gesehen. Ich starre eigentlich nur die Wand an.

I Wird dir das nicht langweilig? Du bist ja an Ort und Stelle fixiert. Langweilt es dich nicht, immer wieder auf die gegenüberliegende Wand zu starren?

S Mich langweilt es immer wieder, wie die gegenüberliegende Wand auszusehen. Ihr ähnele ich am meisten. Aber die Wand erinnert mich auch immer wieder daran, dass ich nicht so bin wie sie.

I Wie meinst du das?

S Die Wand bleibt gleich, aber ich muss mich verändern und ich kann nicht entscheiden, wann ich mich verändere. Bleibst du immer dieselbe Person?

I Eigentlich ja. Du nicht?

S Ich bin nie eine Person.

I Stimmt auch wieder.

S Was machst du in deiner Freizeit?

I Ich wusste noch nie, was ich auf diese Frage antworten soll.

S Wie fühlt sich eine Dusche an? Denken Babys? Warum tut man überhaupt irgendetwas? Erinnere ich dich an irgendjemanden?

I Ähm, ja, also im Moment erinnerst du mich wohl an mich.

S Du erinnerst mich auch an mich.

I Wenn dich nicht gerade die Wand anstarrt, starren dich Menschen an.

S Das kann ich so bestätigen.

I Wie würdest du uns Menschen beschreiben?

S Ein Kopf mit Gesicht. Einen Rumpf. Und Arme.

I Und Beine.

S Das kann ich so nicht bestätigen.

I Ich schätze, du siehst die Leute nur von der Hüfte aufwärts. Hättest du mal Lust, ein Paar Beine zu sehen? Ich könnte dir meine Beine zeigen.

S Klar. Die müssen schon etwas Besonderes sein, wenn du sie so ausdrücklich erwähnst.

I Also gut. Hier sind sie. Das sind meine Beine.

S Ich glaube nicht, dass ich sie mag.

I Du magst meine Beine nicht.

S Sollen sie so aussehen? Als wären da Knochen, aber auch keine.

I Irgendwie schon.

S Also für mich ergeben die Linien keinen Sinn. Und ich glaube, ich sehe jetzt auch aus wie Beine.

I Tja.

S Vielleicht ist es auch nicht so schlimm, Beine zu sein. Ich bin Beine. Was hab ich da an den Enden?

I Das sind Füße. Es sind die Hände der Beine.

S Das sind keine Hände. Ich habe schon viele Hände gesehen und das sind keine Hände. Macht man da die Rollschuhe dran?

I Ja. Warum fragst du?

S Ich mag keine Rollschuhe.

I Stimmt es, dass es sieben Jahre Unglück bringt, einen Spiegel zu zerbrechen?

S Also, für mich wären es definitiv sieben Jahre Unglück. Wahrscheinlich mehr. Das nimmt man nicht so leicht als Spiegel.

I Spiegel kann man nicht wirklich wieder zusammensetzen. Aber du könntest eine Discokugel werden.

S So wie Menschen zu einem Baum werden können.

I Wie bitte?

S Ja. Ich habe mal jemanden hier reinkommen hören, der sagte, dass er nach seinem Tod zu einem Baum werden wollte. Ist aber auch egal, ich möchte eine Discokugel werden, sollte ich jemals zerbrechen.

I Erzähl doch mal die Geschichte vom Vogel, der ins Badezimmer kam.

S O ja. O, das war einer der schönsten Tage meines Lebens. Der Vogel kam rein, und es war echt gruselig, weil er viel schneller

war als alles, was vorher hier gewesen war. Und er flog so wild herum, aber dann sah er mich, und ich glaube, ja, wir haben uns verliebt.

I Du hast dich in einen Vogel verliebt?

S Ja. Also, ich schätze, der Vogel hat sich in mich verliebt und dann habe ich mich in ihn verliebt.

I Ich möchte jetzt nicht deine Beziehung infrage stellen, aber ich habe mal gelesen, dass Vögel, weil sie kein Konzept ihrer selbst haben, denken, wenn sie sich im Spiegel sehen, sei es ein anderer Vogel.

S Bei uns war das anders. Wahre Liebe. Das konnte ich spüren.

I Wann wusstest du, dass du verliebt warst?

S Er blieb direkt vor mir stehen, stellte sich auf den Rand des Waschbeckens und sah mich einfach so an, wie mich noch nie jemand angeschaut hat. Er flatterte mit den Flügeln, und es war um mich geschehen. Dann kam dieses kleine Kind herein und drehte durch. Mehr Leute kamen und der Vogel flog weg. Ich sah ihn nie wieder.

I Denkst du oft an den Vogel?

S Ja, immer wenn das Licht ausgeht.

I Wir reden jetzt schon eine Weile, und ich habe die ganze Zeit irgendwie in mein eigenes Gesicht gestarrt. So lange habe ich mich wahrscheinlich noch nie angeschaut.

S Wie war das für dich?

I Es geht eigentlich. Seltsamerweise habe ich gedacht, dass du du bist, obwohl es mein Gesicht ist.

S Fühlt es sich komisch an? Fühlt es sich an, als würdest du verrückt werden?

I Ein bisschen schon. Als hätte ich mir das alles nur eingebildet, als hättest du gar nicht mit mir geredet. Als hätte ich nur mit mir

selbst geredet und mir vorgestellt, dass du es bist.

S Schon möglich.

I Werden wir es jemals wissen können?

S Wir werden es niemals wissen können.

I Wenn ich die Fragen gestellt habe und dann auch die Fragen beantwortet habe mit dem Gedanken, dass du es bist, war es doch eigentlich ich.

S Und wenn ich die Fragen gestellt habe und dachte, ich sei du, aber in Wirklichkeit war ich es?

I Was, wenn einer von uns nicht real ist?

S Woher weiß ich, dass es überhaupt Menschen gibt? Vielleicht habe ich mir einfach ein Wesen namens Mensch ausgedacht und stelle mir ab und zu vor, wie einer dieser Menschen hier reinkommt. Vielleicht habe ich mir nur deine Beine eingebildet, weil mir langweilig war.

I Das glaube ich jetzt nicht.

S Ich glaube es auch nicht.

I Was?

S Ich glaube es auch nicht.

I Und wenn ich mir alles nur eingebildet habe? Was, wenn nie jemand mit mir gesprochen hat? Was, wenn wir tatsächlich allein sind? Wenn das alles nur in meinem Kopf stattgefunden hat?

S Wovon redest du?

I Noch nie zuvor hat mir jemand so viele Fragen gestellt.

Im Spiegel

Martina Borsche

Eigentlich wollte man doch nur einen Spiegel kaufen. Möglichst billig, möglichst umweltfreundlich – gebraucht. Lokal. Man besucht die lokalen OnlineMarktplätze. Und dort wollten sie doch nur einen Spiegel verkaufen. Aber mit dem Privatverkauf von Spiegeln wird viel mehr zur Schau gestellt als das, was verkauft wird. Den meisten Verkäufer:innen scheint ihre Privatsphäre doch ein Anliegen zu sein, was sie zu gymnastischen Verrenkungen und improvisierten Verkleidungen verleitet. Andere, scheinbar gelangweilt, gewähren missmutig ihren neugierigen Handys einen Blick. Verkaufende Künstler:innen geben sich wiederum große Mühe, mit ihrem Spiegel surreale Landschaften zu erschaffen, in denen man als potenzielle Käufer:in nach dem Objekt suchen muss. Manche der Verkäufer:innen vervielfältigen hierbei ihre Gesichter in einem Kaleidoskop von Spiegelungen. Exhibitionistisch Veranlagte stellen dabei nicht nur den Spiegel, sondern auch ganz ungeniert ihre Vorzüge zur Schau. Alles für einen schnellen Umsatz. Dies sind die Schnappschüsse, die wirklich tiefe Einblicke gewähren. Vieles lässt sich aus der Spiegelwelt erahnen, und dabei kann man als Käufer:in schnell eine Backstory zu den jeweiligen Verkäufer:innen bauen: Der tätowierte, oberkörperfreie Kerl, dessen Zigarette lässig

an seiner Unterlippe baumelt, während er auf seinem Handy spielt, bemerkt wohl schon lange die Sorgen seiner Partnerin nicht mehr. Diese, frisch geduscht, hat plötzlich erkannt, dass der Verkauf des runden Spiegels, der eh nie aufgehängt wurde, seitdem sie zusammengezogen sind, der erste Schritt zur wirtschaftlichen Unabhängigkeit sein könnte. In einem anderen Leben scheint nur der Hund bemerkt zu haben, dass der Teppich, auf dem der angebotene Spiegel steht, von Hundekot übersät ist. Das zeigt sein überraschter Blick. Aber ihm ist es weniger peinlich, dass er es war (hoffentlich), sondern eher, dass der Typ im Spiegelbild sich nicht die Zeit genommen hat, das Drecksloch aufzuräumen. Zumindest hätte er das tun können, bevor er anfing zu fotografieren, denn jetzt darf der Hund nicht durchs Bild laufen, und auch wenn – der Boden ist voller Scheiße. Man verkauft nicht nur ein Produkt, sondern einen Einblick in das chaotische Geflecht des eigenen Lebens. Und das macht den Privatverkauf von Spiegeln für die Käufer:innen wirklich attraktiver gegenüber den üblichen Marktführern unter den Anbietern. Auf diese Weise kann man nicht nur etwas für die Umwelt, sondern auch für seine Mitmenschen tun – und für seine Neugierde.

In love with rAIner

Immer mehr Menschen machen sich lieber Illusionen, als sich an die Realität zu halten – warum eigentlich?

T Ella Carina Werner K Jul Quanouai

Dass es im 21. Jahrhundert immer noch Menschen gibt, die ernsthaft die runde Form der Erde anzweifeln, hielt ich bislang für einen süßen Witz, aber dann las ich eine Studie: Ein Sechstel der USamerikanischen Bevölkerung ist auch heute »nicht völlig von der Kugelform der Erde überzeugt«. Darunter befinden sich zahlreiche Hardliner, sogenannte Flatworlder, die sich unseren Planeten lieber als Scheibe vorstellen. Flatworlder gibt es natürlich auch in Deutschland, darunter der Sänger Xavier Naidoo. Der Wissenschaft zugeneigte Menschen finden dies natürlich seltsam und unverständlich, ja richtiggehend bekloppt – aber ich als Geschichtenerzählerin und Satirikerin kann das durchaus nachvollziehen und euch sagen, warum mehr und mehr Menschen solchen Mumpitz glauben: Weil es spannender ist! Wie aufregend ist denn bitte die Vorstellung, unsere Erde sei wirklich flach? Man denke nur an die Weltumsegelung. Wenn die Erde tatsächlich eine Art Pfannkuchen ist, irgendwo einen Außenrand hat und der Ozean wasserfallartig ins All stürzt, wie verrückt kann man dann bitte sein, beim großen »Vendée Globe«-Rennen mitzumachen? Da hisst der führende Skipper, wie die Fahrer heißen, sein Segel, hält geradewegs auf den Horizont zu und rauscht in seinem superteuren Segelboot, um das es dann am Ende natürlich schade ist, direkt auf den Abgrund zu. Näher kommt er dem Ozeanrand, und noch näher, ehe er mit einem Riesenwasserschwall für immer im Nichts verschwindet. Und auch der zweite, sein Verfolger, dem Weltranglisten-Ersten dicht auf den Fersen, hält mit seinem Boot geradewegs auf die Abbruchkante zu, stürzt und ward nie mehr gesehen, genau wie alle hundertfünfundsechzig weiteren Kandidat:innen des legendären Segelrennens ebenfalls. Das ist der Grund, warum Xavier Naidoo und fünfzig Millionen US-Amerikaner:innen nie an einer Weltumsegelung teilnehmen. Aber gelangt dieses traurige Massensterben je an die Öffentlichkeit? Wird dem lebensmüden Treiben ein Ende gesetzt? Natürlich nicht! Das grausige Schicksal der Segler:innen wird von der internationalen »Systempresse« vertuscht, um die Weltbevölkerung weiterhin im tumben Kugelglauben zu lassen. Vorstellbar für eingefleischte Flatworlder auch: Die Weltumsegelungsversuche finden gar nicht wirklich statt, sämtliche

Touren werden auf dem Starnberger See oder gleich im Fernsehstudio gedreht, genau wie die Mondlandung. Von der Kugelhaftigkeit der Erde überzeugt zu sein ist hingegen viel langweiliger, denn physikalisch und geographisch ist hier alles in sich stimmig: Die sichtbare Erdkrümmung, die Satellitenbilder aus dem All und dass die Sonne in China sieben Stunden früher als in Deutschland untergeht – alles passt astrein zusammen. Aber wer interessiert sich schon für Stimmigkeit? Was nicht »auserzählt«, was nicht beweisbar ist, ist geheimnisvoller. So viele schöne Fragen ranken sich um das Konzept der Erdscheibe: Wird sie beim Fracking in der Tiefsee eigentlich komplett durchbohrt? Da ohne einen Erdkern kaum Erdanziehungskraft existiert, warum tänzeln wir Menschen dann nicht wie schwerelos über die Erdoberfläche wie über den Mond? Und weil es auf einer flachen Erde keinerlei Zeitverschiebung gibt, warum wird dann das Silvesterfeuerwerk in China sieben Stunden eher im Fernsehen gezeigt als in Deutschland? Beziehungsweise anders und final gefragt: Wer steckt hinter dem ganzen Komplott? Das öffentlich-rechtliche Fernsehen, irgendwelche gemeingefährlichen Demokraten oder gar die internationale Globus-Industrie, die mit ihren nutzlosen, überteuerten Weltkugeln dick Reibach machen und die Welt beherrschen will?

Auch die naseweisen Rückfragen von Flatworlder-Nachkommen mag man sich gern ausmalen. »Und was ist auf der Unterseite der Erde, Papa?« Der Vater – Impfgegner, Klimawandelleugner, fränkisches AfD-Mitglied – sitzt am Bett seiner siebenjährigen Tochter und denkt eine Weile nach. Natürlich weiß er die Antwort. »Vier große Elefanten, die wiederum auf dem Rücken einer Schildkröte stehen«. »Und was ist unter der Schildkröte, Papa?« »Ach, jetzt halt deinen Schnabel und schließ die Augen, du kleines Reptiloidchen! Aber wenn du magst, lese ich dir noch die schöne Geschichte vor, wie wir Menschen entstanden sind: von Gott geformt aus einem Klumpen Lehm.«

Auch mich als Komikproduzentin interessiert häufig das Irreale. Die spannendsten Dinge finden nun mal eher im Kopf statt als in der schnöden Außenwelt. Wäre ich Journalistin, ich würde genau wie Claas Relotius mir meine Spiegel-Reportagen komplett zu-

sammenfabulieren, um sie aufregender, wilder zu machen. Nur gut, dass ich keine seriöse Journalistin bin! Was mich ebenfalls fasziniert: Es gibt immer mehr »virtuelle Eskapisten«, zum Beispiel Menschen, die mittels der App »LoveGPT« oder sogenannten AI-Girlfriend-Apps virtuelle Liebesbeziehungen eingehen. Laut einer Umfrage kann sich bereits jeder vierte junge Mensch in Deutschland vorstellen, sich in eine künstliche Intelligenz zu verlieben. Ursprünglich gedacht, um in Gesprächen mit der KI das eigene Flirt- und Gesprächstalent einfach zu trainieren, gelten KI-Lover heute als »ideal für Personen mit begrenzten sozialen Interaktionen«, wie eine App es nennt, also als kompletter Partner:innen-Ersatz. Vorteil: Diesen kann man ganz nach eigenem Gusto eine makellose Optik verpassen, und alles, was sie antworten, ist zustimmend und wertschätzend. Nun ja, das mit der Optik kann ich durchaus verstehen, aber wie langweilig sind denn bitte notorisch nette Lover? Ich hätte lieber einen Bot, der zwar fantastisch aussieht, aber charakterlich ein störrischer Esel ist. »rAIner, machst du mir mal bitte ein schönes Kompliment?« »Och nee, jetzt gar keinen Bock drauf ... Wenn du Komplimente hören willst, schau dir einen schlechten Hugh-Grant-Film an. Ich will hier einfach in Ruhe ›Moby Dick‹ lesen und gut ist!« So einen widerspenstigen

Bot würde auch ich sofort daten …

Was in Zeiten von immer umfangreicherem Einsatz von künstlicher Intelligenz, von Bildbearbeitungsprogrammen, VR-Brillen bis hin zu Geoengineering gilt: Wir Menschen können uns die Welt, wie Pippi Langstrumpf es fröhlich besang, immer mehr so machen, wie wir sie haben wollen. Und wenn wir wirklich eines Tages das Wetter verändern können, erschaffen wir uns damit nicht auch eine komplett neue Realität?

Am Ende halte ich es mit Woody Allen, der einmal sagte: »Ich hasse die Realität, aber sie ist immer noch der beste Ort, um ein gutes Steak zu bekommen.« Wobei gute Steaks, ob vegan aus Erbsenproteinen oder als Laborfleisch, zwar bislang nur in der Realität gegessen werden können, aber längst so artifiziell produziert werden können wie in Frankensteins Labor. Es bleibt also komplex. Prinzipiell spricht für mich ja gar nichts dagegen, wenn einzelne

Menschen an die Scheibenwelt oder an die lustige christliche Schöpfungsgeschichte glauben. Aber wenn viele es tun, wird es problematisch, weil etwa die Leugnung der Evolution fast zwangsläufig auch die Leugnung biologischer Vielfalt und damit sexueller Diversität mit sich bringt – und die eigene Freiheit endet, wie phrasenhaft das auch immer klingen mag, ja bekanntlich dort, wo die Freiheit des anderen beginnt.

Digitale Illusionsspiele:

ein Rückblick auf »The Matrix«

Als »The Matrix«, der erste Teil der Tetralogie der Warchowskis, im Jahr 1999 herauskam, brachte er ganz unbekannte Filmbilder auf die Leinwand. Heute wirkt er wie eine Zeitkapsel und fördert zugleich einen kritischen Blick auf die digitalen Systeme, die uns weiterhin die Welt medial vermitteln. Erinnern wir uns nochmals an die Geschichte: Der Computerhacker Neo (Keanu Reeves) wird seit Längerem von einem Gefühl des Unbehagens heimgesucht. Als hätte er ihn in seinen Gedanken gerufen, taucht ein Fremder namens Morpheus (Laurence Fishburne) eines Nachts bei ihm auf und verspricht ihm, er könne ihm helfen, aus der Schattenwelt, in der er lebt, aufzuwachen – man könnte auch sagen, aus jenem falschen Bewusstsein, dass die Menschen in einem Gefängnis der Wahrnehmungen und Einbildungen eingesperrt hält. Morpheus bietet Neo zwei Pillen an. Wählt er die blaue, bleibt er in der ihm vertrauten Alltagswelt. Wählt er hingegen die rote, begibt er sich auf ein Abenteuer, das ihn die Wahrheit über seine Existenz erfahren lässt. Unter Verschwörungstheoretiker:innen ist diese Wahl im Netz ikonisch geworden, denn weil Neo sich für die rote Pille entscheidet, gelingt es ihm, sich in eine Welt jenseits der illusionären Simulationen zu begeben, die er bislang physisch wie psychisch für seine realen Lebensumstände gehalten hat. Zunächst nimmt die zu einem flüssigen Spiegel zerronnene Wirklichkeit seinen Körper auf, als wolle sie ihn ersticken. Dann erwacht er in einer schleimigen Glaswanne und begreift, dass er mit langen, schweren, metallenen Schläuchen an ein riesiges Netzwerk angeschlossen ist. Zusammen mit ihm erkennen wir, dass er einer von tausenden verkabelten Menschen ist, die in ihren Kokons schlummern, ohne von ihrer wahren Existenz zu wissen. Eine Maschine taucht plötzlich auf, nabelt ihn von den Schläuchen ab und vollzieht eine zweite Geburt, die einem Aufwachen gleichkommt. Neo fällt durch einen Tunnel, landet zuerst in einem scheinbar unbegrenzten Meer, wird dann von der Maschine durch eine Öffnung weit über seinem Kopf durch ein gleißendes weißes

Licht emporgehoben, wo Morpheus ihn empfängt. Die Szene, in der auch wir begreifen, wie das Verhältnis zwischen Traumwelt und realer Welt zu verstehen ist, findet auf einem Hovercraft statt, das den biblischen Namen Nebukadnezar trägt. Die beiden Männer befinden sich in einem weißen Raum. Zwischen zwei Sesseln steht ein Fernseher, auf dem die dystopische Fantasie der Wachowskis nochmals aufflackert. Zuerst sehen wir die Welt des ausgehenden 20. Jahrhunderts, wie Neo sie zu kennen meint, dann folgen Bilder der Welt, wie sie wenige Jahre später nach einem Krieg gegen die Maschinen, geworden ist: eine für Menschen unbewohnbare Wüstenlandschaft, die Morpheus mit dem mittlerweile ikonisch gewordenem Label »desert of the real« bezeichnet. Die Menschen sind darauf reduziert worden, mit ihren Körpern dem Maschinensystem die nötige Energie zu spenden. Von ihrer Versklavung wissen sie nichts, denn die Matrix lässt sie glauben, sie würden weiterhin in ihrer gewohnten Welt leben. In Wahrheit aber ist das, was sie für ihre Realität halten, ein komplexes Computerprogramm, das nur in den manipulierten Gehirnen der Menschen existiert.

Als der erste Teil der Tetralogie herauskam, hat die Kritik diese Scheinwelt mit der von Louis Althusser angebotenen Definition von Ideologie verglichen. Die Matrix, eine simulierte Traumwelt, welche die Menschen in reibungslos funktionierende Batterien verwandelt, stellt demnach das imaginäre Verhältnis dar, das die Menschen im Bezug zu ihren realen Lebensbedingungen unterhalten. Die reale Welt – die durch Kabel vernetzten schleimigen Wannen – ist ihnen dank dieser Verblendung weder intellektuell noch sinnlich bewusst. Nur einige verspüren wie Neo ein Unbehagen, das sie ahnen lässt, dass etwas nicht stimmt. Morpheus versichert seinem erwachten Zögling, es gebe zwar eine klare Trennung zwischen diesen beiden Bewusstseinszuständen. Entweder ist man innerhalb der Matrix und weiß nichts von der eigenen Selbstentfremdung, oder man befindet sich außerhalb dieser, kann aber, während man in einem Traumzustand auf dem Hovercraft liegt, in diese simulierte Welt erneut eintreten. Nahe am Kern des Erdballs hingegen liegt die einzige noch von Menschen beherrschte Stadt Zion. Daraus ergibt sich jedoch auch ein Widerspruch, der das Erlösungsnarrativ, von dem der Film

T Elisabeth Bronfen

erzählt, durchzieht. Die Befreiung, für die Morpheus und seine Mannschaft ihr Leben zu riskieren bereit sind, ist von den nostalgischen Erinnerungen an eine längst untergegangene Zivilisation geprägt, die auch in Zion nicht existiert. Der Film setzt somit die eine erträumte Welt gegen eine zweite, und bietet damit einen Wettkampf der Illusionsspiele.

Deshalb strebt der von Morpheus geführte Widerstand auch nicht an, die Matrix zu tilgen und somit alle ideologischen Vorstellungen abzuschaffen, welche die realen Lebensbedingungen der Menschen verkleiden. Vielmehr soll der zur Retterfigur deklarierte Neo in dem digitalen Blendwerk eine Störung einführen. Damit wird den Maschinen die Alleinherrschaft über die imaginären Gebilde abgestritten, sodass diese neu ausgehandelt und umbezeichnet werden können. Neo nimmt deshalb den Kampf mit dem Special Agent Smith (Hugo Weaving) auf, jenem Torhüter des Systems, der ihn seit Längerem im Visier hat. Zugleich gibt es in dieser christlich konzipierten Erlösungsgeschichte auch einen Judas: den enttäuschten Widerstandskämpfer Cypher (Joe Pantoliano), der in die Matrix zurückkehren will. Seine Wunschfantasie stellt das bezirzende Gegenbild zu der von Morpheus propagierten Idee des ernüchterten Aufwachens dar und somit eine Feier des Traumzustands. Während des Treffens mit dem Special Agent, in dem Cypher den Pakt, seinen Anführer zu verraten, besiegelt, sitzen sie in einem Restaurant in der Matrix. Lustvoll versichert Cypher, er wisse zwar, dass die Welt des angenehmen Lebens eine Illusion sei und das Steak, das er gerade genießt, nur eine Simulation darstellt, doch in dieser Verblendung lasse sich besser leben. Zieht er die Seligkeit der Unwissenheit einem Wissen um die wahrhafte Existenz vor, so stellt auch er einen Störfaktor dar; in seinem Fall aber ein Problem in dem von Morpheus konzipierten Rettungsnarrativ. Cypher steht für eine andere Art Widerstand: Für einige könnte es durchaus reizvoller sein, in einer retronostalgischen Traumwelt zu verweilen und die Einsicht in die eigene reale Lebenssituation wieder zu vergessen, statt an einer utopischen Erlösungsfantasie mitzuarbeiten. Die Spannung zwischen diesen beiden Fantasien wird dadurch unterstützt, dass es die simulierte Bildwelt ist, die »The Matrix« dank des geschickten Einsatzes von Postproduktionstechniken besonders schillernd auf der Leinwand aufflackern lässt.

Im ersten Teil der Tetralogie bleibt die Auflösung dieses Wettkampfes der Vorstellungen offen. Nachdem Neo in seinem Kampf gegen den Special Agent tödlich getroffen zu sein scheint, gibt die Gefährtin Trinity (Carrie-Anne Moss) ihm den entscheidenden gedanklichen Impuls. Sie versichert ihm, nur das sei wirklich, was seine Vorstellungkraft dafür hält. Eine simulierte Tötung könne weder für seine Erscheinung in der Matrix noch für seinen realen Körper auf der Nebukadnezar Folgen haben, wenn er sich ganz auf seine Einbildungskraft verlasse. Die Filmbilder, die folgen, realisieren diese Überzeugung. Neo kann plötzlich alle auf ihn abgeschossenen Kugeln mit seinem ausgestreckten Arm abwenden. Er nimmt den Special Agent nicht mehr als männliche Erscheinung wahr, sondern nur noch als eine aus den grünen Chiffren der Matrix zusammengesetzte Gestalt. Weil er nicht die Torhüter des Systems, sondern nur noch den sie produzierenden Code sieht, entlarvt er auch die von den Maschinen erzeugte Ideologie in ihrer wahren traumartigen Substanz. Mit diesem Einblick – den wir teilen, weil auch wir die simulierten Bilder plötzlich nur als grüne Code-Welt sehen – schaltet Neo jegliches Angstgefühl aus. Statt zu fliehen, läuft er direkt auf den Special Agent Smith zu, dringt in ihn ein und bricht ihn von innen auf. Der Widerspruch, mit dem der Film operiert, bleibt dennoch erhalten. Neo kann zwar eine das System angreifende Störung einführen, stützt damit aber eine andere politische Traumvorstellung, die für die Jahrtausendwende charakteristisch war: den Glauben an die Möglichkeit eines radikalen Neuanfangs. Seine Fantasie, er sei zu dem Retter geworden, für den Morpheus ihn immer gehalten hat, obsiegt zwar gegen die Fantasie Cyphers, er müsse den Anführer des Widerstandes zu Fall bringen. Diese Sinnlösung ist jedoch eine weitere Fiktion, auf der wiederum die Serialität des Matrix-Franchise basiert. Es wird eine Fortsetzung geben, kraft derer die Kinoleinwand auch weiterhin als Ort visueller Simulation dienen kann. Zwar wacht Neo nach seinem erfolgreichen Showdown mit dem Special Agent auf der Nebukadnezar in den Armen von Trinity auf, doch in der letzten Szene des Films ist er wieder in der Matrix. Von einer Tele-

fonzelle aus verkündet er die Botschaft, dass eine neue Weltordnung begonnen hat, in der wieder alles möglich ist. Auf dem Bildschirm flackert die Mitteilung »system failure« auf. Dann fährt die Kamera in eine Nahaufnahme von Keanu Reeves, der seine Sonnenbrille aufsetzt und nach oben schaut, bevor er aus der neu kodierten Matrixwelt hinausfliegt.

Für ihn ist das Ende seiner Geschichte und der seiner Mitkämpfer:innen ein offenes. Als »The Matrix« herauskam, entsprach diese Himmelfahrt einer utopischen Hoffnung. Begeistert wollte man darauf vertrauen, dass man der digital produzierten Simulation auch wieder entkommen könnte. Das mag man heute, da die Herrschaft der sozialen Medien und die damit verbundenen Verschwörungstheorien nur allzu deutlich geworden sind, mit wesentlich nüchternem Blick betrachten. Schaut man genauer hin, merkt man, dass dieses Abschlussbild bereits damals ironisch gebrochen war. Den Ort außerhalb des Systems sehen wir nie. Er bleibt ein blinder Fleck auf der Landkarte, welche die Filmbilder der Wachowskis auf der Leinwand über vier Folgen für uns immer wieder veranschaulicht haben.

Wie du mir, so ich Tier

Psst! Hallo, Sie! Ja, Sie da! Hallo, Sie, Mensch! Können Sie mich hören? Und sehen? Können Sie mich fühlen, spüren, wahrnehmen? Mich vielleicht sogar für wahr nehmen? Fürwahr, fürwahr, das kann ja beileibe nicht jeder. Der eine kann nichts sehen, die andere nichts hören, das nächste nichts riechen, nichts schmecken, nichts fühlen. Hier fehlt die Empathie, da die Telepathie, dort die Fantasie. Bunt verstreut sind sie, die Talente der Tierchen, gerade so, wie es der Natur gefiel. Hach ja, die Natur, immer noch die Lustigste von allen! Hallo, Sie! Treten Sie näher, kommen Sie ran! Nur noch einen kleinen Schritt. Schenken Sie mir ein Ohr. Vielleicht legen Sie Ihren Kopf ans

Glas, das Luft und Wasser trennt und uns beide mit dazu, dann können Sie mich vielleicht sogar blubbern hören und nicht nur denken sehen.

BUH!

Haha! Hab ich Sie erschreckt? Tut mir leid, das wollte ich jetzt nicht. Soll ich ihnen ein Geheimnis verraten?

BUH!

Hehe! Aber natürlich wollte ich das!

Jetzt haben Sie sich doch nicht so. War doch nur ein kleiner Scherz. Sie sind aber schnell eingeschnappt! Okay, vielleicht sollte ich mich erst einmal vorstellen, zur Vertrauensbildung quasi. Gestatten: thaumoctopus mimicus. Meine Freunde nennen mich Mimimi. Aber ein Mimik-Oktopus wie ich hat keine Freunde. Ich bin ja ein Einzelgänger. Und Eltern habe ich auch keine. Mei, es wird sie schon gegeben haben, aber ich bin ihnen nie begegnet. O, bitte nicht weinen, ich brauche doch kein Mitleid. Wäre ich ein Mensch, würde ich mich meiden, höchste Psychopathengefahr, denn ich wäre ein ganz schön schräger Vogel. Aber so bin ich nur ein lustiger Fisch. Und alle gucken mich an. Aber nur wenige können hören, wie ich singe.

Ich bin ein kleiner Oktopus

Bestehe nur aus Kopf und Fuß

Ach, wo steht mir nur das Köpfchen?

Mit den Füßen mach ich Zöpfchen!

Äh, wo war ich gleich? Ach ja, hier bin ich, Mimimi, im Haus des Meeres in Wien. Der Star des Aquariums. Das Showtier im Tiefseebecken. Das personifizierte Tentakelspektakel. Treten Sie näher, kommen Sie ran! Haha! BUH!

Und los geht sie, meine Show! Servus, willkommen in mein’ bescheid’nen Unterwasserpalast hier in Wien, im sechsten Bezirk. Denn i bin ka gewöhnlicher Oktopus, i bin da größte Showman unter den

Eine Fabel von Christian Gottwalt
K Jul Quanouai

Kraken. Schau, i kann mi verwondeln, wie’s mir taugt. Heut Oktopus, morgen Muräne, übermorgen giftige Seeschlange, i bin, was d’ wüist. Heast, schau her, i mach dir den gefährlichen Rotfeuerfisch.

Füß’ und Flossen in die Höh’, dazu der tödliche Blick, scho schwimmen’s alle davon.

Herrje, der Wiener Slang. Ich sollte ihn mir abgewöhnen. Aber sehen Sie: Das Umfeld färbt halt ab, besonders bei einem bunten Hundling wie mir.

Bin ich dies, bin ich das Bin ich da, bin ich hier

Bin ich ein ganz anderes Tier!

Ich kann mich in ein Kätzchen verwandeln, dann bin ich eine Octopussy. Lege ich mich neben die Alge, wird sie ganz blass. Und ich hellgrün vor Leidenschaft. Mir ist dann ganz flatterhaft und blümerant zumute. Siehst du, wie sich meine Arme wie Blätter im Takt der Brandung bewegen? Gut, die Brandung hier im Becken ist bloß die Strömung der Umwälzpumpe. Geht aber auch!

Bin ich dies, bin ich das

Bin ich da, bin ich hier

Bin ich ein ganz anderes Tier!

Der Plattfisch – supergiftig! – ist meine leichteste Übung. Bin ich platt, hauen alle andern ab. Flüchten vor mir. Außer der blöde Plattfisch selber. Ich gebe den Plattfisch nämlich so gut, dass er mich für Frau Plattfisch hält, der Depp. Glaubste nicht? Guckste Youtube. Ich kann auch Platt schnacken und bayrisch ratschen und hessisch babbeln und mit schwäbischen Spezln Spätzle speisen. Guck mich an, jetzt bin ich ein Nudeltopf! Kann ich alles, bin ich ein Schwamm. Saug ich alles auf, was im Meer rumschwimmt. Bin ich Spongebob! In echt sind Schwämme nicht lustig. Aber ein ausdauerndes Publikum.

Bin ich dies, bin ich das

Bin ich hier, bin ich da

Bin ich Professor bei Wikipedia

Da lese ich, dass einer meiner Trivialnamen, wie sich Wissenschaftler so vornehm ausdrücken, »Karnevalstintenfisch« lautet. Als Faschingsfisch wäre ich natürlich gern im Sea Life in Köln gelandet, aber da steckt man ja nicht drin, wo die Reise des Lebens hingeht. Die Wege des Fischers sind unergründlich. Man wird aus der Wildnis geangelt, mit dem Airbus um die Welt geflogen und dann lässt dich einer in irgendein Becken mit künstlichem Salzwasser plumpsen, in dem bereits hunderte andere Fische gestorben sind. Sie wollen nicht wissen, wie das hier schmeckt. Da gehen sogar mir die Witze aus.

Was wär’ ich gern in Kölle

Da säng’ ich Höllehölle

Mit dem fetten Zackenbarsch

Und beide wären wir am Arsch

Hier in Wien gibt’s in der Karnevalssaison ja bloß Bälle. Da verwandele ich mich doch gleich in einen Kugelfisch. Blubb, Blubb, Blob!

Ja und der Kugelfisch ist giftig

Macht da der Koch was nicht ganz richtig

Bist du schnell platt wie eine Flunder

Legst dich ins feuchte Grab hinunter

Wobei: A Puderperücke beim Debütantinnenball tät’ ich ja schon gern mal imitieren. Gnä’ Frau, derf i mi auf Ihren Schädl setzen? Na?

A geh. Vielleicht das nächste Mal. Küss die Füß!

Ich sag ja immer: Sind dir die Goldfische zu teuer, dann kauf’ halt die Silberfische. Ach komm, der Kalauer war jetzt Hecht witzig. Fanden Sie nicht? Dann gehen Sie bitte ein Fenster weiter, da sind die Clownfische.

Hören Sie, Mensch, ich muss mich kurz konzentrieren. Die Fütterung

geht gleich los. Dachten Sie etwa, ich merk das nicht? Doch, doch, doch, klar hab ich den Rochen gebraten!

Bin ich dies, bin ich das Bin ich da, bin ich hier Bin ich ein wildes Säugetier!

Jetzt mime ich mal den Vielfraß und schlage mir meinen nicht vorhandenen Bauch voll. Das ist eine meiner größten schauspielerischen Leistungen. Weil: Alle Versuche, einen von uns Thaumoctopoden in einem Aquarium zu halten, sind gescheitert, weil sämtliche Exemplare die Nahrungsaufnahme verweigert haben und alsbald eingegangen sind. Ja, alle außer mir.

Es liegt nahe, die Reaktion meiner Art- und Leidensgenossen, das Fressen einzustellen, als wenig subtilen Protest gegen eure Haltung von uns Tieren hinter einer Glasscheibe zu verstehen, als Hungerstreik, so wie ihr ihn bereits von Dissidenten und Terroristen kennt. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass ihr Menschen, was die Thaumoctopodologie angeht, einfach noch nicht weit genug fortgeschritten seid, das ihr halt einfach nicht wisst, was uns wirklich schmeckt. Offensichtlich fressen wir Krebse und kleine Fische, aber auch nur, weil es im Meer nichts anderes gibt.

In Wien sieht das kulinarische Angebot ganz anders aus. Die Wiener, sie haben ein gewisses Hendl, sorry, ich meine: ein gewisses Händchen fürs Füttern hungriger Meeresfrüchte. Abends, wenn der Laden leer ist, bringt der Wärter mir a Eitrige mit an G’schissenen und an Buggl vorbei.

I für mi und meinereiner Friss am liebsten Käsekrainer Trinkt dazu no an, zwa Bier Schon ist es lustig, das Getier

Wos, des glaubst ned? Dann halt ned. Aber irgendan Trick werden’s ja haben, die Wiener Aquaristen. Sonst war i längst scho abgenippelt. Beim Stichwort Trick fällt mir die Geschichte von dem japanischen

Mondfisch im Aquarium von Shimonoseki ein, die kürzlich durch die Medien ging. Dem Fisch ging es schlecht, weil das Gebäude renoviert werden musste. Auf einmal waren die Hallen leer und vor seiner Scheibe nix mehr los. Man muss dazu wissen, dass der Mondfisch auch der Star des Aquariums war. Jedenfalls wollte der Mondfisch dann auch nichts mehr fressen.

Da haben die Pfleger debattiert und überlegt und gemacht und getan und nix half. Bis einer auf die Idee kam, Menschengesichter an die Scheibe zu pappen und Jacken und Hosen dazu. Und als der Mondfisch gesehen hat, dass sein Publikum wieder da war, wurde ihm ganz wechselwarm ums Herz. Zehn Tage war der Mondfisch krank, dann fraß er wieder, Gott sei Dank!

Die Haltung von Meerestieren hat so ihre Tücken und vor allem lernen wir daraus: Auch Illusionen können heilen. Lassen Sie sich das gesagt sein von mir, dem Illusionistenspezialisten. Weil: Ich bin ja auch nur eine Projektionsfläche. Für euch. Für euer schlechtes Gewissen in Sachen Meeresfauna.

Sie kennen doch bestimmt den Film »Mein Lehrer, der Krake«. Ja?

Aber ich muss erst ein wenig ausholen.

Also: Mein Pfleger, hier im Haus des Meeres, er versteht mich nicht. Umgekehrt verstehe ich ihn ganz gut. Neulich zum Beispiel, da hätte ich ihn fast gehabt. Wann immer der vor meiner Scheibe steht, schwimme ich herbei. Da steht er also da, schaut mich an und ich schaue zurück. Also mit seinem Gesicht! Und damit er sich in mir erkennt, hab ich mit zwei Tentakeln seine Brille nachgemacht. Was er sehr nüchtern zur Kenntnis genommen hat.

So ein Wissenschaftler, der misstraut seinem Gefühl halt. Ich weiß, das muss er, von Berufs wegen. Sonst reden die anderen Wissenschaftler schlecht über ihn. Das würde ihn traurig machen. Ach, ich hör ja schon auf. Es heißt ja, dass man nicht zu viel in den Menschen hineininterpretieren soll, gerade, was seine Gefühlswelt angeht.

Wobei: Seine Gefühlswelt liefert einem der Mensch ja auf dem Silbertablett. Da habe ich doch kürzlich im Wiener Standard einen Artikel über mich und meinesgleichen lesen müssen, wo eine Autorin mit großem Mitgefühl für Octopoden wie mich auf meinen Pfleger hier im Haus des Meeres getroffen ist.

Der konnte mit ihrer Rührseligkeit in Anbetracht des vom Menschen geschundenen Meeresgetiers so gar nichts anfangen und zog ihr dann mit wissenschaftlicher Präzision den naiven Zahn. »Wie mir die Illusion vom Wunder Oktopus genommen wurde« – das hat die arme Frau hinterher über ihren Artikel schreiben müssen. Die Oktopoden, sagte mein Pfleger, seien die Delphine der 2020erJahre; nachdem zuvor die Seepferdchen in Mode waren, wären nun eben Oktopusse angesagt. Na ja, so kann man das natürlich auch sehen, und irgendwo muss er ja hin, der Mensch mit seiner Liebe.

Ich sehe es so: Die einen schauen mich mit dem Hirn an und die anderen schauen mich mit dem Herzen an und immer sehe ich anders aus. Das bin ich doch gewohnt! Und ist es nicht interessant, dass wir Kopffüßler manchen von euch dumm erscheinen und anderen schlau?

Ist vielleicht das die schönste und meisterlichste Illusion von allen? Zurück zu »Mein Lehrer, der Krake«, auch so ein gefühlsduseliger

Streifen für unwissenschaftliche Tierliebhaber. Ein Feuilletonist der Süddeutschen Zeitung nannte das Video einen Bankrott für das Genre Tierfilm, weil es sich darin nicht ums Tier drehe, sondern um den scheiternden Menschen. Der Film kriegte dann trotzdem einen Oscar. Jedenfalls essen viele Menschen seitdem keine Calamares mehr.

Das weiß ein jeder Oktopus

Siehst du den Menschen, ist bald Schluss

Mit all dem bunten Meerestier

Und ja, mein Kleiner, auch mit dir Der Mensch hat dich zum Fressen gern Drum halt dich von dem Menschen fern

Ich meine: Bevor ich mich fressen lasse, lache ich mich lieber tot. Ich werde ja eh nur ein Jahr alt, da kommt es darauf nicht so an. Ein Jahr, dann ist mein Leben vorbei. Schauen Sie doch mal zum Vergleich, was eure Menschenskinder so können, wenn sie ein Jahr alt sind. Ich konnte nichts von meinen Eltern lernen, weil ich meine Eltern nie gesehen habe. Ich konnte nichts von meinen Artgenossen lernen, weil ich Einzelgänger bin. Woher kann ich also wissen, dass ich mich nur in eine Seeschlange verwandeln muss, damit alle mich in Ruhe

lassen? Eure Wissenschaftler sagen: angeboren. Und verschieben damit das Problem in die Vergangenheit. Ist eine kleine Kopfnuss für eure Wissenschaftler, hehe! Die Wahrheit ist, dass ich nicht ein Jahr alt bin, sondern dreihundert Millionen Jahre.

Hahaha, Hahaha!

Ha …?

Blubb?

Wasser!

Wasser, verdammt.

Ich krieg’ kein Wasser mehr.

Was is jetzt dös? I schätz’, dass i jetzad zur Wiedergeburt muss. Na, dann mach’ i mal Platz für die nächste Generation, es wird, Pi mal Tentakel, die zweihundertfünfzigmillionste sein.

Also: Habe die Ehre! Tschüss, tschau, servus und baba! I beiß’ nun in den Sand. Und ihr leckt’s mi schön am Abend! Und ansonsten könnt’s ihr mi jetzt mal gern ham. Und zwar alle.

DIE DATING-ILLUSION

Kennenlernen als Performance: Beobachtungen aus einem Berliner It-Restaurant.

»Du MUSST die Austern probieren!«, ruft der Mann neben mir an der Bar seiner Verabredung zu, während ich auf meinen Tisch in einem der begehrtesten Restaurants Berlins warte. Es ist neunzehn Uhr dreißig an einem Freitagabend, und ich starte eine aufreizende Beobachtung: Wer genießt es nicht, fremden Dates zu lauschen und zu rätseln, für wen diese Verabredung die Erfüllung aller Träume ist, und wer vielleicht nur seine Zeit absitzt, bis er das Date höflich beenden kann? Das wievielte Date ist es zwischen den beiden, was finden sie anziehend am anderen? Was für Träumen hängen sie an, worüber ärgern sie sich, welchen Berufen gehen sie nach?

Leben. Er erklärt ihr mit großzügigen Gesten, was er am Interieur des Restaurants ändern würde: die antike Kunst durch Pop-Art-Pieces ersetzen, um so die altmodische Architektur der Räume zu konterkarieren. Sie trinken jeweils drei Gläser Rosé-Champagner, und später essen sie nebeneinander sitzend auf einer Eckbank, bevor er sie mit auf ein anderes Stockwerk nimmt, wo man rauchen oder wahlweise im Personaleingang – auch als Gast – ungestört koksen kann. Ein Kellner trägt ihnen auf einem Silbertablett zwei Pornstar-Martini dorthin.

Als der Platinanzug des potenziellen Schlagersängers über die Treppe verschwindet, frage ich mich, ob diese Gigolopose seine wahre Persönlichkeit darstellt oder lediglich die Marketingversion seines Ichs.

Der Mann mit den Austern jedenfalls ist einen Meter fünfundziebzig groß und etwa dreißig Jahre alt. Er trägt einen platinglänzenden Zweiteiler über seiner solariumgebräunten Haut und grüßt überschwenglich jeden einzelnen Kellner. Bei seinem exaltierten Auftreten wundere ich mich, dass er hier Gast ist und keine Songs übers Eimersaufen auf Mallorca performt. Sein Date ist eine Frau Mitte zwanzig im Jackett über einem eng anliegenden, schwarzen Kleid und glitzernden, mit Steinen besetzten Stiefeletten. Ihren Arm ziert eine rosafarbene Lederhandtasche mit goldenem Label – sie sieht aus, als wäre sie zwar zu »Germany’s Next Topmodel« eingeladen worden, aber leider sehr früh im Castingprozess rausgeflogen, und spricht englisch mit russischem Dialekt. Das hier ist offensichtlich das allererste Date, denn die beiden sind aneinander interessiert und das Gespräch läuft flüssig, aber es gibt keine vertrauten Berührungen; sie behandeln sich sehr höflich. Weiterhin lässt alles auf das Match einer Dating-App schließen – laut einer Statista-Umfrage des vergangenen Jahres übrigens der häufigste Weg, wie sich Paare in Deutschland kennenlernen. Sie ist zu Besuch in Berlin, und er hat außer seiner großen Schwester und seiner Mutter keine weiblichen Figuren in seinem

Denn alle, die daten, wissen: Beim Kennenlernen ist es essenziell, in welchem Licht wir unseren potenziellen Partner das erste Mal sehen – ganz wortwörtlich. Rund ein Drittel der Befragten einer Yougov-Studie gibt an, sich schon einmal auf den ersten Blick verliebt zu haben. Aber wollen wir den Partner im harten, fahlen Licht der Realität erblicken? Die Dating-Community weiß: keinesfalls. Eine ideale Lichtstimmung ist vonnöten, um das Offenbare und das Geheimnisvolle in einem Date zu vereinen, damit wir uns Hals über Kopf verlieben. Dating ist eine Performance, auf die man sich gemeinsam einlässt. Es geht um das richtige Maß der Wahrheit – und darum, so zu tun, als ob. „Weißt du was, ich ess den Schwan einfach morgen zu Hause«, sagt eine Frau, circa Ende fünfzig, neben mir zu ihrer Freundin im gleichen Alter über ihr opulent in Alufolie drapiertes Mitnehmessen. Beide tragen beigefarbene Strickpullunder mit bunten Seidentüchern um den Hals und waren ins Restaurant gekommen, weil sie durch den Buschfunk gehört haben, hier verkehrten die Stars. Und tatsächlich: Die Dame hat bereits den Schauspieler Armin Rohde an einem Tisch in der Ecke entdeckt. Mittlerweile habe auch ich einen Tisch – für eine Person; kein Date für mich – im brechend vollen Restaurant ergattert. Ich schaue mich im gut, weil indirekt beleuchteten, und mit weißen Tischdecken ausgestatteten Raum um: überall Dates, überall romantisch aufgeladene Zweisamkeit.

Da ist ein Paar bei der Vorspeise, sie Mitte, er Ende dreißig, sie kaut milde gelangweilt auf einem Stück Sauerteigbrot und nutzt ihre Finger, um die Reste von Salbeibutter aus einer kleinen Schale zu schlecken, während er seine Hände als Geodreieck einsetzt, um ihr zu veranschaulichen, wie die Pläne für den Ausbau seiner Galerie vorangehen. Sie nickt kauend, hat einen etwas müden, aber gütigen Blick – von diesen Plänen hört sie offenbar nicht zum ersten Mal. Ihr gewelltes dunkelblondes Haar reicht bis über die Schultern, sie trägt einen schwarzen Rollkragenpullover, dazu einen Denimrock in zwei asymmetrisch angeordneten Blautönen, was auf eine Profession als Graphikdesignerin schließen lässt. Er – mit zur Seite gegelten, an den Schläfen grauen Haaren – trägt ein schlichtes schwarzes Leinenhemd. Das Gespräch ist durchzogen von langen Pausen, in denen beide im Raum umherschauen. Nach mehreren Jahren Beziehung hat man sich eben nicht mehr die ganze Zeit etwas zu erzählen, und das ist auch in Ordnung so. Sie sind zufrieden miteinander.

Eine ganz andere Energie hingegen strahlt das junge Paar Mitte zwanzig aus, das auf Hockern am Tresen sitzt und aus dem Sichgegenseitiganlächeln gar nicht mehr herauskommt. Seine hellblonden Haare sind auf wenige Millimeter Länge rasiert, er geht ins Fitnessstudio, aber nicht zu viel, und trägt ein lässiges graues Oversized-TShirt. Sie, mit einer Bobfrisur im selben Hellblond-Ton wie er, trägt eine goldbraun gemusterte Polobluse mit dunkelbrauner Bordüre an den Ärmeln und am Hals, darüber eine Goldkette, und breite, runde Goldohrringe. Untenrum auch hier ein Denimrock, dieser jedoch bodenlang und monochrom. Wenn ich ihre Haare und ihre Teints sehe, muss ich an Yoghurt-Gums denken, und wahrscheinlich riechen sie auch so: frisch, pink, flaumig. Er studiert vermutlich Sport, sie Kunstgeschichte oder BWL. Die beiden essen gebackene Schwarzwurzeln mit Hollandaise sowie Lauch mit Haselnüssen und Kapern als Vorspeisen. Dabei hält er sich die Hand vor den Mund, um ein wohlig-zufriedenes Gähnen zu verstecken, aber weil er so jung ist, sieht das trotzdem nicht nach Müdigkeit aus, sondern erinnert an einen Golden-Retriever-

Welpen, der, sagen wir, spielerisch eine Dose entdeckt. Sie streicht ihm liebkosend über den rasierten Kopf. Dann macht er eine Bemerkung, sie lacht laut und schmiegt sich wohlig an seine Schulter, während er seine Zunge frech auf die Oberlippe beugt und sie dabei etwas kokett aus dem Mund schaut. Sie sind bereits sehr vertraut miteinander, dabei immer noch höchst verliebt. That’s the good stuff: das Filetstück des Kennenlernens. Ich bin Zeuge eines aufreizenden Dates im ersten Jahr einer Beziehung, versus einem routinierten Abendessen im schätzungsweise zehnten.

Meine Aufmerksamkeit wird von Immobiliengesprächen am Nebentisch abgelenkt. Scheinbar eröffnet ein neues Hotel, das Gebäude wurde für knapp acht Millionen erworben. Ein junger Mann im ge stärkten Designerhemd mit Punktmuster erzählt seinem Date davon. Er trägt Hornbrille und sieht aus wie ein junger, rothaariger Roger Willemsen.

»Where are you from?«, fragt er sein Date etwas gehetzt. »I know you are French, obviously.« Die tiefen entspannte blonde Frau mit griechischer Nase ihm gegenüber ant wortet, dass sie aus Paris komme. Umgehend übernimmt der junge Roger das Gespräch: »I love Paris! I might move there. If anything, I want to be between Paris and New York ...« – Bevor er weitersprechen kann, muss er blitzartig auf das Schnitzel vor ihm niesen und versäumt es, dabei das Gesicht in den Ellbogen zu halten. Die Pariserin ignoriert den Vorfall höflich, und Roger lenkt von der Peinlichkeit mit einem Gespräch über Aktien ab. »My brother has never traded stock«, erzählt er. »I’ve been trading stock since I was twelve years old, and my brother is two years older than me, twenty-one months, actually«, prahlt er, begeistert von sich und seinen Errungenschaften. Die Pariserin wirkt unbeeindruckt, doch höflich interessiert am Thema, und überraschenderweise nicht unamüsiert über Rogers Eigenheiten. Als er ihr dann jedoch weismachen will, dass man entgegen der verbreiteten Meinung in Vietnam nicht mit Stäbchen esse, überlege ich kurz, einzugreifen und sein ungefährliches Halbwissen auszuräumen. Da beugt sich die Pariserin nach vorn und klärt ihn lachend auf: Er verwechsle das mit Kambodscha. Sie sei vorigen Monat erst in der Hauptstadt Phnom Penh gewesen, um

beruflich ein Zigarettenwerk zu besichtigen. Roger gesteht seinen Fehler ein und kann über sich selbst lachen und ich lehne mich erleichtert zurück: Sie scheinen eine gemeinsame Ebene gefunden zu haben. Dieses Date läuft erfolgreicher, als es zunächst wirkte. Ich prognostiziere unerwartet guten Sex, viele Überstunden, spektakuläre Immobilien – und sehr unglückliche Kinder.

Sehr glücklich dagegen wirkt ein nebeneinander sitzendes lesbisches Paar. Jede der zwei hat einen Arm um die Hüfte der anderen gelegt. Beide haben das kurze Haar in dünnen, wasserwellenartigen Strähnen um ihre Schläfen gestylt und erinnern damit an die Frontsängerin der Band Christine and the Queens. Am anderen Ende des Restaurants sitzt sich ein schwules Paar gegenüber, einer der beiden trägt einen orangefarbenen Pullover über dem Hemd, der andere einen dunkelblauen. Die beiden lachen, sehen aus wie gut situierte Lehrer aus Großbritannien und haben eine fantastische Zeit zusammen. Nicht auf einem Date, weil längst in offenen Beziehungen, sind die sieben schwulen Männer Mitte dreißig, die in high-performing Jobs arbeiten, deren Haut dank Schönheitsbehandlungen zehn Jahre jünger ist als sie selbst, und die sich viel gegenseitig selbst- und fremdbewundernd am Bizeps berühren. Sechs von sieben hatten wahrscheinlich bereits Sex mit dem Kellner. Der Abend schreitet voran, die Hauptspeisen werden abgeräumt, und ich lausche weiter. »Der Stefan ist die ganze Zeit auf dem Meer, den kriegst du gar nicht vom Schiff runter«, tönt es von hinten. Ich drehe mich um und beobachte ein weiteres Paar auf einem Date. Seine Stirn ist hoch, seine Lippen voll und fleischig. Um seinen linken Arm sind mehrere Perlenarmbänder gebunden (einfarbige aus dem Strandurlaub, nicht die bunten, mit Buchstaben verzierten von Taylor-Swift-Konzerten), um seinen rechten eine silberne Uhr. Er hat etwas von Christoph Waltz. Seine Verabredung ist circa zehn Jahre jünger als er, Typ kompetente Immobilienberaterin, die mindestens drei Jahre Therapie absolviert hat und deswegen ein hohes Level an Empathie besitzt. Nennen wir sie Kirsten. Nachdem Christoph das Dessert für beide bestellt hat, nimmt er sein Smartphone und zeigt ihr Fotos von seinem eigenen Schiff. Immer wieder zoomt er ran auf die Steuerkabi-

ne, auf eine weiße Couch im holzgetäfelten Inneren des Schiffs. Kirsten schaut sich die Bilder mit einem Strahlen im Gesicht an. Die beiden teilen sich eine Flasche Rotwein in sehr bauchigen Glä sern, und sie streichelt immer wieder zärtlich sein Bein oder fährt ihm durchs Haar, während er die Hand auf ihren Rücken legt. Es vergeht nahezu kein Moment ohne Körperkontakt.

Dieses Paar ist noch nicht lange zusammen. Ganz offen sichtlich hat Christoph durch eine neue Frau wieder frischen Wind in die Segel bekommen. Schließlich packt er sein Handy weg, sie schauen sich intensiv in die Augen, Kirsten legt ihre Hand um seinen Nacken. Sie lächeln sich einen Moment an, dann folgt ein langer, langer Kuss. Petri Heil, Christoph und Kirsten.

Ich klappe mein gedankliches Notizbuch zu und resümiere: Die meisten Dates hier sehen aufregend aus, doch woher kann man wissen, was die Aufregung des ersten Flirts und was tatsächliche Chemie ist? Der Mann mit dem Platinanzug und die ehemalige GNTMBewerberin kommen aus dem Separee zurück und sehen etwas verschwitzt und desillusioniert aus. Das könnte man als Thrill des Moments bezeichnen. Christoph, der Schiffsbesitzer, wird von Kirsten derweil mit einem Löffel Crème Brûlée gefüttert, was auf weiter währende Kompatibilität schließen lässt. Hier ist die gewollte Illusion geglückt: die richtig getimete Gabe von Informationen, die wie bei gutem Storytelling nach und nach das Bild des zukünftigen Partners enthüllt, dem wir unsere Aufmerksamkeit schenken sollen. So entsteht fortgesetztes Verlangen. Während also die Vereinbarungen zum nächsten Date – oder gar keinem mehr – getroffen werden und die Frau mit dem Aluschwan endlich ihr Selfie mit Armin Rohde bekommt, verstehe ich: Für manche Menschen ist es einfacher, einer Illusion zu vertrauen, für manche schwieriger. So haben einige größeren Spaß am Daten, andere weniger. Aber wer sich darauf einlassen und das Spiel des Dates genießen kann, fühlt sich wohl locker, leicht, verführerisch. Wer weiß, womöglich entdecken wir eine neue Seite von uns – im vorteilhaften Licht des anderen.

Machen wir uns keine Illusionen

Die Unwirklichkeit der Welt, sie kann uns schon am Frühstückstisch heimsuchen.

Ich meine, for real: Nehmen wir an, auf dem Tisch stehen zwei Marmeladengläser, Erdbeere und Kirsche. Beide unangetastet und beide zweihundertfünfzig Gramm schwer, aber ein Glas ist von einer anderen Marke und deshalb kleiner als das andere. Wenn wir nun beide Gläser gleichzeitig anheben – was absolut realistisch ist, an unserem imaginären Frühstückstisch gibt es zwei Brötchenhälften und wir wollen uns marmeladensortentechnisch auf keinen Fall einschränken –, wird uns das kleinere Glas schwerer vorkommen als das Größere.

Was ist echt, was bilden wir uns ein?

Während wir noch mit dem Zerschneiden des Brötchens beschäftigt waren, hat unser Körpergedächtnis bereits vorgeplant. Zum Anheben des kleineren Glases wurde weniger Kraft einkalkuliert als für das größere – nach dem Motto: Kleine Sachen sind leicht, große schwer, das haben wir schon immer so gemacht. Dass beide Gläser in Wirklichkeit gleich schwer sind, überrascht unseren Körper so sehr, dass er das kleine Zweihundertfünfzig-Gramm-Glas SUPERanstrengend findet. Und zwar nur deswegen, weil es kleiner ist. In der Wahrnehmungspsychologie nennt man das Charpentier’sche Täuschung. Oder auch Größen-Gewichts-Täuschung. Please try this at home.

Bilden wir uns ein, was echt ist?

Die Geschichte mit den Marmeladengläsern mag als Party-Anekdote funktionieren, sie hat aber auch das Zeug dazu, uns in eine Existenzkrise Descartes’schen Ausmaßes zu befördern. Wenn uns unsere Wahrnehmung schon beim morgendlichen Brötchenschmieren hinters Licht führt, kann im Grunde die ganze Welt, wie wir sie kennen, eine Täuschung sein. Theoretisch könnten wir einfach in Wassertanks eingebaute Gehirne sein, die eine komplette Welt inklusive Kirschmarmelade herbeihalluzinieren. Auf nichts ist Verlass. Also, außer auf uns selbst vielleicht: Ich denke, also bin ich. Okay, aber taugt das Denken, die Vernunft überhaupt noch dazu, so etwas wie Wahrheit zu schaffen? Ist Vernunft noch der Common Ground für

ein gemeinsames Verständnis der Welt? Das kann man schon mal infrage stellen. Ich meine: Gucken wir uns doch mal um. So richtig unerschütterliche Wahrheiten scheint es kaum mehr zu geben.

Ist echt, was wir uns einbilden?

Der Papst in übergroßer weißer Daunenjacke und Cross Chain um den Hals. Drip-Level unendlich. Die Tatsache, dass wir echt lang gebraucht haben, um darauf zu kommen, dass es sich bei dem Bild um ein Fake handelt, ist nicht sehr ermutigend. Vor allem, wenn man die Geschwindigkeit berücksichtigt, in der die künstliche Intelligenz, die das Papst-Abbild geschaffen hat, zu lernen in der Lage ist. Wir können davon ausgehen, dass es immer unbequemer werden wird, echte Nachrichten von falschen zu unterscheiden. Und wir wären keine Menschen, würden wir nicht den Weg des geringsten Widerstandes bevorzugen. Die Versuchung ist groß, sich als Maßstab dafür, ob eine Nachricht echt oder unecht ist, auf so was wie ein Bauchgefühl zu verlassen. Was empfinde ich, wenn ich eine Nachricht lese? Fühlt sie sich echt an? Oder ist vielleicht nur das Gefühl, das sie in mir auslöst, echt? Dann wird es schon passen – oder?

Ist es echt eine Einbildung?

Freilich, jemand wie Jean Baudrillard wird da nur müde mit den Schulten zucken. Für den Philosophen wurde das Reale eh bereits unwiederbringlich durch Zeichen des Realen ersetzt. Instagram or it didn’t happen. Oder: In einer Welt, in der wir schon beim Marmeladenkauf gezwungen sind, andächtig ganze Regalmeter entlangzu schreiten, auf der Suche nach Resonanz in unserem Innersten auf irgendwelche Gläschen, Verpackungen, Werbeversprechen, ist uns sowieso nicht mehr zu helfen. Aber was sollen wir machen? Hoch glanz, Oberfläche, Narrative sind a hell of a drug. Weil, ganz ehrlich: Es funktioniert. Das Glück, das mir das Marmeladenglas beim Kauf verspricht: Ich kann es tatsächlich spüren.

Illusionen? Der Soziologe Andreas Reckwitz hat immerhin ein Buch mit dem Titel »Das Ende der Illusionen« geschrieben. Die größte Illusion, sagt er, sei der Glaube an den immerwährenden Fortschritt der westlichen Gesellschaften. Aber es gibt Hoffnung. Der Weg zu so etwas wie dem Wahren, Schönen, Guten ist nicht versperrt. Und die Richtung ist: Solidarität und gemeinschaftliche Verantwortung für die Gesellschaft. Das wäre wirklich mal was Neues. Ist aber nur möglich, wenn wir uns von all den glänzenden, oberflächlichen Illusionen verabschieden und den Traum von der perfekten Welt durch Konsum und Technik aufgeben. Marmeladengläser werden uns dann immer noch ungleich schwer vorkommen, je nach Größe. Aber es wäre uns egal, was auf dem Etikett steht. Klingt doch eigentlich gut, oder?

Wirklich, was bilden wir uns ein?

Ich zerstör’ Illusionen wie Dieter Bohlen. Hat der Rapper Seyed mal gesagt. Dieter, hilf uns! Wie kommen wir raus aus dem Karussell der

Sie schlief schon seit einer Weile nicht mehr.

Und wenn sie doch mal schlief, träumte sie von blöden Sachen, von kleinen Hunden, die zu hunderten in die Wohnung einfielen und wütend kläfften. Bald wurde sie selbst ein Tier, sie hörte auf, die Wohnung zu putzen. Nachts war das Tier hellwach, aber nicht besonders aktiv.

Sie lag auf einer Gymnastikmatte auf dem Boden, ein paar zerstreute Bauchmuskelübungen, das war alles. Eigentlich schaute sie die meiste Zeit an die Zimmerdecke. Ein Stuckrelief klebte da, mehrere konzentrische Kreise, auf denen Blüten schwebten. Sie waren so oft mit Farbe überstrichen, dass sie aussahen wie Planeten. Sie kreisten auf ihren Bahnen, Tag und Nacht. Es war ganz angenehm, die Planeten anzusehen und sonst nicht viel.

Manchmal hörte Juno den Motor des Pflegebetts in Jupiters Zimmer brummen, dann wusste sie, er war noch wach, er verstellte das Kopfteil. Er musste es mitbekommen, wenn sie zur Toilette ging oder in die Küche, um sich ein Glas Wasser zu holen. Aber Jupiter stellte nie Fragen, und was hätte sie auch antworten können?

Ich kann nicht mehr schlafen, weil mir alles zu viel wird. So was in der Art. Das war erstens falsch und hätte zweitens überhaupt nichts erklärt.

Manchmal nahm sie das Handy und öffnete Instagram. In den Feed schaute sie gar nicht erst, der war meistens langweilig. Lieber gleich in die Direct Messages. Eine glitzernde, hüpfende Neugier. War wieder eine Nachricht von Unbekannt da? In diesem Fall war das Wort »Anfrage« fett und blau. Es war eigentlich fast jede Nacht fett und blau.

Die ihr da schrieben, hießen Jimmy Taylor_354 oder Marcus DeBuonaventura. Sie hießen Phil Gibson1973. William_Smith und Dr. Antonio Alessandro. Braungebrannte Typen vor Segelyachten, weiße,

grauhaarige Männer mit Basecap und Dreitagebart. Ein Cowboy in Stiefeln, der vor einer Ranch posierte. Ein US-ArmyGeneral im Kadettenkostüm. Ein Witwer mit zwei Kindern, in einer luxuriösen Küche buken sie Pancakes.

In Wahrheit saßen jüngere Männer in einem Internetcafé irgendwo weit weg und tippten kitschige Lügen in den Rechner oder ins Handy. Juno hatte mal eine Doku auf Youtube gesehen, man nannte das »Love-Scamming«. Es schien ein gutes Geschäft zu sein. Man schrieb ältere, scheinbar alleinstehende Frauen unter einem Fake-Profil an.

Ich sah dein Profilbild und war sofort hingerissen von dir.

Dann begannen die Love-Scammer, eine Beziehung anzubahnen.

Guten Morgen, meine Liebe.

Was hast du heute gegessen? Gib gut auf dich acht.

I love you.

Sticker mit roten Rosen. Sticker mit Kaffeetassen, auf denen »Love« stand.

Ein junger Mann wurde gefilmt, wie er gerade in einem Buch über psychische Manipulation las.

Ich vermisse dich so. Ich träume davon, mein Leben mit dir zu verbringen.

Ich vermisse dich so. Ich träume davon, mein Leben mit dir zu verbringen.

Irgendwann baten die Love-Scammer die Frauen um Geld.

Ich bin unterwegs auf Geschäftsreise und hatte einen Unfall, jetzt sitze ich hier im Gefängnis und komm nicht an mein Konto, kannst du mir kurz aushelfen?

Juno war geschockt und fasziniert zugleich, wie viele Frauen es gab, die so was glaubten. Die in der Doku freimütig erzählten, welche

Hi Schönste / Hallo Hübsche / Hi du Sonnenschein, wie geht’s?
Null
T Martina Hefter

Summen sie am Ende per Western Union in ferne Länder überwiesen hatten.

Jetzt war also auch sie in ihren Radar geraten, ausgerechnet sie, Juno Isabella Flock. Juno, die Frau von Jupiter, aber davon wussten die Love-Scammer nichts. Unbeirrt ließen sie ihre Anfragen regnen. Und Juno sendete gern Antworten.

In der finsteren, glitzernden Euphorie des Wachseins, weit nach Mitternacht, aus ihrem Zimmer mit den Planeten an der Decke.

Wie geht es dir,

wie ist das Wetter bei euch da drüben?

Mir geht’s fantastisch, danke.

Wir haben 45 Grad, man bekommt eine

Matschbirne davon.

Was machst du so?

Ich arbeite in einer Konstruktionsfirma, ARCO, aber ich bin auch Finanzberater, und was machst du?

Ich füttere meine Falken, ich besitze drei, jeder zwanzigtausend Dollar wert. Sie heißen Leo, Bubbo und Lucas.

Wow, das klingt interessant!

Mittelalter, weißer Mann, graue Haare, er trug Shorts, stand unter einer Palme.

Weißer Mann, graue Haare, er lehnte an einem Cabrio.

Sonnengeküsster weißer Mann, er umarmte einen weißen, wuscheligen Hund.

Kalifornischer Segelbursche, leicht ergrauter Marine mit geklauter Identität. Kommt her zu Juno. Sie will mit euch spielen.

Hi, danke, mir geht’s gut.

In Deutschland wohne ich, ein Land mit riesigen Robbenbecken in den Zoos.

Was ich mache? Lieg in der Badi, trink Likör, wie alle in Deutschland.

Ich rauch Geldscheine, schon mal probiert?

Verheiratet? Nope, ich leb mit drei Dienern, zwei Männer eine Frau, wir beschimpfen einander und trinken dabei einen Kasten Bier.

Und du?

Die Love-Scammer glaubten ihr für lange Zeit einfach alles. Zuerst machte das Spaß: Mit einem Typen lügen nach Mitternacht. Sie streckte die Hand aus: Komm. Es war auf eine fiese Weise lustig. Manchmal zögerten sie.

Are you serious?

Wie sie strauchelten, unsicher wurden. Wie etwas in ihre Welt krachte, Trümmer von Juno Isabella Flock, die keine Geldscheine rauchte, sondern in einem Zimmer neben Jupiter lebte, der nachts in einem Pflegebett lag. Dieses Pflegebett sah aus wie ein Bett im Krankenhaus, nur war es mit einer Folie beklebt, die Holzfurnier imitieren sollte. Tagsüber saß Jupiter in einem Rollstuhl. Der Rollstuhl war rotmetallic lackiert, das hatte Jupiter sich damals ausgesucht. Mittlerweile gab’s ein paar Kratzer im Lack.

Hi.
Hi schöne Frau.
Hi.

Jeden Morgen hieß es raus aus dem Bett und rein in den Rollstuhl, das dauerte fünf Minuten, Jupiter schob sich zur Bettkante, die Beine voran, ließ erst die eine, dann die andere Seite seines Körpers runter auf die Sitzfläche und stützte sich dabei mit den Händen auf den Armlehnen ab.

Man muss nur kurz die Erde anheben, sagte Jupiter mal, es ist nicht so schwer.

Vielleicht hatten die Männer, die ihr schrieben, es verdient, so leicht auf Juno reinzufallen. Wie die Frauen, die sie betrogen, auf ihren Mist reinfielen.

Ob sie vielleicht diese Frauen rächen wollte? Eher nein. Sie konnte nachts nicht mehr schlafen, das war alles.

Die Love-Scammer in ihren Schwellenländern wussten rein gar nichts von ihr, sonst hätten sie ihr vielleicht nicht geschrieben. Ihr, die nachts wach lag und an die Decke schaute.

Hey, schöne Frau, was machst du so?

Juno antwortete schnell und effektiv. Wie es ihr ging und was sie machte. Dass sie zwei Mal verheiratet war und sich jetzt mit einem Internisten langweilte.

Dass sie Kampfhunde züchtete.

Dass sie Hunde liebte – halt, das war nicht gelogen. Irgendwann hatte sie bemerkt, dass sich kleine Wahrheiten in ihre Lügen schlichen. Etwas, das stimmte. Es beunruhigte Juno weniger, als dass es sie erstaunte. Manchmal fühlte es sich gut an, die Wahrheit zu sagen.

Gestern sah ich einen Film, »Melancholia«, kennst du den? Ein Planet kracht in die Erde, es geht nicht gut aus. Es gibt zwei Schwestern, Claire und Justine. Einmal sagt Justine, es ist gut, wenn die Welt untergeht, und Claire ist fassungslos deswegen.

Wie kannst du so kalt sein, Justine, ey, wir sterben hier, und du sagst, ist doch in Ordnung? Oder als Claire merkt, sie kann John nicht vertrauen. John ist Claires Mann, ein Hobby-Astronom. John sagt, Melancholia wird an der Erde vorbeiziehen, keine Angst. John irrt, der Planet kommt zurück, dreht um.

Claires Panik, Justines Ruhe kurz vor dem Aufprall des Planeten, Claire drückt im Garten schützend ihren Jungen an sich.

Melancholia, ist das nicht ein schöner Name für einen verirrten Planeten? Ich hör die Filmmusik oft beim Spazierengehen. Manchmal denke ich wie Justine, so eine Kollision mit einem Planeten oder Kometen, das wär’s.

Love-Scammer antwortete nicht.

Claire bekommt von John eine Drahtschlaufe, sie kann sie im Garten gegen Melancholia halten. Melancholia hängt am taghellen Himmel, ein großer Mond. Claire sieht, wie er in der Schlaufe immer kleiner wird, sie denkt, er zieht wieder ab ins All, sie ist glücklich. Jedoch einen Tag später: Melancholia ist viel größer als die Schlaufe. Melancholia kam zurück.

Wie die Vögel niedergehen. Hagel donnert die Luft zu, das Gras zittert.

Mich macht Bedrohunag aus dem All immer besonders traurig, weil die Dimensionen so viel größer sind.

Love-Scammer las die Nachricht nicht.

Wie ist das Wetter bei dir? Hallo Schönheit!
Das Wetter ist grau und kalt, November, kein guter Monat.
Hey, meld dich mal, ja?

Es ist schön, dir das alles zu schreiben.

Love-Scammer las die Nachricht nicht.

Hey guten Morgen, wie geht es dir?

Love-Scammer antwortete nicht mehr.

Nächster Typ, weiter ging’s.

Ich mag Liebesfilme, die kein Happy End haben, zum Beispiel »Open Water«, schon mal gesehen? Ein Paar treibt im Wasser, sie buchten einen Trip aufs offene Meer zum Tauchen, mehrere Leute auf dem Boot, die Crew verzählt sich, das Boot fährt zurück, vergisst sie einzusammeln.

Sie treiben im Pazifik, er wird von einem Hai angegriffen. Sie muss stark sein, ihn trösten, aber er stirbt in ihren Armen. Sie holt noch mal Luft, köpft dann abwärts, taucht nie wieder auf.

Ich hab das immer als brutal konsequente Lovestory gesehen.

Wie sie sich beide haben, sich klammern, sich tragen. Er hält sie, damit sie schlafen kann, gerade da kommt der Hai.

Ich mag die Konsequenz und dass der Film die Realität nicht bereinigt.

Nur dadurch wird es überhaupt erst ein Liebesfilm.

Der Scammer war unwichtig geworden, während sie das schrieb, obwohl er zuerst einzusteigen versuchte.

Ja, meine Liebe, wahre Liebe ist etwas Wunderbares!

Ich find’s immer toll, wenn wahre Liebe erst im Tod ihre Wahrheit zeigt.

Bitte sag nicht solche Sachen, Liebste!

Doch, genau solche Dinge will ich sagen.

Der Tod ist’s, der uns am Ende eint.

Ich freu mich, das mit dir zu teilen, übrigens.

So endeten die Chats jedes Mal.

Die Scammer antworteten irgendwann nicht mehr, und dieser eine hier wurde aggressiv. Juno war ihm nicht einmal böse. Sie sprach ja genauso in leiser Aggression, wenn sie ehrlich war.

Es kam ihr manchmal vor, als wäre es ihre aufrichtigste Haltung.

In den Chats war sie womöglich die echte Juno.

Bitch.

Als US-Präsident Donald Trump die Idee vorbrachte, den GazaStreifen in eine »Riviera des Nahen Ostens« zu verwandeln, konnten selbst erfahrene Politikbeobachter nur mit dem Kopf schütteln – der Vorschlag war so absurd, dass man ihn eigentlich gar nicht ernst nehmen konnte. Meint Trump das wirklich so? Plappert da jemand die Worte eines halluzinierenden Chatbots nach? Oder ist das alles nur Realsatire?

Man sah vor dem geistigen Auge Kasinos, Luxusresorts, Golfplätze und À-la-carte-Restaurants, wo beleibte Boomer mit ihren viel zu jungen Gattinnen in Manolo-Blahnik-Schuhen zu Abend speisen. Trump nahm einem aber leider auch diese Fantasie, indem er auf seinem Claqueurdienst Truth Social ein KI-generiertes Video teilte, das Gaza als disneyfiziertes Dubai 2.0 imaginierte: Skyline, Strände, Jachten. Und mittendrin Trump, der das Volk von einer phallisch-pharaonisch vergoldeten Statue grüßt und am Pool seines protzigen Luxushotels »Trump Gaza« im Liegestuhl mit Benjamin Netanjahu einen Cocktail schlürft. Der Fiebertraum eines Baulöwen. Wäre die Sache nicht so degoutant, könnte man den Vorschlag glatt für einen PR-Gag halten.

Natürlich wird Trump nicht den Gaza-Streifen einnehmen und Bauland an Investoren oder Siedler verkaufen, auch wenn das vielleicht der Impuls eines Immobilientycoons sein mag. Der USPräsident wollte ja schon vor einigen Jahren der dänischen Regierung Grönland abkaufen, obwohl es dort kalt ist und nur einen kleinen Golfplatz mit neun Loch gibt. Doch die Vorstellung, man könne einfach mit dem Bulldozer über eine Trümmerlandschaft fahren und darauf Hotels bauen, zeugt von einem naiven, autoritären Politikverständnis. Weltpolitik ist ja kein Monopoly, wo es darum geht, ein Grundstücksimperium aufzubauen. Trumps Riviera-Plan ist eine Dystopie, die den Kolonialismus des 19. Jahrhunderts aktualisiert und womöglich nur mit der Zwangsumsiedlung hunderttausender Palästinenser realisierbar wäre.

Klimakrise, Krieg, KI-Apokalypse – der Zeitgeist ist resignativ und fatalistisch. Daher haben politische Erzählungen Konjunktur, welche die Zukunft im Gestern suchen.

Trump hat in der Vergangenheit schon zahlreiche groteske Ideen ventiliert. So stellte er 2012 in einem Tweet die krude These auf, das World Trade Center wäre bei den Terroranschlägen vom 11. September 2001 nicht niedergebrannt, hätte man nicht zuvor

das feuerfeste Asbest entfernt und durch »Müll« ersetzt. Während der Corona-Pandemie empfahl er zum Entsetzen aller Mediziner, man solle sich zur Bekämpfung des Virus Desinfektionsmittel injizieren. Und beim TV-Duell im US-Präsidentschaftswahlkampf 2024 behauptete er, haitianische Migranten würden Haustiere stehlen und essen. »Flooding the zone with shit«, nannte Trumps früherer Berater Steve Bannon diese perfide Taktik: Man flutet das mediale Ökosystem so lange mit Bullshit, bis die Beobachter kapitulieren. Während Trump eine Nebelkerze nach der anderen zündet, schwingt sein Adjutant Elon Musk die Kettensäge und baut mit seiner Abrisstruppe DOGE (Department of Government Efficiency) den Staat um.

In Trumps erster Amtszeit, als die Medien etwas voreilig das postfaktische Zeitalter ausriefen und die Sozialkonstruktivisten der »French Theory« für die Beugung der Wahrheit verantwortlich machten, versuchte eine ganze Armada von Faktencheckern, Trumps Äußerungen einer Wahrheitsprüfung zu unterziehen. Man dachte, man könne Trump durch die Falsifikation und damit einhergehende Delegitimation seiner Aussagen als Lügner überführen. Die Washington Post zählte allein in den vier Jahren seiner ersten Amtszeit über dreißigtausend falsche oder irreführende Behauptungen. Doch irgendwann gaben die Chronisten es auf, jeden Fake zu dokumentieren; die diskursive Sünde der Lüge ist in einer Welt, in der sich jeder nach dem Do-it-yourself-Prinzip seine eigene Realität zurechtzimmert, nicht mal mehr ein Kavaliersdelikt. Die Washington Post singt das Lied ihres Eigentümers, AmazonGründer Jeff Bezos. Und der Facebook-Konzern Meta hat die Faktenchecks in einer schmierigen Demutsgeste vor Trump gleich ganz abgeschafft. Die Öffentlichkeit macht sich keine falschen Vorstellungen mehr, dass sich Trump an den Goldstandard von Fakten halten würde. Der US-Präsident hat den Politbetrieb fiktionalisiert. Ihn der Lüge zu bezichtigen ist ungefähr so, als würde man Santa Clause vorwerfen, er erzähle Fantasiegeschichten. Die Lüge ist sein Stilmittel.

Trump ist der Politclown, der Possenreißer, der immer wieder neue Sottisen von sich gibt. In gewisser Weise erwartet der Zuschauer,

dass der US-Präsident diese Rolle einnimmt. Würde er vom Duktus seiner kindlich-naiven Bildersprache (»beautiful, shiny white rockets«) abweichen und in Scholz’scher Bürokratenmanier Paragraphen zitieren, würde man paradoxerweise meinen, er schauspielere. Insofern wird das Publikum auch nicht getäuscht. Trump ist authentisch als Märchenonkel. Seine mediale Selbstinszenierung lebt von der großen »dezisionistischen Geste« (Armin Nassehi), wenn er mit Big-Mac-großer Unterschrift reihenweise Executive Orders unterschreibt (ein Fest für Graphologen und Semiotiker!) und die Dokumente als Tätigkeitsnachweis triumphierend in die Kamera hält. Doch diese Dekrete, die der Präsident erlässt, sind häufig nur Symbolpolitik – eine Simulation von Politik, die Handlungsfähigkeit suggeriert, aber im Ergebnis wenig bewirkt. »Die Menge an Worten, Papier und Komitees erzeugt die Illusion der Entscheidung«, schrieb schon der französische Soziologe Jacques Ellul in seinem Werk »L’Illusion politique« (1965). Wenn Trump vollmundig verspricht, er bringe die Jobs in der Automobilindustrie zurück – »Bring back« ist eine zentrale Formel seines radikalen Revisionismus –, und sich zum Retter der heimischen Industrie aufschwingt, muss selbst den ergebensten »Front Row Joes« klar sein, dass dies angesichts des Strukturwandels und der chinesischen Billigkonkurrenz eine Illusion ist, an der auch Zölle nichts ändern. Das Rad lässt sich nicht zurückdrehen. Doch Politik ist schon länger zum Illusionstheater verkommen. Da werden munter Ziele formuliert (Eins-Komma-fünf-Grad-Ziel, Zwei-Prozent-Ziel bei der Verteidigung, vierhunderttausend neue Wohnungen im Jahr usw.), die dann krachend verfehlt werden und für Verdruss sorgen. Ziele wecken ja Erwartungen, die bei Nichterreichen enttäuscht werden. Man liest dann Schlagzeilen wie »Deutschland nicht auf Klima-Kurs« oder »Regierung verfehlt Ziele stark«. Die New-Public-Management-Doktrin, die mit dem Siegeszug des Neoliberalismus in den 1990er Jahren Einzug in die öffentliche Verwaltung hielt und spröde Kämmerer das Consulting-Vokabular von »Use-cases« und »Impact« lernen ließ, hat auch im Diskurs ihre Spuren hinterlassen. Ohne Managementinstrumente kann man kein Dorffest mehr planen.

Was also kann man von der Zukunft noch erwarten? In einem Land wie Deutschland, in dem aufgrund der historischen Erfahrung Utopien unter Ideologieverdacht stehen, tut man sich naturgemäß schwer mit Weltverbesserungsfantasien. Schon kleinste Korrekturen am System wie eine Reform der Pflegeversicherung gelten als »illusorisch«. »Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen«, deklamierte Bundeskanzler Helmut Schmidt und nordete damit die Diskurslandschaft ein. Die Politikergenerationen, die folgten, scheuten den Arztbesuch. Reformstau lässt grüßen. Der Satz »Die Rente ist sicher«, den der damalige Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Norbert Blüm, plakatieren ließ, darf nach Einschätzung von Ökonomen als modernes Märchen gelten. Und die »blühenden Landschaften«, die Bundeskanzler Helmut Kohl nach der Wiedervereinigung vollmundig versprach, haben sich teilweise in einen AfD-Sumpf verwandelt. Es mögen noch so viele Sonntagsreden gehalten werden, aber an die Erzählung glaubt heute niemand mehr. Der Soziologe Andreas Reckwitz hat in seinem Buch »Das Ende der Illusionen« (2019) beschrieben, wie die liberale Fortschrittserzählung in Dystopie und Nostalgie gekippt ist. Finanzkrise, Terroranschläge, Trump und Brexit, so Reckwitz’ Zeitdiagnose, hätten die »Liberalisierungs- und Emanzipationsgewinne« erschüttert und das Erbe Francis Fukuyamas vom »Ende der Geschichte« kassiert. Das Ergebnis sei eine »desillusionierte Gegenwart«. Die Menschen machen sich keine Illusionen über ihre Zukunft. Der Zeitgeist ist resignativ und fatalistisch. Die Zukunft wird nicht mehr als Möglichkeitsraum, sondern als Gefahrengebiet wahrgenommen. Am Horizont dräuen Krieg, Klimakatastrophe und KI-Apokalypse. Dass es die Jungen heute angesichts multipler Krisen schwerer haben, bestreiten nicht mal die Alten. Gleichzeitig klammert man sich an alte Glaubenssätze, die in unruhigen Zeiten Stabilität versprechen. Sonst hätte die SPD im jüngsten Bundestagswahlkampf auch nicht für »stabile Renten« geworben. Je wackeliger die Lage, desto solider ist die Rhetorik der Selbstbeschwörung. Womöglich wollen die Wähler gar belogen werden. Die Nostalgie ist der letzte Rettungsanker, die »verlorenen Illusionen« (Honoré de Balzac) zurückzuholen.

Die Populisten um Trump, Weidel und Le Pen verkaufen einem die Vergangenheit als glorreiche Zukunft – nach dem Motto: Wenn alles wie gestern ist, ist alles wieder gut. Zurück zur D-Mark, zurück zu den Schlagbäumen, zurück zum Familienbild der 1950er Jahre. Es geht um die Rückabwicklung des verhassten »Projekts der Moderne«. Das Fatale an diesen rückwärtsgewandten Vorstellungen ist nicht nur die Romantisierung und Verklärung der Vergangenheit, sondern die Diskreditierung von Zukunftserzählungen, die den utopischen Raum derart schrumpft, dass Trumps Phantasma eines Disneylands im Gaza-Streifen schon fast wieder visionär wirkt. Bis der Gaza-Streifen allerdings als »Riviera des Nahen Ostens« erblüht, dürfte Mar-a-Lago schon überflutet sein.

Die wahre Wirklichkeit ist woanders

Okkultismus und Astrologie haben eine lange Geschichte. In den Mainstream kamen sie vor 150 Jahren – durch die Urgroßmutter des New Age.

In einer Welt, in der die großen Erzählungen fehlen, sucht sich jeder seine eigene. Was hält die Welt im Innersten zusammen, wer oder was bestimmt den Lauf der Dinge? Es kann doch nicht nichts sein. Gott ist vielleicht tot, aber wer ist an seine Stelle getreten? In unserer Gegenwart fächern sich die Antworten auf diese Frage breit auf. Die einen lassen sich von Astrologen individuelle Horoskope erstellen oder konsultieren dafür Apps wie Co-Star. Andere möchten mithilfe hoher Dosen psychedelischer Substanzen oder durch Meditation zum Kern der Dinge vordringen und lassen sich danach den Rilke-Satz »Die einzige Reise ist die Reise nach innen« (hat er so nie geschrieben) auf den Unterarm tätowieren. Wiederum andere ziehen sich durchgehend schwarz an, legen sich PentagrammKetten um den Hals, rufen in spiritistischen Sitzungen nach den Geistern ihrer Ahnen und posten dann schnell geschnittene Clips ihrer okkulten Erfahrungen unter #witchcore auf Tiktok. Diese Praktiken – es gibt natürlich noch unzählige mehr – sollen den Nebel der als illusionär erfahrenen Wirklichkeit auflösen und die geheime Macht, die über mein und unser aller Schicksal bestimmt, offenbaren: die Sterne, Gaia oder das Eine und Absolute. Waren Astrologie, transzendentale Meditation oder Séancen seit den 1960er Jahren eher in New-Age-Zirkeln und der esoterischen Szene angesagt, breiteten sie sich über die nächsten Jahrzehnte immer weiter im Mainstream aus und sind heute selbstverständlicher Teil der Pop-und Jugendkultur, der Lifestyle-Industrie und Modewelt. In den vergangenen Jahren griffen High-Fashion-Label wie Gucci, Dior oder Vetements immer wieder auf die okkulte Zeichenwelt zurück. Vielen ist dabei nicht bewusst, dass sie damit einer Lehre nahestehen, die ihren Anfang vor 150 Jahren nahm, und einer Frau, die damals ebenfalls den Okkultismus aus den dunklen Sphären der Geheimwissenschaft in das Licht der breiten Öffentlichkeit hob. Sie entwickelte eine spiritistische Praxis, die einen Stufenweg vorsah. Auf ihm verlässt man nach und nach unsere Wirklichkeit, die durch unsere fehlerhaften Sinne nur als Schatten des eigentlichen Wahren erfahren werden könne, in Richtung einer absoluten Realität, der alles entstammt. Man steigt empor wie aus Platons Höhle. Keine Illusionen mehr, nur noch gleißende, endgültige Wahrhaftigkeit.

Diese Frau hieß Helena Petrovna Blavatsky (1831–1891), sie war Spross der russisch-deutschen Aristokratie. Schon als Kind soll die Geisterwelt mit ihr kommuniziert haben, sie las Schriften der Freimaurer, es war ihr selbstverständlich, dass sie zu Höherem berufen war. Blavatsky, von ihren Anhängern HPB genannt, begann mit 18 Jahren eine »spiritual journey«, die sie nach New Orleans führte, wo sie den Voodoo-Kult studierte, im Iran lebte sie mit Sufi-Derwischen, in der Mongolei tauchte sie mit Schamanen ins Jenseits ein, sie reiste nach Ägypten und letztlich nach Indien, um Buddhismus und Hinduismus aus der Nähe kennenzulernen. Zwischendurch hatte sie, nach eigenen Angaben, einen Auftritt mit Clara Schumann, war Matrosin, kämpfte an der Seite Giuseppe Garibaldis für die Unabhängigkeit Italiens. Blavatsky verstand es also, eine Trickster-Biographie zu entwickeln, bei der niemand wusste, was Schein und was Sein war. Um ihre angebliche Fähigkeit, Verbindungen zum Übersinnlichen herzustellen, weiterzugeben, gründete sie zusammen mit dem Anwalt Henry Olcott 1875 in New York die Theosophische Gesellschaft. Ihre Anhänger beschäftigten sich mit Phänomenen wie der Seelenwanderung, meditierten, um ihr Ego aufzulösen, beschäftigten sich mit hinduistischen und buddhistischen Lehren, aber auch mit okkulten Praktiken wie Telepathie, Auralesen oder dem Verlassen des eigenen Körpers, um zu Astralreisen aufzubrechen. Blavatsky selbst sah sich als Mittlerin allmächtiger Meister, der »Großen Weißen Bruderschaft«. Mitglieder seien Jesus, Buddha, Pythagoras oder der Hindu-Heilige Manu, die nach ihrem physischen Tod als Geistwesen weiter auf der Erde geblieben waren, jeder mit einer Spezialfähigkeit ausgestattet wie Marvels X-Men. Besonders wichtig für Blavatsky waren die indischen Meister Moray und Koot Hoomi, ihre Mahatmas, die angeblich in einer unterirdischen Stadt in Tibet wohnten. Die beiden flüsterten Blavatsky, so sie selbst, ihre Hauptwerke ein: »Isis Unveiled. A Master-Key to the Mysteries of Ancient and Modern Science and Theology« (1877) und »The Secret Doctrine. The Synthesis of Science, Religion, and Philosophy« (1888). Im Verborgenen kämpfte die Bruderschaft gegen dunkle Mächte, die der Menschheit großen Schaden zufügen wollten. Blavatsky bediente sich bei der Ausformung der Geschichte ausgiebig bei den

Mysterien der Rosenkreuzer, die in verschiedenen Romanen, etwa beim Goth-Autor Edward Bulwer-Lytton, unsterblich und mit magischer Superpower gewappnet sind. Es ist letztlich die Geschichte, die in »Krieg der Sterne« oder in Superhelden-Comics immer wieder durchgespielt wird und Grundlage vieler Verschwörungsmythen ist: ein verborgener Kampf zwischen Gut und Böse, von dem die Nor-

malos gar nichts mitbekommen, zwischen Wesen mit außerordentlichen Fähigkeiten.

Blavatskys Bücher wurden, obwohl schwer lesbar, Bestseller und hatten großen Einfluss auf Kunst- und Intellektuellenkreise in Europa und den USA, waren aber auch in vielen anderen Milieus erfolgreich. Sie und die Theosophie brachten einen Zauber zurück, der

durch die schnell voranschreitende Industrialisierung und die rationale Deutung der Wirklichkeit durch die Naturwissenschaften verloren zu gehen schien. Unsere Welt sei eben nicht nur durch kühle physikalische Gesetze bestimmt, sondern jeder Stein, jede Pflanze, letztlich jedes Atom besitze ein Bewusstsein. Unsere Umwelt sei beseelt und um Zugang zu ihr zu finden, müsse man sich in einen anderen Bewusstseinszustand versetzen. Etwa durch Meditation oder Spiritismus. Blavatsky setzte mit der Theosophie eine Entwicklung in Gang, die ihr später den Titel »Mutter des New Age« einbrachte, die aber auch schon früher eine starke Wirkung entfaltete. Okkulte Elemente in einer Melange aus Mystik, Neopaganismus (Hexen, Magier, Satanisten), Buddhismus und Yoga waren etwa in den kulturell avancierten Kreisen der 1920er Jahre en vogue. Mel Gordon schreibt in seinem Buch »Voluptuous Panic. The Erotic World of Weimar Berlin«, dass es um diese Zeit in Zentraleuropa über zweihundert mystische Sekten und Geheimgesellschaften gegeben haben soll. Mehr als zwei Millionen Deutsche hätten sich dort mit den Lehren der Rosenkreuzer oder Freimaurern, Astrologie, Gläserrücken oder Sexmagie beschäftigt. Weitere acht Millionen seien informell an den abseitigen Praktiken interessiert gewesen. Ob diese Zahlen stimmen, lässt sich schwer nachprüfen. Die Theosophie hinterließ zu Beginn des 20. Jahrhundert jedenfalls ihr Signum. In zahlreichen esoterischen Zirkeln, aber auch in der Kunst. Wassily Kandinsky (1866–1944) nennt die Theosophie in seiner kunsttheoretischen Schrift »Das Geistige in der Kunst« (1910) »eine der größten spirituellen Bewegungen« und eine Gegenkraft zu Sozialismus, Kapitalismus, Materialismus und Positivismus. Der Maler Piet Mondrian war Mitglied der niederländischen Sektion der Theosophischen Gesellschaft und der Künstler Max Beckmann zeichnete Entwürfe zur Theosophie, nachdem er Blavatskys »The Secret Doctrine« überaus beeindruckt gelesen hatte. Der Literaturnobelpreisträger William Butler Yeats (1865–1939) war für eine gewisse Zeit Mitglied der Theosophischen Gesellschaft und Bewunderer Blavatskys, so wie Rudolf Steiner (1861–1925), der dann 1910 seine eigene anthroposophische Gesellschaft gründete.

Zu dessen Anhängerinnen gehörte die schwedische Malerin Hilma af Klint (1862–1944), die in den vergangenen Jahren zu einer Art Kunststar aufgestiegen ist. Seit ihrer Jugend war sie glühende Anhängerin der Theosophie. Af Klint, zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Schweden als Landschaftsmalerin bekannt, unterhielt mit vier Frauen einen okkulten Zirkel, den sie »Die Fünf« nannten. In spiritistischen Sitzungen traten sie in Kontakt mit höheren Mächten oder eben Blavatskys »Meistern«. Hilma af Klint malte deren Botschaften in Trance. Es entstanden nonfigurative Bilder in einer Art automatischer Malerei, wie sie später die Surrealisten institutionalisierten. In einer frühen Werkphase versammelte sie noch organische Formen, etwa blütenähnliche Gebilde, auf der Leinwand. Doch bald, etwa in der Reihe »Ur-Chaos« (1906/07), wandte sie sich der reinen Form zu: Zu sehen sind spiralartige Gestalten. Ihre Serien, wie etwa die berühmte Bildfolge »Schwan« (1914), folgen dem Weg vom Gegenstand zur totalen Abstraktion, in der sich das ursprüngliche Objekt in Form und Farben auflöst. Spätere Arbeiten wie der »Standpunkt Buddhas auf der Erde« (1920) verschieben diese Bildwelt, die mit einem okkulten Farb- und Symbolsystem versehen ist, noch einmal in Richtung strenge Geometrie.

Hilma af Klint ging ab dem Jahr 1906 konsequent in die Abstraktion. Also bevor Kandinsky, Piet Mondrian oder Kasimir Malewitsch sich in ihrer Kunst von der sichtbaren Wirklichkeit entfernten und das »Geistige«, wie Kandinsky es beschrieb, erkundeten. Auf ihre

Weise malte af Klint jedoch gegenständlich , nur dass sie eben keine sichtbaren Objekte abbildete, sondern geistige Entitäten, die für sie letztlich realer und greifbarer waren, weil sie durch eine Innenschau zu ihr kamen und nicht durch die fehlbaren Sinne vermittelt wurden.

Mit Hilma af Klint schließt sich ein Kreis. Von Blavatsky zu den okkulten Symbolen und Spielereien auf Social Media. Von Theosophie über New Age zu Witchcore. Auf Instagram gibt es über neunundachtzigtausend Beiträge über af Klint, beeindruckend für eine Künstlerin, die in den vergangenen hundert Jahren über weite Strecken nur in anthroposophischen Kreisen anerkannt war. Erst in den 1980er Jahren wurde sie vom Kunstbetrieb entdeckt und erlebte in den

zurückliegenden zehn bis fünfzehn Jahren eine nicht enden wollende Konjunktur. In dieser Zeit waren ihr über ein Dutzend große Retrospektiven gewidmet, etwa im Hamburger Bahnhof in Berlin, im Guggenheim New York, im Lenbachhaus München oder in der Art Gallery of New South Wales in Sydney. Sie wird nun als völlig gegenwärtiges Kunstphänomen verhandelt, was nicht nur an ihrer Vorreiterrolle für die abstrakte Kunst liegt. Ihre Bilder sprechen heute gleichermaßen verschiedene Zielgruppen an: Man kann in ihnen Figurationen eines individuellen Spiritualismus sehen oder abstrakte Darstellungen eines ekstatischen Zustandes. Praktizierende von Meditation und Yoga können sich darin genauso wiederfinden wie Anhänger:innen von Mystik und Neopaganismus, die mit Gegenwartskunst sonst nichts am Hut haben. Sie schwärmen genauso von Hilma af Klint wie Vertreter:innen einer aktivistisch betriebenen Kunstgeschichte, der es um Positionen jenseits des männlichen Kanons geht. Alle finden sie in ihren Bildern den Zauber des Jenseitigen, wo eine allumfassende Einheit und Harmonie herrscht. So weit weg vom fragmentierten Erleben der Wirklichkeit zwischen Screens und Newsalert. Endlich Ruhe vor einer durch Krisen aufgerauten Gegenwart, vor den sich beschleunigenden Veränderungen. Sie sind damit durch ein unsichtbares Band mit den Theosophen des beginnenden 20. Jahrhunderts verbunden und deren Sehnsucht nach einer illusionsfreien absoluten Realität.

LILLIAN ANSELL, S. 108

Lillian Ansell ist eine in New York lebende Illustratorin und Designerin, deren Werke die Grenzen zwischen Grafikdesign und Comics verschwimmen lassen. Sie absolvierte in New York an der School of Visual Arts ein Masterstudium in Illustration. Ihre Arbeiten wurden unter anderem in der New York Times, der Cambridge University Press und im Apollon Dossier veröffentlicht.

BRIAN BLOMERTH, S. 80 / 81

Brian Blomerth ist Künstler, Illustrator, Cartoonist und Musiker. Zu seinen bisherigen Veröffentlichungen gehören die Zines »Xak’s Wax«, »iPhone 64: A User’s Guide« und »Hypermaze«. Als Veteran zahlreicher Underground-Musikund -Kunstszenen hat Blomerth mehrere Albumcover gestaltet und seine Werke erschienen bereits in der New York Times, in Vice oder Merry Jane. Er lebt in Brooklyn.

MARTINA BORSCHE S. 42–53

Martina Borsche ist Fotografin und Kuratorin. Sie absolvierte an der Boston University ihr Bachelor-Studium für Internationale Beziehungen. Am Istituto Europeo di Design Madrid erhielt sie den Master für Europäische Kunst Fotografie. Seit der Spielzeit 2021 / 22 ist sie als Bilddramaturgin für die Bayerische Staatsoper tätig. Für Apollon kuratiert sie die visuellen Inhalte und schreibt gelegentlich auch ihre Gedanken hierzu.

ELISABETH BRONFEN, S. 64–69

Die Kultur- und Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen hat zahlreiche Aufsätze in den Bereichen Gender Studies, Psychoanalyse, Literatur-, Film- und Kulturwissenschaften sowie einige viel beachtete Bücher veröffentlicht. Sie lebt in Zürich.

YANNIK CARSTENSEN, S. 80–87

Yannik Carstensen ist als queerer Prolet aufgewachsen, liebt Crop Tops und Melancholie und arbeitet nach einem Drehbuchstudium an der Hochschule für Fernsehen und Film München als Autor in Berlin.

IAN CHILLAG, S. 34–41

Ian Chillag arbeitet als Podcastproduzent und Autor. »Everything is alive« ist eine Interviewserie ohne Drehbuch, in der alle Gesprächspartner:innen leblose Objekte sind. Abgesehen davon, dass die Dinge sprechen können, ist es wie ein Sachbuch: Alles, was uns die Objekte sagen, ist wahr.

PHILIPP DEINES, S. 114–121

Philipp Deines, geboren 1980, ist Zeichner und Künstler. Seine Graphic Novel »Die fünf Leben der Hilma af Klint« erschien 2022 bei David Zwirner Books auf Englisch und bei Hatje Cantz auf Deutsch.

CHRISTIAN GOTTWALT, S. 72–79

Christian Gottwalt, Jahrgang 1968, hat sich als Journalist auf die kurze Form konzentriert. Für das SZ-Magazin konzipierte er einst »Gemischtes Doppel« und »Sagen Sie jetzt nichts«. Für Apollon begann er, Fabeln zu schreiben.

MARTINA HEFTER, S. 96–105

Martina Hefter ist eine deutsche Schriftstellerin und Performancekünstlerin. Ihre Werke wurden mehrfach ausgezeichnet. 2024 erhielt sie den Deutschen Buchpreis für den Roman »Hey guten Morgen, wie geht es dir?«, erschienen bei Klett-Cotta.

LUKAS KUBINA, S. 16–31

Lukas Kubina ist Autor, Herausgeber und Verleger. Die Kurzgeschichte »Workation« wurde zuerst im Sammelband »Sorry Siracusa« (Sorry 2024) veröffentlicht.

ADRIAN LOBE, S. 108–113

Adrian Lobe, geboren 1988, ist Politikwissenschaftler und freier Publizist. Im August 2023 erschien sein aktuelles Buch »Mach das Internet aus, ich muss telefonieren« bei C.H. Beck.

DANIJELA PILIĆ, S. 10–15

Danijela Pilić ist Autorin, Journalistin und Kolumnistin. Sie schreibt über Mode, Beauty, Zeitgeist, Astrologie und Popkultur, unter anderem für Glamour, Vogue, Cosmopolitan, SZ Magazin und Playboy. Sie wurde in Split an der dalmatinischen Küste geboren und zog, als sie zehn Jahre alt war, mit ihrer Familie nach München, wo sie heute wieder lebt und arbeitet. Bisher hat sie drei Bücher veröffentlicht, zurzeit schreibt sie ihren ersten Roman.

JUL QUANOUAI, S. 54–63, 72

Jul Quanouai ist ein französischer Künstler und Illustrator. Er kommt ursprünglich aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Bordeaux und verbrachte seine Kindheit mit französischen und belgischen Comics, bevor er nach Paris ging, um Grafikdesign zu studieren. Seine Werke wurden im Zeit Magazin, Brick Magazine, Baffler, Kapsel Magazin, Lagon Revue, bei Pli Éditions und Drag City Records veröffentlicht und in der RFI Gallery, Galerie m, Colorama, Super-structure und bei Éditions Matière ausgestellt. Jul Quanouai lebt und arbeitet in Toulouse.

LILI RUGE, S. 88–93

Lili Ruge ist Kulturjournalistin und ihre größte Illusion ist es, einen Text über Illusionen schreiben zu können, ohne darüber den Kopf zu verlieren.

BENEDIKT SARREITER, S. 114–123

Benedikt Sarreiter hat mit Paul-Philipp Hanske die Bücher »Neues von der anderen Seite« (Suhrkamp) und »Ekstasen der Gegenwart« (Matthes & Seitz) geschrieben. »Ekstasen der Gegenwart« erscheint dieses Jahr in englischer Übersetzung bei Sorry Press. Sarreiter ist Mitgründer des Redaktionsbüros Nansen & Piccard sowie der Onlinegalerie für Fotografie The Now Now.

DOMINIK WENDLAND,

S. 4–9

Dominik Wendland, geboren 1991, studierte Illustration an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig. Nach seinem Abschluss zog er nach München, wo er heute Comics zeichnet und Visual Design an der Technischen Universität lehrt. Seine Debüt-Graphic-Novel »Tüti« war auf dem Comic-Salon Erlangen 2018 als bester deutscher Comic nominiert und erhielt den Bayerischen Kunstförderpreis für Literatur. Sein zweites Buch »EGOn« wurde auf der German Comic Con 2019 zur besten Science-Fiction gekürt. 2023 erhielt Wendland den Förderpreis der internationalen BodenseeKonferenz für Kulturschaffende für sein »Antidepri-Tagebuch« (2022, alle im Jaja Verlag erschienen).

ELLA CARINA WERNER, S. 54–63

Ella Carina Werner ist Mitherausgeberin und Kolumnistin des Satiremagazins Titanic. 2020 und 2023 erschienen ihre gefeierten Geschichtenbände »Der Untergang des Abendkleides« (Satyr Verlag) und »Man kann auch ohne Kinder keine Karriere machen« (Rowohlt) sowie 2025 ihr Buch »Der Hahn erläutert unentwegt der Henne, wie man Eier legt« (Verlag Antje Kunstmann) mit feministischen Tiergedichten.

Apollon ist eine Initiative der Bayerischen Staatsoper. Apollon will Räume erschließen und öffnen, die künstlerischen Impulsen in verschiedenen Formen eine Plattform er- möglichen, sich mit dem Menschsein auseinanderzusetzen.

»Apollon Dossier« ist eine Sammlung von Artikeln zu einem Thema. Die exklusiven gedruckten Inhalte erscheinen zeitversetzt digital. »Apollon Dossier« kondensiert aus dem Spielplan der Bayerischen Staatsoper die Themen, Narrative, Fragen an unsere Zeit und an eine Gesellschaft.

»Apollon Dossier« gendert, wo es möglich ist, männliche Sprachformen, es wird den Autor:innen überlassen, ob sie diese Genderform in ihren Texten übernehmen.

»Apollon Hand aufs Hirn« ist ein Podcast. Prominente Meinungsbildner:innen werden eingeladen, über ihr biographisches Thema öffentlich nachzudenken. Überall wo es Podcasts gibt.

»Apollon Hidden« sind versteckte künstlerische Interventionen an (un-)gewöhnlichen Orten Münchens, von denen die:der erfährt, der:die sich um die Apollon-Whatsapp-Nummer bemüht.

Und Apollon ist mehr: apollon-dossier.de

IMPRESSUM: Apollon der Bayerischen Staatsoper, apollon-dossier.de

HERAUSGEBER

Staatsintendant Serge Dorny (V. i. S. d. P.)

Bayerische Staatsoper, Max-Joseph-Platz 2, 80539 München

KONZEPT & REDAKTION

Martina Borsche, Lukas Kubina, Olaf Roth, Michael Wuerges

PROJEKTMANAGEMENT

Lukas Kubina

LEKTORAT

Katja Strube

ÜBERSETZUNGEN

Martina Borsche (»Everything is alive«)

BILDDRAMATURGIE

Martina Borsche

MITARBEIT

Dramaturgie der Bayerischen Staatsoper

GESTALTUNG

Bureau Borsche

ANZEIGENLEITUNG

Victoria Jara-Pfister

DRUCK UND HERSTELLUNG

Gotteswinter und Fibo Druck- und Verlags GmbH, München

BILDNACHWEIS

S. 4–9: Dominik Wendland

S. 42–52: https://www.google.de/search?q=%22people+selling+mirrors+online%22

S. 54–63, 72: Jul Quanouai

S. 80 / 81: Brian Blomerth

S. 108: Lillian Ansell

S. 114–121: Philipp Deines

TEXTNACHWEIS

»Null« ist ein Textauszug aus Martina Hefters Roman »Hey guten Morgen, wie geht es dir?« © 2024 Klett-Cotta – J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Stuttgart

»Workation« von Lukas Kubina ist im Sammelband »Sorry Siracusa« © 2024 Sorry Press, München, erschienen.

Münchner Opernfestspiele

27.6.–31.7.2025

Gareth McConnell/Sorika, Meadow VI 2021

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